Theodor Fontane
Meine Kinderjahre
Theodor Fontane

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Frau von Flemming war eine geb. Koenigk. Ihr Vater starb früh, aber ihr Oheim lebte noch in den hier von mir zu schildernden Tagen. Es war das der alte Steuerrat Koenigk. Er nahm neben Landrat von Flemming wohl die erste Stellung ein, so wenigstens erschien es mir, was übrigens möglicherweise nur darin seinen Grund hatte, daß ich, infolge von vielen noch aus der Zeit der Kontinentalsperre herrührenden Geschichten, vor jeglichem, was mit Steuer und Douane zusammenhing, einen großen Respekt hegte. So war einer dieser Geschichten nach, ich glaube im Jahre 1809, der Versuch gemacht worden, eine Schiffsladung voll Vanille einzuschmuggeln, selbstverständlich eine Sache von sehr bedeutendem Wert. Die Douane kam indessen dahinter und belegte die ganze Ladung mit Beschlag. Aber nicht das allein, auch vernichtet mußte die Ladung werden, und so wurden denn Hunderte von Vanillekisten auf dem großen Marktplatz übereinandergeschichtet und angezündet. Dies geschah zufällig bei nebligem Wetter, und so kam es denn, daß der die Flamme niederdrückende Nebel die Stadt einen ganzen Tag lang in eine Vanillenatmosphäre hüllte. Wo so was vorkommen konnte, da spielte die Steuer natürlich eine Rolle. – Steuerrat Koenigk war ein Herr von sehr feinen Sitten, ernst und liebenswürdig zugleich, dabei voll Geistesgegenwart. Einmal in eine Gesellschaft geladen, wurde er aufgefordert, sich an den Spieltisch zu setzen. Das erste, was er sah, waren ungestempelte Karten. Er erhob sich einfach von seinem Platz und ging in das Nebenzimmer, um da mit den Damen zu plaudern. Die Karten verschwanden natürlich sofort. Koenigk, als wir nach Swinemünde kamen, war schon mehrere Jahre lang Witwer und lebte zurückgezogener als andere. Von seinen beiden Söhnen aber war der ältere dann und wann auf Besuch im väterlichen Hause. Dieser ältere, Karl, hatte sich dem Baufach gewidmet und bekleidete zuletzt ein Direktorialamt (Betriebsdirektor) an der Anhalter Eisenbahn. Er beschloß seine Tage in einer kleinen Stadt am Harz. Der jüngere Bruder, Louis, führte ein eigentümlich wechselvolles Leben. Er war stark in die Demagogenbewegung verwickelt und hatte Festungshaft zu verbüßen. Als er wieder freikam, kam auch er vorübergehend ins väterliche Haus, und ich entsinne mich seiner aus jener Zeit her sehr wohl. »Er war für Freiheit und kam auf die Festung«, in diese Lapidarworte faßte mein Vater die Situation zusammen, und ich meinerseits war voller Teilnahme, weil ich in dem Ganzen etwas Heldenmäßiges und Opferfreudiges sah, das mir als solches imponierte. Von seinem Lebensausgang erfuhr ich später das Folgende. Mitte der dreißiger Jahre ging er als Erzieher zu den Kindern eines Grafen Bninski; dort war er lange Zeit, wurde Freund des Hauses und sprach nur oft den Wunsch aus, daß er auf dem Swinemünder Kirchhofe begraben sein möchte. Daß sich dies erfüllen würde, war ihm selber sehr zweifelhaft. Aber es erfüllte sich doch. Er wurde nervenkrank und sollte, nach ärztlichem Rat, zu seiner Wiederherstellung in ein Seebad. Er wählte natürlich Swinemünde. Da starb er und ruht nun da, wo er zu ruhen wünschte.

 

Ein anderer aus der Honoratiorenschaft war Hofrat Dr.  Kind, wenn ich recht berichtet bin, ein Neffe des Freischützdichters Friedrich Kind. Er war mit einem Fräulein Valentini verheiratet, einer Schwester des um jene Zeit als Universitätslehrer in Berlin lebenden italienischen Professors Valentini. Das damals erst aufblühende Swinemünder Seebad verdankte dem Eifer Kinds sehr viel; unter anderem war er auch schriftstellerisch in dieser Richtung tätig. In seiner Erscheinung war er klein und fein, typischer Sachse, was sonderbarerweise die Spottlust der sonst so humoristisch-derb zugeschnittenen Swinemünder nicht herausforderte. Nie war er Gegenstand von neckischen Angriffen und ist mir dadurch immer ein Beweis geblieben, daß man Hänseleien sehr wohl entgehen kann, auch ohne Grobheit, Unliebenswürdigkeit und Zweikämpfe. Denn es ist sehr selten, daß Spötter unter allen Umständen ihren Spott treiben; sie suchen vielmehr zunächst nach Schwächen, und erst wenn sie diese gefunden haben, haken sie ein, während alle diejenigen unbehelligt bleiben, die ruhig und artig ihren Weg wandeln und keine Blöße bieten. So war es auch mit Dr. Kind. Er war unser Hausarzt, und meine Mutter hielt große Stücke auf ihn. »Die andern«, sagte sie, »sind Witzbolde; Dr. Kind ist aber ein feiner Mann, und wenn ich da wählen soll, wird mir die Wahl nicht schwer.«

Hofrat Kind war Hüter unseres physischen Menschen, der alte Pastor Kastner dagegen war Hüter unserer Seelen. Allerdings nicht auf lange mehr; er starb bald nach unserer Ankunft. Sein Amtieren am Ort reichte wohl bis in die letzten friderizianischen Regierungsjahre, jedenfalls bis in die Franzosenzeit zurück, und wenn er »Erinnerungen« geschrieben hätte, so hätte das wohl das anschaulichste Bild einer kleinen pommerschen Seestadt aus dem Ende des vorigen und dem Beginne dieses Jahrhunderts gegeben. Er hatte durch all die Zeit hin, trotzdem es Zeiten bedenklichster Lebens- und Gesellschaftsformen waren, sein Ansehen nicht eingebüßt, und die Liebe seiner Gemeinde stiftete ihm gegen das Ende seiner Tage hin ein lebensgroßes Bild in der Kirche, das, wie die Bilder aller alten Pastoren mit Doppelkinn, den ausgesprochenen Luthertypus zeigte. Wenn wir gelegentlich dem alten Küster Hahr, der nebenher auch noch Totengräber und Glöckner war, beim Glockenläuten halfen, schlich ich mich meistens aus der Vorhalle der Kirche in diese selbst hinein, bloß um das Bild des alten Kastner, der mir als der Inbegriff des Ehrwürdigen erschien, besser vor Augen zu haben. Daß mich der alte K. beziehungsweise sein Bild so lebhaft interessierte, hatte freilich seinen Grund nicht bloß in der ehrwürdigen Erscheinung des Alten, sondern mehr noch darin, daß mir mein Vater erzählt hatte, Pastor Kastner, trotzdem er nur arm sei, habe seine drei Söhne studieren lassen, und alle drei seien Professoren geworden, einer sogar Professor der Chemie zu Kasan, »zu Kasan an der Wolga mit beinahe 60 000 Einwohnern«. Mein Vater hatte nämlich, wie schon angedeutet, ein besonderes Talent, nicht bloß historische, sondern auch geographische Namen derart auszusprechen, daß sie einen Eindruck machen mußten, besonders wenn er die Namensnennung noch mit einer großen Einwohnerzahl begleiten konnte.

Neben dem Predigerhause stand das Bürgermeisterhaus, drin Bürgermeister Beda wohnte. Wie Kastner, so war auch Beda schon alt und krank, und sein Stadtregiment, wenn er ein solches überhaupt noch führte, währte nicht lange mehr. Kaum ist mir ein Bild von ihm geblieben, desto deutlicher aber von seiner (zweiten) Frau. Diese war beim Hinscheiden ihres Gatten noch eine Schönheit ersten Ranges und stammte wahrscheinlich aus dem Süden, ich würde sagen aus Süd-Spanien, wenn sie nicht statt klein und zierlich wie die meisten Südspanierinnen von imposanter Erscheinung gewesen wäre, groß, ernst, hoheitlich. Jedenfalls war ihr etwas völlig Fremdartiges eigen, und als ich einige zwanzig Jahre später Storms Gedichte kennen und bewundern lernte, konnte ich eines dieser Gedichte nie lesen, ohne die Gestalt der schönen Frau Beda wieder vor mir aufsteigen zu sehen. Dies Gedicht hieß »Die Fremde« und lautete in seinen Schlußzeilen:

Ich hörte niemals heim verlangen
Den stolzen Mund der schönen Frau,
Nur auf den südlich blassen Wangen
Und über der gewölbten Brau
Lag noch Granadas Mondenschimmer,
Den sie vertauscht um unsern Strand,
Und ihre Augen dachten immer
An ihr beglänztes Heimatland.

All das paßte genau auf die schöne Frau Beda. Ihre älteste Tochter, die viele Jahre später in unserem Hause lebte und meine jüngste Schwester erzog, war in ihrer Jugend von gleicher Schönheit wie die Mutter, aber nicht von derselben Dauerbarkeit. Ein jüngerer Sohn der Frau Beda, der jahrelang zu meinen Spielgefährten zählte, ging später nach England und wurde preußischer Konsul in Leith bei Edinburg. Da sah ich ihn 1858 auf einer Reise durch Schottland wieder, ihn und seine junge Frau. Diese war eine Tochter des Historikers Alison, eines der wenigen englischen Geschichtsschreiber, die torystisch und (was Alison angeht) sogar im Sinne und zur Verteidigung der gesamten Stuart-Familie geschrieben haben. Auch das kam zur Sprache, und wir verplauderten sehr angenehme Stunden.

Die Mutter und Tochter Beda waren Schönheiten, was mir Gelegenheit gibt, hier einschaltend über die Swinemünder Frauenwelt überhaupt zu sprechen. Der kleine Ort war wie eine lebendige Gallery of beauties und gab so recht den Beweis für die Überlegenheit der Meeresanwohner in allem, was Erscheinung angeht. Wohl mag gelegentlich auch eine deutsche Binnenlandsbevölkerung, also beispielsweise die Bevölkerung in Rhein- und Main-Franken, in einzelnen Teilen von Schwaben, auch sporadisch in Sachsen und Schlesien, ähnlich hohe Prozentsätze von anmutigen Frauen und Mädchen aufweisen, ich bilde mir aber ein, nirgends in meiner deutschen Heimat so viel weibliche Schönheit gesehen zu haben, wie damals in dieser kleinen Stadt. In den guten Familien war eigentlich alles hübsch, aber fast noch hübscher war die dienende Klasse. Weiter oben habe ich den Namen des Totengräbers Hahr genannt; seine Tochter war bei uns im Hause und so schön, daß sie sich weit über ihren Stand und ihre Bildung hinaus verheiratete. Was daraus geworden ist, weiß ich nicht. Und dabei war es, als ob der Ort nach dem Satze »wo viel ist, wird's immer mehr« auch noch Anziehungskraft auf umwohnende Schönheiten ausgeübt hätte. So kam es, daß sich eines Tages aus dem Neuvorpommerschen ein Major Thomas mit seinen Töchtern in Swinemünde niederließ, drei jungen Damen, die nun durch Jahre hin den Kulminationspunkt des gesellschaftlichen Lebens bildeten. Mein Vater, ganz aus dem Häuschen, hielt begeisterte Reden in dem ihm eigenen Stil, was jedesmal einen Gegenstand äußerster Erheiterung für meine Mutter ausmachte, während ich selbst, wenn ich an den Ballabenden dem Tanze dieser drei Huldinnen zusehen durfte, den Olthoffschen Ressourcensaal sich in einen Weihetempel verwandeln sah.

Ziemlich um dieselbe Zeit, als Major Thomas eintraf, kam auch Schiffahrtsdirektor Bauer. Er hatte keine schönen Töchter, spielte sich aber selber auf Schönheit oder um mit meinem Vater zu sprechen »auf ein gefälliges Exterieur hin« aus. Und nicht ohne Grund, denn er hatte gesunde Farben und blonde Löckchen und trug eine goldne Brille. Noch ehe er da war, war schon eine Art Opposition gegen ihn im Gange, was der Sachlage nach eigentlich nur natürlich war. Es hatte bis dahin, wenn ich recht berichtet bin, keine Schiffahrtsdirektor-Stelle gegeben, und nun schuf man eine solche. Wenn man nach dem Namen gehen durfte, so mußte die Stelle notwendig den Zweck haben, der Schiffahrt aufzuhelfen, und der, der bestimmt war, diese Hilfe zu leisten, mußte was davon verstehen. Aber verstand der in Sicht Stehende wirklich etwas davon? Das wollte nicht recht einleuchten. Er war ein Binnenlandsmensch und hatte von Schiffen schwerlich mehr gesehen als eine Gondelflottille zwischen Treptow und Stralau. Was konnte der helfen und fördern! Das war so die Stimmung, als er kam. »Ein Herr vom grünen Tisch«, so hieß es. Nun mochte sich manches Richtige darin aussprechen, nur in einem war es nicht richtig; der eben Eingetroffene war alles, nur kein »Herr vom grünen Tisch«, genau das Gegenteil. Er hatte seine Laufbahn als Schillianer oder Lützower oder freiwilliger Jäger begonnen und war um bewiesener Schneidigkeit und patriotischer Gesinnung willen in den Staatsdienst herübergenommen worden. Alle diese Personen, was sonst auch gegen sie gesagt werden konnte, waren nie Schreiberseelen, setzten vielmehr umgekehrt ihr Vertrauen und ihren Anspruch ans Leben in ihre Persönlichkeit und gingen davon aus, daß sich mit gutem Mut und gesundem Menschenverstand – eine gute staatliche Rückendeckung natürlich vorausgesetzt – alles machen ließe. Fachwissen und Schreiberei, dazu waren die Sekretäre da; Sicherheit des Auftretens, gute Nerven und Frühstücksstimmung, das war das, worauf es ankam. Von dieser Anschauung und Richtung war denn auch der neue Schiffahrtsdirektor. Als er sich eingeführt hatte, sah man sofort, daß man ihn falsch taxiert habe, was indessen die Stimmung gegen ihn nicht besserte. Vom grünen Tisch war er nicht, er war umgekehrt Lebemann und ganz und gar darauf aus, in kluger Weise die Dinge zu seinem Vorteil zu gestalten. Das war etwas durchaus anderes, aber in den Augen der regierenden Klasse mindestens ebenso gefährlich oder vielleicht noch gefährlicher. Es galt also, ihn in Schach zu halten, was seiner Gewandtheit und Schlagfertigkeit gegenüber nicht ganz leicht war. Endlich indessen fand sich die Gelegenheit dazu. Bauer, ganz Autodidakt, hatte die Schwäche aller Autodidakten, sich auf »Bildung« hin ausspielen und in Fremdwörtern exzellieren zu wollen. Eine Weile ging das. Mit einem mal aber schlug seine Stunde, und das irrtümlich angewandte Wort »Triumph« wurde zum Triumph für seine Gegner. Er ließ nämlich einen Wohltätigkeitsaufruf drucken, darin in klug berechneter Huldigung gegen die drei reichsten und angesehensten Familien Swinemündes, von dem » Triumphirate der Stadt« gesprochen wurde. Da hatten sie ihn, er war entdeckt. An dem unglücklichen »ph« war seine Macht gescheitert. Ähnliche Menschlichkeiten folgten, und das eine Zeitlang um sein Ansehen besorgt gewesene Honoratiorentum führte nun das bis dahin so stolze Roß ruhig und sicher am Zügel. Man ließ ihm seine Rodomontaden und war zufrieden, ihn in seinen eigenen Augen einigermaßen entgöttert zu haben. Bauer – der übrigens zwanzig Jahre später (1848) als demokratischer Krotoschiner Bürgermeister noch einmal eine kurze Weile geglänzt haben soll – war einfach Mensch geworden, und der alte Swinemünder Ton konnte, wie vordem, unbehindert weiterherrschen.

Unter denen, die diesen alten Ton in seiner kräftigsten Urgestalt repräsentierten, stand Konsul Thompson obenan. Er bewohnte ein großes Haus am Markt, ein Haus mit drei Fronten, an deren einer sein kleiner Kaufladen lag, denn, wie bei allen Konsuln, so durfte auch bei ihm der Laden nicht fehlen. Warum alle so sehr darauf hielten, weiß ich nicht, da, wie mir scheinen will, der Ertrag dieser Läden nur unbedeutend sein konnte. Thompson, damals ein Mann von Mitte Vierzig, glich für gewöhnlich dem »deutschen Herrn«, dem Tiefenbach in den Piccolominis, verstand es aber, wenn es paßte, den gemütlichen Tiefenbach in den rücksichtslosesten Illo zu verkehren. Klug, humoristisch, voll Schlagfertigkeit, war er immer noch sehr beliebt und einflußreich, trotzdem er den unter dem Ansehen einer anderen und geschulteren Familie seit etwa fünfzehn Jahren immer maßvoller gewordenen Stadtton nicht mehr ausschließlich bestimmte. Nur im Bowlebrauen war er unbestrittener Herrscher geblieben.

In einer Art Gegensatz zu ihm stand Kaufmann Schultze, der, was Thompson in steifem Grog leistete, seinerseits in matter Limonade war. Aber ebendeshalb war er wie geschaffen zum Ballarrangeur und Vergnügungsdirektor, und der sentimentalere Teil der Damenwelt verzog ihn ganz ungebührlich, besonders weil er nebenher auch noch des Vorzugs genoß, der einzige Tenor der Stadt zu sein. Um seinen etwas müde dreinschauenden Kopf lag immer ein Ausdruck höherer Weihe. Dabei hielt er sich für die Swinemünder für zu schade. Wenn ich mir jetzt sein Bild zurückrufe, kommt es mir vor, als hätt' ich zu bestimmten Epochen meines Lebens eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm gehabt. – Tenor oder Lyrik macht wenig Unterschied.


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