Theodor Fontane
Ellernklipp
Theodor Fontane

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18 Ewig und unwandelbar ist das Gesetz

Wochen waren vergangen

Ein heller Oktobertag lag über dem Land, die Sonne blitzte hoch im Blauen, und wer ins Tal kam und sein Auge nicht bloß auf den Weg richtete, der freute sich der Berglehnen, die jetzt ganz in Rot standen, und der breiten Wiesenstreifen dazwischen, die nach dem Nebel, der über Nacht gefallen, überall jetzt von Tau glitzerten.

Alles war hell und still, am stillsten aber des Heidereiters Haus, das man bei seinen weit offenstehenden Türen und Fenstern für unbewohnt hätte halten können, wenn nicht das Auffliegen der Tauben und das Gackern der Hühner und dazwischen ein taktmäßiges Schlagen und Klopfen das Gegenteil verraten hätte. Das Schlagen und Klopfen aber rührte von Joost und Grissel her die die Kissen des hochlehnigen Sofas aus der guten Stube von ihrem Sommerstaube zu reinigen trachteten. Und daneben lagen Leinwandkappen, die für den langen Winter darüber gezogen werden sollten, – für den langen Winter und vielleicht für länger noch.

Ja, es waren unsere plauderhaften alten Freunde, die sich übrigens heute, solange sie bei dem lauten und lärmenden Teil ihrer Arbeit waren, eines vollkommenen Schweigens befleißigten. Immer aber, wenn wieder eine der Kappen übergezogen wurde, benutzte Grissel den stillen Moment, um das vorher unterbrochene Gespräch an bestimmter Stelle wieder aufzunehmen, ein Gespräch, das sich selbstverständlich um die letzten drei Wochen: um den Tod des Heidereiters und seines noch in derselben Nacht ihm nachgestorbenen Kindes drehte. Wohl auch um das Gerede der Leute darüber, ja darüber zumeist, und wer von dem Garten oder dem Heckenzaune her ihrem Gespräch hätte folgen können, der hätte bald heraushören müssen, daß es vorzugsweise »die getrennten Grabstellen« waren, was alle Welt in Verwunderung gesetzt hatte. Dem alten Heidereiter nämlich, von dem es in Sörgels Leichenrede geheißen hatte, daß er im Kampf erschossen worden sei, hatte man sein Grab an einer neuen, etwas bergan gelegenen Stelle gegeben, während das Kind innerhalb des Bocholtschen Grabgitters mit den neuvergoldeten Kugelknöpfen, an der Seite der ersten Frau begraben worden war. Über diese Verwunderlichkeit hatte man im Dorfe, wie sich denken läßt, nicht weggekonnt, und Joost, der immer mit der Mehrheit ging, meinte denn auch genau das, was die Leute meinten, und versicherte: Hilde habe ihn, den Alten, seiner ersten nicht gegönnt, und wenn sie nun stürbe, dann käme sie neben ihn... Und das Kind, das kleine, kranke Wurm, na, du mein Gott, das hätte sie so hingelegt, wo's sei, da oder da, und hätte doch auch so tun müssen, als ob alles in Richtigkeit und ein Herz und eine Seele wäre. Versteht sich. Und nichts von Eifersucht oder so.

Dies war unzweifelhaft eine von Joosts längsten Auseinandersetzungen, und als er fertig war und sich selber anstaunte, so lange gesprochen zu haben, stieß ihn Grissel mit dem Ausklopfer vor die Brust und sagte: »Bist un bliewst en Schoap un redst allens nah. 't is joa dumm Tüg. Geih doch hen un kuck di dat Gitter an. Doa wihr joa keen Platz mihr in, för'n utwass'nen Minschen 'wiß nich, un sülwst uns' lütt Worm hebbens ook man eben noch intwängt.«

»Joa, awers worüm? Doa wihr joa Platz noog bien Ollen. He is joa de ihrst de doa liggen deiht. Un worüm liggen se nich tosoam, de Oll un de Lütt?«

Grissel schüttelte den Kopf, um auszudrücken, daß er noch dümmer wär', als sie gedacht, und sagte dann: »Ick weet nich, Joost, bist nu so lang all int Huus un weetst nich, dat se ümmer 'n Grul för em hett. Ick will nich groadto seggen, se freugt sich, dat he dod is. Ne, so wat will ick nich seggen. Un ick weet et ook nich. Awers dat weet ick, et paßt ehr, dat he so'n beten aff liggt un dat se nich ümmer an em vorbi möt, wenn se dat Lütt besooken will. Gott, lütt wihr et joa man un ümmer Wehdoag. Awers et wihr doch allens, wat se hett. Un is ook hüt noch allens, wat se hett. Un jeden Dag sitt se joa doa un kuckt un weent.«

»Joa, joa, dat deiht se«, bekräftigte Joost, der schon wieder anfing, umgestimmt zu werden.

»Un sien ihrste Fru«, fuhr Grissel fort, die der Unterbrechung nicht achtete, »dat weet se woll, de deiht ehr nich veel. Un dorüm hebben se dat lütte Worm in dat smoale Gitter mit intwängt. Awers wenn dat lütte Graff mit Oll-Baltzern sien in eens wihr or ook man dichte bi, denn hett se joa den Olschen ümmer mit vor Oogen hett. Un datt wull se nich.«

Und nun begann das Klopfen wieder. Aber Joost wollte noch mehr hören und hielt nach ein paar Schlägen wieder an und sagte: »Un wat meenste, Grissel? Ob se woll wedder friegt?«

»Friegt? Versteiht sich, friegt se. Wat wahrd se nich wedder friegen? Hett joa nich Kinn un nich Kaaks. Un keen Anhang nich. Un dat hübsche Huus dato. Un kann ook nich ümmer sitten un ween'n. Dat is nun man so förihrst. Awers dat giwt sich. Un denn moakt se wedder de Oogen upp un to, groad as ne Klapp, un wutsch is wedder een in.«

Joost sah Grissel dummpfiffig an und sagte: »Joa, joa, dat sall woll sinn. Awers se seggen joa: de tweet leewt nich lang und hett ümmer siene Noot.«

»De tweet? Joa, dat's recht:

De tweet hett ümmer siene Noot,
Is hüte rot un morgen doot,
Awers de dritt is wedder goot!«

»De dritt? Ihrst kümmt doch de tweet. Se hett doch ihrst een', un uns' Oll-Baltzer wihr doch de ihrst.«

»Na, na«, lachte Grissel, »ick weet nich. Tweet or dritt. Un ick denk', et is de dritt, de nu kümmt.«

 

Es kam niemand des Weges, und noch weniger horchte wer vom Gatter oder Heckenzaun her, und doch hätte gerade sie, von der die Rede war, aus dem öfteren Hinüberzeigen nach dem Kirchhof und aus allerhand anderen Handbewegungen einen Teil des Gespräches unschwer erraten können, denn sie kam eben vom Schloß her und passierte die Lichtung, von der aus man, wie das ganze Tal, so vor allem auch das Heidereiterhaus übersah. Aber Hilde, trotzdem sie Joost und Grissel in aller Deutlichkeit erkannte, war in ihrem Gemüt weitab von der Frage: »Wovon sprechen sie?« und viel mehr noch von der ängstlichen Erwägung: »Sprechen sie vielleicht von dir?« In ihr klangen noch die Trostesworte nach, die, seitens der alten Gräfin oben, eben an sie gerichtet worden waren, und dem Eindruck davon mit ganzer Seele hingegeben, sah sie zwar alles um sich her, aber ohne sich irgend etwas davon zum Bewußtsein zu bringen. Am Kirchhofe vorüber, über den sie nur einen Augenblick lang ihr Augen gleiten ließ, eilte sie – trotzdem ihr Eile nicht frommte; denn ihre Tage waren lang – auf das Haus zu, darin sie verwaist vor Jahren eingetreten und darin sie nun wieder eine Waise war. Auch eine Witwe. Aber das empfand sie nicht. Sie war in ihrem Gemüt nur eine Waise. Nichts erfreute sie mehr, und in stillem Lebensüberdruß hing sie Bildern nach, die nicht mehr, wie früher, in vor ihr ausgebreiteter Ferne, sondern nur noch rückwärts in ihrer Vergangenheit lagen. Ihr Leben war ein Sinnen und Brüten, eine krankhafte Pflege der Einsamkeit geworden, und selbst ihre Freunde, sowohl der drüben in der Pfarre wie der oben auf den Sieben-Morgen, mißfielen ihr oder versagten ihr doch in der Erfassung und freudigen Umklammerung dessen, was ihre Seele mit immer größerer Lust ersehnte: Friede, Schauen und Versöhnung. An immer erneuten Versuchen, im Gespräche mit ihnen wie ehemals Trost und Erhebung zu finden, hatte sie's anfänglich nicht fehlen lassen, aber aller Wohlmeinendheit der beiden Alten ungeachtet war sie mit diesen Versuchen an jedem Tage mehr gescheitert: bei Sörgel, weil er für alles ein und dasselbe Wort zu haben anfing, bei Melcher Harms, weil er seiner Konventiklernatur nach am liebsten in Andeutungen und rätselvollen Sätzen sprach und in Momenten, wo sie dringender, fordernder und leidenschaftlicher wurde, ihr mal auf mal nur von Demut und Unterwerfung predigte. Denn er war strenger geworden und wiederholte mit Vorliebe seinen Spruch von der Ewigkeit und Unwandelbarkeit des Gesetzes. Ach, sie demütigte sich und unterwarf sich auch, aber eben deshalb, weil sie Demut und Unterwerfung übte, wußte sie von sich selbst, daß es nicht die Staffeln zur Himmelsleiter waren. Oder wenigstens nicht für sie. Das Kreuztragen – und nur das und immer wieder – drückte sie dem Staube zu; was ihr helfen konnte, war allein der Blick nach oben und der Hinweis auf Freiheit, Weite, Licht.

 

In dieser Not und Armut hätte sie verkommen müssen, wenn nicht die Gräfin gewesen wäre. Die hatte seit dem Tage, wo Hilde das erstemal oben auf dem Schlosse gewesen, eine Liebe für sie gefaßt, und allwöchentlich schickte sie nach ihr, um eine Plauderstunde mit ihr zu haben. Und da wußte sie so vertraulich zu sprechen und so liebevoll zu fragen, daß Hilde jede Scheu vor ihr verlor und ihr alles sagte, was in ihrem Herzen war: Gutes und Schlechtes, Furcht und Hoffnung. Und die Aufrichtigkeit dieser Beichte rührte der Gräfin Herz, und wenn Hilde sie verlassen hatte, sah sie der langsam in den Talweg Niedersteigenden nach und sagte: »So sind die Wege Gottes. Eine Trübsal brachte dies Kind in unser Haus. Und nun ist es mein Glück und meiner Tage Licht.«

Unter solchen Besuchen kam Weihnachten heran, und auf dem Schlosse war Bescherung, zu der auch Hilde geladen war. Und siehe da, noch eh es dunkelte, stieg sie den Schlängelweg zwischen den kahlen, aber dicht bereiften Bäumen hinauf und trat in die kleine gotische Vorhalle, darin alle Gäste, während die Gräfin den Aufbau leitete, bereits versammelt waren. Und nicht lange, so wurde das Zeichen gegeben, die Türen öffneten sich, und in langem Zuge ging es in den hohen und auf granitnen Pfeilern ruhenden Saal, der einen wundervollen Anblick bot. Inmitten desselben erhob sich ein mächtiger, aber dunkler und nur mit goldenen und silbernen Nüssen überdeckter Weihnachtsbaum, eine mehr als zehn Fuß hohe Tanne, während alles Licht, das den Saal füllte, von einer Krippe herkam, die mitsamt dem weißgedeckten Bescherungstisch, auf dem sie stand, in die Front der hohen Balkontür gerückt worden war. Unmittelbar darüber aber sah man in halbem Dämmer die Wolken ziehen.

Unter den Gästen waren wieder einige der jungen Offiziere, die damals auf dem Balkon gesessen und die Melcher Harmsschen Bemerkungen über Hilde mit allerlei kleinen und großen Bosheiten begleitet hatten. Auch heute versäumten sie nicht, an einem so dankbaren Thema sich neu zu divertieren, und musterten aus einer versteckten Aufstellung her, die sie genommen, die junge Frau, die sich ihrerseits anspruchslos zurückhielt, aber keine Spur von Verlegenheit zeigte.

»Die Trauer kleidet ihr«, sagte der eine.

»Trauer kleidet immer. Und die hübscheste Braut verblaßt vor einer hübschen Witwe. Woran es nur liegt?«

»Eben an der Trauer. Es ist das doppelt Verbotene... ›Himmlische Liebe‹, prophezeite der alte Schäfer damals. Ob er wohl recht behält?«

»Ich glaube fast. Sie sähe sonst verlegener aus.«

Unter Scherzen und Wendungen wie diese ging das Gespräch, eine halbe Stunde später aber war alles still geworden. In dem Kamin fielen die Scheite zusammen, und Hilde, die wohl wußte, daß die Gräfin ihr gern zuhörte, plauderte von ihrem ersten Weihnachtsabend in des Heidereiters Haus und von der Krippe, die Martin ihr damals aufgebaut habe. Und wie glücklich und benommen sie gewesen sei, denn sie habe den Lobgesang der Engel mit leibhaftigem Ohre zu hören geglaubt.

Und als sie so sprach, loschen die Lichter aus, und es dunkelte durch den Saal.

Aber in demselben Augenblicke fast zerstreute sich draußen das Gewölk, das in endlos langem Zuge vorübergezogen war, und im tiefen Blau des Himmels erschien ein Stern und sandte sein friedlich Licht auf die Stelle, wo die beiden standen. »Unser Stern«, sagte die Gräfin und wies hinauf.

 

Und von Stund' an wandelte sich Hildens Herz; alle Schwermut fiel von ihr ab, und die Freude, so viel sie davon jemals besessen hatte, blühte wieder in ihr auf. Eine Sehnsucht freilich blieb ihr; aber diese Sehnsucht beschwerte nicht mehr ihren Sinn, sondern hob ihn empor, und sie, die müd und matt gewesen war ihr Leben lang, sie wurde jetzt stark und frisch und froh, und ein tiefes Verlangen erfaßte sie, zu tun und zu schaffen, zu helfen und zu heilen. Und in werktätiger Liebe begründete sie zum zweitenmal ihr Haus.

All das erlebte Sörgel noch. Aber die rechte Schaffenslust erwuchs ihr doch erst, als der Alte zu seinen Vätern versammelt und statt seiner ein »Frommer« in die Pfarre gekommen war, der, trotzdem er Borstelkamm hieß und zu den Strenggläubigsten zählte, doch zugleich in solcher Freudigkeit und Milde des Glaubens stand, daß er selbst Grissel entwaffnet und zu der Anerkennung hingerissen hatte: »Hür, Joost, de versteiht et. De is Sörgel un Melcher all in een.«

An ihn schloß sie sich in einer mit jedem Tage wachsenden Hingebung und Begeisterung an, und von ihm auch war es, daß sie den Zusammenhang alles Geschehenen in Erfahrung brachte: wie der Heidereiter gestorben und vielleicht auch um was. Als er geschlossen hatte, war sie wohl erschüttert gewesen, aber doch nicht niedergeworfen, denn ihr ahnendes Gemüt hatte längst davon gewußt, auch ohne Gewißheit zu haben.

Und so war es auch nicht infolge dieser Aufschlüsse, daß sie noch in demselben Frühsommer starb. Ihr neues Leben, das nur Arbeit und Opfer und eine schließlich bis zur Leidenschaft gesteigerte Wonne der Entsagung gekannt, hatte sie wohl auf kurze Zeit hin in anscheinender Frische wieder aufblühen lassen, aber diese Frische war eine Täuschung gewesen. Ein Fieber kam, das ihre Kräfte rasch wegzehrte, rascher noch, als irgendwer geglaubt, sie selber ausgenommen; und als Grissel auch den letzten Tag noch mit einem versteckten »Reißen« zu trösten suchte, lächelte sie nur und sagte: »Laß. Ich weiß alles... Und ich sterbe gern.«

Das war ihr Abschiedswort gewesen.

Über ihr Begräbnis aber hatte sie längst vorher Festsetzungen getroffen, und sie begruben sie neben der ersten Frau, deren Grabstelle schon vorher erweitert worden war, so daß das Kind jetzt zwischen ihnen lag. Und gaben ihr einen Stein, darauf stand, wie sie's dem neuen Geistlichen ans Herz gelegt hatte, kein Name, »weil sie von Geburt an keinen gehabt und den ›anderen‹ nicht wolle«. Statt dessen aber wurde der Spruch eingegraben: »Ewig und unwandelbar ist das Gesetz!« Umsonst, daß sie gebeten worden war, einen hoffnungsreicheren und christlicheren Spruch, einen Spruch von der Gnade und Liebe Gottes wählen zu wollen – mit einem Eigensinne, der ihr sonst fremd war, hatte sie darauf bestanden, unter immer erneuter Betonung, daß sie persönlich die Liebe Gottes erfahren und seiner Gnade sicher sei, der Spruch auf ihrem Grab aber zu den Überlebenden sprechen und diesen eine Mahnung sein solle. Hinzukommen mochte, daß sie damit eine Schuld an den alten Melcher Harms abzutragen gedachte, dem sie zuletzt völlig entfremdet worden war und dem sie sich nichtsdestoweniger, all seiner Selbstgerechtigkeit ungeachtet, für dieses und jenes Leben verpflichtet fühlte.

Ihr Begräbnis war ein großes Ereignis, wie's einst ihre Hochzeit gewesen war, und am selben Tage noch trug der Geistliche die Daten ihres Lebens und Sterbens in das Kirchenbuch ein.

Da stehen sie, mahnend wie der Spruch auf ihrem Grabe.

Aber beides überdauernd, ragt über Diegels Mühle die weiße Felswand auf und auf ihrer Höhe die weit vorgebeugte Tanne von Ellernklipp.


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