Walter Flex
Der Kanzler Klaus von Bismarck
Walter Flex

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IV.

Zieh' weiter, Klaus, – – – und frag' beim Kaiser nach, wer Markgraf ist!«

Fern von dem wüsten Lärmen der Vaterstadt fand sich Klaus Bismarck in der Stille der Letzlinger Forsten wieder. Statt der altvertrauten Räume, in denen er geboren und groß geworden war, umgaben ihn die ragenden Mauern von Schloß Burgstall.

Als der einsame Mann zum ersten Male die weitläufigen Höfe und Häuser seiner Burg durchwandelte, die eine ganze Sippe von Familien aufzunehmen bestimmt war, als er seine Schritte in den hohen, kahlen Räumen, in Gängen und Treppenhäusern hallen hörte, überwältigte ihn das Gefühl der Verlassenheit so sehr, daß er sich aufs Roß warf und stundenlang durch Wald und Heide ritt, um todmüde bei sinkender Nacht heimzukehren. Die Leere des Hauses schien seinem wunden Herzen wie ein höhnisches Bild der Zukunft, und ihm graute vor der Last der tausend Tage und Nächte, die ertragen und durchlebt werden mußten.

Aber zwei hilfreiche Kräfte wandelten die schmerzende Einsamkeit und tote Stille in heilende Ruhe; diese beiden Kräfte waren seine Mutter und seine Arbeit. Frau Margarete umhegte ihren Sohn mit dem wohltuenden Gleichmaß ihres wundervollen Vertrauens und war in weiblicher Sorge bemüht, ihm die fremden Räume zum wohnlichen Heim zu machen.

Was diese seltene Frau in der eigenen Einsamkeit litt, konnte der Sohn nur ahnen. Ohne Zögern und ohne Frage war sie bei dem schmerzvollen Scheiden von Stendal an ihres Kindes Seite getreten. Vor dem Tore hatte der greise Godin von Sluden ihr, die die Gefährtin seiner Jugend gewesen war, die Hand zum Abschied hingestreckt, aber dem Auge der Mutter war nicht entgangen, daß er Klaus keines Blickes würdigen wollte; da hatte sie schweigend die Hand zurückgezogen, und der Greis hatte wortlos die herbe Größe ihres parteiischen Mutterherzens geehrt.

Nun hielt die Mutter dem Sohne Haus an Weibes Statt. Wochenlang, wenn Klaus als markgräflicher Rat am Hofe des Kurfürsten weilte oder das notleidende Land bereiste, hauste sie in den alten Burgräumen wie eine Verbannte und Gefangene, nur von Vergangenem und Zukünftigem zehrend und die tote Gegenwart mit ihrer lebendigen Liebe betrügend. Ganz in der lebenslangen Pflicht der Mutterschaft aufgehend, vermochte sie das veränderte Dasein nur dadurch zu ertragen, daß aller Inhalt ihres Lebens sich restlos in dem Leben des Sohnes erschöpfte. Sie übte die heilige und geheimnisvolle Kunst der Mutter, sich selbst zu vergessen wie eine Tote und doch in lebensvoller Kraft zu brennen. Sie wußte, wann ihres Sohnes Herz nach Stille dürstete, und wann es nach einer Aussprache begehrte. Ihr Herz war ein immer offener Tempel für die Seele ihres Kindes. Nichts andres verlangte sie vom Leben.

Sie hatte ihm über die ersten schweren Wochen hinweggeholfen und sah nun mit wachsender Freude, wie ihm aus seinem Mannesschaffen neue Lebenskraft zuströmte. Wohl wußte sie, daß die Lebensfreude in der Nacht des bitteren Abschieds von Stendal aus seinem Herzen gewichen war, aber nur um so dankbarer empfand sie, daß er dennoch das Leben zu tragen vermochte, indem er sich selbst in der Rastlosigkeit seines Planem und Schaffens vergaß.

Und wahrhaftig, Markgraf Ludwig sah täglich und stündlich mehr Grund, dem Schicksal zu danken, daß es ihm die ganze Kraft dieses Mannes für seine Ziele dargeboten hatte. Nie wäre es ihm ohne den landeskundigen Sohn der Mark gelungen, die aus der Verpfändung eingelösten Landesteile, die sich wie Kinder einer gewaltsam zerstreuten Familie fast alles Gemeinsamen entwöhnt hatten, aufs neue zusammenzuschweißen und zum Gefühl der Zusammengehörigkeit zu bringen. Aber unter Klaus Bismarcks klugen und kühlen Händen ordnete sich das Chaos doch mählich zur Staatsschöpfung.

Das vornehmste Mittel, die Herzen und Hände des Volkes für den Markgrafen zu gewinnen, sah Klaus, nachdem die schwersten Gefahren von außen abgewehrt waren, in der Durchführung des allgemeinen Landfriedens, der trotz landesfürstlichen Gebots bisher nur ein hohles und in Rede und Tat verlachtes Wort gewesen war.

Die schloßgesessenen Herren des Landadels waren, während kaiserliche und markgräfliche Macht verfiel, zu übermütigen, und bei dem allgemeinen Notstand fast allmächtigen Tyrannen des Landes und seiner Handelsstraßen geworden. Die Gewalt dieser anmaßenden Sippen, die schmarotzend vom Mark des Volkes zehrten, galt es vor allem zu brechen. In ihren Kreis war Klaus als Herr von Burgstall eingerückt – ein Grund mehr für die schloßgesessenen Räuber, ihn als Eindringling und Todfeind zu hassen.

Eine Fehde auf Leben und Tod entbrannte und währte durch Jahre. Aber bald spürte das werktätige Volk der in Handel und Wandel lahmgelegten Städte die Kraft, die zu seiner Erlösung am Werke war. Der Name Klaus Bismarcks ging von Mund zu Mund. Er war der Helfer, der Gewalt und Willkür zu brechen tatkräftig vorging. Er schützte die Straßen und lähmte das Faustrecht, er umlagerte mit geworbenem Kriegsvolk die Raubnester des Diebsadels, er zerbrach ihre Hochburgen und erlöste eingekerkerte Bürger aus dumpfigen Gelassen. Die Mark lernte den Namen Bismarck in ihr Gebet zu schließen.

Freilich nicht alle suchten in ihm den Retter. Gerade die ihm am nächsten standen, verschmähten in ihrer schwersten Stunde seine Hilfe. Die Geschlechter der vertriebenen Stendaler Gilde waren enge auf wenigen festen Sitzen im Lande zusammengerückt. Jeder hauste den andern, so gut er konnte. Nur an eines Bruders Tor klopfte keine bittende Hand, Klaus' Bismarcks Haus mieden die Ausgestoßenen wie eine Pesthöhle. Sie wußten, daß Burgstalls Tor ihnen in ihrer Not gastlich offen stand, sie wußten, daß die weiten Räume Hunderte zu beherbergen vermochten, aber Godin von Sluden sprach die Meinung aller Brüder aus, als er auf Klaus' brüderliche Ladung grollend zur Antwort schrieb: »Du hast uns in Stendal dein Herz verschlossen. Was öffnest du uns in Burgstall dein Tor?« Seit dieser Absage gingen keine Botenbriefe mehr zwischen dem markgräflichen Rat und denen, die ihm durch Blut und Erinnerung verbunden waren, hin und her.

Jahre vergingen, da glaubte endlich Jerichow eine unbewachte Stunde erlauert zu haben, gemacht, um endlich den langersehnten Handstreich gegen Stendal zu führen. Mit äußerster Vorsicht hatten die Gildeherrn alle Vorbereitungen zu einer bewaffneten Überrumpelung getroffen; alles, was sich an Händen und Waffen rufen und werben ließ, war aufgeboten. Nur einen hatte niemand um Zuzug gebeten, obwohl er der Mächtigste war, Klaus Bismarck. Aber die Zünfte von Stendal waren wachsamer gewesen, als man geglaubt hatte. Mit blutigen Köpfen wurden die nächtlichen Angreifer von den Mauern geworfen.

Da endlich in zwölfter Stunde besannen sich die Geschlagenen auf die Bruderpflichten Klaus Bismarcks. Zog er ihnen jetzt mit geworbenem Kriegsvolk zu Hilfe, so waren sie des endlichen Siegs sicher. Sie schickten Boten nach ihm, aber der Herr von Burgstall lag irgendwo im Land in Fehde mit der aufsässigen Ritterschaft. Er kam nicht. Wochenlang lagen die Geschlechter mit ihren täglich durch Krankheit und Flucht zusammenschmelzenden Haufen. in den Sumpfniederungen um Stendal, zu schwach zu neuem Sturm, zu trotzig zum Abzug, bis sie endlich einem Ausfall der Bürger völlig erlagen. Ein Teil von ihnen – darunter Konrad von Hidde und Berndt von Röxe – fielen wund und gefangen in die Hände der Sieger und wurden wie Schelme in den Turm geworfen. Andere entronnen, aber sie retteten nur das nackte Leben. Die ehedem so trotzende Kraft der Gilde war gebrochen und bresthaft; Bettelstab und Gnadenbrot an fremden Tischen war ihr Schicksal. Godin von Sluden hatte in der Sumpfluft das Augenlicht eingebüßt, Schadewachten lag erschlagen, Gottschalk von Jerichow floh an den Hof Kaiser Karls, der den verbitterten und haßerfüllten Gegner des Markgrafen und seines klugen Rates gern als Schützling aufnahm; wußte er doch, daß keines Menschen Augen schärfer nach den Blößen der kurfürstlichen Macht ausspähen konnten als die des landflüchtigen Märkers.

Nur Gerüchte dieser Schicksale drangen zu Klaus. Von Konrad Hiddes Einkerkerung hatte er keine Kunde. Über Frau Margaretens Lippen gingen die altvertrauten Namen der Geschlechter nicht mehr seit dem Scheiden von Stendal.

Dennoch bekam Klaus das heimliche Wirken eines der verschollenen Männer zu spüren, ohne zu wissen, welche Kraft da gegen sein Lebenswerk wühlte und schürte. Er ahnte nicht, daß Gottschalk von Jerichow den Weg zu dem mächtigsten Widersacher Ludwig Wittelsbachs gegangen war, zum Kaiser.

Eines Tages lag Klaus mit markgräflichen Knechten im Hinterhalt auf der Straße vor Tangermünde, um ein paar schloßgesessene Fausthelden, die ihm seit langem als dreiste Störer des Landfriedens bekannt waren, beim Straßenraub auf frischer Tat zu ergreifen.

Als Lockspeise hatte er sieben schwere Planwagen, mit Warenballen beladen und behäbig anzusehen, vorausgeschickt. Der fette Köder tat seine Wirkung. Die Heckenritter brachen aus ihrem Waldversteck hervor, und während zwei Lanzenreiter mit ihren Eisenspießen die Straße sperrten, machten sich die andern daran, das Kaufmannsgut auszuplündern. Doch der fette Bissen erwies sich als unbekömmlich. Aus den grauen Ballen quollen handfeste märkische Knechte in vollen Rotten. Die wackeren Jungen packten herzhaft an, daß die Herren unsanft von ihren Rossen schieden und in den Sand flogen. Alsbald machten sich die Knechte mit gutem Humor daran, die Gestürzten statt ihrer in die leeren Ballen zu verstauen und die wohlverschnürten Pakete auf die Wagen zu verfrachten. Zähneknirschend duldeten die Hochmögenden den hartknochigen Hohn der Sieger.

Klaus Bismarck kam heran und fand das Werk bereits getan. Er neigte sich zu spöttischem Gruß im Sattel. Aber er erhielt einen sehr unerwarteten Gegengruß. Ein Herr von Zelow nämlich – das hakennasige Diebsgesicht war Klaus wohlbekannt –, den ein Schlagetot von Knecht eben mit einem Vetter verkoppeln wollte, riß sich, den verhaßten markgräflichen Rat gewahrend, jäh los und rief ihm frech ins Gesicht:

»Klaus von Bismarck! Mit welchem Recht hältst du noch Gericht im Lande? Wenn du dein Amt von dem Wittelsbacher hast, so ist es nichtig! Den Markgrafen hat der Teufel geholt und landlos gemacht über Nacht. Ja, starre nur, allwissender Nichtswisser! Markgraf Waldemar, von dessen Erbe sich die Wittelsbacher mästen seit dreißig Jahren, ist springlebendig im Land seit gestern. Als Büßer ist er ins Heilige Land gefahren, jetzt kommt er als Markgraf zurück. Leckt ihm der Wittelsbacher die Hand, so schenkt er ihm vielleicht seinen Bußkittel, aber sein Land braucht er selbst! Er ist am Hof des Kaisers, und der Kaiser hat geschworen, ihm in seine Mark einzuhelfen. Glaubst du's nicht, so sieh' selber nach. Aber uns gib frei! Du hast kein Recht gegen uns! Du hast kein Amt mehr!«

Fassungslos starrte Klaus auf den Mann, dessen Schmähungen wie ein Sturzbach über ihn hinbrausten. War das möglich? War's höllische Lüge? Dreißig Jahre tot und lebendig? Sein Gesicht war mit einmal grau wie der Staub der Straße.

Da wuchs dem Raubritter die Frechheit, und er höhnte noch einmal: »Nimm guten Rat an, Klaus Bismarck, von alten Freunden! Geh zum Kaiser und sieh dir den Waldemar an! Sieh zu, ob's der Echte ist! Sieh wohl zu! Denn wenn er's nicht ist, so hat er auch kein Recht und kann heimfahren wie der Wittelsbacher. Dann gibt's kein Kurfürstlein mehr, und die Herren der Mark sind wir allein! Laß die Hand von deinen Herren, du Tuchtrödler!«

Da ging die Leidenschaft mit dem Verhöhnten durch! Ohne Überlegung packte er den nichtswürdigen Lästerer an der Kehle und erdrosselte seihen geifernden Spott mit eisernem Griff. Ekel und Haß schüttelten ihn bei der Berührung wie im Fieber. Da machte er ein grimmiges Ende und tilgte den andern aus wie ein Ungeziefer. Er hob die Linke, die im Schildgurt hing, und schlug dem Lästerer den Schildrand krachend in die Stirn, daß er wie ein gefällter Ochse zusammenbrach. »Fahr zur Hölle, Schurke!« donnerte er. »Dort wartet der Waldemar, auf den du schwörst!« Dann trat er dröhnend unter die Vettern des Gerichteten, soviel ihrer noch herumstanden. »Auf die Knie mit Euch, Hunde!« rief er wild, »und schwört, daß Herr Ludwig Euer Markgraf und Richter ist!« Das blaß gewordene Gesindel fiel gefügig auf die Knie und schwor nach, was es sollte. Angewidert wandte Klaus ihnen den Rücken, gab seinen Knechten kurze, herrische Weisung und schwang sich wieder aufs Roß. Er drückte ihm die Sporen in die Weichen und stob davon.

Sein Blut kochte, daß sein Kopf keines klaren Gedankens fähig war. Er tobte seine Leidenschaft in tollem Ritt aus. Nach einer Stunde erst ließ er, selbst schweißgebadet, sein zitterndes Tier in Schritt fallen und zwang sich zur Ruhe. Er ging mit sich zu Rate. Eine innere Stimme sagte ihm mit grausamer Härte, daß dies alles mehr war als ein freches Lügenwort. Die Botschaft von der Totenerweckung des großen Markgrafen aus dem Ballenstädter Hause war eine zu furchtbare Drohung gegen seinen fürstlichen Herrn, als daß sie hohles Geschwätz sein konnte. Das sah nach einem teuflisch klugen Plan des ländergierigen Kaisers aus. Was hatte doch der von Zelow vom Kaiser gefaselt? Richtig, am Hof des Kaisers sollte der Wiedererstandene sein. Er wollte sich die Hand abhacken lassen, wenn dies nicht ein gewissenloser Streich Kaiser Karls war.

Mit einmal war ihm der höllische Anschlag klar. Der Name des unvergessenen Markgrafen, des letzten Herrn aus autochthonem Stamm, war eine furchtbare Waffe gegen Herrn Ludwig. Was lag daran, ob dieser Waldemar echt oder falsch war, die Drohung gegen den Wittelsbacher war gleich tödlich und furchtbar.

Kein Zweifel, es war ein Betrüger, nichts als eine Puppe, ein Strohmann des kaiserlichen Beutejägers. Der innerste Instinkt sagte Klaus Bismarck, daß eine Herrennatur wie die des letzten Waldemar nicht dreißig Jahre tatlos den Bußkittel trug. Aber was lag daran? Der Name war doch wieder lebendig, und dieses Gespenst allein genügte, die kaum beginnende Ordnung des zerrütteten Staates aufs neue in ein verwildertes Chaos aufzulösen. Das wußte der Kaiser. Darum rief er dem Leichnam zu: »Steh auf und wandle!« Die Mark sollte zerrüttet werden und zerfallen, damit er sich die Trümmer zusammenlesen konnte. Er haßte Herrn Ludwig, der die Mark zu erlösen sich erdreistete. Die Mark sollte sterben, damit er erben konnte. Darum rief er den Popanz als Würgengel ins Land und gab ihm seinen Kaisersegen. Er wußte, daß Haß und Not wundergläubig machen, und wußte, an Haß und Not fehlte es nicht in der Mark.

Klaus Herz' wurde unter diesen Gedanken hart und kalt wie Stahl. Er wußte es jetzt: Der Tod war leibhaftig im Lande. Nun gut, so galt es, den Tod zu bestehen. Seine Fäuste ballten sich. Es sollte ihm noch gelingen, den Knochenmann, der grinsend die Züge Waldemars angenommen hatte, in die Gruft zurückzuschmettern, in die er gehörte. Seinen Lügenherold hatte er ihm schon vorausgeschickt. Der Lügenherr sollte hinterdrein, koste es, was es wolle.

Klaus Bismarcks Geist arbeitete fieberhaft. Aber er fand keine Möglichkeit, dem unglücklichen Lande den neuen, furchtbaren Kampf zu ersparen. Er fühlte, wie das stundenlange Grübeln ihn schon jetzt zermürbte und an seiner Kraft zehrte. Er suchte sein Hirn zur Untätigkeit zu zwingen und alles Denken, alle Pläne auszuschalten, bis er klar sah. Aber es gelang ihm nicht. Er schrieb im Geiste Briefe an Herrn Ludwigs Briefe an den Kaiser, Briefe an die Städte und Schloßgesessenen – – so ritt er in die Nacht hinein und fühlte nicht, wie es dunkler und dunkler um ihn wurde. Sein Roß irrte in der sternlosen Nacht vom Wege und ging müde querfeld durch Heide und Rodeland. Endlich stand es an einem Graben und schnob ängstlich mit vorgestrecktem Hals. Da erwachte der sorgenerdrückte Mann aus seinem Brüten. Er sprang ab, pflockte seinen Rappen an und warf sich in den Kleidern zur Erde, ohne der herbstlichen Kühle zu achten, die aus dem Boden unter ihm und der Luft über ihm in ihn einströmte. In qualvollen Gedanken wachte er den Tag heran.

In der Frühe war sein Entschluß gefaßt. In Magdeburg, dessen Erzbischof, wie er wußte, lose Fühlung mit Kaiser Karl hielt, würde er am ehesten Klarheit finden. Dorthin wollte er reiten und sich rücksichtslos Aufklärung schaffen.

Ohne daß er's wußte, ritt Klaus von Bismarck so in das Nest, in dem die höllische Lüge ausgebrütet worden war. Kaum in die Stadt eingeritten, erfuhr er den ganzen Handel. Unlängst war vor dem Schloß Wolmirstedt des Erzbischofs von Magdeburg ein fremder, greiser Pilger erschienen. Am Tor wurde ihm ein Becher Wein gereicht. Unter dunklen und andeutungsreichen Reden trank er ihn bedächtig aus, auf den Grund des geleerten Bechers aber legte er ein Ringlein. Der Diener brachte eilends das Gefäß mit seinem geheimnisvollen Inhalt zu dem Erzbischof. Kaum hatte dieser den Ring erblickt, sprang er jäh vom Tisch auf und rief der mit ihm tafelnden Gesellschaft zu: »Bei Gott! Das ist der Ring des Kurfürsten Waldemar!« Damit enteilte er zur Tür. Die mit ihm speisenden Herren sahen sich verdutzt an und drängten dem Erzbischof nach. Sie trafen den Kirchenfürsten auf dem Schloßhof und sahen ihn den Pilgergreis mit tränenden Augen in die Arme schließen. Es hieß, der Erzbischof habe auf den ersten Blick die teuren Züge des totgeglaubten Herrn wiedererkannt, und dieser selbst habe sich in klaren Worten zu erkennen gegeben. Schon andern Tags brachte ihn der Erzbischof mit fürstlichem Geleit an den Hof des Kaisers. Alsbald verbreitete sich das Gerücht des Wunders, und allerlei Volk machte sich zu einer Art Wallfahrt zu dem heimgekehrten Pilger auf. Männer, mit denen Waldemar vor einem Menschenalter vertrauten Umgang gepflogen hatte, erkannten ihn in rührsamen Begegnungen als ihren alten Herrn. Kaiser Karl selbst nahm mit verdächtiger Eile Partei und belehnte den von den Toten Auferstandenen feierlich mit der Mark, als hätte es nie einen Kurfürsten Ludwig gegeben. Der neue Landesherr aber stattete dem Kaiser durch Abtretung der Lausitz Dank ab. Das war sein erstes Werk landesväterlicher Fürsorge.

Klaus Bismarck wußte genug. So greisenhaft konnte die Kraft des großen Waldemars nicht gebrochen sein, daß er sich zu so kopflosem Landschacher mit dem Kaiser verstanden hätte. Dieser Waldemar war falsch, das stand fest. Aber Klaus durchschaute das Gewebe der Gegner noch klarer. Der neue Markgraf war ein Betrüger, aber die Lüge selbst stammte nicht von ihm, sie stammte aus dem Haupte des Kaisers und seiner Räte. Mit furchtbarer Klugheit nutzte der kaiserliche Hof den Haß des Klerus gegen den Wittelsbacher zur Anerkennung des Lügenfürsten aus. Die vielhundertjährige Feindschaft zwischen Welfen und Waiblingern lebte fort, und Ludwig Wittelsbach mußte von neuem den Fluch des Staufenerbes spüren, der auf ihm lag, den Bannfluch Roms, der alle Diener der Kirche zu jeder noch so schnöden Tat gegen ihn bereit fand.

Es gelang Klaus, den Erzbischof mit seinem Besuch zu überrumpeln, ehe er sich dem markgräflichen Rat verleugnete. Aber die Unterredung selbst war fruchtlos. Der Kirchenfürst verschanzte sich hinter Tatsachen und schien keine anderen Beweggründe zu haben, als die unerforschlichen Ratschlüsse der Vorsehung sich ungehindert auswalten zu lassen. »Wie sollte ich es einst vor Gott verantworten,« sagte er, »den Fremden ungehört von meiner Tür verstoßen zu haben, wenn er trotz allem, was Ihr gegen ihn sagt, der Echte wäre?«

Klaus maß den anmaßlichen Wortführer göttlicher Gerechtigkeit mit einem verächtlichen Blicke. »Wenn er der Echte wäre –,« nahm er schwer und grollend die letzten Worte des andern auf, »wenn er der totgeglaubte Waldemar wäre, so lebte er wohl, aber sein Recht wäre darum doch zehnmal tot! Lügt der kaiserliche Schützling, so ist er ein Betrüger. Aber spricht er die Wahrheit, so ist er ein Schurke. Wer dreißig Jahre lang im Heiligen Land büßt und die Mark, die ihm als heiliges Land von Gott zum Schutz vertraut war, verfallen läßt, der hat zu seiner alten eine neue und todeswürdige Schuld zu büßen. So wollte er eine Schuld büßen und beging eine Todsünde, für die ihm der neue Herr, der sich redlich um die verlassene Mark gemüht hat, den Kopf als Richter vor die Füße legen müßte. Der falsche Waldemar verdiente die Peitsche, aber der echte Waldemar verdiente Rad und Galgen. Das hättet Ihr ihm sagen sollen als Sachwalter der tausendfältigen Not im Lande, die nicht durch Küsse und Tränen der Rührung zu stillen ist.«

Der Erzbischof hob schweigend die Schultern. »Was ich getan habe, ist aus Drang des Gewissens geschehen. War es unrecht, so wird Gott richten. Was hilft's, daß Ihr mich nach der Tat beratet. Ein andrer braucht Euren Rat besser als ich. Er war gestern bei mir. Ich konnte ihm nicht raten. Da fuhr er zu Euch. Auf Burgstall wird er Euer warten.«

»Der Markgraf –?« fragte Klaus Bismarck rasch. Der Kirchenfürst neigte zustimmend das Haupt. Da nahm Klaus Bismarck seinen Abschied. Der Erzbischof geleitete ihn zur Tür. »Gott wird richten,« sagte er. »Er wird es wahrhaftig tun,« gab der andre zurück und ging schweren Schritts davon.

Ohne Ahnung von dem, was geschehen war und sich bereitete, hielt Frau Margarete in Burgstall Haus. Sie saß in einem der hochräumigen Zimmer des Schlosses am Rocken. Die Spindel surrte durchs Zimmer. Ihre Gedanken gingen ins Weite und suchten den Sohn.

In ihr Sinnen verloren, überhörte sie den Eintritt des Torwarts. Erst als er ehrerbietig vor ihr stand, schaute sie auf und gewahrte den treuen Mann. »Was bringst du, Hans?« fragte sie.

»Es ist ein Blinder am Burgtor,« antwortete der Knecht. »Er will zum Herrn.«

»Wie nennt er sich?«

»Godin von Sluden.« Gleichmütig sprach der Torwart den Namen aus. Er war erst auf Burgstall in Bismarckschen Dienst getreten und ahnte nicht, welche Erinnerungen er mit diesem Name beschwor.

Frau Margarete war blaß geworden. »Blind –?« fragte sie betroffen. – »Blind,« wiederholte der Knecht. »Er läßt sagen, ein Fräulein hab ihn den Weg geführt: Sie heiße Ursel Hidde.«

Frau Margarete senkte den Kopf. »Ursel Hidde –« sprach sie leise. Dann schwieg sie. Es war lange still. Nur die Spindel surrte durchs Zimmer.

Weiche und herbe Gefühle stritten in der einsamen Frau. Ein Zug richterlicher Strenge grub sich in ihre Züge. Ursel Hidde – sie hätte wohl verdient, einen harten Willkomm vor aufgezogener Zugbrücke anzuhören. Das Haus, an dessen Tor sie pochte, war still und einsam geworden durch sie. Was wollte sie hier. Aber freilich, würde Klaus ihr das Tor schließen? –

Der Knecht wartete auf Antwort. Zögernd gab ihm Frau Margarete Bescheid. »Herr Klaus ist mit den Knappen verritten. Hast du's ihnen gesagt?« »Ich sagte, unser Herr führt Fehde für Markgraf Ludwig. Wir wissen selbst nicht wo. Kann sein, er kommt heute zurück, kann sein, er kommt erst in Wochen.«

»Und sie?«

»Das Fräulein weinte, und der Blinde sagte: ›Laß uns nur ein. Das Warten lernt sich. Wir haben's gelernt.‹«

Frau Margarete erhob sich und schob den Rocken zurück. »Führe sie zu mir,« entschied sie kurz. »Und sorge für Wein. Sie werden's brauchen.« Der Knecht ging aus dem Zimmer.

Frau Margarete stand aufrecht und lauschte. Die Vergangenheit kam mit schweren Schritten näher. Die Zukunft geht auf leiseren Füßen. Brachte die Vergangenheit die Zukunft? Stille sein und warten, das ist alle Kunst des Menschenherzens.

Wenige Augenblicke dauerte es, dann standen Ursel und der alte Sluden im Zimmer. Frau Margarete war nach des Torwarts Worten auf einen traurigen Anblick gefaßt gewesen, und doch erschütterte sie zutiefst das Bild jammervollen Verfalls, das der Greis bot.

Gebückt vom Alter und lauschend nach Art der Blinden, stand Sluden im Zimmer. Haupt- und Barthaar zeigten das unreine, fahle, gelbliche Weiß schnell gebleichter Haare, sein Antlitz war krankhaft eingefallen, fleckig und verwittert war der schwarze Mantel, den er trug, und seine Linke zitterte greisenhaft an dem derben Dornstecken, der ihm als Stütze diente. Er stand da, vorgestreckten Hauptes, und das volle Licht vom Fenster her lag auf den abgezehrten Leidenszügen und dem faltigen Halse.

Das Kind Konrad Hiddes stützte den Greis zur Rechten. Ihre Arme zitterten leise, und ihre Blicke suchten bittend Frau Margaretens Augen, die den ihren nicht antworteten. Die Lieblichkeit ihrer Gestalt war ungebrochen und strahlte doppelt aus den dürftigen Hüllen. Nur der Ausdruck anmutiger Kindlichkeit war aus ihrem Antlitz verschwunden, und ihre Züge waren von leidender Weiblichkeit vergeistigt und verschönt. Frau Margarete sah unverwandt an ihr vorbei, und ihre Blicke ruhten auf dem verfallenen Mann, der über ein Menschenalter in ihrem Hause als Rules Herzensfreund aus- und eingegangen war.

Lange redete keiner der drei Menschen. Frau Margarete spürte eine geheime Angst, die Stimme Godin von Sludens zu hören. War auch ihr Klang krank und dahin?

»Das ist ein schnödes Wiedersehen, Godin!« sagte sie endlich leise und schwer.

Sludens Lippen zitterten. Dann gab er Antwort. Die männliche Kraft seiner Stimme war ungebrochen, aber die weiche und markige Fülle hatte sich in trotzige, streitbare Härte gewandelt. »Kein Wiedersehen für mich, Frau Margarete,« sprach er verweisend, »kein Wiedersehen! Ich sehe nichts mehr. Das grämt mich wenig. Ich habe zuviel gesehen, was mir das Dunkel lieb macht. Nur eine möchte ich zuweilen noch sehen,« – die Stimme Sludens hob sich in Groll, ein Ankläger erstand in ihr – »eine, die du nicht sehen willst, diese hier, die Ursel Hidde, mein liebes Kind.«

Frau Margarete schwieg. Ursels Herz bebte. Sie fühlte, wie der Greis ihr ein Willkommen ertrotzen wollte. Sie streckte beide Arme mit einer flehenden, kindlich-hilflosen Bewegung aus. »Mutter –!« rief sie überwältigt.

Die Augen der einsamen Frau gingen über das Mädchen hin. »Ursel Hidde,« antwortete sie herb, »ich bin Herrn Klausens Mutter.«

»Sei nicht hart!« flehte das Mädchen noch einmal, und die Knie drohten ihr in Jammer und Hilflosigkeit zu brechen.

»Hart –?« gab Frau Margarete zurück, und der richterliche Ernst wich nicht aus ihrer Stimme. »Wer war hart? Im Antlitz meines Kindes ist dein hartes Wort von einst noch versteint –« Ursel Hidde hob die Hände. Aber ehe sie reden konnte, ging leise die Tür. Der Torwart brachte in einer zinnernen Kanne den Wein. Er setzte das Gefäß und die Becher auf den Tisch und ging. Seine Blicke streiften mit scheuer Verwunderung die drei Menschen, die sich ernst und schweigsam gegenüberstanden.

»Sitzt nieder und trinkt,« sprach Frau Margarete und rückte ihren Gästen die Stühle. Schweigend ertastete Sluden den kühlen Becher und führte ihn zu den Lippen. Dann wanderten seine erloschenen Augen wieder zu Rule Bismarcks Weib. »Frau Margarete, kennst du mich noch?« sagte er bitter und bot ihr das Bild seines Verfalls voll zur Schau.

Und die leiderfahrene Frau spürte, daß es dem Gebrochenen trauriges Bedürfnis sei, von seinem Elend zu reden. »Du jammerst mich, Godin,« antwortete sie, und ihre Stimme klang milder als zuvor. »Erzähle, wie dies alles dich traf!«

Da strömten die Lippen des blinden Mannes über. Er erzählte von den Leidenstagen der Gildebrüder im Lager vor Stendal, er sprach von Schadewachtens blutigem Ende und Konrad Hiddes schmachvoller Gefangenschaft im Kerker, sprach von dem Sumpffieber, das das Licht seiner Augen und das Mark so vieler blühender Männer verzehrt hatte. Name um Name, Schicksal um Schicksal klang von seinen Lippen. Eine harsche und anklagende Trauer klang bald schwer, bald schneidend aus seiner Stimme.

Frau Margarete lauschte. Ihr Herz war im tiefsten bewegt. Ihr Antlitz blieb undurchdringlich.

Sluden schloß: »Klaus Bismarck hat vor Stendal gefehlt. Die Brüder riefen nach ihm. Aber er kam nicht. Er hatte keine Zeit.« Hohn, Grimm und anklagende Bitterkeit fraßen an dem Klang seiner Stimme.

Ohne Eifer, mit verweisender Ruhe verteidigte die Mutter den Sohn. »Er lag für seinen Herrn, den Markgrafen, in Fehde. Du weißt es.«

Schneidend und verbissen klang es zurück: »Wohl, ich weiß es. Er liegt für den fremden Herrn in Fehde, bis der letzte Gildebruder stirbt. Das weiß ich.«

»Kommst du zu ihm, um ihm das zu sagen, Godin?«

»Ja, darum komme ich,« sprach Sluden und warf das Haupt mit einem Ruck in den Nacken. »Mein Herz ist tot, seit langem, mein Augenlicht verdarb vor Wochen, und mein Stolz ging heute zu Grabe, als ich als Bettler an Klaus Bismarcks Tor pochte. Ein blinder Bettelgreis ziehe ich an dieses Kindes Hand durchs Land und will Herrn Klaus das arme, alte Lied der Treue vor seiner Tür singen und horchen, ob er bei den Tönen weint. Unstät, nackt und hungernd, rechtlos und blutig wie Geißler ziehen die Gildebrüder durch die Welt und verderben an der Pest ihrer Schande – das will ich ihm sagen, weil's ihm kein andrer sagt.«

Da warf Ursel Hidde, an das blutige Leid ihres Vaters gemahnt, beide Arme über den Tisch und barg ihr Haupt in ihnen. »Vater,« schluchzte sie, »mein armer Vater! O Frau Margarete, Klaus muß ihm ja helfen!«

Die Angesprochene sah ernst auf das Mädchen nieder. »Er selbst wird entscheiden,« erwiderte sie. »Wenn er zurückkommt, führe ich Euch zu ihm. Nicht deinetwegen, Ursel Hidde, denn du bist's nicht wert, seit du vor ihm in Stendal wie vor der Pest geflohen bist. Seinetwegen tue ich es. Wach und wissend soll er in allem entscheiden. Nie habe ich ihm ein Glück und nie ein Leid verhehlt. Ungeschmälert bleibt ihm sein Mannesrecht und seine Mannespflicht, solange ich lebe. Sei, wer du seist, er ist des Markgrafen Rat und wird dich anhören, wie er alle hört. Was er dann tut, darein füge dich. Es wird das Rechte sein.«

Noch einmal hob Ursel Hidde abwehrend und flehend die Hände. »Frau Margarete,« bat sie, »seid nicht so hart –« Ihre Stimme brach, und sie sank in die Knie.

Frau Margarete zog sie empor, aber sie nahm sie nicht an ihr Herz. »Ich gebe Euch Obdach, bis er zurückkommt,« sprach sie. »Kommt jetzt, Ihr werdet hungrig und müde sein!«

Sluden erhob sich mühsam. »Bei Gott,« sagte er, »das sind wir.« Er ertastete Ursels Arm. Schweigend ging Frau Margarete voraus und öffnete die Tür. Vergeblich suchte Ursel ihre Augen. Auf der Schwelle des Gastzimmers schied die Frau mit einem Neigen des Hauptes von den Heimatlosen. Dann schloß sie die Tür. In Schuhen und Mantel sank der Greis auf sein Lager. Ursel Hidde aber preßte ihr junges Haupt gegen den kühlen Stein der Fensterleibung und schluchzte. So hielt sie ihren Einzug in das Haus dessen, der ihr einst der Nächste gewesen war vor allen Menschen. –

Frau Margarete saß still und einsam hinter der Tür, die ihre Hand verschlossen hatte. Der Abend sank nieder, und das Gemach füllte sich mit Schatten. Sie nahmen Form und Gestalt an, wie sie ihnen die Gedanken der versunkenen Frau gaben.

Ein Hornstoß vom Turm kündigte ihr nach kurzer Zeit die Rückkehr des Burgherrn an. Im Widerstreit freudiger Bewegung und schmerzvoller Erwartung des Wiedersehens, das dem Heimgekehrten bevorstand, erhob sich Frau Margarete und preßte die Linke gegen das pochende Herz.

Nun tat sich die Tür auf, und das liebende Auge der Mutter umfing die Gestalt des Sohnes. Ihre Züge wurden ernst, als fiele von der Tür her ein Schatten über sie.

Klaus Bismarck trat ein. Eisengrau von Kopf zu Füßen, schwertgegürtet und gespornt sah er aus wie ein kriegerisches Symbol der harten Zeit. Sein Antlitz war gealtert. In das Blond seines Haupthaares hatte sich ein vorzeitiges Grau gemischt, das wie Staub vom Wege auf seinem männlichen Haupte lag. Das bartlose Gesicht war von ein paar schweren Furchen durchrissen, die Brauen waren buschiger geworden und die Augen von dunklen Schatten unterfangen. Unwillkürlich verglich Frau Margarete das Manneshaupt des Sohnes, sooft ihr's vor Augen trat, mit dem goldenen Lockenkopf seiner frühen Jugend. Wie eine Sonne war der Knabe und Jüngling durch die Vergangenheit gegangen, die nun tot und verschwiegen und doch voll geheimen Lebens hinter ihnen lag; wie eine Wetterwolke fuhr der Mann durch die harsche Gegenwart.

Klaus Bismarck hatte schon am Tor erfahren, daß Markgraf Ludwig nicht in Burgstall eingekehrt war. Sorge und Enttäuschung legten sich schwer auf seine Brust. Hatte man ihn in Magdeburg betrogen? Wollte man eine Aussprache des Kurfürsten mit dem einzigen Manne, der ihm vielleicht helfen konnte, tückisch vereiteln? Der Ingrimm schnürte sein Herz zusammen. Mit schmerzhafter Anspannung des Geistes hatte er dem Zusammentreffen mit seinem Fürsten entgegengelechzt. Was nun?

Beim Eintritt gewahrte er die Mutter und zwang ein Lächeln in sein Antlitz. Er reichte den Eisenschild mit dem Dreiblattwappen an Hans, der sich geschäftig um ihn bemühte. Dann streckte er wie in unbefangener Wiedersehensfreude beide Hände aus. »Da bin ich wieder!«

»Ja, Klaus, und Gott sei Dank dafür!« antwortete Frau Margarete herzlich und schloß ihn in die Arme. Dann blickte sie ihm mit forschender Liebe ins Gesicht. Lächelnd hielt der Mann den Blick aus. Aber Frau Margarete sah es dennoch: Dieses Lächeln ging über sein Gesicht wie die Sohne über grauen Stein, es brach nicht warm und sonnig von innen heraus wie einst. Der Junker Klaus und sein sieghaftes Lachen lagen begraben in Stendal.

Leise glitten die Hände des Mannes aus denen der Frau. Er schritt zum Tisch und gewahrte die beiden Becher und die zinnerne Kanne voll Wein. Er hob einen der Becher und wies ihn lächelnd der Mutter. »Schon Wein?« sagte er. »Und gar zwei Becher? Hast du Gäste, Mutter?«

Ohne es zu wissen, hielt der einsam Gewordene den Becher in Händen, dessen Wandung kurz zuvor die bebenden Hände der Ursel Hidde umspannt hatten, an dessen Rand ihre zuckenden Lippen sekundenlang gelegen hatten, ohne zu trinken.

Frau Margaretens Augen füllten sich mit Tränen. Erstaunt wanderten Klaus' Blicke zwischen der Schweigsamen und dem Becher in seiner Hand. »Der Becher ist noch warm, Mutter, und kaum berührt. Wer nippte davon?«

Nun hatte die starkmütige Frau die Herrschaft über sich selber zurückgewonnen. »Fahrendes Volk bat mich um Obdach,« lenkte sie ab. »Der Wein blieb unberührt, Klaus. Trinke nur!«

Da führte Klaus Bismarck den Becher der Ursel Hidde an die Lippen. Der Wein durchströmte ihn mit einer seltsamen Kraft, und unter den ernsten Augen der Mutter fühlte er's wie eine dunkle Ahnung durch sein Blut rinnen. Aber er hing ihr nicht nach. Seufzend setzte er den Becher nieder und ließ sich in einen Stuhl sinken. Die Gedanken an Herrn Ludwig kehrten mit verstärkter Gewalt zurück, und er starrte finster und grübelnd vor sich nieder.

Leise trat Frau Margarete von hinten an seinen Stuhl und ließ ihre Hand durchs Haar des Sohnes gleiten. Und leise sprach sie ihm zu: »Klaus –? Sooft du von mir gehst, so oft kommst du mir ernster zurück. Weißt du das wohl? Du bist nicht froh. Du wirst so herb, Klaus. Weißt du, wie sie dich im Lande zu nennen anfangen? Sie sagen, der Kurfürst habe sich den steinernen Roland aus Stendal zum Rat geholt. – Steinerner Richter du, versteine mir nicht ganz!«

Klaus machte keinen Versuch, die Sorge der Mutter fortzuscherzen. Er zog das Kinn härter an die Brust und antwortete schwer. »Kann dich das wundern, Mutter? Denke an das, was ich hinter mir ließ. Alles fast.«

Er sah auf und sah die schwermütige Liebe des mütterlichen Antlitzes über sich wie einen Vorwurf. Ein weiches Gefühl wallte in ihm auf, und er setzte, ihre Hand erhaschend, hinzu: »Nein, nicht alles, Mutter. Du bist mir geblieben!«

Frau Margarete wollte dem Sohne besser helfen. »Und Ludwig!« vervollständigte sie mit herzlichem Zuspruch. Sie kannte den Zauber, den der Name des fürstlichen Freundes auf das Herz ihres Kindes übte, und dachte, ihn zu seinem Heil zu beschwören.

Aber wie ein Riß ging es bei der Nennung des Namens durch das Antlitz des sorgenerdrückten Mannes, und der ganze mächtige Leib zuckte wie unter einem tödlichen Schwerthieb. Die mühsam in schonender Liebe zurückgestaute Erregung ließ sich nicht länger halten und brach flutend hervor. Er sprang auf und brach aus: »Ja, Mutter, da hast du recht! Ich lasse mir Herrn Ludwig nicht entreißen!« Trotz und Leidenschaft ließen die Worte zu einem wilden Schrei aufschwellen, der wie ein Kampfruf von den Gewölben widerhallte.

»Wer drohte ihm wieder?« sprach Frau Margarete und zwang sich zu einem Lächeln.

Klaus Bismarck saß lange Zeit still und ingrimmig in sich zusammengeduckt, als habe er die Frage nicht gehört. Mit einmal aber sprang er von neuem auf, und nun strömte alles, was er wußte und ahnte, von seinen Lippen. Eine in Hassen und Wollen unbändige Leidenschaft strahlte sengend aus seinen Worten. Noch einmal litt er Folterqual unter den frechen Worten des von Zelow, noch einmal ballten sich seine mächtigen Fäuste, als müßten sie den Erschlagenen noch einmal erschlagen.

Frau Margaretens Bangen wuchs während seines Erzählens. Es war ihres Sohnes Art, vor den Frauen, die seinem Herzen lieb waren, mit den Sorgen und Leiden seines Manneslebens zu kargen und hauszuhalten wie ein Geiziger. Oft hatte sie darunter gelitten, ohne sich's merken zu lassen. Nun erschrak sie tief über seine fremde und leidenschaftliche Art, mit der er sie zum Zeugen des knirschenden Ingrimms machte, der ihn zerfraß. Sie erkannte bangend, wie untrennbar in ihrem Sohne Mann und Manneswerk verwachsen waren. Zum ersten Male wurde ihr offenbar, daß Klaus ins innerste Lebensmark verwundet würde, wenn das Schicksal die Frucht seines Schaffens in den Kot trat.

Sie wußte ihm wenig zu antworten, und alle ihre Einwürfe wurden von dem Schwall seines Grolls zurückgeworfen wie Kinderbälle von den Wogen des Meeres.

Endlich schwiegen beide. Und in dieses Schweigen tönten jäh und unvermittelt schmetternde Hornsignale. Klaus warf das Haupt auf und lauschte mit weit aufgerissenen Augen. »Was ist das –?« rief er. »Das ist –, Mutter hörst du? Das ist Herr Ludwig!« Stürmisch eilte er zur Tür.

Diese wurde im selben Augenblick von draußen aufgerissen. Der Torwart Hans kam atemlos, um die Ankunft des Fürsten zu melden. »Der Markgraf ist am Tor!« rief er und hob, als Klaus ihn ungestüm beiseitedrängte, die Hand, als habe er noch etwas hinzuzusetzen. »Herr Klaus –« rief er fast bestürzt und sah dem Davonstürmenden mit einem Ausdruck ratlosen Schreckens nach.

Frau Margarete entging die Fassungslosigkeit des treuen Mannes nicht. Sie trat zu ihm und rührte an seinen Arm. »Hans –?« fragte sie. Der Torwart zuckte zusammen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er sah seine Herrin an und gab zögernde Antwort. Seine Worte klangen schwer und gedrückt.

»Ich hätte es Herrn Klaus gern noch gesagt,« sprach er. »Die Durchlaucht, der Markgraf, kommt nicht, Frau – Sie bringen uns den Kurfürsten! Wie einen kranken Mann führen sie ihn durchs Tor!« Frau Margarete erschrak tief. Ihr graute vor einer neuen, entsetzensvollen Schicksalswendung.

Gleich darauf führte Klaus den Markgrafen, der sich schwer auf ihn stützte, herein. Zehrendes Mitleid erfaßte Frau Margaretens Herz. Wo war der Zauber männlicher Schönheit, der die fürstliche Gestalt wie eine Gloriole umstrahlt hatte! Bleich und wankend schleppte der Kranke sich tappend vorwärts.

Klaus half ihm in einen Armstuhl. »Schaff Kissen, Mutter! Schnell!« rief er mit einer fremden und rauhen Stimme.

Jetzt erst, als die Frauenhand ihn behutsam in weiche Hüllen bettete, wurde der Markgraf der Burgherrin gewahr. »Seid Ihr's, Frau Margarete?« sagte er mühsam und suchte ihr die Pfand zum Gruße zu bieten. Aber sein siecher Leib sank schwer zurück. Er schloß die Augen.

Mit einmal öffnete er sie weit und schien nun erst aus halber Betäubung zum Bewußtsein des Ortes und seiner Lage zu kommen. Er holte tief Atem. »Dank sei Gott,« sagte er, »daß ich bis hierher kam!« Dann tasteten seine Blicke und Hände nach dem Freunde, der ihm zur Seite auf den Knien lag, und ein Lächeln spielte wehmütig über seine Züge. »Klaus!« sagte er wie staunend, »bist du's wirklich, Klaus? O, vielleicht wird nun alles gut – –«

»Das gebe Gott,« Herr Ludwig,« sprach ihm Frau Margarete mit aufrichtendem Erbarmen zu. »Nehmt Ihr einen Becher Wein?«

Der Markgraf sog durstig an dem kühlen Becher, den die Frau an seine Lippen führte. Eine rasche Röte flog über sein blasses Gesicht. »Dank!« sagte er und lehnte sich zurück.

»Soll ich ein Lager für Euch richten, Herr?« fragte Frau Margarete.

Da lief ein Schauder über den Leib des Fürsten, und er machte einen Versuch, sich zusammenzureißen. »Nicht! Nicht!« wehrte er hastig ab. »Ich fürchte, ich liege nur zu bald! Jetzt muß ich reden.«

Klaus Bismarck hatte die ganze Zeit regungslos und lautlos in kniender Stellung verharrt. Seine Gestalt war in sich zusammengeduckt, seine Hände krampften sich in die Lehne des Armstuhls, das Kinn hing ihm nieder, und alle seine Züge waren ausdruckslos und verzerrt wie bei einem, den der Schlagfluß getroffen. Nur in seinen Augen hockte ein furchtbares Leben, ein unmenschlicher Jammer und eine grausame Anspannung. Lange lag er so und konnte nicht glauben, was er sah. Plötzlich schrie er in unerträglichem Schmerz jäh und unvermittelt auf wie ein gefolterter Mensch, dem die Qual das Blut vom Herzen abschnürt: »Ludwig! Ludwig! Was ist das, Ludwig?!«

Der Markgraf blickte müde auf den treuen Mann, der ihm zu Füßen lag, und antwortete schwer: »Ich fürchte, ich bin krank. Und fürchte mehr als das. Ich fürchte, ich kenne meine Krankheit.« Seine Lippen preßten sich aufeinander. Eine namenlose Bitterkeit klang aus seiner Stimme, als er leiser fortfuhr: »Ich war nach Magdeburg geritten zum Erzbischof, um einen höllischen Lügner zu entlarven.« Er unterbrach sich. Lauernd blickte er zur Seite. »Du weißt – –?«

Klaus ließ ihn nicht ausreden. »Ja, Ludwig, alles weiß ich!« rief er atemlos.

Da vollendete der Markgraf dumpf seinen Bericht. »Als ich von der Auferstehung Waldemars hörte, ritt ich in das Nest, in welchem die Lüge ausgebrütet wurde. Ich ritt nach Magdeburg und sprach den Erzbischof und – trank von seinem Wein.« Schnell und hart sprach er die letzten Worte und biß die Zähne ineinander.

»Gift!« schrie Klaus Bismarck auf und brach in sich zusammen.

»Ja, Klaus,« fuhr Ludwig leise fort und sah auf den Nacken des mächtigen Mannes, der gebrochen vor ihm lag, nieder. »Es ist wohl so. Es ist ein fein ersonnener Streich. Die Hand, die den Toten erweckte, stößt auch den Lebendigen, der an des Toten Statt waltete, in das herrenlose Grab. Wir sollen tauschen, Waldemar und ich, er soll auf meinen Thron, ich soll in sein Grab – so ist's beschlossen.«

Klaus Bismarck lag und rührte sich nicht. Lange währte eine dumpfe und hoffnungslose Stille.

Da fuhr Herr Ludwig fort. »Du bist so still, Klaus!« sagte er mit einer seltsamen Tiefe, und seine weiße Hand legte sich auf das Haupt Bismarcks. »Weißt du keine Hilfe? Nicht mir, Klaus! Ich weiß es ja, mir ist nicht zu helfen. Aber der Mark, meiner Mark, Klaus! Du Kluger, Vielgeschäftiger du, weißt du noch Rat? Sieh, Klaus, ich kann nicht mehr denken – mein Kopf ist wüst und taub. Du hast so viel für mich gedacht, Klaus – tu's auch heute!« Immer fühlbarer war eine ruhelose und treibende Angst in seine Stimme gekommen. Jetzt warf er den Kopf voll zur Seite und sah Klaus scharf an. »Ist der Streich noch zu wenden?«

»Ludwig, Ludwig,« stöhnte Klaus auf. »Von wessen Haupt noch, wenn deins verloren ist?«

Da mehrte sich die treibende Unruhe des kranken Fürsten. »Klaus, Klaus,« fing er wieder an, und eine bittende Ungeduld sprach aus ihm. »Dein Herz spricht. Du weißt, ich liebe dein Herz. Aber jetzt frage ich es nicht; so heiß es schweigen. Deinen Kopf frage ich, Klaus. Weißt du noch Hilfe? Gibt es noch Hilfe für meine Mark?«

Angstvoll blickte er nach dem knienden Mann wie nach einem Richter. Ächzend und zähneknirschend kam die Antwort. »Ich lebe nur noch, um dich zu rächen, Ludwig!«

»Klaus,« bat der Fürst leise, »bring dein Herz zur Ruhe! Immer höre ich dein Herz. Es muß jetzt schweigen. Ich suche nicht Rache bei dir, Rat suche ich! Der Kaiser und die Nachbarfürsten haben den Lügenmarkgrafen anerkannt, die Kirche hat ihn geweiht und gesegnet, die Städte meiner Mark verschließen ihre Tore vor meinen Boten und warten auf die Wiederkehr des Heilands Waldemar, von dem die Pfaffen Kunde ins Land tragen. – Gibt es noch Rettung, Klaus?«

Er schwieg und sah forschend in das Antlitz Bismarcks, in dem es gewaltsam arbeitete. Klaus hatte das mächtige Haupt erhoben, und die Leichenstarre der Verzweiflung, die seine Züge noch eben krampfartig verzerrt hatte, hatte dem Ausdruck leidenschaftlicher geistiger Anspannung Platz gemacht. Seine Augen waren geweitet, und der Atem ging in kurzen und starken Stößen durch seine Nüstern. Seine geistige Kraft rang in übermenschlicher Anstrengung, nach Offenbarungen, und plötzlich ging es wie Feuerschein über sein Antlitz, und seine Gestalt straffte sich. Er öffnete die Lippen und sprach, und seine Stimme war voll Klang und Metall: »Ich selber sah bis zu dieser Stunde keine Hilfe, Ludwig, aber jetzt – jetzt sehe ich plötzlich klar und weiß ein Mittel!«

Schmerzlich lächelnd sah der Markgraf den Treuen an. »Ich wußte es ja,« sprach er, »in deinem starken Herzen brennt auch der Schmerz nur als Schmiedefeuer und muß Waffen härten. Alles wird deiner Kraft zum Antrieb, Klaus. Auch mein Tod. Ich wußte es. Darum kam ich zu dir.«

Klaus Bismarck hörte ihn kaum. Sein ringender Geist trieb unsichtbare Gänge in das Dunkel naher und ferner Zukunft. Er fuhr fort zu reden, und sein Reden war anfangs ein lautgewordenes Grübeln, das sich mählich zu flammender Klarheit durchrang. Klar lagen Plan und Weg vor seinem arbeitenden Geiste. Auf Jahre hinaus bestimmte in dieser Stunde Klaus Bismarck die Schicksale des Landes.

Er sah den sterbenden Markgrafen durch den Schatten eines Gegenfürsten geschreckt. Der Kaiser hatte die unheimliche Figur aufs Schachbrett gesetzt und Schach geboten. Gegen diesen tückischen Zug schien Herr Ludwig wehrlos. Aber er war es nicht. Er brauchte nur das gewissenlose Spiel der Gegner im Großen zu wiederholen, um die Gefahr auf den hinterlistigen Angreifer zurückzuschleudern. Konnte man der Mark über Nacht einen zweiten Herrn geben, um den ersten zu schlagen, warum nicht auch dem Reiche Kaiser Karls? War das Deutsche Reich weniger zerrissen als die Mark? War ein Gegenkaiser eine schlechtere Waffe als ein Gegenkurfürst? Herr Ludwig Wittelsbach trug die Kurwürde des Heiligen Römischen Reichs. Wie, wenn er kraft seines Kurrechts einen Gegenkaiser gegen Herrn Karl erschüfe? Alle Kraft und Aufmerksamkeit würde der Ländergierige zusammenfassen müssen, um sich des gefährlichsten Gegners zu entledigen. Kurpfalz, durch Bande der Verwandtschaft verbunden, würde hilfreiche Hand zur Kaiserkrönung leihen. Sollte sich nicht ein Ehrgeiziger finden lassen, der, auf Kurbrandenburg und Kurpfalz gestützt, nach der Kaiserkrone auf Karls Haupte griff? Und dann? Sobald das Reich wie die Mark zwei Herren haben würde, würde Herr Karl den Schattenmarkgrafen auslöschen und verleugnen, sobald Herr Ludwig den Schattenkaiser um solchen Preis fallen ließe und verleugnete. Dann blieb noch der Endkampf zwischen Karl und Ludwig. Aber der Kampf mit den Lebendigen würde Erlösung sein, wenn die Toten in ihre Gruft zurückgetrieben waren.

Matt hörte der Markgraf auf die gewaltsam strömende Rede des klugen Staatsmanns. Sein Geist hatte nicht mehr Spannkraft, diesem gewaltigen Kampf im Dunkel der Zukunft sehend und wollend zu folgen. Er wußte, er tat am besten, Klaus Bismarck gewähren zu lassen. Müde nur fragte er zurück: »Wer ist der Schatten, den wir mit der Kaiserkrone beschwören sollen, Klaus?«

Und Klaus Bismarck fuhr fort: »Wir müssen einen suchen, lieber Herr, der sich später abschütteln läßt, wenn wir ihn nicht mehr brauchen. Wir müssen einen wählen, der feil genug ist, sich seine Krone wieder abkaufen zu lassen, wenn's an der Zeit ist. Der Mann, den wir brauchen, muß stark genug sein, um Herrn Karl zu erschrecken, und zu schwach, um ohne uns stehen zu können.«

»Wer?« fragte der Markgraf noch einmal und dringender.

Da setzte Klaus Bismarck den Schlußstein seines unsichtbaren Baues. »Günther, Graf Schwarzburg,« sagte er fest und hob mit unfehlbarem Griffe aus Tausenden den Einen heraus, den er brauchte.

Eine Stille trat ein, als habe das Schicksal gesprochen.

Endlich wandte der Markgraf voll das Haupt nach seinem Rat und betrachtete ihn lange staunend und forschend wie einen Dämon des Willens und der Tat. Schatten senkten sich über sein Antlitz, und seine Stimme war ernst und voll geheimer Trauer, als er nun redete. »Klaus, ist das Mittel, das du mir anrätst, rein? Ist es nicht der Mißbrauch eines heiligen Rechtes, das mir vom Reich vertraut ist? Ist es kein Mißbrauch des Kurrechts?«

Mit eherner Festigkeit kam die Antwort zurück: »Ja, Ludwig, es ist ein Mißbrauch.«

Der Blick des kranken Fürsten forschte unverwandt in den voll auf ihn gerichteten klaren und großen Augen seines Ratgebers. »Und du rätst es, Klaus?« fragte er wieder.

»Ich rate es.« Schlicht und gewichtig klang die Antwort.

Da löste sich die schmerzvolle Spannung in dem Antlitz des kranken Fürsten, und ein rührender Zug grenzenlosen Vertrauens erhellte es. Noch weilte sein Blick auf dem festgefügten Gesicht Klaus Bismarcks, aber nicht mehr forschend und fragend, sondern mit dem sichtbaren Ausdruck dankbarer und erquickter Zuneigung. »So ist's beschlossen, Klaus,« sagte er einfach und schloß die Augen in der wohligen Ermattung eines kranken Kindes, das die hilfreiche und kühlende Hand der Mutter auf seiner heißen Stirn spürt.

Die Entscheidung war gefallen. Fürstentum und Fürstenehre Ludwig Wittelsbachs lagen in den Händen Klaus Bismarcks als ein Vermächtnis schrankenlosen und rührenden Vertrauens.

Klaus Bismarck fühlte erschüttert das Vollgewicht gläubiger Hingabe, das in den sparsamen Worten des Markgrafen lag. Und hatte er noch eben die eisenharte Notwendigkeit mit wortkarger und beinah finsterer Entschlossenheit vorgetragen, so wallte ihm nun das volle Herz doppelt über, und er empfand den glühenden Wunsch, das erschöpfte Herz des Freundes zu erleichtern und zu erhellen. Warm und voll mannhafter Liebe strömte ihm der Zuspruch von den Lippen. »Von allen Seiten dringen unreine Hände auf dich ein. Es ist keiner unter deinen Gegnern, der nicht heilige Rechte mißachtet oder mißbraucht. Der Kaiser tut es. Die Kirche tut's. Alle deine Feinde tun es. Ein Tor, wer sich mit reinen Händen gegen Hunde schützt! Deine Hand ist rein, Ludwig.« Für Augenblicke stockte der starkherzige Mann, während er in fühlbarer Ergriffenheit die Hand des Wittelsbachers hielt und betrachtete. Dann ermannte er sich und fuhr fort: »Deine Hand ist rein, das weiß Gott. Und dennoch oder darum sage ich dir: Greife in den Staub und hebe einen Stein! Es muß sein, Ludwig. Wir sind in unsere schuldige Zeit eingeschmiedet. Greife den Stein aus dem Staube und wirf ihn! Er trifft.«

Da hob Herr Ludwig sacht seine Hand empor und betrachtete sie, die hell vom Licht der sinkenden Sonne durchschienen wurde. »Und wäre der Steinwurf,« sprach er sinnend und doch voll rührender Festigkeit, »der letzte Dienst, den diese Hand mir tun soll –, bliebe mir danach zum Reinigen der Hand oder selbst zum Händefalten nicht mehr die Zeit – sieh, Klaus, nun höbe ich dennoch den Stein und würfe ihn und träte mit der staubigen Hand vor den allwissenden Gott und sagte ihm: Diese Hand war beim Abschied meinem Freunde nicht zu schlecht, und eine bessere habe ich auch zum Gruße nicht –«

Da sank Klaus Bismarck, ins Herz getroffen, ächzend zusammen, barg sein Haupt auf den Knien des anderen und stöhnte leise: »Ludwig, Ludwig –!« Herr Ludwig Wittelsbach hatte lebenslange Treue mit fürstlichem Danke gelohnt.

Eine Weile danach zog er seinen Siegelring vom Finger und reichte ihn Klaus. Dieses Pfand fürstlichen Vertrauens sollte den Brief beglaubigen, mit dem Bismarck die Kurpfalz zu gemeinsamem Handeln gegen den Kaiser aufzurufen gedachte. Schweigend empfing ihn Klaus.

Aber noch war zwischen den beiden Männern das Schwerste nicht abgeredet. Wieder trat der Leidenszug treibender Unruhe in den Zügen der Kurfürsten hervor. Er setzte mehrmals zum Reden an und preßte doch wieder die Lippen aufeinander. Aber der Tod stand hinter ihm, er hatte kein Recht, zu zögern und zu schweigen.

»Nun noch eins,« sprach er endlich. »Dann ist alles gut, und ich darf schlafen gehn. Ich fordere keinen Schwur, aber gib mir die Hand darauf, Klaus, daß ich für dich in meinem Bruder fortleben werde, wenn ich nicht mehr bin. Otto braucht dich mehr als ich. Das weißt du. Denn du kennst ihn –«

»Ich kenne ihn,« sprach Bismarck, und es war eine schmerzvolle und bittere Antwort.

»Mißtraue ihm nicht zu sehr!« bat Herr Ludwig für seinen Erben. »Ich kenne den leichten Sinn meines Bruders, wie du ihn kennst. Aber sei gerecht: Er glaubte nie, daß ihm einst die Krone zufallen würde. Ist's nicht so? Er ist mein Bruder, Klaus. Führe du ihn durch die harsche Zeit, härte ihn, mache ihn zum Manne! Du hast geschworen, die Mark zu retten, tue denn nun dein Meisterstück und schaffe ihr einen Fürsten!« Bittend blickte er auf. Klaus Bismarcks Stirn war verdüstert. »Meine Mannesjahre habe ich im Schildamt für Wittelsbach gelebt,« sagte er ernst. »Ist er unsrer Sache treu, so werde ich's ihm sein.«

Bismarcks Stimme klang mutlos, doch Herr Ludwig hörte und ergriff nur die Zusage. »Dank, Klaus,« sagte er leise. Dann bat er: »Ich bin sehr müde. Gib mir nun ein Lager, Klaus, und sitze still bei mir und laß uns warten, bis Otto kommt. Ich habe ihn nach Burgstall berufen. Hand in Hand soll er uns beide finden. Wenn ich dann fühle, daß mir die Hand erkaltet, so löse ich die deine aus der meinen und lege sie in die Hand des Bruders; als Bote soll sie die letzte Wärme meines Blutes zu ihm bringen, der ihrer bedarf.«

Da trat Frau Margarete, die bis dahin lauschend in der Tiefe des Gemachs gesessen, zu ihrem Sohn und rührte den Ergriffenen an der Schulter. Klaus wandte sich um und sah in das ernste mütterliche Antlitz. Die Ahnung einer Schicksalswende durchzuckte ihn. Es war nicht Frau Margaretens Art, in solcher Stunde in das Schicksal des Sohnes einzugreifen. Erhob sie in diesem Augenblick ihre Stimme, so sprach das Schicksal selbst aus ihr.

»Klaus, höre noch ein Wort, ehe du dich an einen neuen Herren bindest,« sprach Frau Margarete. »Ich will, daß du wach und klar in allen Dingen entscheiden sollst. Heute wie immer spare ich dir kein Leid, keinen Zweifel und keinen Kampf, auf den du ein Recht und eine Pflicht hast. Darum sieh und höre, ehe du schwörst! Du hast noch mehr Gäste in deinem Hause, die Jammer dulden. Höre auch diese hier!«

Sie schritt zur Tür und führte Godin von Sluden und Ursel ins Zimmer. Abwartend und angestrengt lauschend verharrte der blinde Mann auf der Schwelle, das Mädchen aber stürzte im fassungslosen Weh des Wiedersehens zu Klaus Bismarcks Füßen, umschlang seine Knie und sah aus leiddunklen Augen jammervoll zu dem ernsten Mann im eisengrauen Kleide auf, in den sich der Jugendgeliebte gewandelt hatte. »Klaus!« schluchzte sie.

Erschüttert suchte Bismarck das Mädchen aufzuheben. »Ursel Hidde –! Gott, wo kommst du her?« entfuhr es ihm, und das Herz krampfte sich unter der Wucht verschollener Erinnerungen und schmerzvoller Ahnungen zusammen. Aber Ursel Hidde widerstrebte den hilfreichen Armen, die sie emporzuziehen versuchten, und schrie dem Manne sogleich ihr Schicksal und ihre Sehnsucht ins Gesicht. »Mein Vater liegt in Stendal im Turm, Klaus!« rief sie. »Ich stehe nicht auf, eh' du nicht sagst: Ich helfe ihm!«

Und nun erhob auch der blinde Sluden seine Stimme, und seine Worte fuhren schwer und drohend durch die Stille, die sie wirkten. »Deine Brüder liegen wund und blutig im Hungerturm zu Stendal, Klaus Bismarck. Deine Brüder irren rechtlos und obdachlos um deine Burg, Klaus Bismarck! Deine Brüder tragen Wunden aus verlorenen Schlachten, weil du nicht treu warst, Klaus Bismarck! Blind und bettelnd bin ich zu deinem Tore getappt, um dich an deine Treuepflicht zu mahnen, Klaus Bismarck! Höre mich oder höre mich nicht! Ich will meine Pflicht üben an den Brüdern, solange ich Atem habe.«

In die anklagende Stimme des Blinden mischte sich ein Stöhnen. Es klang von den Lippen des Wittelsbachers, der ohne Wissen des Blinden im gleichen Raume seine letzte Not litt. »Das Sterbelied der Mark,« stöhnte der geschlagene Fürst, »es tönt – und tönt –«

Da hob der Blinde lauschend das verwitterte Haupt. »Das war die Stimme Ludwig von Wittelsbachs,« sagte er, und eine tiefe Erregung zitterte in seiner Stimme. »Ein Sterbender wie du,« kam dumpf vom Stuhle her Antwort, »ein Bettler wie du.«

Die Unversöhnlichkeit schwoll in Sluden empor, hart und grollend klang seine Stimme: »Du hast uns Unheil bedeutet, Markgraf, wo immer du uns erschienen bist. Unheil ahne ich auch heute von dir, da ich deine Stimme höre. Warum schweigst du, Klaus? Ich höre das Klopfen deines Herzens. Rede!«

Klaus Bismarck hörte kaum, was der Greis rief. Er hörte nichts als das Stammeln des einst und immer geliebten Mädchens, das tränenerstickt auf ihn eindrang. »Klaus,« flehte Ursel Hidde leise und bebend, »wenn du helfen darfst, hilf dem Vater! Er stirbt an der Schande – hilf ihm, Klaus! Gib ihn mir zurück, ehe es zu spät ist!«

Frau Margarete blickte in tiefer Bewegung auf ihren Sohn, der stumm mit übergewaltigen Empfindungen rang. Sie wußte, jetzt entbrannte in seinem hartgeprüften Herzen der furchtbare Endkampf der großen Pflichten, den er ausgekämpft und überwunden glaubte. Tote erstanden und stritten mit, Vater und Vaters Freund tauchten aus ihren Gräbern, Eingekerkerte schrien aus der Nacht ihrer Gefangenschaft, Hungernde und Heimatlose riefen um Hilfe, ein Blinder sang drohend das herbe und harsche Lied der Treue, und die Geliebte lag zagend und hoffend auf den Knien vor ihm, dem Einzigen, der Macht und Kraft hatte, die letzte, blutige Not und Marter zu wenden.

In furchtbarer Erregung brach der starke Mann schwer in die Knie, und der Schmerz riß ihm die Worte aus dem Herzen und von den Lippen, ohne daß er Macht über sie hatte. Klaus von Bismarck bestürmte seinen sterbenden Fürsten um das verlorene und verwirkte Recht auf Treue gegen die Seinen. »Ludwig,« keuchte er, »ich habe dir einst geschworen, in eigener Sache kein Schwert zu ziehen. Ich weiß es und muß es halten, wenn du willst. Ich habe geschworen. Aber heute in der schwersten Stunde, die du leidest, bitte ich dich – sieh, Ludwig, mir bleibt keine andere Stunde zu bitten! gib mir den Schwur zurück! Dies habe ich nicht vorausgesehen –. Die Brüder meines Vaters sterben im Turm zu Stendal, wenn ich mich ihnen versage. Ich kann nicht an den Nächsten treulos sein. Gib mir den Eid zurück!«

Der Markgraf sah den gemarterten Mann in tiefem Erbarmen an. »Du treuer Mann,« sagte er und neigte sich zu ihm, »du forderst dich selbst zurück, nicht deinen Eid, und du weißt es nicht einmal.«

»Nein, Ludwig, nein!« rief Klaus leidenschaftlich. »Entlasse mich nur auf Wochen, nur auf Tage aus deinem Dienst, und ich stille das Blut dieser Herzen und kehre zurück und bin dein für immer.«

Er brach ab. Ludwig Wittelsbach zwang mit der ihm eigenen dunklen Kraft der Seelensprache Bismarcks Blick in den seinen und sah ihm mit anklagender Schwermut ins Auge. »Klaus, Klaus,« sprach er, »willst du Kluger nicht sehen, was ich sehe? Glaubst du, ich hätte nicht längst die Deinen befreit, wenn es einer von uns beiden dürfte? Wir durften es nicht. Sieh, Klaus, du weißt es wie ich: Wenn wir mit dem Schwertknopf an Stendals Tor rühren, so rühren wir alle Glocken in allen Städten der Mark zum Aufruhr. Ist's nicht so, Lieber? Wer Stendal bestürmt, bestürmt die Mark und ist mir verloren. Und ich brauche dich! Du bist der Einzige, dem alle vertrauen. Wer mir vertraut, tut's um deinetwillen. Dich wissen sie selbstlos und rechtlich. Sie sagen, daß ich mir den Roland von Stendal zu Hilfe holte, du bist ihnen wie jener Stein ein Sinnbild der Gerechtigkeit. Wenn du dein reines Schwert ein einziges rasches Mal in eigner Fehde ziehst, ist der Glanz um dich dahin, du bist ein Mensch wie tausend andre, kein Roland und Richter, ein Schloßgesessener, der seinem Vorteil nachjagt. Ist's nicht so, Klaus? Ich frage meinen Rat: Ist's nicht so?«

Die Worte des Fürsten strömten in Klaus Bismarcks Herz über wie ein Zauber, der Menschen zu Stein wandelt. Alle Farbe war aus seinem Antlitz gewichen, es war grau wie Kalk. Das Haupt sank ihm in den Nacken. »Es ist so,« sagte er dumpf wie ein Gerichteter. In den Zügen des Wittelsbachers kam kein Triumph auf. Er wußte, was der Treueste der Treuen vor ihm und durch ihn litt. Er durfte ihn nicht lösen. Er war der unbestechliche Sachwalt des größeren Rechtes, das ein Volk in Not an diesen Einen hatte. Noch war der heilige Schwur, die Mark zu erlösen, nicht erfüllt. Dieser Eid band Mann an Mann und hielt eiserner in Bann und Pflicht als der Erlösungsschrei eingekerkerter Blutsbrüder. Der sterbende Markgraf empfand, es war an ihm, in seiner Todesstunde dieser heiligen Last und Pflicht auf Klaus Bismarcks Nacken Ewigkeitskraft zu geben.

»War's nur ein übereilter Schwur, der dich bindet,« begann er von neuem, »so löste ich ihn wohl. So aber habe ich eine andre Antwort an dich.«

Mühsam zog Kurfürst Ludwig das Schwert von seiner Seite, richtete sich halb auf, soweit seine Kraft es zuließ, legte das blanke Eisen auf die Schulter des Knienden, als gälte es einen Ritterschlag, und rief laut und voll Nachdruck: »Kanzler der Mark, stehe auf!«

Starr schaute Klaus Bismarck in das von innerster Erregung blutleere Antlitz des Fürsten, und er empfand wie jener Gewalt und Gewicht der Stunde. Erschöpft sank der Wittelsbacher zurück und fuhr fort: »Ja, Klaus, ich lege die Siegel von Brandenburg in deine Hände. Vor dieser Stunde schon hatte ich's beschlossen und unterschrieben. Nun ist's vollzogen. Nimm hin, sei mein Kanzler! Das ist meine Antwort.«

Er zog ein Pergament aus dem geöffneten Rock und ließ es in Bismarcks Hände gleiten.

Eine krampfhafte Wachsamkeit war in Klaus Bismarcks Antlitz getreten. Er hielt seine Bestallung zum Kanzler in Händen, und es war merkwürdig, wie er den Vollgehalt des Schnörkel- und formelreichen Schreibens mit einem Blick der großen, weit geöffneten Augen, in denen die ganze Kraft seines Geistes funkelte, in sich schlang. Er schien nicht Worte noch Sätze, er schien das Ganze mit einmal zu lesen, und als er das Blatt nach Herzschlagdauer sinken ließ, wußte er den ganzen Umkreis seiner Rechte und Pflichten. Er war Kanzler der Mark, das hieß, ohne sein Wissen und seinen Willen durfte nichts im Lande geschehen, solang er das Siegel des Fürsten führte.

Der blinde Sluden hatte die letzten Worte Ludwigs gehört, in denen noch einmal die fürstliche Kraft dieses seltenen Mannes hallend aufschwoll, nun hörte seine Seele die geheimnisvolle Stimme der Stille, die ihre Kreise um ihn und die anderen zog. Er empfand ein würgendes Angstgefühl in Brust und Kehle; die Stille, in der sich das Letzte entschied, legte sich wie erstickender Qualm auf ihn, bis endlich der Schwalch seines Grolls lodernd und flammend hindurchbrach. Beide Hände streckte er in das Dunkel vor seinen Augen und rief wie ein Beschwörer des Bösen: »Die Hand zurück, Klaus von Bismarck! Das ist ein Teufelspakt!«

Aber die Würfel waren gefallen. Klingend und herrisch erging jetzt des Wittelsbachers Stimme: »Kanzler der Mark, steh auf und steh an meiner Statt dem alten Manne dort Rede! Steh auf und sprich!«

Und Klaus von Bismarck erhob sich schwer. Seine Stimme klang schmerzlich-fest, jeder fühlte: was der Mann nun sprach, war das Unabwendbare und Unveränderliche. »Godin, der Markgraf ist mein Herr. Ich habe keine andere Antwort für dich.«

Sluden zuckte zusammen wie unter einem Natternbiß, und der Haß brannte in ihm auf. Ursel Hidde schluchzte auf, einmal, noch einmal – dann war alles still.

Klaus Bismarck wandte sich zu ihr hin. Er setzte zum Reden an, doch er schwieg; er fühlte, er hatte hier kein Recht zu reden, wo er keine Macht zu helfen hatte. Die Arme zuckten ihm, ihr hilfreich beizuspringen, die sich mühsam aufrecht erhielt, aber die Arme waren ihm schwer wie Blei und an den Leib gelötet. Godin von Sluden tappte schweigend zur Tür. Als er den Türrahmen ertastet hatte, wandte er sich noch einmal und rief hart: »Komm, Ursel!«

Das Mädchen folgte ihm willenlos ein paar Schritte, dann versagte ihr die Kraft. Sie wandte, zehrendes Weh im Blick, ihr Haupt nach dem Mann ihrer Liebe. Ihre Lippen bewegten sich jammervoll. »Rufst du mir nicht nach –?«

Klaus Bismarck stand wie ein Angeschmiedeter. »Ich darf nicht.« Er sagte es schwer, als stockte ihm das Herz unter den Worten.

Mit einmal überlief den schlanken Leib Ursels ein jähes Zittern, jede Fiber ihres Wesens zuckte in tiefster Erschütterung, die ganze Seele des Mädchens schien in ihre Augen zu treten. »Klaus –!« rief sie außer sich, überwältigt und hingebend in jäher Liebesoffenbarung, »Klaus! Ich sehe es ja, du leidest mehr als wir – ich sehe es ja!«

Sie zitterte immer stärker und tastete nach einem Halt. Da rann eine wilde und elementare Kraft durch Klaus Bismarck. Das Wunder weiblicher Hingabe sättigte seine erstarrende Seele mit Willen und Sehnsucht. Er fing sie auf, er umschloß ihr Haupt mit beiden Händen und sah dürstend in die Tiefe ihrer Augen. »Weißt du das, Ursel?!« rief er fast wild.

Das Mädchen atmete schwer, als müsse sie unter der Gewalt ihrer Gefühle vergehen. »Ich sehe, was du tust,« hauchte sie bebend. »Und wer so tut wie du, der ist verworfen, oder er ist viel zu groß, als daß wir rechten dürften mit ihm. – Klaus, du bist nicht verworfen, bist nicht ehrlos. –; Klaus, ich bitte nicht mehr um Hilfe – ich sehe ja, jetzt brauchst du Hilfe!«

Der Kanzler riß das Mädchen tief in seine Arme. »Ursel –-!« kam es aus seiner Brust wie ein rauher Schrei, »Ursel, du mein Weib!«

Eine Quelle sprang auf vor Wüstenwanderern, eine heilige Quelle. Alle Leidensfahrt durch dürre, einsame Jahre war nur ein Pilgerweg zu dieser heiligen Quelle. Zwei Seelen tauchten unter in dem Gesundbrunnen göttlichen Menschentums, das mit tiefster Liebe tränkt und weiht.

Ursel Hidde hatte heimgefunden von jahrelanger Irrfahrt. Die Stunde höchster Not sprach den Segen der deutschen Schwertbraut über ihren leidgeprüften Scheitel.

Der verbitterte Greis stand auf der Schwelle und lauschte. Sein Ohr hörte die Welle des Glücks rauschen, die einen Treulosen und Abtrünnigen überflutete.

»Lebt wohl,« rief er finster, »wenn Ihr's noch könnt! Der Konrad Hidde sieht seine Schande nicht mehr. Das ist mein Trost.« Er setzte den Stab über die Schwelle und ging. Frau Margarete ging ihm leise nach, um noch gegen seinen Willen für ihn zu sorgen.

Die beiden ineinander versunkenen Menschen hatten die Worte des Blinden kaum gehört. Ihre Welt und die des Blinden hatten nichts mehr gemein.

Da kam mit einmal aus dem Stuhle Ludwig von Wittelsbachs ein gurgelnder Schrei, wie von einem Erstickenden und Ertrinkenden. »Klaus –! Klaus –! Ich sterbe –!«

Jäh stürzte Klaus Bismarck zu seinen Füßen nieder und rief angstvoll zu ihm auf: »Ludwig! Bleibe bei uns! Siehst du uns noch?«

Die Augen des Fürsten waren starr in unsichtbare Weiten gerichtet. Aber seine Hände ertasteten noch die Häupter Klaus Bismarcks und seiner Braut. »Seid glücklich, wie Ihr treu seid,« kam es mühsam wie ein Scheidesegen von seinen Lippen. Und nach einer Weile noch einmal: »Dank, du Treuer –«

Sein Haupt sank rücküber. Er atmete schwer. Der Atem wurde Röcheln. Nach bangen Augenblicken straffte er sich noch einmal empor. Eine entstellende Angst arbeitete quälend in den verfallenen Zügen. In seinen letzten Augenblicken überfiel ihn noch einmal die folternde Angst um den Erben seiner Krone und Pflicht. »Ist Otto noch nicht hier?« stöhnte er. »Klaus, kommt er nicht? Gott, Gott, wenn du mir ein Zeichen geben willst, so führe ihn her!« Er sah hellseherisch in die Ferne, als wollte er Otto von Wittelsbach herbeizwingen.

Klaus von Bismarck faßte in qualvollem Drange zu helfen die schön erkaltenden Hände des Freundes. Herzlich dringend sprach er dem Sterbenden zu: »Ludwig, wir beiden haben nie an böse Zeiten geglaubt. Eher an Wunder, Ludwig, – glaube an Wunder! Das Sterbelied der Mark wird enden – hörst du, es wird enden!«

»Herr Gott, in deine Hände!« schrie Ludwig Wittelsbach auf und fuhr mit beiden Händen nach dem Herzen. Dann fiel er tot in sich zusammen. Klaus Bismarck und Ursel Hidde lagen auf ihren Knien und regten sich nicht.

In diesem Augenblick trat Frau Margarete wieder ins Zimmer. Sie gewahrte den Toten. Leise hob sie Ursel auf. »Komm, Töchterchen,« sprach sie, »laß diese zwei allein!« Und still führte sie das Mädchen hinaus.

Auch Klaus Bismarck erhob sich. Tappend wie ein Traumwandler tat er zwei sinnlose Schritte. Dann mit einmal schien er aus tiefer Bewußtlosigkeit wieder in den Abgrund der Wirklichkeit abzustürzen. Wankend näherte er sich dem Leichnam des Freundes. Seine Hand fuhr über die gebrochenen Augen. Und dann mit einmal brach er wie ein gefällter Baum zusammen, und aus wunder Brust quoll ihm ein hartes, röchelndes Schluchzen.


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