Walter Flex
Der Kanzler Klaus von Bismarck
Walter Flex

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I.

»O meine Mark! Vom zähneknisternden Haß aller gegen alle bist du kläglich zerfleischt!«

Das Sterbelied der Mark klang und klang... Seit dem rätselhaften Tode des großen Waldemars lag das Land vor den Hunden. Der landfremde Fürst aus Wittelsbachschem Blute, der das verwaiste Erbe der einheimischen Markgrafen aufgenommen hatte, war seinem verwilderten Volke lebenslang fremd geblieben. Im Sterben ließ er dem Bruder einen im tiefsten zerrütteten Staat und leere Kassen. Der neue Herr, Ludwig von Wittelsbach, kam ins Land, aber niemand horchte in Haß oder Hoffnung auf seine Schritte.

Die Pest fraß am Marke Brandenburgs. Hütten und Höfe verödeten. Geißelbruderschaften zogen, irre Lieder auf schäumenden Lippen, blutige Peitschen in Händen, durchs Land und trugen ihren gespenstischen Wahnsinn von Stadt zu Stadt. Das verzweifelte Volk, über dem der Todesvogel seine Kreise zog, raunte von vergifteten Brunnen und suchte in blindem, zähem Haß nach Schuldigen. Judenbrände flammten qualmend auf und warfen flackernde Schatten in die verödeten Gassen. Aber kein Gott sah gnädig auf die blutigen Opfer, die Haß und Verzweiflung ihm darbrachten.

In Haß und Hader war ein Kampf aller gegen alle entbrannt. In dem armen Lande, dem der Herr fehlte, waren die kleinen Herren mächtig geworden und rauften um die Fetzen des Fürstenmantels. Die schloßgesessenen Herren machten als Strauchritter die Straße unsicher und führten auf ihren Burgen von Raubbeute und erpreßtem Geld ein Schmarotzerleben. Kein Kaiser wehrte ihnen. Der Luxemburger Karl wartete, lauernd auf die Todesstunde der Markgrafenherrschaft, in der er als Erbe aufzutreten gedachte. Die Städte griffen zur Selbsthilfe, und die Zunftwehren lagen in zähem Haß um die festen Burgen. Aber innerer Hader machte auch die Städte hilflos und untüchtig. Eifersüchtig hüteten die alten Patriziergeschlechter, die ihre Abkunft von königlichem Schwertadel herleiteten, die ererbten Herrenrechte und wehrten den aufstrebenden Handwerkern Anteil an Rat und Gericht. Die Zünfte schlossen ihre Jungmannschaft zu streitbaren Fußwehren zusammen und zwangen in blutigem Aufruhr die Geschlechter nieder, deren Häupter unter Beil und Mordspieß fielen. Eine Stadt nach der andern sah den Fall der verhaßten Gildejunker, nur in Stendal, der altmärkischen Hauptstadt, wahrten die Geschlechter noch in zähem Trotze die alten Rechte und ließen sich keinen Deut abmarkten. Aber auch hier mehrten sich die Sturmzeichen, zumal der Klerus, statt auf Versöhnung zu dringen, in Beichtstuhl und Schule den aufflackernden Hader schürte, um die selbstherrliche Macht der Geschlechter zu brechen und unter Zucht und Willen der Kirche zu bringen.

Der Führer des bedrohten Stadtadels war Rule von Bismarck, ein reckenhafter Greis von unbeugsamer Willensstärke. Ihn erfüllte ganz das trotzige Bewußtsein, Hüter der stärksten und einzigen Macht in dem verlorenen Lande zu sein. In den Truhen der Geschlechter, die durch Jahrhunderte Handel und Wandel beherrscht hatten, lag das Gold wie ein Kronschatz, der sie zu Herren machte. Diesen Königshort bewachte er als Aldermann der Gilde und Ratsherr von Stendal.

Er nahm jeden Kampf auf, der ihm aufgezwungen wurde, und wich keines Haares Breite von dem Platz, auf den ihn Geburt und Kraft gestellt hatte. Rücksichtslos ging er zum Angriff vor, wo er geheime Feindschaft witterte. Nun stand er an der Schwelle des Todes und stemmte sich mit letzter Kraft gegen den Ansturm der neuen Zeit. Aber noch einmal riß er die Geschlechter in einen Kampf, in dem sie verbluten oder siegen mußten.

Seit Menschengedenken lag das Lehramt in den Händen der Kirche. Jetzt aber, als der Klerus in stillem Neid gegen die Allmacht der Geschlechter daranging, sich in den Schulen gefügige Geister zu erziehen, ersah der Greis die entscheidende Stunde und riß die blühende Jugend aus den Händen der Geistlichkeit. Er gründete eine weltliche Schule und erbaute sie, allem Haß und Drohen trotzend, wie ein Bollwerk freien Herrentums auf Stendals altem Markte vor der Stirnseite von St. Marien und unter den Augen des steinernen Rolands, der nun mit seinem erhobenen Richtschwert zwischen Kirche und Schule stand.

Rule von Bismarck wußte wohl, daß er Rom zum Kampf gestellt hatte. Aber unbewegt sah er, wie Stein auf Stein sich zu dem neuen Bau fügte. In ihm lebte wohl die eiserne Frömmigkeit, aber auch das tatentrotzige Machtbewußtsein der alten Sachsenkönige fort, die einst seine Ahnen als Schwerthüter deutscher Art in das eroberte Wendenland gesetzt, hatten. Um ihn scharten sich alsbald wie immer die Giso von Schadewachten, Godin von Sluden, Gottschalk von Jerichow, Berndt von Röxe, Konrad von Hidde und wie sie heißen mochten. Zu einer Mauer gefügt, stand die adlige Gilde und wartete des Sturms.

Und er blieb nicht aus. Der Bannstrahl fuhr von Rom her über die unbotmäßigen Häupter der Geschlechter. In St. Marien, der Ratskirche, sollten die Lichter vor dem Martinsaltar der Gilde gelöscht werden und von allen Kanzeln die Namen der Gebannten gelesen werden, die die Kirche als unrein ausstieß.

Das Gerücht ging seit Tagen durch Stendal. Aber noch verharrten die Geschlechter in abwartendem Zweifel. Zu oft in dieser Zeit verhaltenen Kampfes hatte der Pöbel von der ersehnten Kampfansage gegen die Geschlechter geraunt, aber stets waren die Drohungen nur die Vorboten neuer Verhandlungen gewesen.

Der Tag des heiligen Martin war gekommen, ein Festtag der Gilde, die den frommen Ritter als Schutzpatron verehrte. Graue Novembernebel hingen über den Türmen und Giebeln von Stendal. Der Platz vor St. Marien wurde von den feinnässenden Schauern der Morgenkühle durchfröstelt.

Trotz der unfreundlichen Witterung strömte hier schon lange vor Beginn der Frühmesse eine Menge Volks zusammen, kleine Leute zumeist, Handwerker in Buntleinenkitteln und Frauen in hochgeschlagenen Beiderwandröcken. Die Männer und Frauen standen in getrennten Gruppen beieinander, die einen tuschelnd und schwatzend, die andern in schweigender Erwartung gaffend und horchend. Flachshaarige, barfüßige Kinder liefen in aufgeregter Beweglichkeit umher und lockten sich mit halblautem Zuruf gaßauf und gaßab. Ab und zu klang ein keifendes Zurechtweisen, ein höhnisches Auflachen oder ein alarmierender Zuruf.

Etwas Außergewöhnliches war im Werke. Aber nicht fröhliche Neugier lag auf den hartkantigen und mageren Gesichtern, das Lachen der Frauen klang gereizt und tückisch, und um Augen und Mundwinkel der Männer lag ein lauernder und abwartender Hohn. Das Hin und Her mehrte sich von Minute zu Minute und schwoll zu fieberhafter Erregung, als ein halbwüchsiger Bursche, die Gasse heraufjagend, ein paar Namen in die schwatzende Menge schrie.

»Der Schadewachten!« rief er, »der Gottschalk Jerichow und der Sluden!«

Ein Murren hob an und schwoll zu lauten Verwünschungen. Es waren verhaßte und gefürchtete Namen, die da aufklangen.

Aber dann wurde es still. In scheinbar lässigem Gleichmut schritten drei reichgekleidete Herren über den Platz.

Der greise Giso von Schadewachten und der graue Godin von Sluden trugen reiche Pelze, der junge Jerichow ein Festkleid aus rotem, verbrämtem Tuch, das seinen schlanken Wuchs zu fürstlichem Anstand hob.

Die drei ließen die Augen ruhig und kalt über die Menge gehen, aus der ihnen hundertäugiger Haß und Hohn entgegenglitzerte. Jerichows Lippen waren zu verächtlichem Trotz geschürzt, die beiden Alten trugen in ihren unbewegten Mienen nichts als hochmütige und ruhige Unnahbarkeit.

Auf dem Platz war es ganz still geworden, während die Gildeherrn durch die Menge hindurch und die Stufen zum Kirchenportal emporschritten. Es war, als duckte sich das stillgewordene Volk, aber dieses Ducken war feindselig und tückisch und konnte jeden Augenblick zu wölfischem Ansprung werden. Es lag keine knechtische Unterwürfigkeit auf den gebeugten Nacken.

»Der Bismarck,« schrie es über den Platz. Der Name klang wie ein Kampfruf.

Eine Bewegung kam in die Menge, und alles drängte nach dem Rufer zusammen. Aber alsbald ging eine sichtbare Enttäuschung über die hartkantigen Gesichter. Die Reckengestalt des alten Rule Bismarck fehlte unter denen, die da kamen.

Der schwarzbärtige Konrad von Hidde schritt finster und prächtig an der Seite seines Töchterleins Ursula durch die Gaffer. Wie eine schützende Leibwache schlossen sich dicht an die beiden der stiernackige und untersetzte Berndt von Röxe und Rules Sohn Klaus von Bismarck.

Die schlanke Lieblichkeit des Mädchens wurde festlich gehoben durch das moosgrüne Tuchkleid, das ihre Gestalt unter dem goldbraunen Überhang umschmiegte. Auf ihrem feinen Gesichtchen lag eine leichte Blässe, aber auch sie trug das Haupt erhoben, und das dunkle Blond ihres Haars schimmerte wie ein Krönlein. Als sie den menschenerfüllten Platz vor sich sah, ging ihr Blick mit einer scheuen, kaum merklichen Frage nach dem jungen Klaus von Bismarck hinüber, der ihr zur Seite schritt. Er fing ihren Blick mit seinen großen blauen Augen auf, und in ihnen lag das geruhige Lächeln selbstsicherer Überlegenheit. Eine linde Fröhlichkeit wallte in ihr auf, und sie dankte ihm kaum merklich mit einem Lächeln. Das Herz wurde ihr leicht neben seiner behütenden Kraft.

Er geleitete sie die Kirchentreppe hinauf, und während jetzt aus der Volksmenge Hohn und Erbitterung in Wellen zu dem Häuflein der Geschlechter emporschlug, stand er mit halber Schulterwendung gegen den Pöbel lächelnd vor ihr und schien wie ein Pfeiler den brandenden und spritzenden Haß von ihr abzuhalten.

Klaus von Bismarck bot in seiner straffen Jugendfülle ein schönes Bild gesammelter Kraft und abwartender Streitfröhlichkeit. Aufregender als laute Schmähung wirkte auf die erbitterte Menge die Anmut seines lässigen Hochmuts. Der Adel seiner herrischen Erscheinung strahlte nicht von der reichbestickten und verbrämten dunkelblauen Gewandung aus, sondern sprach aus den kühnen und großen Linien des bartlosen Jünglingsgesichts, aus dem Umriß des langgewölbten Schädels unter der aschblonden Lockenfülle, aus der schlanken Anmut des freien Halses und aus dem königlichen Wuchs der Glieder, in deren unausgeglichener Herbheit die spätreifende Kraft des Niedersachsen gebunden lag. Er hielt die lose zur Faust geballte Rechte mit dem Daumen in den Gürtel des Wehrgehenks eingehakt, und die fast zu große Männerhand barg sichtbar eine bärenhafte Stärke.

Seine Aufmerksamkeit schien ganz der leise geführten Unterhaltung der älteren Gildebrüder zugewandt und war doch unmerklich zwischen ihnen und der Beobachtung der auf geregten Menge geteilt.

Die meisten der adligen Herren konnten ein verdrießliches Unbehagen nicht ganz verbergen. Sie waren bislang nur zu sehr gewohnt gewesen, in allem der wegweisenden Führung Rule Bismarcks zu vertrauen. In der Nacht war der Alte von jähen Herzbeschwerden in die Kissen geworfen worden, und schon machte sich das Fehlen seiner Persönlichkeit bemerkbar. Ein Teil der Gildeherrn hatte es vorgezogen, einen öffentlichen Kirchgang, der leicht an verschlossenem Portal endigen konnte, zu vermeiden, andere wieder trieb der Herrentrotz, sich mit eigenen Augen Sicherheit über Trug oder Wahrheit der umlaufenden Gerüchte zu holen. Nun standen sie zum ersten Male in einer Schicksalsstunde der Geschlechter als ein Häuflein vor dem empörten Pöbel, statt durch Vollzahl und Einigkeit ihre Entschlossenheit zu bekunden oder durch gänzliches Fernbleiben den Zusammenstoß bis zu einer günstigeren Stunde hinauszuschieben.

Besorgt neigte sich der greise Schadewachten dem jungen Klaus zu und raunte: »Wie steht's mit dem Vater?«

Klaus Bismarck entging es nicht, daß die Frage von den zunächststehenden Handwerkern aufgefangen wurde, und las von den vorgestreckten Gesichtern die Neugier ab. Er warf den Kopf noch hochmütiger auf und antwortete lauter als nötig: »Besser, Freund, besser! Er fühlt sein Blut in neuer Kampflust genesen, seit er das Laufen und Schwatzen in den Gassen hört!«

Einen Augenblick wurde es still, dann antwortete der kecken Rede ein vielhundertstimmiges Summen, das schwellend wuchs und in laute Verwünschungen ausbrach. Geballte Fäuste erhoben sich, und ein Menschenknäuel, in dessen Mitte Klaus Bismarck die sehnige Gestalt des jungen Schmiedemeisters Stotfalke bemerkte, drängte sich drohend durch die Menge nach der Kirchentreppe.

Aber ehe der Handwerksmeister noch den Mund öffnen konnte, rief mitten aus dem Volke ein Bismarckscher Knecht, für den es kein Durchkommen mehr gab, den Namen des Herrn Konrad von Hidde.

Noch einmal wurde es still, und der Knecht könnte sich mit lauter Stimme über die vielen neugierig gereckten Köpfe hinweg seines Auftrags entledigen: »Herr Rule Bismarck will mit Herrn Hidde reden!«

Der Gildeherr wandte sich unverzüglich zum Gehen, um dem Ruf des Kranken zu folgen. Als aber sein Auge die Gestalt seines Töchterchens streifte, blieb er unwillkürlich unschlüssig stehen. Sollte er sich mit ihr in das Gedränge wagen? Sollte er sie in der Hut der Freunde zurücklassen?

Es entging seinem klugen Auge nicht, daß sich Ursels und Klaus' Blicke in einem frohherzigernsten Einverständnis getroffen hatten, als der Knecht seine Botschaft ausrichtete. Beide glaubten zu wissen, was die Väter miteinander zu bereden hätten. So reichte Konrad Hidde dem jungen Bismarck nur wortlos die Hand und empfand den Gegendruck wie ein Gelöbnis. Er wußte sein Kind in Sicherheit und schritt erhobenen Hauptes durch die auseinanderweichende Menge.

Noch war die Gasse hinter ihm nicht wieder zusammengeflossen, als eine schrille Knabenstimme schrie: »Sie kommen! Sie kommen!«

Die Wirkung der Ankündigung war eine ungeheure. Lautlos fast, in atemengender Erregung schob sich das Volk nach dem Rufer hin zusammen. Da jagte auch Hardekop, der hagere, rothaarige Gerber, die Kirchgasse herauf, und schrie atemlos das Neueste aus: »Sie sind im Stift! Sie kommen in Prozession! Sie lassen Kerzen zünden! Sie –«

Eine Frauenstimme überschrie den Erregten: »Die Glocken! Die Glocken!«

Und wahrhaftig, jetzt mischten die Glocken der ganzen Stadt ihre ehernen Stimmen in den Streit der Menschen. Es war kein Zweifel mehr, daß die Geistlichkeit im Begriff stand, einen entscheidenden Schritt zu tun.

Als die Glocken laut wurden, hallte denn auch ein wilder Freudenschrei aus der Menge. Endlich war der ersehnte Tag der Abrechnung da!

Auf der Kirchentreppe neigte sich der greise Schadewachten zu Klaus Bismarck: »Ich wollte, wir ständen nicht hier. Das läuft nicht gut. Konnten wir nicht so klug sein wie die andern, die den Lärm zu Hause abwarten! Was haben wir nun davon, uns aus der Kirche jagen und verlachen zu lassen!«

»Verlachen?« gab Klaus hochmütig zurück, und der Ton der Stimme verriet, daß er sich nicht wehrlos fühlte und gegen Hohn und Spott nicht um eine Antwort verlegen sein würde.

Und er brauchte nicht lange zu warten. Stotfalke, dem eine wilde, gehässige Freude das hagere Gesicht rot überstrahlte, schrie drohend zu dem Häuflein auf der Treppe empor: »Herren von Rat und Gilde! Hört's! Hört und merkt auf! Hört auf die Glocken! Das gilt Euch!«

Und nun trieb es die Hunderte unwiderstehlich, den Gildeherrn ihren Haß ins Angesicht zu schreien. Sie nahmen den Ruf auf. »Hört! Hört die Glocken, Ihr da!«

Immer feindseliger schwoll das Geschrei an, dicht an Klaus Bismarcks Ohr wurde eine harte Greisenstimme laut: »Hört die Glocken! Hört Euer Schandgeläut! Hört den Bann, den die Glocken über Euch ausrufen!«

Klaus maß den vor Erregung zitternden Alten mit einem verächtlichen Blick. »Schrei nicht so laut, so hört sich's noch besser!« gab er spöttisch zurück.

»Noch immer Spott!?« Drohend schnellte Stotfalke die Stufen bis zu dem jungen Gildeherrn empor, der den Anspringenden kühl von Kopf bis zu Füßen musterte. Seine roten Lippen waren geschürzt.

Dem jungen Handwerksmeister wurde das Blut heiß.

»Fort mit Euch von der Kirchentür!« schrie er überlaut, »die Kirche stößt Euch aus! Wie lang noch, so stößt Euch die Stadt aus! Ihr sollt nicht mehr lange in Rat und Gilde sitzen! Ihr –«

Schäumend fast vor Zorn brach er jäh ab, außer sich gebracht durch den stummen, doch schneidenden Hohn, der aus Klaus Bismarcks Gebärde sprach. Einen Augenblick sah es aus, als würde er dem Gegner in tierischer Wut an die Kehle fahren. Er schüttelte die geballten Fäuste: »Du –! Du, mach mich nicht toll! Du mit deinem Armverschränken und Kopfaufwerfen. Die Augen zur Erde, du, du Kind du! Mach mich nicht toll!«

»Wozu auch? Du bist toll genug.« Gelassen gab es der Bedrohte zurück.

Stotfalke trieb rasende Erbitterung zu immer wilderen Schmähungen. »Wir lehren Euch noch Bescheidenheit, Knabe! Euch allen! Aber dir vor andern! Heute stößt Euch die Kirche aus, morgen, Herrlein, morgen reden wir mit Euch! Wir, wir, das Volk, das Handwerk, der gemeine Mann jagen Euch von Euren Schöppenstühlen! Heute brechen sie Euch die Kirchenstühle, morgen –«

»Leimt Ihr sie uns wieder«, vollendete Klaus trocken.

Der Handwerker fuhr auf: »Hüte dich!«

»Das tu ich«, kam es gelassen zurück.

Stotfalke fühlte sich in seinem schäumenden Grimm wehrlos gegen den überlegenen Geist des Gildjunkers, und doch wußte er, daß die vielen hinter ihm darauf warteten, daß er den Verhaßten demütigte, der nicht aus seiner Ruhe zu locken war. Und er, Stotfalke, er wollte den Hochmütigen unterducken, und sollte er's mit den Fäusten tun. Alle Macht war in seinen Händen in dieser Stunde.

Er rückte Klaus noch dichter auf den Leib. »Herunter mit dir von der Kirchenschwelle!« schrie er, aber er packte doch nicht zu. »Herunter! Die Kirche kennt dich nicht!« In Klaus' Haltung hatte sich nichts geändert, er ließ das Auge über die Kirche schweifen und zu den noch von Baugerüsten umkleideten Turmstümpfen emporgleiten. »Ich kenne sie um so besser. Sie wird von meines Vaters Gelde erbaut.«

Stotfalke hohnlachte. »Pocht Ihr noch auf Geld? Pocht Ihr noch auf Macht? Es ist zu Ende mit Euch! Von Stufe zu Stufe –«

In der Besinnungslosigkeit seiner Wut hatte sich der Handwerksmeister hinreißen lassen, den unbeweglichen Gegner mit Gewalt zu verdrängen. Aber »Obacht, Mann, die Stufen!« rief Klaus kühl und stellte dem auf ihn Eindringenden ein Bein, daß er taumelnd in die Luft griff und die Treppe hinabstürzte.

Ein vielstimmiger Wutschrei brandete auf. Stotfalke raffte sich mit geballten Fäusten vom Boden auf, um von neuem die Treppe anzustürmen. Hardekop und andere drängten nach.

Aber plötzlich fühlte sich der Wütende am Arm gepackt und hörte an seinem Ohr eine fremde Stimme, die wie ein Heroldsruf klang: »Ho, sie kommen! Ho, sie kommen!«

Sogleich strömte die Menge stürmisch die Gasse hinauf der Prozession entgegen. Stotfalke sah sich mit einmal allein den Gildeherrn gegenüber. Nur der Fremde, der den Ruf ausgestoßen hatte, stand neben ihm und war bestrebt, ihn den andern nachzuziehen. Als der Rasende sich umwandte, blickte er gerade in zwei dunkle, seltsam ruhige und herrische Augen. Da folgte er dem fremden Willen ohne Widerstand.

Auch Klaus Bismarck war die hohe Gestalt, deren Schlankheit noch durch die schlichte, schwarze Gewandung gehoben wurde, aufgefallen, aber es war nicht Zeit, über ein fremdes Gesicht nachzudenken.

Rasch sprang er die Stufen hinunter und spähte in die Gasse. Dann wandte er sich zu den Seinen zurück. »Nichts. Es ist niemand zu sehen. Ein falscher Lärm.«

Der alte Sluden legte dem jungen Draufgänger mit einem Lächeln die Hand auf die Schulter und setzte hinzu: »der dir aber sehr zur rechten Zeit kam!«

Klaus nickte mit einem leisen Lächeln. Dann fragte er nachdenklich: »Wer war der Fremde, der sein ›Ho, sie kommen!‹ schrie, als würfe er einen Knochen unter die Hunde? Kennt ihn keiner?«

»Gleichviel, gleichviel,« brach Schadewachten ab, »er hat uns, ohne es zu wollen, einen Abzug in Ehren verschafft. Wer klug ist, geht nach Hause, ehe er mit Spott und Schande heimgejagt wird.«

Auch Sluden wandte sich zum Gehen. »Gott befohlen, Freunde!« sprach er lächelnd zu den ernst gewordenen Gildebrüdern, »Gott befohlen, wenn einer im Kirchenbann so sagen darf. Auf Wiedersehen nachher bei Rule Bismarck!«

Röxe und Jerichow schlossen sich Schadewachten an, während Klaus und Ursel Hidde einen Weg mit dem alten Sluden hatten. Der greise Schalk aber bog so rasch um die Häuserecke, als ließe er die beiden jungen Leute absichtlich zurück. Klaus verstand den Alten und schaute ihm lächelnd nach, dann wandte er sich mit einem Scherzwort an Ursel: »Ein Schelm, der alte Godin! Aber du glühst ja, Ursel?«

»O du,« gab das Mädchen leicht zurück, aber die Augen leuchteten ihr dabei verräterisch auf, »mit deiner flinken, kecken Zunge, du! Willst du jetzt deinen Spott mit mir treiben? Für heute hast du, scheint mir, genug gesprochen!« Sie reichte ihm lachend die Hände. »Klaus, dein Hochmut hat sie wie Pfeffer in die Augen gebissen! Was bist du dreist!«

Die beiden, denen herzliches gegenseitiges Gefallen aus den Augen leuchtete, hatten sich nur wenige Augenblicke versäumt, aber diese kurze Spanne wurde ihnen verhängnisvoll. Das Volk, durch den falschen Alarm nur kurze Zeit getäuscht, strömte wieder über den Kirchplatz, und Klaus vermochte nur noch mit knapper Not von neuem die Kirchentreppe zu gewinnen, ehe er und das Mädchen in die Menge eingekeilt wurden, von deren Gereiztheit jede Beschimpfung zu gewärtigen war.

Der Janhagel, der sich am weitesten vorgedrängt hatte, erkannte kaum die Lage der beiden, als er wie auf stumme Verabredung sich vor der Kirchentreppe zu einer Schandgasse teilte und mit hämischem Zuruf zum Abzug trieb.

»Nicht durch diese Gasse, Klaus!« flüsterte Ursel, die bis in die Lippen erblaßt war, Klaus ins Ohr. Ihr Stolz gab dem seinen nichts nach, und eher hätte sie sich auf der Stelle in Stücke reißen lassen, als dem Pöbel zu Willen zu sein.

Klaus wechselte mit der Geliebten einen raschen Blick, dann war sein Entschluß gefaßt. Er suchte die Nächststehenden durch herrisches Darauflosgehen zu verblüffen. »Platz da!« fuhr er den Vordersten an und suchte, das Mädchen an seiner Hand, die Menschenmauer seitlich zu durchbrechen, um den offenen Markt zu gewinnen. Es wäre ihm auch nach Wunsch gelungen, hätte sich nicht im letzten Augenblick der Gerber Hardekop statt der unwillkürlich Zurückweichenden in die entstandene Lücke geworfen. »Laßt sie nicht durch!« schrie er und Starrte dem verhaßten Gildejunker mit wutfunkelnden Augen ins Gesicht.

Aber auch diesmal wieder kam den Bedrängten unerwartete Hilfe von jenem Fremden, der vorher durch seinen Zuruf die Menge vom Platz gescheucht hatte. Er stemmte sich mit ruhiger Gewalt gegen den Andrang und rief den nächsten mit seiner tiefen Stimme, von der eine seltsame Macht ausging, entgegen: »Nicht doch, Leute! Gebt Raum! Wollt Ihr ein Mädchen beschimpfen?«

Klaus nutzte mit der ihm eigenen Entschlußbereitschaft die augenblickliche Verblüffung aus und gewann, während der Fremde ihm zur Linken den Andrang abhielt, und er selbst zur Rechten mit einem herrischen »Platz da!« freie Bahn machte, den offenen Markt.

Im selben Augenblick schwang sich Hardekop hinter ihm auf die verlassene Kirchentreppe und rief den Abziehenden in geifernder Gehässigkeit nach:

»Pack dich nach Hause, Gildejunker! Leg dich ins Bett wie dein Vater! Stell dich krank wie der alte Fuchs! Aber sag ihm, wir werden ihn doch finden, sag ihm das, Gildejunker! Sag's dem kranken Rule Bismarck! Er soll sich hüten!«

Klaus war entschlossen gewesen, den Hohn des Gesindels zu überhören, aber jetzt, als er seinen Vater auf offenem Markt beschimpfen hörte, verdunkelte ihm der Zorn die blauen Augen, er ließ das Mädchen von seiner Hand und drang drohend in den auseinanderweichenden Haufen zurück, als wollte er den Gegner von den Stufen der Kirchentreppe herunterreißen.

Es wurde ganz still auf dem Platz vor St. Marien, als der Jüngling, blaß bis in die Lippen, zurückkehrte und dem kläffenden Gegner die Stirn zeigte, von der eine zermalmende Kraft strahlte.

Hardekop wich unwillkürlich noch einen Schritt tiefer in das offene Portal zurück und rief schrill und drohend: »Komm an, du! Wag's und brich den Kirchenfrieden!«

Mit einem Schlage erlosch die flammende Wut des Jünglings, er glaubte zu spüren, wie ihm das Blut kalt wurde vor Verachtung. »Du Affenherz«, rief er, »hüte dich! sobald ich das Mädchen aus deiner schmutzigen Nähe heimgeleitet habe. So wahr ich Rules Kind bin, du sollst ihm abbitten!« Danach wandte er sich kurz um, umfaßte mit schützender Kraft die bebende Ursel Hidde und schritt mit ihr über den Platz. Hohngelächter und Schmähungen schallten hinter ihm drein. Er wandte nicht mehr das Haupt, er preßte dem Mädchen beschwichtigend die kalt gewordene Hand. »Laß sie, Liebste! Das ist Hundeart.«

Der Auftritt hätte so sehr alle Aufmerksamkeit der Menge auf sich gezogen, daß die jetzt wirklich die Kirchgasse heraufziehende Prozession fast unbemerkt blieb. Erst Stotfalkes lauter Ruf »Platz! Platz den Domherren!« ließ die Menge auseinanderweichen und ehrfürchtig in die Knie sinken. Weihrauch wallte auf. Bunte Heiligenbanner wallten, die roten Käppchen der Chorknaben leuchteten, das Gold der Meßgewänder strahlte, ein Traghimmel schwankte vorüber, braune Kutten folgten, schwarze Kutten –. Dann war der feierliche Zug im Inneren der kerzenhellen Kirche verschwunden. Das Volk drängte nach, und der Platz wurde leer.

Nun schwiegen auch die Glocken.

Da löste sich die dunkle Gestalt des Fremden von der roten Backsteinmauer des Schulbaus und schritt langsam der Kirche zu. Aber er öffnete sich nicht die schon verschlossene Pforte, sondern stand ein paar Augenblicke nachdenklich davor und glich in seinem bestaubten Reisekleid fast einem trotzigen und verstoßenen Büßer. Dann ließ er sich in einen der Steinsitze nieder, die rechts und links in die tiefe Leibung des Portals eingefügt waren.

Der da einsam saß und grübelte, war Herr Ludwig von Wittelsbach, der Herr des Landes. Es fiel dem neuen Markgrafen nicht schwer, unerkannt durch Stendal zu gehen. Er war in seinem Reiche den Augen so fremd wie den Herzen.

Das Herz des Fürsten war schwer und bedrückt, und doch schwang zutiefst in seiner Seele die warme Wallung einer jungen und ungeklärten Freude.

Woher nahm er in dieser trüben Stunde Grund zur Freude? Wahrhaftig, die Luft Stendals mußte bitter auf seinen Lippen schmecken. Er war ausgezogen, bei den reichen Geschlechtern der Stadt Verständnis und Hilfe für die Not des Landes zu suchen, und fand hier alle Nöte seines Volkes wie in einem schreckhaften Bilde vereinigt. Haß und Hader schienen dem unglücklichen Leibe des Staates alle Adern bis zum Weißbluten geöffnet zu haben.

Den einsamen Mann fröstelte in der Morgenkühle. Aber es war kein körperliches Kältegefühl, seinen Leib durchschauerte eine Erregung, die er von Waffengängen, vor Tau und Tag getan, wohl kannte. Auch heute galt es einen Streit und vielleicht eine Entscheidung. Aber zu diesem Streit war die schwertgewohnte Hand untüchtig, Herz und Hirn mußten ihn ausfechten.

Vor Wochen schon hatte er, ganz vom leidenschaftlichen Willen erfüllt, das sterbende Land zu erlösen, einen Brief an Herrn Rule von Bismarck geschrieben. Jedes Wort des Schreibens war von seinem heißen Blut fühlbar durchtränkt; vielleicht hatte er gerade darum dem kühlwägenden Sinn des eigenwilligen Greises mißfallen. Hilf mir! hatte er geschrieben, Du weißt, wie es um die Mark steht. Du weißt auch, daß Du nicht stehen kannst, wenn alles fällt. Du weißt wie ich, daß Eure städtischen Geschlechter die letzte lebendige Macht in diesem armen Lande sind. Ihr allein seid reich, alle andern sind Bettler. Aber hütet auch Ihr Euch! Die Sterbestunde der Mark ist nahe. Wendet Ihr sie nicht ab, so sterbt Ihr mit uns! In Eure reichen Häuser wird zuerst die Räuberhand des lauernden Feindes greifen. Rettet mich, und Ihr rettet Euch! Öffnet mir die Truhen der Geschlechter, helft mir die verpfändeten Landesteile auslösen, helft mir Schwerter schmieden und Hände waffnen. Ihr steht und fallt mit mir, so laßt uns Rücken an Rücken stehen!

Rule von Bismarck hatte seinem Fürsten karge und abschlägige Antwort gegeben, er hatte ihm geschrieben kaum anders, als man einem Bettler schreibt. Herrn Ludwig von Wittelsbachs zäher Wille aber überwand auch gedemütigten Fürstenstolz. Er raffte sich auf und fuhr nach Stendal, um Herrn Rule von Angesicht zu Angesicht zu sehen und ihm die verschlossene Hand zu öffnen. Nun war er in Stendal. Er fand den Retter, den er hatte beschwören wollen, siech und todverfallen, fand ihn und seinen Erben im Kampf um Leben und Tod mit den Bürgern seiner Vaterstadt, er saß vor der Kirche, in der eben der Bann schreckhaft über ihre Namen dahinfuhr. Und doch wallte die leise Freude in seinem Herzen, und er wehrte ihr nicht.

Das machte, er hatte einen Menschen gesehen. Dieser Klaus von Bismarck, der wie ein junger David an ihm vorüber geschritten war, sicher im Gefühl der adligen Kraft des Leibes und der Seele, war ein Mensch, den zu ergreifen sich lohnte. Das erkannte er mit dem sicheren Spürsinn des menschenkundigen Mannes und angeborener Herzensverwandtschaft.

Könnte ich diesen Klaus von Bismarck aus Stendal reißen wie einen Brand aus dem Feuer! dachte Herr Ludwig, mit ihm wollte ich die Nacht aus dem Lande scheuchen! Seine Gedanken wurden Klang; und er summte vor sich hin:

»Ein goldenes Netz hält mich umstrickt,
ich kann mich nicht entwirren.
So einer für mich zückt das edel gold'ne Schwert,
hei! hei! wie sollte klirren mein Stahl,
dem jetzt der Streit in Schanden ist verwehrt!

Er erhob das Haupt und sah Klaus Bismarck langsam über den Platz zurückkommen. Noch brannte die Rauflust ungekühlt in dessen blauen Augen. Da gewahrte dieser den Stadtfremden und schritt rasch mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Ich habe Euch zu danken, Herr. Ich habe wohl gemerkt, wie Ihr mir zweimal Luft schafftet. Darf ich wissen, wer Ihr seid?«

Herr Ludwig ließ die Hand des Jünglings langsam durch die seine gleiten, aber den Dank wehrte er leicht ab. »Wozu hilft Euch mein Name?« lächelte er, »er klingt nicht gut in der Nähe von Kirchen! Nehmt mich für Euresgleichen, für einen Mann, dem's ziemt, auf der Kirchenschwelle zu hocken, wenn die Messe gelesen wird! Es dauert nicht lange, so sind wir Gesellen, Herr Klaus von Bismarck. Schwingt Euch auf den Sitz zur Linken und wartet ein Weilchen, so geschieht Euch da drinnen, wie mir geschah.«

Die Stirn des jungen Mannes überschattete sich leicht. Trotz seines streitfröhlichen Herzens mißfiel ihm die leichte Art des Fremden. Der Markgraf gewahrte es und änderte den Ton. Mit verstellter Gleichgültigkeit holte er Klaus aus über das, was in Stendal vorging, und dieser deckte in knappen Worten den Kern des Machtkampfes auf, der die Stadt bewegte. Er geriet, ohne es zu wissen, immer mehr in Eifer und zuletzt klang seine Stimme beinah wie Streitruf.

Unverwandt sah Herr Ludwig dem Redenden ins Angesicht und fühlte, wie die Freude in seinem Herzen wuchs. Er sah das leise Spiel der Muskeln in Antlitz und Händen des Jünglings, die scheinbar ganz in beherrschter Ruhe lagen und doch sichtbar von Wille und Leidenschaft belebt waren, er sah das Aufdunkeln und Abschwellen des blauen Geäders in den gehöhlten Schläfen und hatte seine Lust an dem vollen Klang der Stimme. Alles, was Klaus Bismarck sprach, war parteiisch und leidenschaftlich und erhellte dennoch mit verblüffender Klarheit die ganze Lage. Gildejunker vom Scheitel bis zur Zehe, herrisch in seinem Pochen auf ererbtes Recht, schneidend in seinem Hohn auf den Pöbel, furchtlos in seinem Trotz gegen die Kirche, schien er dem lauschenden Markgrafen doch fast zu groß für diesen Bürgerzwist, der ihn ganz erfüllte.

Er warf nur sparsam Zustimmung und Frage in die Worte des Jünglings. Als Klaus schwieg, hörten beide den Schall der Responsorien aus der Kirche tönen. Wortlos lauschten beide eine Weile, dann schien der Fremde ganz in sich selbst zu versinken und summte, gleichsam absichtslos, eine eigene Weise in den auf- und abschwellenden Gesang der Gemeinde.

»In fremder Truhe wohlverwahrt,
weiß ich ein Schwert von Golde,
danach geht meine Fahrt.
Das edel gold'ne Schwert,
wer mir's ergraben wollte,
der Mann wär' mir wohl tausend Kampfgesellen wert!

Das lautre Schwert hat Zauberkraft,
es lockt und bannt das Eisen.
Zück' ich es aus der Haft,
das lichte, gold'ne Schwert,
und laß es ob mir kreisen, hei,
wie sich alles tapfre Eisen zu mir kehrt!

Reich' her! Reich' her das gold'ne Schwert!
Von Stahl ein Ritterdegen
wird dir dafür beschert.
Nimm hin und schlage ein,
reit' mit auf meinen Wegen,
so soll die Welt noch unsre Sattelbeute sein!«

Klaus Bismarck hörte kaum halb auf den Singsang des Fremden und ahnte nicht, wie nahe die versteckten Worte ihn angingen, die spielend auf ihn zielten. Doch fing er unabsichtlich ein paar Worte auf und lachte, als der andere schwieg: »Ja, wahrhaftig! Ein Schwert! Hier könnten wir Schwerter brauchen! Das wäre noch eine Lust, wenn wir hier rechts und links der Kirchentür wie ein paar Helden aus den alten Mären säßen, breite Schwerter querüber auf den Schenkeln, und dem Pack da drinnen den Ausgang wehrten, nur mit den Augen, die wir grimmig und kalt zwischen dem Gesindel und dem nackten Eisen auf unsren Schenkeln schweifen ließen, bis sie da drinnen in verbrauchter Luft und fadem Weihrauch ersticken müßten!«

»Ihr habt ja ein Schwert auf Euren Schenkeln!« Lauernd fast fühlte Klaus den dunklen Blick des Unbekannten auf sich ruhen. Er sah ihn fragend an. »Ich?« »Freilich Ihr! Es ist das Goldschwert, von dem ich sang.«

Langsam stand der Jüngling auf und trat nahe an den Fremden, der ihn unverwandt ansah. »Ich verstehe Euch nicht, Herr – aber ich verstehe, Ihr wollt etwas von mir. Was wollt Ihr von mir?«

Herr Ludwig von Wittelsbach fühlte seine Stunde gekommen. Was half es, länger mit Liedern und versteckten Worten nach einem Herzen zu zielen, das es frisch zu ergreifen galt!

Er wollte reden, aber in diesem Augenblick begannen die Glocken der ganzen Stadt zu läuten, und die Orgel erdröhnte hinter der verschlossenen Pforte. Klaus Bismarck richtete sich straff auf, als träte ihm jetzt erst der Gegner gewappnet gegenüber und rief spöttisch: »Ah! horcht! Die heilige Stunde ist da, die den großen Wandel bringt. Jetzt lesen sie Rule Bismarcks Namen von allen Kanzeln Stendals.«

Die Glocken schwangen aus. Die Orgel vertönte. In die tiefe Stille klang aus der Kirche ein dreimaliges, feierliches Wehe! Rom hatte seinen Bann gesprochen über Rule Bismarck und sein Geschlecht, und vor der Pforte stand Rules Erbe; und warf zur Antwort das trotzige Haupt nur um so herausfordernder in den Nacken.

Eine Weile war es still. Dann fing der Fremde an zu Klaus Bismarck zu reden, aber seine Stimme klang verändert. Grollend fast und schmähend sprangen ihm die Worte von den Lippen, daß der Jüngling betroffen aufhorchte. »Ja, werft nur das Haupt in den Nacken, Herr Klaus von Bismarck, Ihr habt Grund! Ihr habt einen großen Handel in dieser Stadt! Groß fühlt sich der Ritter, wenn er Kaufleute plündert, groß fühlt sich der Städter, wenn er adlige Raubnester berennt, groß der Handwerker, wenn er die Geschlechter haßt und beschimpft, groß der Gildejunker, wenn er alte Rechte hütet wie Königskronen, groß der Pfaffe, wenn er den Hader schürt und sein Wehe ruft – groß seid Ihr alle, alle, und nur die Mark, die Eure Mutter ist, liegt vor den Hunden!«

Erstaunt hatte Klaus die zornige Rede über sich hinfahren lassen, aber die letzte Wendung ließ ihn verächtlich lächeln. »Die Mark –?« gab er gedehnt zurück. »Gibt es noch eine Mark, seit die Markgrafen tot sind?«

»Noch lebt ein Markgraf!« rief der Unbekannte fast drohend. – Aber Klaus lachte ahnungslos. »Der Wittelsbacher, meint Ihr? Kennt Ihr seinen Schildreim? Kein Pfündlein Mark in den Knochen, keine Mark Silber, darauf zu pochen und ein Bettelsüpplein zu kochen – drum heißt er Herr der Mark!«

Da trat der andre dicht und drohend vor den Lachenden hin, und aus seinen Augen brach ein lodernder Zorn. »Schweigt von dem Reim!« herrschte er ihn an. Aber im selben Augenblick erlosch die heiße Flamme, und er sank wie unter einer unerträglichen Last auf der Kirchenschwelle zusammen.

Klaus schaute, im tiefsten betroffen, auf den gebrochenen Mann und wollte die Lippen zu einer Frage öffnen, aber der andre hob beschwichtigend die Hand. »Ihr höhnt einen toten Mann mit Eurem Schandreim,« sagte er leise, »seit Wochen herrscht ein anderer Wittelsbach!«

»Herrscht er?« spottete Klaus ärgerlich. »Worüber herrscht er noch? Die Altmark ist den Welfen verpfändet! Sachsen ist verpfändet, Pommern ist verpfändet, Brandenburg ist verpfändet, die Uckermark ist verpfändet – gibt es noch einen Fußbreit Landes, der nicht verschachert ist?«

Da richtete sich der Zusammengesunkene auf, und dicht vor Klaus hintretend, stand er in ebenbürtiger Größe vor ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Darüber spottet Ihr?«

Klaus fühlte, ohne darüber nachzudenken, wie aus dem Wesen des Unbekannten eine fremde Kraft in ihn einströmte. Er hielt den Blick der dunklen Augen voll aus und wurde ernst. Aus seiner Stimme war der Spott verschwunden, als er weitersprach. »Es ist kein Grund zum Spott. Verdirbt die Mark, so verderben wir mit. Aber, was hilft's! Jeder rettet im Schiffbruch, soviel er kann. Nennt's klein oder groß, worum ich kämpfe! Es ist alles, was ich erkämpfen kann. Wißt Ihr etwas, das größer ist, so sprecht!«.

Der Atem des andern ging schwer, seine Augen strahlten in einer dunklen und starken Glut und hauchten fühlbar die Dämonie eines herrischen Willens aus. Er schien körperlich zu wachsen und zwang den sechs Fuß hohen Bismarck zu ihm aufzusehen. Seine Stimme schwang und schwoll in Kraft. »Ja, Klaus Bismarck, ich weiß, was groß ist. Heiland der Mark zu sein – das nenne ich groß! Die Mark braucht einen Heiland. Die Mark von ihren ungezählten Leiden erlösen, das allein ist groß und manneswürdig.«

Klaus empfand bewußt das seltsam Ungewöhnliche in Wesen und Worten des Fremden, und die dunkle Mischung von Schwermut und suggestiver Kraft zog ihn geheimnisvoll an. Er lauschte fast durstig, gepackt von dem Zauber der Persönlichkeit des fremden Mannes. Ludwig von Wittelsbach ahnte nicht, wie sehr er schon von des Jünglings verwandter Seele Besitz genommen. – Aber auch er war über sich selbst hinausgerissen, und die Flut seiner Worte strömte farbig und voll trunkener Kraft dahin.

»Wenn Gott der Mark einen Helfer schickte, er müßte durch die Städte des Landes gehen und Jünger suchen. Er brauchte Jünger. Einen Jünger vor allen, einen Petrus, einen Säckelbewahrer und Schwerthüter. Wenn ich – höre wohl! – wenn ich der Markgraf wäre, ich ginge nach Stendal, meinen Jünger zu suchen, der Klaus von Bismarck heißen sollte! Ich spräche zu ihm: Klaus, du bist zu schade, in Bettlerfehden zu verbluten. Du taugst mir, meine Mark zu retten! Und ich spräche zu ihm: Deinem Urahn gab sein König voreinst Schwert und Schild und hieß ihn reiten. So kam dein Ahnherr nach Stendal. Er warf sein Schwert in die Truhe und griff zum Rechenstift. Aber der Stift wurde zum Zauberstab, und sein Stahlschwert wurde zum goldenen Schwerte, das die Welt bezwingte. Das erbte vom Ahn auf Enkel und kam in deine Hand –«

Klaus Bismarck hob die Hand. Auch sein Atem ging schwer. Die Hand auf seiner Schulter wog schwer wie Erz und schien sich wie eine Erzfaust in Rock und Haut einzuschmieden. »War das,« rief er, »Euer Lied vom goldenen Schwert –?«

Aber der andre schien ihn nicht zu hören. »Wenn ich der Markgraf wäre, ich spräche: Klaus Bismarck, willst du dein goldnes Schwert für mich brauchen? Das Goldschwert und deinen klugen Kopf, den Herrschersinn des Kaufherrn und die Stahlfaust des Reiterenkels – willst du das alles brauchen für mich, deinen Fürsten, für Brandenburg? So laß Stendal und seinen Bettlerhader! Vertrage dich mit den Kleinen und schlage dich mit den Großen! Die Mark steht in Brand, dein Fürst ruft aus den Flammen nach dir! Du sollst reiten und Schlachten schlagen, raten und taten für Brandenburg! Heide und Wald dehnt sich um Schloß Burgstall, nimm's als Lehen von mir! Meine Hand liegt auf deiner Schulter und teilt Lehen, als wäre sie mein Kurschwert. Burgstall ist dein Lehen, ich bin dein Fürst, du bist mein Mann. Vertraue mir, und die Mark ist frei!«

Jäh rief da der Jüngling in die heißen, werbenden Worte des andern: »Ihr seid der Markgraf!« Und Ludwig von Wittelsbach stand königlich vor ihm und streckte die Hand aus, die Klaus ergreifen sollte –

Aber mit einmal losch die Glut in seinen Augen aus, die Arme sanken ihm schlaff nieder, und ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. Betroffen wandte Klaus das Haupt und sah nun auch, was jener gewahrte.

Eine Schar armer Leute aus der Bettlervorstadt trug rohe Holzsärge, in denen die Opfer der würgenden Pest lagen. Gespensterhaft zog das Elend die Gasse herauf und verschwand hinter der Kirche. Geißelbrüder mit nackten Füßen und entblößten, blutrünstigen Rücken, mit Augen, die in dem stumpfen Glanz des Irrsinns leuchteten, zogen voran. Schwarze Holzkreuze und dunkle Büßerfahnen schwankten. Und nun hob sich von den blassen Lippen ein rauhes, mißtönendes Singen und verwob sich schauerlich mit dem Klatschen der Geißeln, mit dem Schreien und Stöhnen und dem Tappen und Schlurfen der müden, staubigen Füße.

Es schleicht das große Sterben
und will die Welt verderben,
uns bleicht der große Tod.
O weh, der bittren Not!
Hilf, Christe! Wehre! Wehre!
Hilf, Christe! Miserere! ... Miserere! ...«

Das war das Jammergefolge der Pest, die wie ein Vampir unter den Kindern der unglücklichen Mark um sich fraß. Das düstre Elend deckte vorüberhuschend die beiden Männer wie ein finsterer Schatten. Noch schwang der Klang der von heißer, leidenschaftlicher Hoffnung bebenden Fürstenworte über dem weiten Platz, aber der Klang erstickte in dem Brodem des Elends, der wie Nebel und Fieberdunst mit einmal die Luft dick und trübe machte.

Herr Ludwig von Wittelsbach stöhnte auf. Eben noch hatte er nach der Antwort eines Menschen gelechzt. Gab nicht Gott selber Antwort? Sein übervolles Herz, das eben noch fast schmerzvoll von Wille und Hoffnung erfüllt war, ertrug nicht den jähen Anblick dieser blutleeren Fratze der Wirklichkeit, die ihn und seine Worte verhöhnte. Eine körperliche Schwäche wandelte ihn an, er sank auf den Kirchenstufen zusammen und ächzte.

Nur das leise Ächzen des geschlagenen Mannes war hörbar auf dem weiten Platz. Aber dieser fast lautlose Klang erschütterte den jungen Klaus tiefer als alle lauten Worte. Ein hilfreicher Wille brannte heiß in ihm auf. Das Herz des Jünglings riß die Entscheidung an sich, über der sein Kopf während Ludwigs Worten fieberhaft arbeitete. So heiß der Fürst den freien Bürger umworben hatte, in diesem Augenblicke gab sich doch nur der Mensch dem Menschen.

Tief beugte sich Klaus Bismarck über Ludwig von Wittelsbach. »Ihr seid der Markgraf. Nun weiß ich das. Und weiß mehr als das. Jetzt kenne ich Euch und kenne auch Euer Herz. Und, ich danke Gott, daß ich es kenne, lieber Herr!« Voll und eindringlich klang die leise Stimme des Jünglings, wie ein liebevolles Trösten.

Aber noch hielt die tiefe Erschütterung den Fürsten in Bann. »Das Miserere,« ächzte er, »immer klingt es, überall klingt es! Sie nennen es das Sterbelied der Mark, Klaus –!«

Des jungen Bismarck Herz wallte in warmer Hilfsbereitschaft. Wie ganz anders hatte dieser Ludwig von Wittelsbach noch eben vor ihm gestanden. Herrisch und königlich schien er sich wie die Verkörperung der Mark selbst emporzurecken, strahlend und heischend seinen seine Stimme das kleinliche Gassengezänk zu übertönen, zwischen den hadernden Kindern schien er drohend und gebieterisch das Leidensbild der gemeinsamen Mutter aufzupflanzen wie ein vergessenes und entweihtes Götterbild – Dieser Ludwig von Wittelsbach hatte Klaus Bismarck mächtig ans Herz gegriffen, daß es unter den Schauern eines großen, nie noch erwogenen Lebensgedankens ahnungsvoll erbebte und neuen, menschenwürdigeren Zielen entgegendrängte, als sie die Sippe ihm bot. Aber zutiefst ergriff ihn doch nun die Leidensgestalt des in prunkender Kraftfülle hilflosen Fürsten. Auch jetzt schien sich in ihm die Mark selbst zu verkörpern, aber nicht mehr herrisch und königlich, sondern als ein Bild ihres Jammers.

Er umschloß fest die Hand des Markgrafen, die schlaff auf dem feuchten Stein lag und ganz von ihm durchkältet war. »Herr Markgraf, Männer sollten nicht an böse Zeichen glauben. Eher an Wunder! Glaubt auch Ihr an Wunder! Noch ist das Sterbelied der Mark nicht ausgesungen!«

Nun empfand Herr Ludwig die warme Berührung, und das Blut strömte ihm neu durch die Glieder. Er richtete sich straff auf und riß beide Hände des Jünglings an sich. »Klaus! Klaus! Versage du dich deinem Fürsten nicht, und das Lied hat seine Schrecken verloren!«

Ehe Klaus Bismarck noch zu antworten vermochte, sah er einen der väterlichen Knechte mit allen Zeichen der Verstörung quer über den Platz auf sich zueilen. Er löste sich aus den haltenden Händen des Markgrafen und hörte auf das hastige Rufen des Knechtes. »Herr Klaus! Herr Klaus! Um Gottes willen, eilt Euch! Es geht zu Ende mit Eurem Vater –!«

Erschüttert stand der Jüngling bei der jähen Kunde, die strafend wie aus einer andern durch Schuld vergessenen Welt zu ihm zu dringen schien. Ludwig Wittelsbach ahnte, wie mächtig sich in dieser Schmerzensstunde die Vergangenheit vor dem Jüngling aufreckte, den er seinen ererbten Lebenszielen abtrünnig zu machen gekommen war, und faßte rasch von neuem die ihm entglittene Hand. »Klaus, jetzt ruft Gott nach dir. Da schweige ich. Aber die Stunde wird kommen, in der ich dich rufen darf und muß. Leb wohl.«

Er riß sich schnell los, wandte sich und schritt von dannen. Die Gestalt des Davongehenden schien um Haupteslänge gewachsen.

Klaus Bismarck aber ging dem Knechte nach, und ihm war, als trüge er eine steinerne Last im Nacken, die schwerer würde, je näher er dem Vaterhause kam.


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