Gustave Flaubert
Frau Bovary
Gustave Flaubert

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Vierzehntes Kapitel

Zunächst wußte er nicht, wie er dem Apotheker die vielen Arzneien vergüten sollte, die er von ihm bezogen hatte. Als Arzt brauchte er sie nicht zu bezahlen, aber das wäre ihm peinlich gewesen. Dann war der Haushalt, jetzt wo ihn das Mädchen führte, schrecklich teuer geworden. Die Rechnungen regneten nur so ins Haus. Die Lieferanten begannen ungeduldig zu werden. Insbesondre mahnte Lheureux in lästiger Weise. Er hatte den Höhepunkt von Emmas Krankheit dazu benutzt, ihre Rechnung höher auszuschreiben, als sie wirklich war. Flugs brachte er auch den Mantel, die Handtasche und zwei Koffer statt des einen und noch eine Menge andrer Gegenstände, die bestellt worden seien, wie er behauptete. Es nützte Bovary gar nichts, daß er erklärte, er brauche die Sachen nicht; der Händler erwiderte ihm in ungezogenem Tone, alle diese Waren seien bei ihm bestellt und er nähme sie nicht zurück. Herr Bovary möge sichs überlegen; er werde ihn eher verklagen als sich selber benachteiligen. Karl befahl daraufhin dem Mädchen, die Gegenstände im Geschäft abzugeben, aber Felicie vergaß es. Er selbst hatte sich um andre Dinge zu kümmern und dachte nicht mehr daran. Nach einer gewissen Zeit unternahm Lheureux einen neuen Versuch. Bald drohend, bald jammernd, brachte er es so weit, daß ihm Bovary schließlich einen Wechsel ausstellte, der in sechs Monaten fällig war. Als er das Papier unterschrieb, kam ihm der kühne Gedanke, tausend Franken von Lheureux zu leihen. Verlegen fragte er, ob er ihm diese Summe auf ein Jahr zu beliebigem Zinsfuß verschaffen könne. Der Handelsmann eilte sofort in seinen Laden, brachte das Geld und zugleich einen zweiten Wechsel, durch den sich Bovary verpflichtete, am 1. September kommenden Jahres eintausendundsiebzig Franken zu zahlen. Mit den bereits anerkannten hundertundachtzig Franken ergab das eine Gesamtschuld von zwölfhundertundfünfzig Franken. Lheureux machte hierbei ein ganz hübsches Geschäft; im übrigen wußte er im voraus genau, daß es hierbei nicht bliebe. Er rechnete darauf, daß der Arzt die Wechsel am Fälligkeitstage nicht einlösen könne und sie prolongieren müsse. Auf diese Weise sollte das erst armselige Sümmchen im Hause des Arztes wie in einem Sanatorium eine ordentliche Mastkur durchmachen und eines Tages dick und rund zu ihm zurückkehren.

Lheureux hatte allenthalben Erfolge. Er erlangte die regelmäßigen Apfelweinlieferungen für das Neufchâteler Krankenhaus. Der Notar Guillaumin schanzte ihm Aktien der Torfgruben zu Grümesnil zu. Dazu trug er sich mit dem Plane, zwischen Argueil und Rouen eine neue Postverbindung zu eröffnen, die den alten Rumpelkasten des Goldnen Löwen unbedingt außer Konkurrenz stellen sollte, indem sie schneller führe, billiger wäre und Eilgut bestelle. Damit wollte er den ganzen Handel von Yonville in seine Hände bringen.

Karl grübelte oftmals darüber nach, wie er die beträchtliche Wechselschuld in einem Jahre wohl tilgen könne. Er kam dabei auf allerhand Möglichkeiten. Sollte er sich an seinen Vater wenden oder irgend etwas verkaufen? Aber ersteres hatte vermutlich keinen Erfolg, und zu verkaufen gab es nichts. Er mochte sich sonst noch ausdenken, was er wollte: überall drohten die größten Schwierigkeiten. Und so schenkte er sich nur allzu gern weitere unerfreuliche Überlegungen. Er redete sich ein, er vernachlässige seine Frau, wenn er ihr nicht all sein Dichten und Trachten widme. Er wollte an nichts andres denken, selbst wenn ihr dadurch kein Abbruch geschähe.

Der Winter war streng. Emmas Genesung schritt nur langsam vorwärts. Als das Wetter wärmer wurde, schob man sie in ihrem Lehnstuhl an das Fenster, und zwar an das nach dem Marktplatze zu gelegene. Das andre mit dem Blick in den Garten war ihr jetzt verleidet; deshalb mußte seine Jalousie beständig heruntergelassen bleiben. Sie bestimmte, daß ihr Reitpferd verkauft werden solle. Alles, was ihr früher lieb gewesen, war ihr nunmehr zuwider. Sie kümmerte sich um nichts mehr als um ihre eigene Person. Die kleinen Mahlzeiten nahm sie in ihrem Bett ein. Manchmal klingelte sie dem Mädchen, um sich die Arznei reichen zu lassen oder um mit ihm zu plaudern. Der Schnee auf dem Dache der Hallen warf seinen hellen, immer gleichen Widerschein in das Zimmer. Dann kamen Regentage. Sie empfand eine Art Angst vor den sich alle Tage wiederholenden unausbleiblichen kleinen und kleinsten Ereignissen, die sie eigentlich gar nichts angingen, am meisten vor der allabendlichen Ankunft der Post im Goldnen Löwen. Dann redete die Wirtin laut, allerlei andre Stimmen lärmten dazwischen, und die Laterne Hippolyts, der unter den Koffern auf dem Wagenverdeck herumsuchte, leuchtete wie ein Stern durch die Dunkelheit. Um die Mittagszeit kam Karl nach Hause, dann ging er wieder. Sie trank ihre Bouillon. Um fünf Uhr, wenn es zu dämmern begann, kamen die Kinder aus der Schule; sie klapperten mit ihren Holzschuhen über das Trottoir, und im Vorübergehen schlug eins wie das andere mit dem Lineal gegen die eisernen Riegel der Fensterläden.

Um diese Zeit pflegte sich der Pfarrer einzustellen. Er erkundigte sich nach ihrem Befinden, erzählte ihr Neuigkeiten und ermahnte sie zur Frömmigkeit in gefälligem Plaudertone. Schon der Anblick der Soutane hatte für Emma etwas Beruhigendes.

Eines Tages, als ihre Krankheit am schlimmsten war, hatte sie nach dem Abendmahl verlangt, im Glauben, ihr letztes Stündlein sei gekommen. Während man im Gemach die nötigen Vorbereitungen zu dieser Zeremonie traf, die mit Arzneiflaschen bedeckte Kommode in einen Altar wandelte und den Fußboden mit Blumen bestreute, da war es ihr, als überkäme sie eine geheimnisvolle Kraft, die ihr ihre Schmerzen, alle Empfindungen und Wahrnehmungen nahm. Sie war wie körperlos geworden, sie hegte keine Gedanken mehr, und ein neues Leben begann ihr. Sie hatte das Gefühl, als schwebe ihre Seele gen Himmel, als verlösche sie in der Sehnsucht nach dem ewigen Frieden wie eine Opferflamme über verglimmendem Räucherwerk. Man besprengte ihr Bett mit Weihwasser. Der Priester nahm die weiße Hostie aus dem heiligen Ciborium. Halb ohnmächtig vor überirdischer Lust, öffnete Emma die Lippen, um den Leib des Heilands zu empfangen, der sich ihr bot. Die Bettvorhänge um sie herum bauschten sich weich wie Wolken, und die beiden brennenden Kerzen auf der Kommode leuchteten ihr mit ihrem Strahlenkranze wie Gloriolen herüber. Als sie mit dem Kopfe in das Kissen zurücksank, glaubte sie aus himmlischen Höhen seraphische Harfenklänge zu hören und im Azur auf goldnem Throne, umringt von Heiligen mit grünen Palmen, Gott den Vater in aller seiner erhabenen Herrlichkeit zu schaun. Er winkte, und Engel mit Flammenflügeln wallten zur Erde hernieder, um sie emporzutragen….

Diese wundervolle Vision bewahrte Emma in ihrem Gedächtnisse. Es war der allerschönste Traum, den sie je geträumt. Sie gab sich Mühe, das Bild immer wieder zu empfinden. Es wich ihr nicht aus der Phantasie, aber es erschien ihr nur manchmal und in süßer Verklärung. Ihr einst so stolzer Sinn beugte sich in christlicher Demut. Das Gefühl der menschlichen Ohnmacht ward ihr ein köstlicher Genuß. Sie sah förmlich, wie aus ihrem Herzen der eigene Wille wich und der hereindringenden göttlichen Gnade Tür und Tor weit öffnete. Es gab also außer dem Erdenglück eine höhere Glückseligkeit und über aller Liebe hienieden eine andre erhabenere, ohne Schwankungen und ohne Ende, eine Brücke in das Ewige! In neuen Illusionen erträumte sie sich über der Erde ein Reich der Reinheit, einen Vorhimmel. Dort zu weilen, ward ihre Sehnsucht. Sie wollte eine Heilige werden. Sie kaufte sich Rosenkränze und trug Amulette. Ihr größter Wunsch war, in ihrem Zimmer, zu Häupten ihres Bettes, einen Reliquienschrein mit Smaragden zu besitzen. Den wollte sie dann alle Abende küssen.

Der Pfarrer wunderte sich über Emmas Wandlung, verhehlte sich jedoch nicht, daß diese allzu inbrünstige Frömmigkeit sehr leicht in Überschwenglichkeit und Ketzerei ausarten könne. Aber er war kein Seelenkenner, zumal außergewöhnlichen Erscheinungen gegenüber. Deshalb wandte er sich an den Buchhändler des Erzbischofs und bat ihn, ihm ›ein passendes Erbauungsbuch für eine gebildete Frauensperson‹ zu schicken. Mit der größten Gleichgültigkeit, als handle es sich darum, irgendwelchen Krimskram an einen Kamerunneger zu versenden, packte der Buchhändler alle möglichen gerade vorrätigen frommen Schriften in ein Paket: Katechismen in Form von Frage und Antwort, Streitschriften aufgeblasener Dogmatiker und frömmelnde Romane in rosa Einbändchen und süßlichem Stil, verbrochen von dichtenden Schulmeistern oder blaustrümpfigen Betschwestern, mit Titeln wie: ›Die Herzpostille‹, ›Der Weltmann zu Füßen Mariä. Von Herrn von * * *, Ritter mehrerer Orden‹, ›Voltaires Ketzereien zum Gebrauch für die Jugend‹, usw. usw.

Emma war seelisch noch viel zu schwach, um sich mit geistigen Dingen ernstlich befassen zu können. Überdies stürzte sie sich auf diese Bücher mit allzu großem Bedürfnis nach wirklicher Erbauung. Die Starrheit der kirchlichen Lehren empörte sie, die Anmaßungen der Polemik stießen sie ab, und die Intoleranz, mit der ihr unbekannte Menschen verfolgt wurden, mißfiel ihr. Die Romane, in denen profane Dinge durch religiöse Ideen aufgeputzt waren, entbehrten ihr zu sehr auch nur der geringsten Weltkenntnis. Sie verschleierten die Realitäten des Lebens, für deren Brutalität sie viel lieber literarische Beweise gefunden hätte. Trotzdem las sie weiter, und wenn ihr eins der Bücher aus den Händen glitt, dann wähnte sie den zartesten Weltschmerz der katholischen Mystik zu empfinden, wie ihn nur die übersinnlichsten Seelen zu verspüren imstande sind.

Das Andenken an Rudolf hatte sie in die Tiefen ihres Herzens begraben; darin ruhte es unberührter und stiller denn eine ägyptische Königsmumie in ihrer Kammer. Aus dieser großen eingesargten Liebe drang ein leiser, alles durchströmender Duft von Zärtlichkeit in das neue reine Dasein, das Emma führen wollte. Wenn sie in ihrem gotischen Betstuhl kniete, richtete sie an ihren Gott genau die verliebten Worte, die sie einst ihrem Geliebten zugeflüstert hatte in den Ekstasen des Ehebruchs. Damit wollte sie der göttlichen Gnade teilhaftig werden. Aber vom Himmel her kam ihr keine Tröstung, und sie erhob sich mir müden Gliedern und dem leeren Gefühl, namenlos betrogen worden zu sein. Dieses Suchen, dachte sie bei sich, sei wiederum ein Verdienst, und im Hochmut ihrer Selbsterniedrigung verglich sich Emma mit den großen Damen der Vergangenheit, deren Ruhm ihr damals, als sie über den Szenen aus dem Leben des Fräuleins von Lavallière träumte, aufgegangen war, jenen Damen in ihren mit königlicher Anmut getragenen langen kostbaren Schleppkleidern, die in einsamen Stunden zu Füßen Christi ihre vom Leben verwundeten Herzen ausgeweint hatten.

Nun wurde sie über die Maßen mildtätig. Sie nähte Kleider für die Armen, schickte Wöchnerinnen Brennholz, und als Karl eines Tages heimkam, fand er in der Küche drei Gassenjungen, die Suppe aßen. Die kleine Berta wurde wieder ins Haus genommen; Karl hatte sie während der Krankheit seiner Frau von neuem zu der Amme gegeben. Nun wollte ihr Emma das Lesen beibringen. Wenn das Kind weinte, regte sie sich nicht mehr auf. Es war eine Art Resignation über sie gekommen, eine duldsame Nachsicht gegen alles. Ihre Sprache ward voll gewählter Ausdrücke, selbst Alltäglichkeiten gegenüber.

Die alte Frau Bovary hatte nichts mehr an Emma auszusetzen, abgesehen von ihrer Manie, für Waisenkinder Jacken zu stricken und ihre eigenen Wischtücher unausgebessert zu lassen. Aber die gute Frau war der Zwiste in ihres Mannes Hause dermaßen müde, daß ihr der Frieden am Herde ihres Sohnes so wohltat, daß sie bis nach Ostern dablieb, um den Bärbeißigkeiten des alten Bovary zu entgehen, der alle Freitage, an den Fastentagen, unbedingt eine Bratwurst auf dem Tische sehen wollte.

Außer der Gesellschaft ihrer Schwiegermutter, die ihr durch ihre Rechtlichkeit und ihr würdiges Wesen einen gewissen Halt gab, hatte Emma jetzt fast alle Tage Besuch bei sich. Es verkehrten mit ihr: Frau Langlois, Frau Caron, Frau Dübreuil, Frau Tüvache, sowie die treffliche Frau Homais, die sich regelmäßig zwischen drei und fünf Uhr einstellte. Sie hatte dem Klatsch, der über ihre Nachbarin im Umlauf gewesen war, niemals Glauben schenken wollen. Auch die Apothekerskinder kamen mitunter in Justins Begleitung. Er brachte sie in Emmas Zimmer und blieb in der Nähe der Türe stehen, ohne sich zu rühren und ohne ein Wort zu sagen. Oft gewahrte ihn Frau Bovary gar nicht und ließ sich in ihrem Toilettemachen nicht stören. Sie kämmte sich das Haar, wobei sie den Kopf nach dem Durchziehen des Kammes jedesmal mit einer eigentümlichen heftigen Bewegung zurückwarf. Als der arme Junge zum ersten Male diese volle Haarflut sah, die in langen schwarzen Ringeln bis zu den Knien herabwallte, war es ihm zumute, als schaue er plötzlich ganz Neues, Außergewöhnliches, und er starrte wie geblendet hin.

Sicherlich bemerke Emma weder sein stummes Entzücken noch seine schüchterne Verehrung. Sie hatte keine Ahnung, daß die aus ihrem Leben entschwundene Liebe dort, ihr ganz nahe, in neuer Gestalt wieder auftauchte, unter einem groben Leinwandhemd, in einem jungen Herzen, das sich der Offenbarung ihrer Frauenschönheit weit öffnete. Im übrigen war sie jetzt in jeder Hinsicht grenzenlos gleichgültig. Mit dem stolzesten Gesichte sagte sie die zärtlichsten Worte. Ihr ganzes Benehmen war so widerspruchsvoll, daß man Selbstsucht nicht mehr von Mitleid an ihr unterscheiden konnte. Man wußte nicht mehr, war sie verdorben oder unnahbar.

Zum Beispiel war sie eines Abends sehr ungehalten über ihr Dienstmädchen. Es bat, ausgehen zu dürfen, und stotterte irgendeinen Vorwand her. Unvermittelt fragte Emma:

»Du liebst ihn also?« und, ohne Felicies Antwort abzuwarten, fügte sie in traurigem Tone hinzu: »Geh! Lauf! Vergnüge dich!«

In den ersten Frühlingstagen ließ sie den Garten vollständig umändern. Karl war anfangs dagegen, dann jedoch freute er sich darüber, daß sie endlich wieder einmal einen bestimmten Wunsch äußerte. Nach und nach bewies sie auch anderweitig, daß sie sich wieder erholt hatte. Zunächst brachte sie es zuwege, daß Frau Rollet, die Amme, die sichs angewöhnt hatte, Tag für Tag mit ihren Säuglingen und Ziehkindern und einem kannibalischen Appetit in der Küche zu erscheinen, von dannen gejagt wurde. Sodann schüttelte sie sich die Familie Homais vom Halse, nach und nach auch die andern regelmäßigen Besucherinnen. Sogar in die Kirche ging sie seltener, zur großen Freude des Apothekers, der ihr daraufhin freundschaftlichst erklärte:

»Ich dachte schon, Sie seien eine Betschwester geworden!«

Bournisien kam nach wie vor alle Tage nach der Katechismusstunde. Am liebsten blieb er im Freien, im »Hain«, wie er die Laube scherzhaft zu nennen pflegte. Um dieselbe Zeit kehrte auch Karl meist heim. Beiden war warm, und so bekamen die beiden Männer eine Flasche Apfelsekt vorgesetzt, den sie »auf die völlige Genesung der gnädigen Frau« tranken.

Öfters fand sich auch Binet ein, das heißt: er saß etwas tiefer, vor dem Garten, am Bache, um zu krebsen. Bovary lud ihn zu einer kleinen Erfrischung ein. Binet war ein Meister im Aufbrechen von Sektflaschen.

»Zunächst muß man die Bulle senkrecht auf den Tisch stellen,« dozierte er, indem er selbstbewußt um sich blickte, »dann zerschneidet man die Bindfäden, und dann läßt man dem Pfropfen ganz, ganz sachte, nach und nach Luft. Sooo!«

Aber bei dieser Vorführung spritzte der Sekt öfters der ganzen Gesellschaft in die Gesichter, und der Priester unterließ es niemals, behaglich schmunzelnd den Witz zu machen:

»Seine Vortrefflichkeit springt einem buchstäblich in die Augen!«

Er war wirklich ein guter Mensch. Er hatte nicht einmal etwas dagegen, als der Apotheker dem Arzte empfahl, er solle mit seiner Frau zu ihrer Zerstreuung nach Rouen fahren und sich dort im Theater den berühmten Tenor Lagardy anhören. Homais wunderte sich über diese Duldsamkeit und fühlte ihm deshalb etwas auf den Zahn. Der Priester erklärte, er halte die Musik für weniger sittenverderbend als die Literatur. Aber Homais verteidigte die letztere. Er behauptete, das Theater kämpfe unter dem leichten Gewande des Spiels gegen veraltete Ideen und für die wahre Moral.

» Castigat ridendo mores, verehrter Herr Pfarrer!« zitierte er. »Sehen Sie sich daraufhin mal die Tragödien Voltaires an! Die meisten von ihnen sind mit philosophischen Aphorismen durchsetzt, die eine wahre Schule der Moral und Lebensklugheit für das Volk sind.«

»Ich habe einmal ein Stück gesehen,« sagte Binet, »es hieß: 'Der Pariser Taugenichts.' Darin kommt ein alter General vor, wirklich ein hahnebüchner Kerl. Er verstößt seinen Sohn, der eine Arbeiterin verführt hat; zu guter Letzt aber….«

»Gewiß«, unterbrach ihn Homais, »gibt es schlechte Literatur, genau so wie es schlechte Arzneien gibt. Aber die wichtigste aller Künste deshalb gleich in Bausch und Bogen zu verurteilen, das dünkt mich eine kolossale Dummheit, eine groteske Idee, würdig der abscheulichen Zeiten, die einen Galilei im Kerker schmachten ließen.«

Der Pfarrer ergriff das Wort:

»Ich weiß sehr wohl: es gibt gute Dramen und gute Theaterschriftsteller. Aber diese modernen Stücke, in denen Personen zweierlei Geschlechts in Prunkgemächern, vollgepfropft von weltlichem Tand, zusammengesteckt werden, diese schamlosen Bühnenmätzchen, dieser Kostümluxus, diese Lichtvergeudung, dieser Feminismus, alles das hat keine andre Wirkung, als daß es leichtfertige Ideen in die Welt setzt, schändliche Gedanken und unzüchtige Anwandlungen. Wenigstens ist das zu allen Zeiten die Ansicht der kirchlichen Autoritäten.«

Er nahm einen salbungsvollen Ton an, während er zwischen seinen Fingern eine Prise Tabak hin und her rieb. »Und wenn die Kirche das Theater zuweilen in Acht und Bann getan hat, war sie in ihrem vollen Rechte. Wir müssen uns ihrem Gebote fügen.«

»Jawohl,« eiferte der Apotheker, »man exkommuniziert die Schauspieler. In früheren Jahrhunderten nahmen sie an den kirchlichen Feiern teil. Man spielte sogar in der Kirche possenhafte Stücke, die sogenannten Mysterien, in denen es häufig nichts weniger als dezent zuging….«

Der Geistliche begnügte sich, einen Seufzer auszustoßen. Der Apotheker redete immer weiter:

»Und wie stehts mit der Bibel? Es wimmelt darin – Sie wissens ja am besten – von Unanständigkeiten und – man kann nicht anders sagen – groben Schweinereien….« Bournisien machte eine unwillige Gebärde. »Aber Sie müssen mir doch zugeben, daß das kein Buch ist, das man jungen Leuten in die Hand geben kann. Ich werde es nie zulassen, daß meine Athalie….«

»Das sind ja die Protestanten, nicht wir,« rief der Pfarrer ungeduldig, »die den Leuten die Bibel überlassen!«

»Das kommt hier nicht in Frage«, erklärte Homais. »Ich wundre mich nur, daß man noch in unsrer Zeit, im Jahrhundert der wissenschaftlichen Aufklärung, eine geistige Erholung zu verdammen sucht, die in gesellschaftlicher, in moralischer, ja sogar in hygienischer Beziehung die Menschheit fördert! Das ist doch so, nicht, Doktor?«

»Zweifellos!« erwiderte der Arzt nachlässig. Entweder wollte er niemandem zu nahetreten, obgleich er dieselbe Ansicht hegte, oder er hatte hierüber überhaupt keine Meinung.

Die Unterhaltung war eigentlich zu Ende, aber der Apotheker hielt es für angebracht, eine letzte Attacke zu reiten.

»Ich habe Geistliche gekannt,« behauptete er, »die in Zivil ins Theater gingen, um die Balletteusen mit den Beinen strampeln zu sehen.«

»Ach was!« wehrte der Pfarrer ab.

»Doch! Ich kenne welche!« Und nochmals sagte er, Silbe für Silbe einzeln betonend: »Ich – ken – ne – wel – che!«

»Na ja,« meinte Bournisien nachgiebig, »die Betreffenden haben da aber etwas Unrechtes getan.«

»Was Unrechtes? Der Teufel soll mich holen! Sie taten noch ganz andre Dinge!«

»Herr – Apo – the – ker!« rief der Geistliche mit einem so zornigen Blicke, daß Homais eingeschüchtert wurde und einlenkte:

»Ich wollte damit ja nur sagen, daß die Toleranz die beste Fürsprecherin der Kirche ist.«

»Sehr wahr! Sehr wahr!« gab der gutmütige Pfarrer zu, indem er sich wieder in seinen Stuhl zurücklehnte. Er blieb aber nur noch ein paar Minuten.

Als er fort war, sagte Homais zu Bovary:

»Das war eine ordentliche Abfuhr! Dem hab ichs mal gesteckt! Sie habens ja mit angehört! Um darauf zurückzukommen: tun Sie das ja, führen Sie Ihre Frau in das Theater, und wenns bloß deshalb wäre, um diesen schwarzen Raben damit zu ärgern. Sapperlot! Wenn ich einen Vertreter hätte, begleitete ich Sie selber! Aber halten Sie sich dazu! Lagardy singt nur einen einzigen Abend. Er hat ein Engagement nach England für ein Riesenhonorar! Übrigens soll er ein toller Schwerenöter sein! Er schwimmt im Gold! Drei Geliebte bringt er mit und seinen Leibkoch! Alle diese großen Künstler können nicht rechnen. Sie brauchen ein verschwenderisches Dasein, es regt ihre Phantasie an. Freilich enden sie im Spittel, weil sie in jungen Jahren nicht zu sparen verstehen … Na, gesegnete Mahlzeit! Auf Wiedersehn!«

Der Gedanke, das Theater zu besuchen, schlug in Bovarys Kopfe schnell Wurzel. Er redete Emma in einem fort zu. Anfangs wollte sie nichts davon wissen und meinte, sie fühle sich zu schwach, es sei zu beschwerlich und zu kostspielig. Ausnahmsweise gab Karl nicht nach, zumal er sich einbildete, daß ihr diese Zerstreuung sehr dienlich wäre. Irgendwelche Schwierigkeit lag nicht vor. Seine Mutter hatte ihm jüngst ganz unvermutet dreihundert Franken geschickt. Die laufenden Ausgaben waren nicht groß, und die Wechselschuld bei Lheureux war noch lange nicht fällig, so daß er daran nicht zu denken brauchte. Er dachte, Emma sträube sich nur aus Rücksicht auf ihn. Deshalb bestürmte er sie immer mehr, bis sie seinen Bitten schließlich nachgab. Am andern Morgen um acht Uhr fuhren sie mit der Post ab.

Den Apotheker hielt nichts Dringliches in Yonville zurück, aber er hielt sich für unabkömmlich. Als er die beiden einsteigen sah, jammerte er.

»Glückliche Reise!« sagte er. »Habt ihrs gut!« Und zu Emma gewandt, fügte er hinzu: »Sie sehen zum Anbeißen hübsch aus! Sie werden in Rouen Furore machen!«

Die Post spannte in Rouen im »Roten Kreuz« am Beauvoisine-Platz aus. Das war ein regelrechter Vorstadtgasthof mit geräumigen Ställen und winzigen Fremdenzimmern. Mitten im Hofe lief eine Schar Hühner herum, die unter den verschmutzten Einspännern der Geschäftsreisenden ihre Haferkörner aufpickten. Es war eine der Herbergen aus der guten alten Zeit. Sie haben morsche Holzbalkone, die in den Winternächten im Winde knarren; die Gäste, der Lärm und die Esserei werden in ihnen nie alle; die schwarzen Tischplatten sind voller großer Kaffeeflecke, die trüben dicken Fensterscheiben voller Fliegenschmutz und die feuchten Servietten voller Rotweinspuren. Auf der Straßenseite gibt es ein Café und hinten nach dem Freien zu einen Gemüsegarten. Alles trägt einen ländlichen Anstrich.

Karl machte sofort einen Besorgungsgang. An der Theaterkasse wußte er nicht, was Parkett, Proszeniumsloge, erster Rang und Galerie war; er bat um Auskunft, wurde dadurch aber auch nicht klüger. Der Kassierer wies ihn in die Direktion. Schließlich rannte er noch einmal in den Gasthof zurück, dann wieder an die Kasse. Auf diese Weise lief er mehrmals durch die halbe Stadt.

Frau Bovary kaufte sich einen neuen Hut, Handschuhe und Blumen. Karl war fortwährend in Angst, den Beginn der Oper zu versäumen. Und so nahmen sie sich beide keine Zeit, einen Bissen zu sich zu nehmen. Als sie aber vor dem Theater ankamen, waren die Türen noch geschlossen.


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