Gustave Flaubert
Frau Bovary
Gustave Flaubert

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Neuntes Kapitel

Oft, wenn Karl unterwegs war, holte Emma die grünseidene Zigarrentasche aus dem Schrank, wo sie unter gefalteter Wäsche verborgen lag. Sie betrachtete sie, öffnete sie und sog sogar den Duft ihres Futters ein, das nach Lavendel und Tabak roch. Wem mochte sie gehört haben? Dem Vicomte? Vielleicht war es ein Geschenk seiner Geliebten. Gewiß hatte sie die Stickerei auf einem kleinen Rahmen von Polisanderholz angefertigt, ganz heimlich, in vielen, vielen Stunden, und die weichen Locken der träumerischen Arbeiterin hatten die Seide gestreift. Ein Hauch von Liebe wehte aus den Stichen hervor. Mir jedem Faden war eine Hoffnung oder eine Erinnerung eingestickt worden, und alle diese kleinen Seidenkreuzchen waren das Denkmal einer langen stummen Leidenschaft. Und dann, eines Morgens, hatte der Vicomte die Tasche mitgenommen. Wovon hatten die beiden wohl geplaudert, als sie noch auf dem breiten Simse des Kamines zwischen Blumenvasen und Stutzuhren aus den Zeiten der Pompadour lag?

Jetzt war der Vicomte wohl in Paris. Weit weg von ihr und von Tostes! Wie mochte dieses Paris sein? Welch geheimnisvoller Name! Paris! Sie flüsterte das Wort immer wieder vor sich hin. Es machte ihr Vergnügen. Es raunte ihr durch die Ohren wie der Klang einer großen Kirchenglocke. Es flammte ihr in die Augen, wo es auch stand, selbst von den Etiketten ihrer Pomadenbüchsen.

Nachts, wenn die Seefischhändler unten auf der Straße vorbeifuhren mit ihren Karren und die »Majorlaine« sangen, ward sie wach. Sie lauschte dem Rasseln der Räder, bis die Wagen aus dem Dorfe hinaus waren und es wieder still wurde.

»Morgen sind sie in Paris!« seufzte die Einsame. Und in ihren Gedanken folgte sie den Fahrzeugen über Berg und Tal, durch Dörfer und Städte, immer die große Straße hin in der lichten Sternennacht. Aber weiter weg gab es ein verschwommenes Ziel, wo ihre Träume versagten. Sie kaufte sich einen Plan von Paris und machte mit dem Fingernagel lange Wanderungen durch die Weltstadt. Sie lief auf den Boulevards hin, blieb an jeder Straßenecke stehen, an jedem Hause, das im Stadtplan eingezeichnet war. Wenn ihr die Augen schließlich müde wurden, schloß sie die Lider, und dann sah sie im Dunkeln, wie die Flammen der Laternen im Winde flackerten und wie die Kutschen vor dem Portal der Großen Oper donnernd vorfuhren.

Sie abonnierte auf den »Bazar« und die »Modenwelt« und studierte auf das gewissenhafteste alle Berichte über die Premieren, Rennen und Abendgesellschaften. Sie war unterrichtet, wenn berühmte Sängerinnen Gastspiele gaben oder neue Warenhäuser eröffnet wurden; sie kannte die neuesten Moden, die Adressen der guten Schneider; sie wußte, an welchen Tagen die vornehme Gesellschaft im Bois und in der Oper zu finden war. Aus den Moderomanen lernte sie, wie die Pariser Wohnungen eingerichtet waren. Sie las Balzac und die George Sand, um wenigstens in der Phantasie ihre Begehrlichkeit zu befriedigen. Sie brachte diese Bücher sogar mit zu den Mahlzeiten und las darin, während Karl aß und ihr erzählte. Und was sie auch las, überallhinein drangen ihre Reminiszenzen an den Vicomte. Zwischen ihm und den Romangestalten fand sie allerhand Beziehungen. Aber allmählich erweiterte sich der Ideenkreis, dessen Mittelpunkt er war, und der Heiligenschein, den er getragen hatte, erblich schließlich, um auf andren Idealgeschöpfen wieder aufzuflammen.

Unermeßlich wie das Weltmeer, in der Sonne eines Wunderhimmels, so stand Paris vor Emmas Phantasie. Das tausendfältige Leben, das sich in diesem Babylon abspielt, war gleichwohl für sie auf ganz bestimmte Einzelheiten beschränkt, die sie im Geiste in deutlichen Bildern sah. Neben diesen – man könnte sagen – Symbolen des mondänen Lebens trat alles andre in Dunkel und Dämmerung zurück.

Das Dasein der Hofmenschen, so wie sie sichs vorstellte, spielte sich auf glänzendem Parkett ab, in Spiegelsälen, um ovale Tische, auf denen Samtdecken mit goldnen Fransen liegen. Dazu Schleppkleider, Staatsgeheimnisse und tausend Qualen hinter heuchlerischem Lächeln. Das Milieu des höchsten Adels bildete sie sich folgendermaßen ein: Vornehme bleiche Gesichter; man steht früh um vier Uhr auf; die Damen, allesamt unglückliche Engel, tragen Unterröcke aus irischen Spitzen; die Männer, verkannte Genies, kokettierend mit der Maske der Oberflächlichkeit, reiten aus Ubermut ihre Vollblüter zuschanden, die Sommersaison verbringen sie in Baden-Baden, und wenn sie vierzig Jahre alt geworden sind, heiraten sie zu guter Letzt reiche Erbinnen. Die dritte Welt, von der Emma träumte, war das bunte Leben und Treiben der Künstler, Schriftsteller und Schauspielerinnen, das sich in den separierten Zimmern der Restaurants abspielt, wo man nach Mitternacht bei Kerzenschein soupiert und sich austollt. Diese Menschen sind die Verschwender des Lebens, Könige in ihrer Art, voller Ideale und Phantastereien. Ihr Dasein verläuft hoch über dem Alltag, zwischen Himmel und Erde, in Sturm und Drang.

Alles andre in der Welt war für Emma verloren, wesenslos, so gut wie nicht vorhanden. Je näher ihr die Dinge übrigens standen, um so weniger berührten sie ihr Innenleben. Alles, was sie unmittelbar umgab: die eintönige Landschaft, die kleinlichen armseligen Spießbürger, ihr ganzes Durchschnittsdasein kam ihr wie ein Winkel der eigentlichen Welt vor. Er existierte zufällig, und sie war in ihn verbannt. Aber draußen vor seinen Toren, da begann das weite, weite Reich der Seligkeiten und Leidenschaften.

In der Sehnsucht ihres Traumlebens flossen Wollust und Luxus mit den Freuden des Herzens, erlesene Lebensführung mit Gefühlsfeinheiten ineinander. Bedarf die Liebe, ähnlich wie die Pflanzen der Tropen, nicht ihres eigenen Bodens und ihrer besondren Sonne? Seufzer bei Mondenschein, innige Küsse, Tränen, vergossen auf hingebungsvolle Hände, Fleischeslust und schmachtende Zärtlichkeit, alles das war ihr unzertrennlich von stolzen Schlössern voll müßigen Lebens, von Boudoiren mit seidnen Vorhängen und dicken Teppichen, von blumengefüllten Vasen, von Himmelbetten, von funkelnden Brillanten und gold-strotzender Dienerschaft.

Der Postkutscher, der allmorgentlich in seiner zerrissenen Stalljacke, die bloßen Füße in Holzpantoffeln, kam, um die Stute zu füttern und zu putzen, klapperte jedesmal durch die Hausflur. Das war der Groom in Kniehosen. Mit dem mußte sie zufrieden sein. Wenn er fertig war, ließ er sich den ganzen Tag über nicht wieder blicken. Karl pflegte nämlich sein Pferd, wenn er es geritten hatte, selbst einzustellen. Während er Sattel und Zäumung aufhing, warf die Magd dem Tiere ein Bund Heu vor.

Nachdem Anastasia unter tausend Tränen wirklich das Haus verlassen hatte, nahm Emma an ihrer Stelle ein junges Mädchen in Dienst, eine Waise von vierzehn Jahren, ein sanftmütiges Wesen. Sie zog sie nett an, brachte ihr höfliche Manieren bei, lehrte sie, ein Glas Wasser auf dem Teller zu reichen, vor dem Eintreten in ein Zimmer anzuklopfen, unterrichtete sie im Plätten und Bügeln der Wäsche und ließ sich von ihr beim Ankleiden helfen. Mit einem Worte, sie bildete sich eine Kammerzofe aus. Felici – so hieß das neue Mädchen – gehorchte ihr ohne Murren. Es gefiel ihr im Hause. Die Hausfrau pflegte den Büfettschlüssel stecken zu lassen. Felicie nahm sich alle Abende einige Stücke Zucker und verzehrte sie, wenn sie allein war, im Bett, nachdem sie ihr Gebet gesprochen hatte. Nachmittags, wenn Frau Bovary wie gewöhnlich oben in ihrem Zimmer blieb, ging sie ein wenig in die Nachbarschaft klatschen.

Emma kaufte sich eine Schreibunterlage, Briefbogen, Umschläge und einen Federhalter, obgleich sie niemanden hatte, an den sie hätte schreiben können. Häufig besah sie sich im Spiegel. Mitunter nahm sie ein Buch zur Hand, aber beim Lesen verfiel sie in Träumereien und ließ das Buch in den Schoß sinken. Am liebsten hätte sie eine große Reise gemacht oder wäre wieder in das Kloster gegangen. Der Wunsch zu sterben und die Sehnsucht nach Paris beherrschten sie in der gleichen Minute.

Karl trabte indessen bei Wind und Wetter seine Landstraßen hin. Er frühstückte in den Gehöften, griff in feuchte Krankenbetten, ließ sich beim Aderlassen das Gesicht voll Blut spritzen, hörte dem Röcheln Sterbender zu, prüfte den Inhalt von Nachttöpfen und zog so und so oft schmutzige Hemden hoch. Abends aber fand er immer ein gemütliches Feuer im Kamin, einen nett gedeckten Tisch, den zurechtgesetzten Großvaterstuhl und eine allerliebst angezogene Frau. Ein Duft von Frische ging von ihr aus; wer weiß, was das war, ein Odeur, ihre Wäsche oder ihre Haut?

Eine Menge andrer seltsamer Kleinigkeiten war sein Entzücken. Sie erfand neue Papiermanschetten für die Leuchter, oder sie besetzte ihren Rock mit einem koketten Volant, oder sie taufte ein ganz gewöhnliches Gericht mit einem putzigen Namen, weil es ihm herrlich geschmeckt und er es bis auf den letzten Rest vertilgt hatte, obgleich es dem Mädchen greulich mißraten war. Einmal sah sie in Rouen, daß die Damen an ihren Uhrketten allerlei Anhängsel trugen; sie kaufte sich auch welche. Ein andermal war es ihr Wunsch, auf dem Kamine ihres Zimmers zwei große Vasen aus blauem Porzellan stehen zu haben, oder sie wollte ein Nähkästchen aus Elfenbein mit einem vergoldeten Fingerhut. So wenig Karl diese eleganten Neigungen begriff, so sehr übten sie doch auch auf ihn eine verführerische Wirkung aus. Sie erhöhten die Freuden seiner Sinnlichkeit und verliehen seinem Heim einen süßen Reiz mehr. Es war, als ob Goldstaub auf den Pfad seines Lebens fiel.

Er sah gesund und würdevoll aus, und sein Ansehen als Arzt stand längst fest. Die Bauern mochten ihn gern, weil er gar nicht stolz war. Er streichelte die Kinder, ging niemals in ein Wirtshaus und flößte jedermann durch seine Solidität Vertrauen ein. Er war Spezialist für Hals- und Lungenleiden. In Wirklichkeit rührten seine Erfolge daher, daß er Angst hatte, die Leute zu Tode zu kurieren,und ihnen darum mit Vorliebe nur beruhigende Arzneien verschrieb und ihnen hin und wieder ein Abführmittel, ein Fußbad oder einen Blutegel verordnete. In der Chirurgie war er allerdings ein Stümper. Er schnitt drauflos wie ein Fleischermeister, und Zähne zog er wie der Satan.

Um sich in seinem Handwerk »auf dem laufenden zu halten«, war er auf die »Medizinische Wochenschrift« abonniert, von der ihm einmal ein Prospekt zugegangen war. Abends nach der Hauptmahlzeit nahm er sie gewöhnlich zur Hand, aber die warme Zimmerluft und die Verdauungsmüdigkeit brachten ihn regelmäßig nach fünf Minuten zum Einschlafen. Das Haupt sank ihm dann auf den Tisch, und sein Haar fiel wie eine Löwenmähne vornüber nach dem Fuße der Tischlampe zu. Emma sah sich dieses Bild verächtlich an. Wenn ihr Mann nur wenigstens eine der stillen Leuchten der Wissenschaft gewesen wäre, die nachts über ihren Büchern hocken und mit sechzig Jahren, wenn sich das Zipperlein einstellt, den Verdienstorden in das Knopfloch ihres schlecht sitzenden schwarzen Rockes gehängt bekommen! Der Name Bovary, der ja auch der ihre war, hätte Bedeutung haben müssen in der Fachliteratur, in den Zeitungen, in ganz Frankreich! Aber Karl hegte so gar keinen Ehrgeiz. Ein Arzt aus Yvetot mit dem er unlängst gemeinsam konsultiert worden war, hatte ihn in Gegenwart des Kranken und im Beisein der Verwandten blamiert. Als Karl ihr abends die Geschichte erzählte, war Emma maßlos empört über den Kollegen. Karl küßte ihr gerührt die Stirn. Die Tränen standen ihm in den Augen. Sie war außer sich vor Scham ob der Demütigung ihres Mannes und hätte ihn am liebsten verprügelt. Um sich zu beruhigen, eilte sie auf den Gang hinaus, öffnete das Fenster und sog die kühle Nachtluft ein.

»Ach, was habe ich für einen erbärmlichen Mann!« klagte sie leise vor sich hin und biß sich auf die Lippen.

Er wurde ihr auch sonst immer widerwärtiger. Mit der Zeit nahm er allerlei unmanierliche Gewohnheiten an. Beim Nachtisch zerschnippselte er den Kork der leeren Flasche; nach dem Essen leckte er sich die Zähne mit der Zunge ab, und wenn er die Suppe löffelte, schmatzte er bei jedem Schlucke. Er ward immer beleibter, und seine an und für sich schon winzigen Augen drohten allmählich gänzlich hinter seinen feisten Backen zu verschwinden.

Zuweilen schob ihm Emma den roten Saum seines Trikotunterhemdes wieder unter den Kragen, zupfte die Krawatte zurecht oder beseitigte ein Paar abgetragener Handschuhe, die er sonst noch länger angezogen hätte. Aber dergleichen tat sie nicht, wie er wähnte, ihm zuliebe. Es geschah einzig und allein aus nervöser Reizbarkeit und egoistischem Schönheitsdrang. Mitunter erzählte sie ihm Dinge, die sie gelesen hatte, etwa aus einem Roman oder aus einem neuen Stücke, oder Vorkommnisse aus dem Leben der oberen Zehntausend, die sie im Feuilleton einer Zeitung erhascht hatte. Schließlich war Karl wenigstens ein aufmerksamer und geneigter Zuhörer, und sie konnte doch nicht immer nur ihr Windspiel, das Feuer im Kamin und den Perpendikel ihrer Kaminuhr zu ihren Vertrauten machen!

Im tiefsten Grunde ihrer Seele harrte sie freilich immer des großen Erlebnisses. Wie der Schiffer in Not, so suchte sie mit verzweifelten Augen den einsamen Horizont ihres Daseins ab und spähte in die dunstigen Fernen nach einem weißen Segel. Dabei hatte sie gar keine bestimmte Vorstellung, ob ihr der richtige Kurs oder der Zufall das ersehnte Schiff zuführen solle, nach welchem Gestade sie dann auf diefem Fahrzeuge steuern würde, welcher Art dieses Schiff überhaupt sein solle, ob ein schwaches Boot oder ein großer Ozeandampfer, und mit welcher Fracht er fahre, mit tausend Ängsten oder mit Glückseligkeiten beladen bis hinauf in die Wimpel. Aber jeden Morgen, wenn sie erwachte, rechnete sie bestimmt darauf, heute müsse es sich ereignen. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen, fuhr sie empor und war dann betroffen, daß es immer noch nicht kam, das große Erlebnis. Wenn die Sonne sank, war sie jedesmal tieftraurig, aber sie hoffte von neuem auf den nächsten Tag.

Der Frühling zog wieder in das Land. Als die Tage wärmer wurden und die Birnbäume zu blühen begannen, litt Emma an Beklemmungen. Dann ward es Sommer. Bereits Anfang Juli zählte sie sich an den Fingern ab, wieviel Wochen es noch bis zum Oktober seien. Vielleicht gäbe der Marquis von Andervilliers wieder einen Ball. Aber der ganze September verstrich, ohne daß ein Brief oder ein Besuch aus Vaubyessard kam. Nach dieser Enttäuschung war ihr Herz wieder leer, und das ewige Einerlei ihres Lebens hub von neuem an.

Also sollten sich denn fortan ihre Tage aneinanderreihen wie die Perlen an einer Schnur, jeder immer wieder gleich dem andern, sollten kommen und gehen und nie etwas Neues bringen! So flach auch das Leben andrer Leute war, sie hatten doch immerhin die Möglichkeit eines außergewöhnlichen Geschehnisses. Ein Abenteuer zieht häufig die unglaublichsten Umwälzungen nach sich und verändert rasch die ganze Szene. Aber in ihrem Dasein blieb alles beim alten. Das war ihr Schicksal! Die Zukunft lag vor ihr wie ein langer stockfinsterer Gang, und die Tür ganz am Ende war fest verriegelt.

Sie vernachlässigte die Musik. Wozu Klavier spielen? Wer hörte ihr denn zu? Es war ihr doch niemals vergönnt, in einem Gesellschaftskleid mit kurzen Ärmeln auf einem Konzertflügel vor einer großen Zuhörerschaft vorzutragen, ihre flinken Finger über die Elfenbeintasten hinstürmen zu lassen und das Murmeln der Verzückung um sich zu hören wie das Rauschen des Zephirs. Wozu also das mühevolle Einstudieren? Ebenso packte sie ihr Zeichengerät und den Stickrahmen in den Schrank. Wozu das alles? Wem zuliebe? Auch das Nähen ward ihr widerlich, und selbst das Lesen ließ sie. »Es ist immer wieder dasselbe!« sagte sie sich.

Und so träumte sie vor sich hin, starrte in die Glut des Kamins oder sah zu, wie draußen der Regen herniederfiel.

Am traurigsten waren ihr die Sonntagsnachmittage. Wenn es zur Vesper läutete, hörte sie, vor sich hinbrütend, den dumpfen Glockenschlägen zu. Eine Katze schlich über die Dächer, gemächlich und langsam, und wo ein bißchen Sonne war, machte sie einen Buckel. Auf der Landstraße blies der Wind Staubwirbel auf. In der Ferne heulte ein Hund. Und zu allem dem, in einem fort, in gleichen Zeiträumen, der monotone Glockenklang, der über den Feldern verhallte.

Inzwischen kamen die Leute aus der Kirche. Die Frauen in Lackschuhen, die Bauern in ihren Sonntagsblusen, die hin und her laufenden Kinder in bloßen Köpfen. Alles ging heimwärts. Nur fünf bis sechs Männer, immer dieselben, blieben vor dem Hoftor des Gafthofes beim Stöpselspiel, bis es dunkel wurde.

Es kam ein kalter Winter. Jeden Morgen waren die Fensterscheiben mit Eisblumen bedeckt, und das Tageslicht, das wie durch mattgeschliffenes Glas hereindrang, blieb mitunter den ganzen Tag über trüb. Von nachmittags vier Uhr an mußten die Lampen brennen.

An schönen Tagen ging Emma in den Garten hinunter. Der Rauhfrost hatte über die Gräser ein silbernes Netz gewoben, dessen glitzernde Maschen von Halm zu Halm gesponnen waren. Kein Vogel sang. Die Natur schien zu schlafen. Das Spalier war mit Stroh umwickelt, und die Weinstöcke hingen an der Mauer wie vereiste Schlangen. Der lesende Mönch unter den Fichten an der Hecke hatte den rechten Fuß verloren. Im Frost war die Glasur abgesprungen, und graue Flecke entstellten ihm nun das Gesicht.

Nach einer Weile stieg sie wieder hinauf in ihr Zimmer, schloss die Tür ab und schürte das Feuer im Kamine. In der Wärme des Zimmers ward sie matt, und die Langeweile lastete schwerer auf ihr. Gern wäre sie hinuntergelaufen, um mit dem Dienstmädchen zu plaudern, aber dazu war sie zu stolz.

Alle Morgen um die nämliche Stunde öffnete drüben der Schulmeister, sein schwarzseidnes Käppchen auf dem Kopfe, die Fensterläden seiner Behausung. Dann marschierte der Landgendarm mit seinem Säbel vorüber. Morgens und abends wurden die Postpferde, immer drei auf einmal, zur Tränke nach dem Dorfteiche vorbeigeführt. Von Zeit zu Zeit schellte die Türklingel irgendeines Ladens; und wenn der Wind ging, hörte man die Messingbecken, die als Aushängeschilder vor dem Barbiergeschäfte hingen, an ihre Stange klirren. Das Schaufenster schmückten ein altes auf Pappe ausgeklebtes Modenkupfer und eine weibliche Wachsbüste mit einer gelben Perücke. Der Friseur pflegte über seinen brotlosen Beruf und seine jammervolle Zukunft zu lamentieren; sein höchster Traum war ein Laden in einer großen Stadt, etwa in Rouen, am Kai, in der Nähe des Theaters. Mürrisch wanderte er den ganzen Tag über zwischen dem Gemeindeamt und der Kirche hin und her und lauerte auf Kundschaft. Sooft Frau Bovary durch ihr Fenster blickte, sah sie ihn jedesmal in seinem braunen Rock, die Zipfelmütze auf dem Haupte, wie einen Wachtposten hin und her patrouillieren.

Am Nachmittag erschien zuweilen vor den Fenstern des Eßzimmers ein sonnengebräunter Männerkopf mit einem schwarzen Schnurrbarte und einem trägen Lächeln um den Mund, in dem die Zähne leuchteten. Alsbald begann eine Walzermelodie aus einem Leierkasten, auf dessen Deckel ein kleiner Ballsaal aufgebaut war mit daumenhohen Figuren darin: Frauen in roten Kopftüchern, Tiroler in Lodenjacken, Affen in schwarzen Röcken, Herren in Kniehosen; alle tanzten sie zwischen den Sofas und Lehnstühlen und Tischen, wobei sie sich in Spiegelstücken vervielfältigten, die mit Goldpapier aneinandergereiht waren. Der Leierkastenmann drehte die Kurbel und spähte dabei nach rechts und links nach allen Fenstern. Hin und wieder spie er einen langen Strahl tabakbraunen Speichels gegen die Prellsteine oder stieß mit dem Knie seinen Kasten in die Höhe, dessen Gurt ihm die Schultern drückte. In einem fort, bald schwermütig und schleppend, bald flott und lustig, dudelte die Musik hinter dem roten Taftbezug, der unter einer schnörkelhaft ausgestanzten Messingleiste an den Leierkasten angenagelt war. Es waren Melodien, die gerade Mode waren und die man überall hörte, in den Theatern, Salons und Tanzsälen, Klänge aus der fernen Welt, die auf diese Weise die einsame Frau erreichten. Diese Klänge im Dreivierteltakt wollten dann nicht wieder aus ihrem Kopfe weichen. Wie die Bajadere über den Blumen ihres Teppichs, tanzten ihre Gedanken im Rhythmus dieser Melodien und wiegten sich von Traum zu Traum und von Trübsal zu Trübsal. Wenn der Mann die milden Gaben in seiner Mütze gesammelt hatte, umhüllte er seinen Kasten mit einem blauwollnen Uberzug, nahm ihn auf den Rücken und verließ das Dorf schweren Schrittes. Emma schaute ihm lange nach.

Am unerträglichsten waren ihr die Mahlzeiten im Eßzimmer unten im Erdgeschoß. Der Ofen rauchte, die Türe knarrte, die Wände waren feucht und der Fußboden kalt. Die ganze Bitternis ihres Daseins schien ihr da auf ihrem Teller zu liegen, und aus dem Dampf des ausgekochten Rindfleisches wehte ihr gleichsam der Brodem ihres ihr so widerwärtig gewordenen Lebens entgegen. Karl aß und aß, während sie ein paar Nüsse knackte oder, auf die Ellenbogen gestützt, sich damit vergnügte, mit der Messerspitze allerlei Linien in das Wachstuch zu kritzeln.

In der Wirtschaft ließ sie jetzt alles gehen, wie es ging. Ihre Schwiegermutter, die einen Teil der Fastenzeit zu Besuch nach Tostes kam, war ob dieses Wandels arg verdutzt. Emma, die erst in ihrem Äußeren so akkurat und adrett gewesen war, lief nunmehr tagelang in ihrem Morgenkleide umher, trug graue baumwollne Strümpfe und fing an zu knausern und zu geizen. Sie meinte, man müsse sich einschränken, da sie nicht reich seien, fügte aber hinzu, sie sei höchst zufrieden und überaus glücklich, und in Tostes gefalle es ihr über alle Maßen. Mit solch wunderlichen Reden beschwichtigte sie die alte Frau Bovary. Im übrigen zeigte sie sich für die guten Lehren der Schwiegermutter nicht empfänglicher denn früher. Als diese gelegentlich die Bemerkung machte, die Herrschaft sei für die Gottesfurcht der Dienstboten verantwortlich, ward Emmas Antwort von einem so zornigen Blick und einem so eiskalten Lächeln begleitet, daß die gute Frau ihr nicht wieder zu nahe kam.

Emma wurde unzugänglich und launisch. Sie ließ sich besondre Gerichte zubereiten, die sie dann aber nicht anrührte; an dem einen Tage trank sie nichts als Milch und am andern ein Dutzend Tassen Tee. Oft war sie nicht aus dem Hause zu bekommen, und bald war ihr wieder die Stubenluft zum Ersticken. Sie sperrte alle Fenster auf und konnte sich nicht leicht genug anziehen. Wenn sie das Dienstmädchen angefahren hatte, machte sie ihr im nächsten Augenblicke Geschenke oder ließ sie in die Nachbarschaft ausgehen. Aus ähnlicher Bizarrerie warf sie bisweilen armen Leuten alles Kleingeld hin, das sie bei sich hatte, obgleich sie eigentlich gar nicht weichherzig und mitleidig war, just wie alle Menschen, die auf dem Lande groß geworden sind und lebenslang etwas von der Härte der väterlichen Hände in ihrem Herzen behalten.

Gegen Ende des Februars brachte Vater Rouault in Erinnerung an seine Heilung persönlich eine prächtige Truthenne und blieb drei Tage im Hause seines Schwiegersohnes. Während Karl auf Praxis war, leistete ihm seine Tochter Gesellschaft. Er rauchte in ihrem Zimmer, spuckte in den Kamin, schwatzte von Ernteaussichten, Kälbern, Kühen, Hühnern und von den Gemeinderatssitzungen. Wenn er wieder hinausgegangen war, schloß sie ihre Tür mit einem Gefühl der Befriedigung ab, das ihr selber sonderbar vorkam.

Ihre Verachtung aller Menschen und Dinge verhehlte sie fortan immer weniger. Bisweilen gefiel sie sich darin, die merkwürdigsten Ansichten zu äußern. Sie tadelte, was andre für gut hielten, und billigte Dinge, die für unnatürlich oder unmoralisch erklärt wurden. Karl machte mitunter verwunderte Augen dazu.

Sollte dieses Jammerdasein ewig dauern? So fragte sie sich immer wieder. Sollte sie niemals von hier fortkommen? Sie war doch ebensoviel wert wie alle die Menschen, die glücklich waren! In Vaubyessard hatte sie Herzoginnen gesehen, die plumper im Wuchs waren als sie und ein gewöhnlicheres Benehmen hatten. Sie verwünschte die Ungerechtigkeit ihres Schöpfers und drückte ihr Haupt weinend an die Wände vor lauter Sehnsucht nach dem Tumult der Welt, ihren nächtlichen Maskeraden und frechen Freuden und allen den Tollheiten, die sie nicht kannte und die es doch gab.

Sie wurde immer blasser und litt an Herzklopfen. Karl verordnete ihr Baldriantropfen und Kampferbäder. Das machte sie nur noch reizsamer.

An manchen Tagen redete sie ohne Unterlaß wie eine Fieberkranke. Dieser Aufgeregtheit folgte ein plötzlicher Umschlag in einen Zustand von Empfindungslosigkeit. Dann lag sie stumm da, ohne sich zu rühren, und es wirkte bei ihr nur ein Belebungsmittel: das Übergießen mit Kölnischem Wasser.

Dieweil sie sich fortwährend über Tostes beklagte, bildete sich Karl ein, ihr Leiden sei zweifellos durch irgendwelchen örtlichen Einfluß verursacht, und so begann er ernstlich daran zu denken, sich in einer andren Gegend niederzulassen.

Um diese Zeit fing Emma an, Essig zu trinken, weil sie mager werden wollte. Sie bekam einen leichten trocknen Husten und verlor jegliche Eßlust.

Es fiel Karl sehr schwer, Tostes aufzugeben, wo er gerade jetzt, nach vierjähriger Praxis, ein gemachter Mann war. Indessen, es mußte sein! Er ließ Emma in Rouen von seinem ehemaligen Lehrmeister untersuchen. Es sei ein nervöses Leiden; Luftveränderung wäre vonnöten.

Karl zog nun allerorts Erkundigungen ein, und da brachte er in Erfahrung, daß im Bezirk von Neufchâtel in einem größeren Marktflecken namens Abtei Yonville der bisherige Arzt, ein polnischer Refúgié, in der vergangenen Nacht das Weite gesucht hatte. Er schrieb an den dortigen Apotheker und erkundigte sich, wieviel Einwohner der Ort habe, wie weit die nächsten Kollegen entfernt säßen und wie hoch die Jahreseinnahme des Verschwundenen gewesen sei. Die Antwort fiel befriedigend aus, und infolgedessen entschloß sich Bovary, zu Beginn des kommenden Frühjahres nach Abtei Yonville überzusiedeln, falls sich Emmas Zustand noch nicht gebessert habe.

Eines Tages kramte Emma des bevorstehenden Umzuges wegen in einem Schubfache. Da riß sie sich in den Finger und zwar an einem der Drähte ihres Hochzeitsstraußes. Die Orangenknospen waren grau vor Staub, und das Atlasband mit der silbernen Franse war ausgefranst. Sie warf den Strauß in das Feuer. Er flackerte auf wie trocknes Stroh. Eine Weile glühte er noch wie ein feuriger Busch über der Asche, dann sank er langsam in sich zusammen. Nachdenklich sah Emma zu. Die kleinen Beeren aus Pappmasse platzten, die Drähte krümmten sich, die Silberfransen schmolzen. Die verkohlte Papiermanschette zerfiel, und die Stücke flatterten im Kamine hin und her wie schwarze Schmetterlinge, bis sie in den Rauchfang hinaufflogen….

Bei dem Weggange von Tostes, im März, ging Frau Bovary einer guten Hoffnung entgegen.


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