Wilhelm Fischer
Wastel
Wilhelm Fischer

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Als die Franzosen im Jahre 1809 Graz besetzt hielten, da geschah ein Ereignis, das niemals gänzlich ruchbar wurde und doch im geheimen von Mund zu Mund ging. Denn der Befehlshaber der einbrechenden Armee fand es selber für geboten, daß es nicht verlautbart werde, damit nicht das Ansehen der siegreichen Soldaten durch das Verbrechen, wie es hier vorlag, vermindert werde. Es wurde nämlich ein französischer Offizier, der Maubrun hieß, in einem sonst ehrbaren Hause ermordet gefunden. Der Thäter war entflohen, und man fahndete im stillen eifrig nach ihm, um ihn der wohlverdienten strengsten Strafe zu überliefern. Niemand in der Stadt, so schien es, wußte um die 4 näheren Umstände, und doch wußte jeder, daß etwas Unheilvolles geschehen war: nämlich, daß der Sieger in der besiegten Stadt durch ein unerhörtes Wagnis tödlich verletzt worden war.

Man fürchtete das ärgste, doch traf, wie gesagt, die Stadt selbst kein Bannspruch aus dem Munde des Gewalthabers, der am liebsten gar nicht den Glauben aufkommen lassen wollte an die Möglichkeit eines Unterfangens, wie das erwähnte war. Um so eindringlicher glimmte die Aufregung im stillen fort, sowohl in der Bürgerschaft, die die Folgen befürchtete, als in den Machthabern, die die That ahnden wollten und des Thäters nicht habhaft wurden. Denn dieser hielt sich so verborgen, daß alle Nachforschungen vergeblich blieben.

Inzwischen traten aber andere Ereignisse ein, die die Anteilnahme der Bevölkerung fesselten und rege erhielten. Es entspann sich ein heißes Gefecht zwischen dem französischen Eroberer und einem österreichischen Befehlshaber, der zur Befreiung der besetzten Stadt heran gerückt war. Der Kampf wogte heftig vor den Thoren, in den 5 Vorörtern und auf den nahe liegenden Hügeln. Doch blieb er unentschieden, die Nacht brach herein, und die Entscheidung sollte der nächste Tag bringen.

Die Bevölkerung war, wie leicht zu ermessen, in großer Unruhe und Aufregung; vielleicht aber am tiefsten herrschte solche in dem Hause des Gubernialrates Pannecker. Dieses befand sich nahe der Ringmauer und gestattete von den Fenstern des oberen Stockwerkes eine gute Überschau auf das Gefechtsfeld, das sich im Osten der Stadt dahin zog. Die Frau des Gubernialrats, eine feine und kränklich beschaffene Dame hatte den ganzen Tag viel von dem aufregenden Getöse des Gefechtes gelitten, das sich vor ihren Augen abspielte. In ihrer unmittelbaren Nähe hatten sich noch überdies die Franzosen auf die Dächer der umliegenden Häuser postiert, um mit Kleingewehr und Doppelhacken die Besatzung des Schloßberges in Schach zu halten und von den Brustwehren zu verscheuchen. Die Festung des Schloßberges nämlich war mitten in der eroberten Stadt unter einem überaus kühnen Befehlshaber noch unbezwungen.

6 So hatte denn die kränkliche Dame das vervielfachte Ungemach der Stadt in ihrer eigenen Person besonders lebhaft gefühlt. Furchtsam, wie sie ihrer Art nach war, hatte dennoch die weibliche Neugierde in ihr über die Furcht die Oberhand gewonnen, und zurückgestoßen und doch wieder angezogen, hatte sie den ganzen Tag trotz Abredens ihres Mannes den aufregenden Verlauf des Kampfes von ihrem Fenster aus betrachtet. Nun am Abend, da das Getümmel ruhte und nur noch einzelne Schüsse vernehmbar waren, hatte sich ihrer ein solcher mit Krämpfen begleiteter Zustand bemächtigt, daß der besorgte Gatte nach dem bewährten Hausarzte schickte, der alsbald eintraf. Dieser, der Dr. Wittum hieß, kannte die nervöse Beschaffenheit der Leidenden aus langer Erfahrung und verordnete die nötigen Mittel, die aber diesmal wenig Linderung brachten. So sehr hafteten die schrecklichen Scenen des Tages in ihrer Einbildung, daß es der Arzt für geboten hielt, diese Erinnerung durch irgend einen andern Gegenstand zu mildern, wenn nicht auszulöschen.

7 Da ihn der Gatte überdies eindringlich bat, die Leidende nicht eher zu verlassen, bis sich ihr Zustand gebessert hätte, so setzte er sich geduldig in die Nähe des Ruhebettes, auf welchem sie angstvoll lag, und suchte in seinem Geiste nach einem passenden Gegenstande, ihre Vorstellungen von den Scenen des Tages abzulenken. Sein Blick fiel dabei auf eine Pendeluhr, die unweit auf einem Tischchen stand und reiche Verzierungen zeigte, welche meisterhaft aus vergoldeter Bronze gearbeitet waren. Zwei Säulchen aus weißem Alabaster stellten an der Stirnseite ein Portal vor, dessen Fries mit ciseliertem Blattwerk, mit Blüten und Masken anmutig geschmückt war und in seinem kühn gebauten Giebel das Zifferblatt der Uhr trug. Hinter den Säulen, gleichsam im Innenraum eines kleinen Tempels, standen zwei zierliche Gestalten gegen einander über: ein Mann und ein Weib. Er war mit einer Toga von grün emailliertem Kupfer bekleidet; sie stand in rötlichem Gewande und hielt einen Kranz in den Händen erhoben. Im Hintergrunde des kleinen Tempels befand sich in der Nische ein 8 Altar, auf welchem ein Liebesgöttlein stund, bewehrt mit Bogen und Pfeil.

Der Arzt wartete noch eine Weile; er sah, daß der Zeiger der Uhr bald auf die elfte Stunde rücken und sie dann schlagen werde. So sprach er inzwischen beruhigende Worte zu der zarten Frau, wie er auch sonst es als sorgsamer Arzt pflegte.

Durch das geöffnete Fenster des Gemaches drang die warme Juninacht herein, durchhaucht von allerlei Blüten des jungen Sommers; ein blaßblauer Himmel, durchwirkt mit Sternen, wölbte sich draußen, und doch lag trotz der nächtlichen Klarheit eine Gewitterstimmung über der Stadt. Ein dumpfes Murmeln tönte aus der Ferne, einzelne Rufe, Schreie wurden laut, dann wurde es wieder still, bis plötzlich hier und da ein Schuß fiel, der die Nerven der leidenden Frau wieder aufschreckte, so daß sie sich ächzend auf dem Ruhebette wand. Da schlug die Pendeluhr elf, und mit dem ersten Schlage fingen die Figürchen an, sich zu bewegen. Die männliche Gestalt sank auf die Kniee, die weibliche reckte 9 beide Arme aus und setzte ihm den bereit gehaltenen Kranz auf den Scheitel; der kleine Liebesgott aber legte den Bogen schußgerecht an mit dem Pfeil auf der Kerbe, und zielte mit seitlich gewandtem Haupte nach dem Herzen des knieenden Mannes. Dazu tönte eine zierliche Menuettenmelodie im Stile eines Meisters der Rokokozeit. Mit dem letzten Tone war alles wieder vorbei, und die Figuren standen leblos wie vorher, der Mann aufgerichtet, das Weib mit unbewegtem Kranz, und Amor hatte den Pfeil wieder in der Rechten, den Bogen in der Linken und blickte gleichgültig vor sich hin.

Nun fragte der Arzt, ob nicht das Uhrwerk vor einiger Zeit etwas verdorben war, so daß die soeben gesehene Scene nicht gänzlich glatt von statten ging. Die leidende Dame nickte bejahend, und der Gatte fügte mit Worten hinzu, daß allerdings eine Hemmung eingetreten war. Die Bekränzung spielte sich ab, aber dem Liebesgott war etwas zugestoßen: Amor blieb unbeweglich.

Der Arzt erinnerte sich an die Begebenheit. 10 Die Frau Gubernialrätin hatte den besten Uhrmacher der Stadt kommen lassen, der auch ein geschickter Mechaniker war. Da sie das kostbare Werk nicht aus dem Hause geben wollte, ward ihm eine Stube eingeräumt, wo er mit seinem Geräte hantieren konnte. Mehrere Tage brachte er mit der schwierigen Arbeit zu; er zerlegte das Kunstwerk, prüfte den Mechanismus und konnte doch nicht damit zurecht kommen. Amor blieb hartnäckig und rührte den Bogen nicht. Erfahrene Gesellen, die er beschäftigte, kamen mit ihm; sie sannen gemeinsam und berieten sich, wie Ärzte Konsilium halten über einen schweren Fall, mit welchen Mitteln die Hemmung behoben werden könnte: es half alles nichts. Frau Gubernialrätin war in Verzweiflung, denn sie hielt berechtigter Weise große Stücke auf das seltene Kunstwerk. Doch das Übel blieb.

Da geschah etwas Unvorhergesehenes. Unter Hierzmanns, des Uhrmachers Gesellen, war auch einer, den der Meister nicht mit zu Rate gezogen hatte. Diesem traute er die Fähigkeit nicht zu, in einem so schweren Falle eine eigene 11 Stimme zu erheben und in ein so künstlich zusammengesetztes Räderwerk Einsicht zu haben, wie das vorliegende war. Aber als jede Hoffnung aufgegeben wurde, Amors Verstocktheit beheben und den Schaden des Mechanismus heilen zu können, da sandte er jenen Gesellen mit dem Auftrage ab, das Handwerksgeräte zu holen. Zu solchen Dienstleistungen verwendete er ihn gerne. Wastel kam – er hieß Sebastian Alfrider, aber man nannte ihn gewöhnlich der Kürze halber so – Wastel kam und blieb eine Stunde, dann die zweite und schließlich den ganzen Nachmittag im Gemache. Frau Gubernialrätin gingen besorgt nachsehen, nicht wahr? aber fanden die Thür verschlossen. Sie klopften, riefen, aber erhielten keine Antwort. Alles blieb still im Gemache; nur ein Knirschen und Feilen ließ sich hören, wie es ein Geselle bei der Arbeit zu thun pflegt. Frau Gubernialrätin waren ratlos, trostlos. Sie wollten nach der Wache schicken, um mit Gewalt die Thür zu eröffnen; denn Sie glaubten, Ihr teures Kunstwerk liege unter den unbefugten Händen des Gesellen schon gänzlich 12 im Verderben. Sie standen händeringend vor der verschlossenen Thüre. Ist es nicht so? Ja.

Doch spät am Abend öffnete sich plötzlich die Pforte ohne gewaltsamen Eingriff von außen. Wastel stand auf der Schwelle und begegnete den vorwurfsvollen, vielleicht auch erzürnten Blicken der Frau Gubernialrätin mit gleichmütigem Antlitze und sprach ruhig die Worte: Die Uhr ist wieder in Ordnung.

Zweifelnd standen die Frau Gubernialrätin ihm gegenüber: Sie konnten ihm nicht glauben, wenn Sie es auch wollten.

Doch Wastel trat zurück in das Gemach, wies auf den Zeiger, der in einigen Minuten die schlagende Stunde verkündete. Frau Gubernialrätin, die ihm gefolgt war, warteten atemlos auf das Ereignis, und wahrlich, als die Stunde zu schlagen begann, erhob Amor den Bogen, setzte den Pfeil an: und alles war wie vorher. Nun könnte ich sagen, Sie fielen dem Gesellen dankbar um den Hals – die Kranke machte eine abwehrende Bewegung – ich weiß! es wäre auch nur bildlich gesprochen; aber Sie dankten ihm 13 herzlich und aufrichtig, was jener mit einem ziemlich trockenen: schon gut! entgegen nahm. Denn geschliffen ist der Bursche nicht. So packte er auch ohne weitere Worte das Handwerkszeug auf und ging. Ich weiß nun nicht, ob er darob viel bei seinem Meister gewonnen hat, der das Honorar für die Heilung einsackte.

Die Dame hatte mit ziemlicher Teilnahme den Bericht des Arztes angehört und auf eine Weile ihres Zustandes vergessen. Doch nun machte sich dieser auf erneuerte Weise in einem bedenklichen Nervenanfall bemerkbar. Denn draußen aus der schönen Sommernacht erhoben sich wieder unheilvolle Töne, die zwei in unmittelbarer Nähe feindlich gegen einander lagernde Heerscharen verkündeten. Auf Augenblicke kam es wie ein dumpfes Brausen durch das geöffnete Fenster herein, aus welchem sich Gewehrgeknatter emporhob, und die Dame glaubte durchdringenden Pulverdampf einzuatmen, der nach ihrer Vorstellung das ganze Gemach erfüllte. Vergeblich redete es ihr der Arzt aus: es sei nur Täuschung ihrer Riechnerven, die von der Einbildung 14 hervorgerufen wäre. Fliederduft aus den Gärten unter der Stadtmauer erfülle das Gemach. Nein, nein, sie wollte es nicht zugeben; sie rieche deutlich den entsetzlichen Pulverdampf und täusche sich nicht. Aber die Fenster schließen lassen wollte sie auch nicht, da ihr die dumpfe Zimmerluft den Atem benehme. Der Gatte war ängstlicher als je zuvor und bat den Arzt mit leisen Worten und flehenden Blicken um Hilfe.

Dieser hielt ihr ein Fläschchen mit einer stärkenden Essenz unter die Nase, und als sie sich wieder ein wenig erholt hatte, begann er von dem Ereignis zu reden, das die Stadt bis vor kurzem in große Aufregung versetzt hatte: von dem französischen Offizier, der im Hause der Frau Gundinger erschlagen wurde. Da ward die leidende Dame ganz lebendig; die Neugierde überwog in ihr über alles Ungemach, das sie von ihren zarten Nerven erduldete. Sie fragte ihn, ob er etwas Genaueres davon wisse. Er bejahte es: ein Arzt erfahre so viel, was anderen verborgen bliebe, und auch er befinde sich in der angenehmen Lage, den unangenehmen Fall genauer berichten zu 15 können. Wenn ihm die Frau Gubernialrätin Gehör schenken wolle, so sei er bereit, die Geschichte zu erzählen. O! sie wolle ihm gerne aufmerksam zuhören. Sie richtete sich auf, ließ sich von dem sorgsamen Gatten das Kissen hinter dem Rücken zurechtlegen, auf daß sie halb sitzend bequem zuhören konnte, und verwandte kein Auge von dem Munde des Arztes, als dieser begann:

»Kennen Sie die Frau Gundinger? Nein. Nun, sie ist die Witwe eines Steueramtsregistrators, die sich von ihrer kleinen Pension und ihrer Hände Arbeit redlich und dürftig ernährt. Sie stickt und näht samt ihrer Tochter für andere Leute. Das Mädel ist munter und zierlich wie ein Reh mit ihren siebzehn oder achtzehn Jahren, die sie etwa hat. Sie hat auch das Zünglein auf dem rechten Flecke und kann ein Mannsbild, das etwa der jungen Schönheit gegenüber zu vordringlich wäre, anlaufen und auch wieder weiblich kunstgerecht abfahren lassen. So hatte sie sich ihre fröhliche Unbefangenheit und den jugendlichen Leib, der manchen reizen mochte, unangefochten bewahrt, wie Eva im 16 Paradiese, als sie noch nicht wußte, ob ein Apfel süß oder säuerlich schmecke.

Außer den beiden Zimmern, die die Frauen selbst bewohnten, besaßen sie noch ein Stübchen, das sie vermieteten. In der letzten Zeit wohnte darin ein stiller Geselle, an dem sich aber das Sprüchwort bewährte: stille Wasser sind tief. Es war Wastel Alfrieder, der Uhrmachergeselle. Frau Gubernialrätin kennen ihn.

Sie nickte eifrig mit dem Kopfe und hörte mit Teilnahme zu.

»Nun ja. Mir fiel dieser Wastel auf, als ich ihn das erste Mal sah. Eine gedrungene Gestalt, nicht klein nicht groß, in der man auch eine zusammengedrängte Kraft vermutet. Ein Gesicht mit scharfen Zügen, hervorstechendem Kinne, das nicht schön zu nennen war, aber mit breiter Stirne und mit blauen Augen, die, tief gebettet in den Höhlungen, gewaltig hell aufleuchten konnten. Doch geschah dies nur zu Zeiten, wenn ihn etwas bewegte. Gewöhnlich schien es, daß ihn nichts bewegte: einen so unerschütterlichen Ausdruck hatte das Gesicht.

17 Dieser Mensch befand sich nun in der Nähe des frischen jungen Frauenzimmers. Sie war verführerisch. Nicht, daß sie es darauf angelegt hätte: sie war ihrer vollauf mächtig und besaß die Sittsamkeit ihrer ungebrochenen mädchenhaften Natur. Aber jede ihrer Bewegungen, der schlanke, geschmeidige Leib, über den eine sparsame Fülle ausgegossen schien, die genug reich war, um reizend zu wirken, die Art, wie sie blickte und der schräge Strahl ihrer Augen unter den langen Wimpern hervorleuchtete, das sonnig kindliche Lächeln, das üppige lichtblonde Haar auf dem Köpfchen, das sich von selbst krauste und lockte: das alles war verführerisch. Und dabei war sie immer fröhlich und wohlgemut. Nichts trübte leichthin ihre Schönmädchenstimmung, aber auch nichts haftete tiefer in ihr. Die Sorge um die Haushaltung, wenn sie sich fühlbar machte, nahm sie auf die leichte Schulter, tröstete die Mutter, wenn diese über den schweren Weltenlauf zu klagen begann, und ruhte nicht eher, bis sich ihre Züge erhellten. Dann fiel sie ihr um den Hals und küßte sie weidlich ab. Wie gesagt, ein 18 reizendes Geschöpf, kräftig in seiner Art, und weil sie sich sicher fühlte, etwas leichtfertig.

In ihrer Umgebung lebte Wastel, wenn er nicht in der Werkstätte des Uhrmachers saß. Zwar anfangs hielt er sich abseits in seinem Stübchen, grüßte die Frauen spärlich und nicht allzu freundlich auf seinem Wege; aber es war doch eine Hausgemeinschaft, die zu näherer Berührung führte. Saß er in seiner Stube, so hörte er den hellen Klang ihrer Stimme, auch wohl die Liedchen, die sie trällerte. Ihren Tritt und das leise Rascheln ihres Kleidchens vernahm er auch oft um die Ecke des Hausganges, ohne sie selbst zu sehen. Etwas unsichtbares, unfaßbares ging von ihr aus, das sich in sein Sinnen stahl; ohne daß er es merken mochte. Die Weiblichkeit des jungen Geschöpfes umwirrte und umwob ihn, und längst bevor er sich genau bewußt war, was es da gäbe, hatte er den süßen Duft derselben in vollen Zügen eingesogen. Allmählich kam es zu kleinen Gesprächen. Sie war ihm an Witz überlegen; Geist besaß sie nur so viel als in ihrem Mädchenköpfchen 19 Platz hatte, aber es war genug, um ihn zu berücken.

Er trug sich mit allerlei Gedanken von großen Dingen, die aus ihm herausreifen sollten. Unterschätzt von dem Meister ob seines zurückhaltenden Wesens, fühlte er sich tüchtig in seinem Berufe. Große Pläne von mechanischen Erfindungen wälzte er in sich herum, ohne daß jemand in seiner Werkstatt ahnte, daß Wastel so hoch hinaus wollte. Das Gewöhnliche behandelte er schlecht und recht ohne Eifer und achtlos; er trug den Drang nach Ungewöhnlichem in sich, aber verborgen und verheimlicht vor den andern. So hielt er sich in seinem Werte weit höher, als es die andern zugestehen wollten, und da dieser Stolz mehr in seinem Benehmen zum Vorschein kam als in Worten oder gar in Thaten, so wußten sich die andern keinen Vers darauf zu machen und hielten ihn im ganzen für einen wunderlichen Gesellen, den man in der Ecke ließ, wo er stand.

Aber er träumte, wenn er daheim in seinem Stübchen saß, zeichnete, sann und rechnete. 20 Bewegende Kräfte thaten sich vor ihm auf, gebannt in Maschinenteilchen und Räder; da lagen sie dann aufgespeichert, und er konnte das erlösende Wort finden, das sie befreite, so daß sich ein Strom von wirksamer Arbeit aus ihnen ergoß. Was er ihnen einzeln geben wollte, – die Bewegung, die er einzeln in sie hineinlegen wollte, das sollte alles mit einer einzigen großen Wirkung zu Tage treten. Mit seinen zwei Händen wollte er tausend unsichtbare Hände in seinen Dienst bekommen und über die Geister gebieten, die noch in unbekanntem Schlummer seines Weckrufes harrten. So träumte Wastel. Und er dünkte sich zuweilen wie in einem Königreiche als bestimmter Gebieter zu wandeln, wo freilich die Unterthanen noch fehlten. Aber er würde sie schon hervorrufen, aus dem Schlaf erwecken, und sie würden sich zu seinem Befehle versammeln. Das war der Geselle, der in der Nachbarschaft des jungen Frauenzimmers hauste, das aber, bildsauber wie es war, keine andere Berechnung in seinem Köpfchen besaß als die eines fröhlichen warmblütigen Vögleins.

21 Als die Kriegsläufte wieder anfingen und näher kamen, da gab es gemeinsame Rede über die drohenden Ereignisse, die aber damals in unsere Stadt noch nicht eingriffen. Sie sprach darüber wie über etwas, das sich sehen lassen konnte, und empfand einen gelinden wohlthuenden Schauer wie einer, der im Theater vor aufgezogenem Vorhang im Gefühl der Sicherheit sitzt, daß ihm solches nicht geschehen könne, wie da auf der Bühne vorgeht. Sie sprang auch bald wieder davon ab auf das, was ihr näher lag; das war: alles was in Stube und Haus vorfiel. Auch der Geselle beschäftigte sie, er war ihr zu ernst und zurückhaltend, vielleicht auch zu stolz. Sie setzte sich's in den Kopf, daß er sich mehr um sie umschauen sollte, obgleich er ihr eigentlich nicht gefiel. Sie hatte wohl schönere Männer betrachtet. Da sie aber so viel von Eroberungen in diesen Kriegszeiten sprechen hörte, wollte sie auch nicht ganz müßig sein und die nächste machen. Vielleicht war es auch nur das gewöhnliche Bedürfnis eines jungen Mädchens zu gefallen, ohne daß sie sich mehr dabei dachte.

22 Zuweilen kam Wastel herüber in die Wohnstube, um eine kurze Weile die Mitteilungen der Weiber anzuhören. Das waren meist Klagen der Mutter über die bedenklichen Zeiten, wo man sich so knapp behelfen müsse; von welchen ernsten Betrachtungen sich das unbefangene Geplauder des Mädchens, vermengt mit dem silberhellen Lachen, das sie bei dem geringsten Anlaß anschlug, wie von einem dunklen Grunde anmutig genug abhob. Die Stube war reinlich gehalten und zeigte einen bescheidenen Wohlstand. Die Mutter saß gewöhnlich in einem altväterlichen Lehnstuhl von schwerem Eichenholz, auf welchem ein Kissen lag, vor ihr das Arbeitstischchen, und da fühlte sie sich am wohlsten. Lori hatte ein anderes Tischchen am zweiten Fenster, wo sie arbeitete. Einmal als Wastel an einem Sonntagmorgen anwesend war, tippte sie sich plötzlich vor die Stirn und sagte: Schau doch einer, was mir nicht alles einfällt! Da sitzt ein solcher vom Handwerk, unser Mietsgeselle, und ich habe drinnen ein Uhrchen von meinem Paten her, das ich seit Jahren nicht angesehen habe. Ob es wohl noch 23 geht? Also da hereinspaziert, liebster Herr Wastel und mir das Ding angesehen, ob es noch was taugt, oder durch die lange Ruhe nicht noch dicker geworden ist, als es war, und das Gehen ganz verlernt hat.

Und sie sprang auf zur Thüre hin, die in das zweite Zimmer führte, wo sie und die Mutter schliefen. Wastel erhob sich bereitwillig und folgte ihr. Es war noch früh am Tage, aber alles war darin schon aufgeräumt und blank, und doch stieß Lori einen kleinen Schrei aus, als sie den Raum betrat. Auf einem Stuhle lagen zwei blütenweiße Strümpfe, und unter ihnen standen zwei Schühelein, die zu ihnen gehörten. Sie ging nämlich noch in ihren Morgenpantöffelchen. Nun flog sie dahin, packte die Strümpfe und Schuhe und versteckte sie unter die Spiegellade, indem sie klagte: heißt das eine Ordnung! Dann öffnete sie den Kleiderschrank, nahm eine Schachtel heraus, worin in Baumwolle gebettet eine winzige dicke Uhr aus vergoldetem Silber lag.

»Nun denk' er sich nichts weiter,« sagte sie zu Wastel, »als das Ding hier gründlich anzuschauen.«

24 Wastel trug einige Zänglein und kleines Handwerkszeug immer in der Tasche, und so hatte er im Handumdrehen das Werk auseinander gelegt, besichtigt und verlangte nur etwas Öl, um die Räder zu schmieren. Er bekam es, zog sich einen Stuhl vor das breite Fensterbrett und fing zu hantieren an. Wie er dort mit dem Rücken gegen die Stube saß, hörte er ein leises Rascheln und die Worte: nicht umschauen! und dann sprang sie in Strümpfen und Schuhen, die sie angelegt hatte, auf und näherte sich dem Gesellen, um ihm über die Schulter hinweg bei der Arbeit zuzusehen. Ihm ward unter dem nahen warmen Anhauch ihres Leibes etwas wunderlich zu Mute, denn Kronrad und Steigrad, die er gerade unter den Händen hatte, begannen ihm vor den Blicken zu schwirren, und er sagte nicht höflich, daß er bei der Arbeit ungestört sein wolle.

»Schau, schau, wie gewissenlos ich bin,« erwiderte sie, »daß ich Sie bei der Arbeit störe. Und ein gutes Gewissen ist doch das beste Ruhekissen, nicht wahr?«

Und sie nahm sofort ein Kissen aus dem 25 nahe stehenden Bette heraus, hielt es ihm unter die Nase mit den Worten: »Da ruhe ich darauf. Ist das nicht schön weiß und lind und mit feinen Spitzen besetzt? Gelt, ich habe ein gutes Gewissen?«

Nun umhüllte ihn gar ein Dunstkreis noch eindringlich lieblicher als zuvor. Er stand auf und blickte ihr fragend in die Augen.

Sie empfing die stumme Frage erstaunt und wich befangen zurück.

»Nein, nein, ich will Sie nicht länger stören.« Sprach's, legte das Kissen wieder an seinen Ort, glättete die Decke darüber sorglich zurecht, und ging still in das äußere Zimmer hinaus. Es dauerte nicht lange, da gesellte auch er sich wieder zu ihnen und hatte das Werk zurecht gestellt. Sie nahm die Uhr an sich, horchte dem Ticktack zufrieden und sagte: »Der Dank soll nicht ausbleiben. Wenn Sie sonst brav sind, bekommen Sie ein Jabot aus meinen Händen, und das soll so gekräuselt und gefältelt sein, daß ein Marienkäferchen, das hinein fliegt, sich darin verirrt und nicht mehr heraus kann. Mit einem solchen 26 Jabot können Sie wie ein feiner Herr Sonntags in die Kirche gehen.«

»Als wenn ich so oft in die Kirche laufen thäte,« erwiderte er. »Ich bin schon der Rechte dazu.«

»Etwa nicht? Sie sollen es aber. Ich will es, daß Sie oft in die Kirche gehen. Das gehört sich für einen anständigen Menschen,« sagte sie eifrig.

»Fräulein Lori, ein erwachsenes Mädel, wie Sie, wird wohl wissen, daß jeder seinen Willen für sich hat. So habe ich den meinen. Und ob ich gehe, oder nicht gehe, das hängt ganz von mir ab.«

Und sie: »Seien Sie doch gescheit, Herr Wastel! Ich rate Ihnen gut.«

Er machte eine ungeduldige Bewegung, und sie sprang von dem Gegenstande ab und sagte:

»Sie sollten Soldat werden in diesen Zeiten, da könnten Sie noch General werden. Man hat Beispiele.«

»Ich mag kein Blut vergießen,« erwiderte er, »ich bin ein Mann der friedlichen Arbeit.«

27 »So, da haben Sie vielleicht keine rechte Kourage? Was ist das für ein Mann!«

Da blitzte ihr wieder aus seinen tiefliegenden Augen ein Strahl entgegen, diesmal aber scharf und abweisend. Er trat einen Schritt auf sie zu und sagte:

»Ich fürchte mich vor niemandem auf der Welt.«

»Ja, ja, das hab' ich gewußt,« rief sie, einen Schritt zurückweichend, »auch vor unserm Herrgott nicht.«

»Ach, seid doch zufrieden,« bat nun die Mutter.

»O ja! Der Herr Wastel ist ja der zufriedenste Mensch auf Gottes Erdboden. Ein so großer Herr, der sich vor niemandem fürchtet!« spottete sie.

Wastel schien über etwas zu sinnen. Dann sprach er langsam und bedächtig die Worte: »Hören Sie, Fräulein Lori. Gäbe es einen Zufriedenen auf der Welt, so wäre es nur einer, der alles weiß, oder einer, der nichts weiß. Der alles weiß, wäre mehr als ein Mensch, der nichts weiß, wäre weniger als ein Mensch. Demnach 28 alles was Mensch heißt, keine Zufriedenheit hat.«

»Aber Sie reden gar so gescheit, und das verstehe ich nicht alle Tage; nur wenn ich gut aufgelegt bin,« lachte sie.

Nun ward Wastel wieder freundlich.

»Sind Sie nicht gut aufgelegt?« fragte er.

»Freilich, weil ich Sie sehe, soll ich gut aufgelegt sein! Warum denn? So ein Gelehrter, der vom Himmel gefallen ist, und doch nichts vom Herrgott weiß! Na, aber für die Uhr dank' ich meinetwegen recht schön, und das Jabot soll noch kommen, wenn schön Wetter ist.« Und sie reichte ihm die Hand, die sich lind in die seine schmiegte, als er sie unbewußt kräftig drückte.

So haftete alles, was von dem jungen Wesen ausging wie ein feiner Duft in seinem Sinnen. Dieser verließ ihn selbst dann nicht, wenn er zu später Nachtzeit zeichnete und sich in schwierige Rechnungen einließ, die sich aus seinen mechanischen Problemen ergaben. Er erwachte aus seiner Gedankenarbeit wie aus einem strengen Traume und blickte erstaunt nach dem, was ihn 29 erweckt hatte. Es war nichts greifbares; er saß allein in seiner Stube, kein Geräusch ließ sich hören; aber ein feiner Duft umwob ihn, aus dem sich wie aus einem Silbernebel plötzlich Loris geschmeidige Mädchengestalt entwirkte in ihrer ganzen kecken Lieblichkeit.

Und er war soeben noch in eine ganz andere Welt versenkt. Er ging der bewegenden Kraft nach, die seine zukünftige Maschine beleben sollte, und die er fesseln mußte. Er blickte mit dem Auge des Geistes in den Quell alles Lebens: in die Sonne. Er sah, wie sie mit ihrer herrlichen Kraft Dämpfe aus dem großen Wasser aufsog, die dahin zogen und sich zu Gewitterwolken ballten, in denen ein gewaltiger Geist gebunden lag, der plötzlich befreit, als Blitz herabfuhr mit unwiderstehlich alles zerschmetternder Gewalt. Wenn er diesen gewaltigen Geist in seinen Dienst zwingen konnte, daß er ihm die Maschine belebte, die er erfinden wollte, dann konnte sie unermeßliche Dienste zur Wohlfahrt der Menschen verrichten. Und er sann über die Rätsel und Gesetze der elektrischen Erscheinungen, so weit 30 ihm seine dürftigen Lehrbücher Thür und Thor zu eigener Forschung eröffneten. Aus solchen Träumereien ward er durch eine unbekannte Ursache, die aber aus irgend einem tiefen Winkel seines Herzens aufstieg, an das Weib gemahnt, das aus Sonnennebel und Gewitterkraft, aus Blitz und Donner der allherrschenden Natur plötzlich in ihrer blühenden Mädchengestalt vor ihm auftauchte, mit einer Herrschaft, die auch innerhalb der Natur lag.

Das geschah ihm in vielen einsamen Nächten, und die Räder seiner imaginären Maschine begannen, so oft sich dieses Wunder ereignete, zu schwirren und sich zu verwirren ins Bodenlose hinab. Die Idee entschwand vor der Leiblichkeit, die in ihrem Weltentriumphzuge auch durch seine arme Stube zog und ihm ihre Herrlichkeit zeigte. Das alles ist dein eigen, wenn du mir dienst, sagte sie. Und er mußte dienen, ob er wollte oder nicht, denn er war ein Mensch. Diesen Rat gab ihm das Herz, und er mußte sich daran ersättigen, obgleich es ihm viel Unruhe schaffte bei Tag und Nacht.

31 Sie aber merkte alsbald, woher der Wind wehte. Das lag in dem Scharfblick ihrer weiblichen Natur, der bekanntlich ein gemeinsames Erbteil aller ihres Geschlechtes ist. Sie nahm es spielend auf und setzte das Spiel fort, so wie es ihr behagte. Er aber bemühte sich noch zu verbergen, daß er die Sache gewaltig ernst nehme. Ihm schwante es ja zuweilen, daß er seine wertvolle Zukunft auf das Spiel setzte. Er hatte sich stets mit dem Gedanken getragen, nach einer großen Stadt zu gehen, um dort die Studien nachzuholen, die ihm noch zu seinem kühnen Vorhaben fehlten, nämlich ein Erfinder zu werden, dem die Menschen zum Danke verpflichtet sein würden. Wenn er sich nun mit Lori ernstlich einließ, so mußte demnächst eine Heirat daraus erfolgen, und dann war es mit seinen Plänen vorbei. Er war gebunden und mußte bleiben, wo er saß. Zwischen der Neigung zu dem Mädchen und der Liebe zu seiner Idee entstand nun in ihm ein Kampf. Die leibhafte Gegenwart in der Weibesgestalt und die ideale Zukunft standen sich als Gegner gegenüber: eins oder das andere.

32 Aber er konnte und mochte von keinem von beiden lassen. Er sagte sich trotzig: beides! Es muß gehen. Er wollte sich zunächst häuslich festsetzen, eine höhere Art der Uhrmacherkunst betreiben, astronomische Uhren verfertigen, und sein Eheweib herzen. Und dann konnte er später noch immer zu seiner Idee zurückkehren, inzwischen aber sich die Mittel zu weiteren Studien verschaffen. So wollte er sich von dem kleinen Gott Amor zu seiner großen Erfindung leiten lassen auf einem Umwege, auf dem er das köstliche Gut der Weibesliebe mitnehmen konnte.

Diesen Kampf ahnte Lori gar nicht. Sie sah nur den neuen Verehrer, und frohlockte heimlich oder offen, daß sie ihn am Bändchen führen konnte, der gar gewaltig darauf hielt, daß er immer und überall einen starken Willen besaß. Und sie umwob ihn, bewußt oder unbewußt, mit allem Zauber, den die Natur ihr und andern ihres Geschlechtes gegeben hatte. Seinen immer mehr zu Tage tretenden Heiratsabsichten wich sie jedoch noch aus; sie konnte warten; sie brauchte nichts zu übereilen, ein Mädchen, wie 33 sie war. Den Faden straffer anziehen, an dem sie ihn hielt, konnte sie immer. Das wußte sie bei all ihrer Naivetät, die sich in einem Köpfchen, wie das ihre, um keine ganze Welt unterschied von dem, was man unbewußte Schlauheit nennen kann. Ihre Weiblichkeit war immer da, ihn zu ziehen, das fühlte sie. Das war der Leitfaden; und er, der aus seinen mechanischen Studien wußte, daß die Natur immer mit den kleinsten Mitteln wirke, um eine Arbeit zu leisten, merkte nicht, daß es auch hier geschehe.

Als er mit seinen Heiratsabsichten deutlicher herausrückte, da spielte sie um so mehr Verstecken. Und alles so herzlich naiv. Doch empfing sie ihn wohlwollend, so oft er kam, und hatte süßes Lächeln und seitliche Blicke aus aufleuchtenden Augen in Fülle für ihn. Sie gebrauchte ihr Waffenarsenal wie ein weiblicher Held schlau und selbstbewußt, und was die Hauptsache ist, immer natürlich, wie von selber, als könnte es nicht anders sein: als hätte sie der liebe Gott gerade zu dem und nichts anderem erschaffen.

Im Hause war Wastel überall behilflich. 34 Sie brauchten keinen Handwerker. Er war Tischler, Schlosser, Klempner und alles andere in einer Person. Einst sogar, als sie an einer kunstvollen Stickerei arbeitete, stellte er ihr aus, daß ein Stich unter vielen nicht die gleiche Entfernung von dem nächsten habe, die er haben sollte. Sie lachte ihm ins Gesicht, denn ihr dünkte, daß sie diese Arbeit besser als er verstehe. Aber er brachte seine Lupe herbei und ließ sie durch dieselbe die Stiche betrachten, und sie sah erstaunt, daß er recht hatte. Nun bekam sie doch Respekt vor seinem scharfen Blicke, der auch das sah, wozu sie ein Vergrößerungsglas brauchte. Das war ihrem weiblichen Auge noch nicht vorgekommen, das sonst immer mehr sah als ein männliches.

* * *

Die Beiden hatten sich nun so genähert und waren so vertraulich geworden, daß ein guter gewöhnlicher Ausgang der Dinge nicht unwahrscheinlich war. Da kam etwas inzwischen, was wieder Mißhelligkeit schuf.

Vor einiger Zeit war in das Haus eine 35 neue Partei eingezogen. Es war dies eine allein stehende Dame, die Frau eines Verpflegsverwalters, der irgendwo bei der Armee weilte. Sie ging stets in eleganter Toilette, war nicht mehr jung und wollte doch jugendlich erscheinen. Sie holte sich das Rot zur Wange aus der Drogerie und strafte die Natur Lügen, die es ihr längst genommen hatte. Auf solche Weise war sie gerecht gegen sich. Der gewöhnliche Sterbliche merkte auch nichts von dieser Zurechtweisung der Natur; so kunstvoll war sie. Sie hatte die feinen Manieren einer Weltdame; es mochte ihr auch nicht an Erfahrung mangeln. Diese Frau Verpflegsverwalterin zog nun die Lori an sich; ihr gefiel das Mädchen. Sie wollte sie gern in die Schule nehmen und ihr etwas von ihren eigenen guten Manieren mitteilen. Sie stand, wie gesagt, allein und hatte Zeit genug dazu. Frau Holler, so hieß sie, wußte mit der Liebenswürdigkeit und höheren Bildung, die ihr eigen war, das Mädel auch allgemach zu gewinnen, so daß es gerne den Abend bei ihr in der ziemlich eleganten Wohnung zubrachte, wenn es 36 dazu Zeit hatte. Die Dame wollte ihr auch unter anderem französisch beibringen, da dies zum guten Ton gehöre, und ihr den nötigen Unterricht zwischen andern Plaudereien erteilen. Lori ging darauf halb scherzhaft ein und begann auch bald zuhause mit einigen welschen Brocken herumzuwerfen, was den Wastel gar seltsam ärgerte.

Er hatte nicht umsonst einen scharfen Blick. Ihm gefiel die Frau Verpflegsverwalterin gar nicht; er witterte etwas verdächtiges unter der eleganten Hülle der Frau Weltdame, deren Mann irgendwo im Blauen den Truppen folgte und der Feldbäckerei von dem Mehle zumaß. Er versah sich keines besonderen Gewinnes für Loris weitere Ausbildung aus dem Umgang mit ihr. »Sie ist eine feine Frau, und ich kann von ihr nur lernen,« sagte Lori zu ihrem Lobe.

»Fein und abgefeimt,« erwiderte Wastel.

»Schweig' er still! er versteht nichts davon,« wies sie ihn darauf unwillig zurecht.

Das gab nun Stoff zu Zwist und einem wirren Gewebe, da doch die Fäden zwischen 37 beiden schon begonnen hatten, ziemlich schlank herüber und hinüber zu laufen. Er verwies ihr immer unmutiger den Umgang mit der Frau Verpflegsverwalterin, und sie gab ihm vieles zur Antwort schön mundgerecht, woraus als Grundton die Frage klang: Woher das Recht, ihr etwas zu verweisen? So weit uns, der schönen Lori, bekannt ist, haben wir Euch noch nicht das geringste Anrecht gegeben, uns überhaupt etwas zu verweisen. Gefällt es Euch nicht, nun dann seht zu! Mir gefällt es. – Das konnte man heraus hören, wenn man wollte. Denn offen klang es nicht: brechen wollte sie mit ihm doch nicht, sondern sich ihn warm halten. Und dazu riet ihr ihre unerfahrene, jedoch weibliche Natur, daß eine Abkühlung von Zeit zu Zeit das beste Mittel sei. Er ward auch immer wärmer, aber auch fester in seinem Willen, ihr den Verkehr mit der Frau Verpflegsverwalterin zu verleiden. »Das lasse ich mir nicht bieten,« sagte Lori.

Ihm hatte auch das Gerücht manches über die geputzte Dame zugetragen, was ihn in seiner Gegnerschaft bestärkte; und er erwiderte, man 38 wisse nichts gutes über sie, und sie sollte eines bessern Umganges pflegen, als mit einer solchen.

Das ärgerte Lori wieder nicht wenig. Was für eine »Solche?« Er solle ihr sagen, was er damit meine? – Nichts gutes. – Mögen andere Leute, die sich für gut halten, nur auf sich selbst schauen, erwiderte sie gereizt. Das würde ihnen besser anstehen, als ihrem Nächsten übles nachzureden. Man kenne das. Nichts als Neid, weil diese besser gekleidet gehe als andere. Ohrenbläsereien wolle sie nicht dulden. Wenn er nichts bestimmtes vorzubringen wisse, solle er schweigen. Aber woher denn auch? Sie wisse, mit wem sie umzugehen habe und mit wem nicht. Sie sei den Kinderschuhen bereits entwachsen und habe ihren eigenen Verstand, der für den Hausbedarf gerade ausreiche. Das fehlte ihr noch, daß er ihre Freundschaft schlecht machen wolle ohne jeden Grund. Habe er etwas stichhaltiges vorzubringen, heraus damit! aber bald, sonst verliere sie die Geduld, und er würde sie gewiß nicht finden und wieder bringen, wenn sie sie einmal verloren habe.

39 Es brauste in seinem Innern auf, aber er blieb äußerlich gelassen und sagte: Er achte sie, Lori, viel zu sehr, um Dinge vorzubringen, die für das Ohr eines ehrsamen Mädchens nicht taugen. Damit habe er alles gesagt und etwas schon zu viel. Darum bitte er um Entschuldigung, aber um nichts anderes.

Das ging ihr noch mehr wider den Strich als alles Vorherige. Sie warf die Arbeit, die sie in Händen hielt beiseite, sprang auf und fragte: Für was er sie halte, wenn er ihr nicht so viel Verstand zutraue, zu wissen, mit wem sie verkehre, und ob sie etwas anderes als eines ehrbaren Umgangs pflege mit jedem lebenden Wesen ohne Ausnahme? Und wenn es eine Ausnahme gäbe, so sei er es, der böse Gerüchte über eine unbescholtene Frau in Umlauf setze. Das sei nicht ehrbar.

Damit hatte sie ihm etwas angethan, was er nicht verwinden konnte. Denn auf die Ehre hielt er viel, da war er empfindlich wie irgend ein Großer. Ihre Worte regten ihm das Blut gewaltig auf, und seine Nerven begannen zu 40 vibrieren. Er trug eben in seinem hart gefügten Leibe die feinen Nerven eines Erfinders. Dennoch war sein Wille so fest, daß er sich bezwingen konnte, weil er es wollte, und er schien äußerlich ruhig, als er ihr erwiderte: sie solle nicht etwas an die Wand malen, was das Gegenteil von ehrbar sei, das heißt, sie solle ihm nicht von jener Frau reden.

Diese seine Ruhe erbitterte sie nun beinahe ebenso wie die schimpflichen Worte, die er sprach. Denn sie hatte die Absicht, ihn zu ärgern und aus dem scheinbaren Gleichmut zu bringen, und da ihr dieses mißlang, stieg ihr Ärger noch mehr als zuvor. Ob sie angefangen habe, von jener Frau zu reden? Und ob er ihr das Reden verbieten wolle? Das sei eine Impertinenz, die sie niemals dulden werde.

Sein gebieterischer Blick sagte ihr darauf: Zähme deine Zunge. Das glaubte sie heraus zu lesen; aber gerade das mochte sie nicht, sondern warf ihm mit zornglühendem Antlitz einige weitere scharfe Redensarten zu, die ihn alle treffen mußten, wie sie meinte. Sie saßen auch in ihm fest, 41 wie Pfeile; aber er dachte noch immer: ein Weib! was willst du mit ihr anfangen? Das Reden ist ihr Recht, sie läßt es sich nicht nehmen, und wenn der Eigensinn bei ihr einkehrt, so geht die Vernunft aus dem Hause.

Er verblieb somit abwehrend, wobei aber doch Wort auf Wort fiel; denn er schenkte ihr in seiner abwehrenden Stellung nichts und hielt sich in seinem Sinne für den Herrn. Endlich warf sie ihm ein gar böses Wort zu; eines, was ihm allen Wert absprach. Er ward bleich, und ein gewaltiger Sturm erhob sich in seinem Innern; aber er blieb ruhig. Nun hielt sie seine Ruhe für Feigheit, und in ihrer Erbitterung einen feigen Mann vor sich zu sehen, vergaß sie sich plötzlich und erhob die Hand, um ihn ins Gesicht zu schlagen.

Da ward er seiner auch nicht mehr mächtig, fiel ihr jäh in den erhobenen Arm und faßte ihn mit eisernem Griffe beim Handgelenke. Es begann ein Ringen zwischen dem starken Manne und dem erzürnten Mädchen. Auch sie war kräftig genug und sie widerstand ihm so 42 zornmutig, daß sich jede Muskel ihrer Leibes in dem Versuche schwellte, sich von seinem Griffe zu befreien. Denn er hatte auch ihre andere Hand erfaßt, mit der sie zum Schlage ausholen wollte, und hielt sie fest. Dabei wurde kein Wort zwischen beiden gewechselt. Sie atmete heftig in dem Streit, er aber hielt die Lippen fest geschlossen; sein Antlitz war bleich, und nur die Augen sprühten aus den tiefen Höhlungen heftiges Feuer bei der Kraftanstrengung, die er machen mußte, um das Mädchen zu bändigen. Endlich preßte er sie gegen den nahestehenden Lehnstuhl, dabei gelang es ihr aber eine Hand wieder frei zu bekommen. Rasch fuhr sie damit nach dem Hinterhaupte, wo eine dolchartige Nadel ihr aufgestecktes üppiges Haar zusammenhielt. Sie erfaßte sie und stach damit nach ihm. Es gelang ihm aber, dank seinem guten Auge, auch dieser feindlichen Bewegung zuvorzukommen und ihr die Nadel zu entwinden. Doch mußte er dazu beide Hände zu Hilfe nehmen, was ihm wieder zu schaffen machte, da sie dadurch ihre andere Hand frei bekam, mit der sie nach ihm schlug; 43 jedoch nur einmal. Denn nun flammte er im Zorn auf, seine ganze Kraft ward ledig, und er drückte sie in den Lehnstuhl, so daß sie unter seinen Händen wehrlos lag. Aber ihn umhüllte nun zum Teil das gelöste schwere Haar, aus dem ein schwacher Duft aufstieg, er sah das bleich gewordene Antlitz des Mädchens, das die Augen schloß, um ihn nicht anzusehen, und sein Mund empfing den schweren Atem des ihrigen.

Da überkam es ihn, als blickte er in lauter schwirrende Lichter, und es schien, als wollte die Ohnmacht des Mädchens auch ihm sich mitteilen. Alles entschwand vor seinen Augen, und er sah nur den Lichterschwall und fühlte nur die Wärme des lebenden jungen Leibes bis in die Wurzel seines Herzens. Und nun, da sie machtlos in seiner Gewalt lag, öffnete sie die Augen wieder und blickte ihn ruhig fragend an; aber der blaue Strahl, der zu ihm wie aus unendlicher Tiefe empor leuchtete, zog ihn mit unwiderstehlicher Macht in seinen Zauberkreis. Es war wie ein seliger blauer Himmel der jungen Liebe, der ihn zu sich rief in seine geheimnisvolle Welt. Sein 44 ganzes Wesen erstürmte über dem Rufe; es war ein Sturm, sonnig durchleuchtet, sein Herz schlug ihrer wogenden Brust heftig entgegen, seine Arme sehnten sich, den blühenden Leib zu umfassen, einem lebendigen Frühlinge sich einzuverleiben. Aber der feste Wille in ihm flüsterte ihm plötzlich ein gewichtiges Wort zu: Das ist dein künftiges Weib, das da wehrlos unter deinen Händen liegt: Achte sie.

Und er achtete sie. Er ließ ab von ihr, richtete sie zärtlich und wie von plötzlicher Ehrfurcht ergriffen auf: von Ehrfurcht für die künftige Mutter seiner Kinder, wie ihm wieder die unbekannte Stimme zuflüsterte, bezaubernd und doch trügerisch; denn sie sollte nie die Mutter seiner Kinder werden.

Und sie, als er sie erhoben hatte, war seltsam verändert. Scheu und doch hingebungsvoll blickte sie zu ihm auf, wie zum Danke für ihre unberührte Weiblichkeit. Und als er ihre Hand wieder, aber diesmal mit weichem Drucke erfaßte und sie an seine Lippen führte, einen Kuß darauf drückte und dann sagte. »Verzeihe mir, Lori!« 45 da erwiderte sie freudig: »Vom Herzen, du Guter!«

Doch als er ihre Hand hielt, bemerkte er, daß sie blutete. Er erschrak nun wie über ein Unheil, das ihn betroffen hatte, sie aber lächelte und sagte: »Das geschieht mir recht. Ich habe mich mit der Nadel, die ich gegen dich gezückt, nun selber gestochen. Und schau! Ich kann mir das Haar nicht mit der Hand aufstecken, ehe die Mutter heim kommt.«

Allerdings rieselte das schöne Blondhaar wild genug an ihr hinab.

»Ich will deine Hand heilen,« sagte er. »Warte ein wenig.« Er ging in seine Stube und kam bald zurück mit einem weißen Pulver, das er ihr auf die gereinigte und übrigens geringfügige Wunde auflegte, und mit dem er das rinnende Blut stillte. So konnte sie sich getrost das Haar aufstecken und stand wieder schmuck und schlank vor ihm. »Ei, das ist ein gutes Mittel,« sagte sie. »Was ist es nur?«

»Es ist Eisenblüte.«

46 »Blüht das Eisen? Das hab' ich noch nicht gesehen.«

»Ich will es dir zeigen,« sagte er, ging wieder in seine Stube, kam mit dem Dinge zurück und stellte es vor sie hin auf den Tisch. Da erstaunte sie höchlich. »So was hab' ich noch nicht gesehen. Woher hast du es?«

»Von daheim hab' ich es mitgebracht. Bei uns im Bergwerk giebt es genug solcher Blüten. Aber dies hier ist ein besonders schönes Stück. Deshalb hat es mir mein Vater verehrt.«

Wastel war nämlich aus Eisenerz gebürtig, wo sein Vater als alter Bergknappe im Dienste stand.

Lori staunte das Gebilde immer noch an. Wie ein Wunderbaum mit unzähligen zarten Ästen und Zweigen stand es vor ihr. Es war schneeweiß und nur hier und da rötlich überhaucht. Der Blick konnte den lieblichen Verschlingungen in ihrer zauberhaften Mannigfaltigkeit nicht folgen. Keine Menschenhand, und wäre sie die des geschicktesten Bildners, hätte ein solches Baumwerk nachformen können. Ihr Wohlgefallen 47 daran stieg, je länger sie es betrachtete. Daß aus dem dunklen Eisen so schneeweiße Blüte wuchs, konnte sie nicht begreifen.

Auch dem Wastel gefiel das feine Gebilde um ihretwillen, die es anstaunte, mehr als zuvor. Der durchsichtig zarte Stamm, der sich voll erhob, schien ihm wie ein schlanker weißer Mädchenleib. Sie aber sah nur einen Baum mit wundersamer Verästelung; sie beglänzte ihn mit ihren Blicken, und in diesem Glanz erschien er Wastel überaus schön. Deshalb sagte er: »Weil dir die Eisenblüte gefällt, so schenke ich sie dir. Willst du?«

»Ja, ich will,« antwortete sie freudig. »Danke dir, Wastel.«

Sie hatte sich traulich an ihn geschmiegt, um den Wunderbaum zu betrachten, ohne daß sie sich dessen sonderlich bewußt war. Und sie sprachen mit einander und sagten sich du, ohne daß es ihnen zu Sinne kam, daß sie dieses innige Wörtchen vorher noch nie mit einander gebraucht hatten.

Das war eine kurze glückliche Zeit für Wastel. Ihre Stimme hatte einen sanften Klang für ihn, 48 und in ihren Augen lag etwas seltenes, das sagte: Du bist der Stärkere. Liebreich war dieser Blick.

Nun hätte er die sonst so eigenwillige Natur des Mädchens prägen können nach seinem Willen: zu der Art einer zukünftigen ergebenen Gattin. Es stand bei ihm. Aber eine übel angebrachte Zartheit hielt ihn davon ab. Er kam ihr vielmehr in allem entgegen, vermied jeden Widerspruch, und faßte sie nur, wie man zu sagen pflegt, mit Sammethandschuhen an. Das war seine Schuld. Er versäumte die Zeit, wo er sie hätte modeln können, wo sie wie weiches Wachs unter seinen Händen war. Aber sein sonst so kräftiger Wille verließ ihn gerade vor dieser hingebungsvollen Art des schönen Geschöpfes, und er wurde nicht ihr Bildner, als er es sein konnte. Er, der stolz darauf war, sich den eisernen Leib der Maschine unterwerfen zu können, die noch hundertfach widerstrebte, und die doch von seinem Willen getrieben in der Wirklichkeit erstehen mußte, wie er meinte: er erwies sich dem zarten Mädchenleib gegenüber als ein zu wenig 49 willensstarker Meister. Aus übel angebrachter Zartheit, wie gesagt, aber es war so. Und er mußte doch wissen, daß wie überall, auch jede Bewegung im weiblichen Gemüte wieder zur Ruhe kömmt, wenn die Spannung aufhört, die sie unterhält.

Lori wurde wieder gegen ihn wie vorher. Sprach er von der Heirat, so hatte sie noch Zeit. Man müsse sich in einer solchen wichtigen Sache nicht übereilen. Das war alles. Und ihre Besuche bei der Frau Verpflegsverwalterin, die sie eine Zeitlang unterlassen hatte, nahm sie wieder auf. Er verwies es ihr nicht mehr, obgleich er Leid darüber empfand. Er hatte eine trübe Vorahnung und wußte sie doch nicht in das helle Bewußtsein zu rücken und ihr eine bestimmte Form zu geben. Lori kümmerte sich auch nicht darum. Sie war nicht unfreundlich gegen ihn; aber er hatte etwas versäumt, sie wußte selber nicht was, aber sie fühlte es. Die ihm günstigen Schwingungen der weiblichen Seele waren vorbei. Er aber versenkte sich in seine Studien und Probleme, so tief er konnte. Das 50 sollte allein seine Welt sein. Aber gerade oft, wenn einer die Welt will ohne das Weib, so wird das Weib seine Welt. So geschah es mit ihm, und seine Sinne kreisten nun recht um den Mittelpunkt, der Lori hieß, wie die Erde um die Sonne. Und doch durchbrach er den Kreis nicht, wie er es in seinem Kraftbewußtsein leicht hätte thun können; ein übel angebrachter Stolz hielt ihn nun davon ab, wie vorher eine übel angebrachte Zartheit. Dabei empfand er die ganze Qual eines Mannes, der fühlt, daß diesmal gerade in seinem starken Willen die Schwäche liegt. Es war die Liebe, die sich nicht vorwärts bewegt. Sie war aus seinem festen Wesen hervorgewachsen wie die Eisenblüte aus dem Erze, ein wundersames zartes Gebilde, aber doch etwas fremdes, das ihren eigenen Grund zerstören konnte.

Inzwischen war die Zeit gekommen, daß die Franzosen die Stadt besetzt hatten und darin als Herren hausten. Das geschah vor kaum vier Wochen. Innerhalb der großen Kriegstragödie, die jetzt durch die Zeiten läuft, spielte sich auch 51 die tragische Scene in Wastels kleinem Leben ab. Im Blütenmonat Mai geschah der Einzug der Eroberer, jetzt haben wir den Blumenmonat Juni. Blüten und Blumen wurden in dieser tragischen Scene geknickt. Die Blume war Wastels Liebeshoffnung, die Blüte seine Eisenblüte.

Unter den Franzosen befand sich ein Offizier Namens Maubrun, ein viel erfahrener und kühner Herr im besten Mannesalter. Er hatte wahrscheinlich schon viele Abenteuer auf seinen Zügen bestanden, und noch wahrscheinlicher meist erfolgreich. Unter den Gütern dieser Erde schätzte er am meisten Frauengunst. Dieser Offizier stand absichtlich oder zufällig vor der Pforte der Domkirche, als die Kirchgänger heraustraten. Es war dies am Sonntag nach der Besetzung der Stadt. Unter den weiblichen Gestalten, die herauskamen, fiel ihm besonders Lori auf durch ihr schönes Antlitz und ihren anmutigen Leib, und sein stets waches Begehren brannte auch bei ihrem Anblick lichterloh auf. Er folgte ihr von ferne und sah sie in das Haus treten, wo sie wohnte.

Nun hatte dieser Offizier einen Diener, einen 52 gewandten Burschen, der auch hinreichend Deutsch sprach, um mit den Leuten zu verkehren und eine Gelegenheit auszukundschaften. Binnen kurzem wußte er auch Bescheid im Hause und hatte den Angriffspunkt erspäht: dieser war die Frau Verpflegsverwalterin, eine Dame, die zu allem und noch etwas mehr zu brauchen war. Ihre Bekanntschaft mit dem Offizier war bald von statten gegangen, und wie es schien, hatten sich die beiden eben so bald verständigt und die gefällige Frau weitere Zugeständnisse gemacht. Als Lori sie abends, wie sie pflegte, besuchte, erzählte sie ihr von dem feinen französischen Herrn, mit dem sie zufällig bekannt geworden, von seiner vornehmen Art, und wie es eine wahre Freude sei, ihn in seiner Muttersprache reden zu hören. Er könne sich übrigens auch ziemlich gut auf Deutsch verständigen. Ob Lori etwas dagegen hätte, wenn er käme?

Diese stutzte einen Augenblick, aber da sie kein Gefühl der Unsicherheit hatte und ihr der Fremde als ein Muster gesellschaftlichen Anstandes geschildert wurde, ein Abkömmling der höflichsten 53 Nation der Welt, so sagte sie ohne weiteres zu, daß es ihr nichts verfange, ihn bei der Frau Verpflegsverwalterin auch zu sehen.

Damit war die Einleitung gemacht. Sie hatte auch zunächst keinen Grund, den Angaben der Dame zu mißtrauen; denn der Offizier benahm sich gegen sie mit bezaubernder Höflichkeit als vollendeter Kavalier seiner Nation. Über seine Erlebnisse in den Feldzügen sprach er interessant und ließ das Heldentum seines Volkes nur hier und da zart durch seine Worte hindurchschimmern. Das schöne Frankreich schilderte er beredsam, um daran auch das Lob der prächtigen Erde zu knüpfen, auf welcher er gegenwärtig weilte. So weit ihm Lori folgen konnte, sprach er langsam und deutlich in seiner heimatlichen Sprache, und wo ihr Verständnis nicht ausreichte, nahm er sein Deutsch zu Hilfe. Es war ein anregender Verkehr; sie hörte so vieles neue wie nie zuvor, und alles wurde von einem Manne von überaus liebenswürdigen Manieren vorgebracht.

Doch klang etwas in ihr wie ein leiser 54 Vorwurf. Denn sie näherte sich Wastel wieder freundlich und teilte ihm die Begegnung unumwunden mit. Sie war es zufrieden, wie überraschend ihre Kenntnisse in der französischen Sprache zunahmen, und daß der fremde Offizier den Anstand eines geborenen Edelmannes in allem hätte. Er redete mit ihr, als wäre auch sie ein hochgeborenes Fräulein. Ihre Finger zum Gruße wage er kaum zu berühren, aber er verneige sich tief vor ihr, so oft sie kam und ging. Nun sehe sie wohl, es gäbe unter den Fremden auch feine Leute, obgleich man so viel von dem Übermut und dem rohen Benehmen der Franzosen gesprochen habe, die die ganze Welt unter ihrem Napoleon besiegen wollten. Dieser Offizier sei noch ein Mann aus der guten alten Zeit, wie er selbst erzählte, wo der Adel noch in Frankreich gebietend war, und der feine Anstand als die erste Pflicht eines Kavaliers galt. Jedes Wort, das sie mit ihm gesprochen, teilte sie Wastel mit; sie wollte ihm nichts verheimlichen, da sie gerade jetzt das Bedürfnis fühlte, in einer klaren Atmosphäre mit ihm zu stehen.

55 Ihm war alles unerwünscht, mehr als je. Grollend vernahm er es, aber da sie sich so liebreich zu ihm stellte und ihm so klar und vertrauensvoll in die Augen sah, konnte er seinen Groll nicht verlautbaren. Dessen Ausbruch, das wußte er, hätte das trauliche Verhältnis, das ihn doch beglückte, im Nu zerstört. Darum hielt er an sich. Wie sollte er ihr den Verkehr mit dem Fremden verbieten! Sie hätte sich sofort darauf berufen, daß sie thun könne, was sie wolle: sie sei frei. Er aber war nicht frei. Ihre unschuldigen Blicke fesselten ihn, und das künftige Weib in ihr unterjochte den Mann. Doch gab er seinem Unmute dadurch Ausdruck, daß er über die ganze Nation der Franzosen als ein Volk schalt, das die Geißel der andern Völker geworden war in der Hand eines großen Satans, der Napoleon hieß, und daß es die Pflicht jedes guten Menschen sei, sie zu hassen. Er hasse sie auch. Lori solle es halten, wie es ihr beliebte, und nur nicht vergessen, daß diese Franzosen immer schlaue Füchse waren, bevor sie sich in diesen unglücklichen Zeiten den Löwenmut 56 gekauft hätten. Wie lange der Vorrat daran ausreiche, sei auch noch eine Frage.

Darauf lachte sie, drohte ihm mit dem Finger und sagte: »Gescheit sein, Wastel! und am hellen Tage nicht gleich mit einem Donnerwetter drein fahren.«

Nun verdroß ihn dieser »helle Tag« gar sehr. Es war eine böse Zeit über die Stadt gekommen; die Bewohner lebten in Angst und Sorge, und die Franzosen hausten darin als Sieger. Jeder verwünschte sie und den Tag, an dem sie eingezogen waren und die Habe des Volks ausgepreßt hatten schier bis auf den letzten Tropfen, und Lori sprach von einem hellen Tag. Das verwies er ihr ernstlich und gebrauchte dabei nicht zu milde Worte. Sie hörte erstaunt zu, sie begriff nicht, was er auf einmal gegen sie hätte, da sie ihm doch so zutraulich genaht war. Als ob sie schuld an dem ganzen Unglück wäre! Und als sie gar aus seinen Worten den unverhaltenen Unmut heraus hörte darüber, daß sie den Verkehr mit der Frau Verpflegsverwalterin noch immer nicht aufgegeben habe, da war es 57 mit ihrer ganzen Zutraulichkeit vorbei. Entrüstet wendete sie sich von Wastel ab und sagte: »Verbieten lasse ich mir nichts. Ich weiß, was recht ist. Ich werde mit denen umgehen, die mir zu Gesichte stehen. Und damit ist's Punktum. Gegen Gott versündige ich mich nicht, wenn ich mit einem Fremden ein paar anständige Worte spreche, der ja auch ein Mensch ist, und kann somit ruhig den Kopf auf mein Schlafkissen legen. Mehr braucht es nicht. Adje!« Sprach's, und ließ ihn stehen.

Das hielt sie auch treulich, was sie gesagt hatte, nämlich, sie setzte ihre Besuche fort.

Wenn Wastel abends in seiner Stube über seinen Rechnungen und Problemen einsam saß, hörte er sie gegen zehn Uhr den Gang herüber kommen. Sie trällerte mit leiser Stimme vor sich hin, wenn sie an seiner Thür vorbei kam, wie um ihn aufmerksam zu machen, daß sie es sei, die da ging und gar nicht mit schwerem Herzen. Er erhob den Kopf und lauschte; es war ihm, als wenn das schöne Kind wie eine Erscheinung durch seine Stube glitte, um ihn aus 58 seiner geistigen noch unerschaffenen Welt zu locken in die herrliche Schöpfung der lichtumflossenen Körper. Doch er wies die Erscheinung strenge ab, bis die Thüre nebenan aufging und sie in ihre Stube trat. Dort hörte er noch eine Weile ihren leisen Schritt, bis alles still war. Sie war in ihre Schlafkammer gegangen. Dann versenkte er sich wieder in seinen Traum der mechanischen Allgewalt, die ihm die sich sträubenden Dinge unterjochen und ihn zum Herrn ihrer Kräfte machen sollte.

Das wiederholte sich eine Zeitlang jeden Abend: die hörbaren Schritte des geliebten Mädchens und ihre trällernde Stimme.

Eines Abends jedoch saß er über dem künstlichen Modell der Maschine, das er sich mit langer Arbeit verfertigt hatte. Stolze Freude erfüllte ihn; er sah sich seinem Ziele näher gerückt; noch einige Verbesserungen, die ihm nicht zu schwierig dünkten, und das Problem war gelöst, wie er glaubte. Sein Auge blickte in die Zukunft, und etwas wie Königsstolz schwellte seine Brust; seine Stirn, die sich gedankenschwer über sein Werk 59 geneigt hatte, erhob sich frei in die Höhe, als hätte sie schon jetzt das Recht, die Naturgeister, die er seinem Dienste fesseln wollte, zu überragen.

Da schrak er plötzlich auf aus seinem stolzen Sinnen. Es kam etwas über ihn, wie eine trübe Wolke, die schlich langsam, schleppend heran, und die Luft, die vor ihr her wehte, war wie schweres Atmen und leises Stöhnen. Da überlief es ihn wie ein kalter Hauch. Er hörte wirklich draußen auf dem Gange einen schleppenden Schritt, der sich näherte, inne hielt, und sich wieder schwer fort bewegte. Und doch erkannte er gleich diesen verwandelten Schritt, der an den vorigen Abenden leicht beschwingt unter der Last eines biegsamen Körpers vor seiner Thür vorbei geschwebt war, und eine Mädchenstimme hatte süß und übermütig dazu geträllert. Und jetzt glaubte er auch den schweren Atem und das leise Stöhnen deutlich zu vernehmen.

Er ergriff die Lampe, die ihm zu seiner Arbeit leuchtete, trat hinaus auf den Gang und stand vor Lori, die eben vorbei wollte. Das Licht der Lampe fiel auf ihr Antlitz, das war bleich, die 60 Rosen waren daraus entschwunden. Er blickte sie lange fragend an, und das Wort stockte ihm im Munde. Doch in ihr ging eine Veränderung vor, sie raffte sich auf und stand ihm mit ganzer Leibeskraft aufrecht gegenüber. Sie sah ihm nicht geradehin in die Augen, ihre Blicke irrten an ihm vorbei, aber sie that so, als wenn sie ihm ruhig in die Augen sähe.

Er las etwas in ihren Zügen wie unendlichen Ekel und erschrak bis ins innerste Herz.

»Was hast du, Lori?« rief er.

»Ich? gar nichts,« erwiderte sie. »Wer hat dich geheißen, herauszukommen?«

»Um Gottes willen, was ist dir geschehen, Lori?« rief er noch einmal.

»Mir? Nichts. Was geht's dich an? Ich kann das nicht ausstehen. Habe ich dir etwas gestohlen, Wastel?«

Sie zwang sich zu einem schwachen Lächeln, aber eine müde Traurigkeit umschattete bei dem Versuche ihr Antlitz.

»Lori! du hast geweint! Ich sehe die Spuren deiner Thränen.«

61 »Und du hast geträumt,« erwiderte sie. »Geh' und träume weiter.«

»Lori, du willst spotten, und bist so traurig!«

»Ich traurig? findest du das?« erwiderte sie erschüttert.

Aber nun lachte sie hell auf. Es war nur das Abbild eines Lachens, nicht dieses selbst.

»Wie du gescheit bist, Wastel! du hörst das Gras wachsen und siehst, daß ich traurig bin.«

»Lori, du hast Wein getrunken!«

»Freilich; einen französischen Wein mit lauter Schaum und Perlen. Nun, bin ich nicht lustig?«

Und wieder nahm ihr Gesicht den Ausdruck des tiefen Ekels an.

»Frage nicht weiter, ich werde dir nicht antworten,« sagte sie. »Gute Nacht!«

Und sie ging mit langsamen Schritten, obwohl sie sich mühte zu eilen, in ihre Stube und schloß die Thüre hinter sich. Wastel trat in die seinige und hörte sie noch im benachbarten Raum eine Weile umher gehen, dann ward alles still.

Aber in ihm nicht; er blieb die ganze Nacht am Tische schlaflos sitzen. Das Lämpchen erlosch, 62 er blieb in der Dunkelheit bis zum Morgen. Der einbrechende Sonnenstrahl weckte ihn, der nicht schlief. Er stand auf und blickte in das golden flimmernde Licht. Da umhüllte es ihn plötzlich wie eine Lohe, es ward immer röter und röter, und Flammen sprühten aus seinen Augen, es wirbelte alles vor ihm in einer einzigen flimmernden Lichtwoge, und sie war blutig rot. Er sah Blut vor den Augen.

Sein Maschinenmodell stand auf dem Tische: es dünkte ihm wie eine leere entgeisterte Welt.

Er ging in seine Werkstatt wie sonst und saß am Abend wieder daheim. Es war alles still auf dem Gange und in der Nebenstube; er hörte keinen Schritt. Auch diese Nacht schlief er nicht, denn er brütete über einem einzigen Gedanken, der sich blutigrot vom umnachteten Horizont seines Innern abhob. Mit Lori hatte er Mitleid; es war nicht mit ihrem Willen geschehen, was geschehen war, das ahnte er; aber ihn, den Feind, wollte er treffen mit Einsatz seines eigenen Lebens: das war sein Entschluß. Und Wastel hielt, was er einmal gefaßt hatte, eisern fest; so die Liebe 63 zu Lori, so den Haß gegen den Feind. Er soll es bezahlen, sagte er sich, dann zahl' ich gern mein Leben obendrein. Das war seine ganze Weisheit; alles andere, die ganze Zukunft entschwand wie ein Traum vor dieser Wirklichkeit: er soll es bezahlen.

Da er nun zwei Nächte nicht geschlafen hatte, so war ihm der Kopf schwer; es brannte drinnen, und wo er schritt, sah er rot, als hätte der zu Blut verwandelte Sonnenstrahl ihn nicht mehr verlassen und in seinen Augen Heimat gewonnen. Doch saß er in der Werkstatt wie gewöhnlich und that, was ihm oblag. Der sonst viel beschäftigte Meister hatte in dieser drangvollen Zeit den andern Gesellen Urlaub gegeben und nur ihn behalten. Während er über seinem Handwerke saß, schien er äußerlich ruhig zu sein; aber in seinem Innern drängten sich die quälenden Bilder in unaufhaltsamer Folge empor wie aus einem unerschöpflichen Abgrund. Er sah und sah, und was er sah, durchschütterte ihn wie ein wilder Sturm. Doch seine eiserne Stirne schien unbewegt zu sein und deckte wie ein breiter Schild 64 die tödliche Wunde, die er innen trug. Dazu webte in ihm die fliegende Unruhe, und es tickte in ihm unablässig wie die Totenuhr in einem scheinbar festen Gebälke. Es nagte in ihm und untergrub ihn, daß er sinken mußte, wenn er sich nicht erhob. Er sah mit innerem Auge, und es rief ihn, er wußte nicht warum, aber er wußte wohin. Als stünde eine unsichtbare Gestalt vor ihm, die ihm winkte mit eindringlicher Gebärde, der er folgen mußte, so rasch erhob er sich und verließ die Werkstatt. Sein Meister blickte ihm erstaunt nach und wollte eben fragen, da war er schon zur Thüre hinaus.

Und auf der Straße schritt die unsichtbare Gestalt vor ihm her, und er sah sie im Gewühl der fremden Soldaten und der scheuen Stadtbürger. Sie schwebte durch das Gedränge wie eine Lufterscheinung, doch sah er den Zipfel ihres wehenden Kleides immer, der war blutig. So kam er im Hause und in der Stube an, wo er wohnte, dort war nichts zu sehen. Er stand einsam und wie einer, der plötzlich erwacht, in dem vertrauten Raume. Dieser war nur durch 65 eine Thüre von der Nebenstube getrennt, und hüben und drüben standen in dem Thürrahmen Kästen. Da durch sie der Schall nicht gänzlich gehemmt wurde, so hörte er deutlich eine fremde Stimme von drüben, die sprach, ohne daß er die Worte verstehen konnte. Es war eine helle wohlklingende Mannesstimme, die undeutlich wie ein fremder Gesang zu ihm herüber tönte, aber ihm wie scharfes Glas in die Nerven schnitt. Es fiel ihm ein, daß Loris Mutter um diese Zeit auf ihren Geschäftsgängen auswärts zu sein pflegte, und dies konnte dem feindlichen Offizier da drüben nur eine mitgeteilt haben: die Verpflegsverwalterin.

Wie Wastel dieses dachte, sah er wieder Blut vor den Augen in einem Kreise, der von unzähligen Lichtteilchen flimmerte. Vor seinen Ohren sang die fremde Stimme da drüben lockend, verführerisch; aber vor seinen Blicken erhob sich mitten in dem Lichtgeflimmer des Kreises ein dunkler Dämon mit funkelnden Augensternen, der sprach: Komm, wenn du dich getraust. Und Wastel antwortete grimmig und verächtlich: Ob ich mich getraue? das wirst du sehen! und sah 66 sich selbst wie eine zweite Gestalt den Kasten öffnen und ein Terzerol heraus nehmen. Das war in diesen unruhigen Zeiten stets geladen. Er barg es in seiner Brusttasche, ging hinaus öffnete drüben die Thüre und trat in die Stube. Da traf er den fremden Offizier zu Loris Füßen, sah ihn mit erhobenen Händen flehen, und vernahm immer das Wort Pardon: sie möge ihm verzeihen; es sei alles aus unbezwinglicher Liebe geschehen. Sie stand mit gesenkter Stirne und mit zusammengezogenen Brauen vor ihm bleich und abweisend.

Als Wastel eintrat, sprang der Offizier auf. Es war ein zierlicher wohlgebildeter Mann, der die Kapitänsepauletten auf seinem dunkelblauen Fracke trug. »Was will dieser hier?« fragte er in seinem fremdartigen Deutsch. »Hat er das Recht zu kommen?«

Lori wandte erst jetzt den Blick auf den Ankommenden, und ihre bleiche Wange färbte sich purpurn, da sie meinte, daß ihr Wastel aufgelauert hatte. »Recht?« sagte sie. »Er hat kein Recht zu kommen.«

67 »Nun, dann,« rief der Offizier gebieterisch, »pack' dich, Bursche, und geh deines Weges.«

Er aber, Wastel, konnte nichts reden; wilder Grimm schnürte ihm die Kehle zusammen und sprühte aus seinen Augen. Da betrachtete ihn der Offizier aufmerksamer und erkannte die Drohung, die in seinem Antlitz, seinen Blicken, in seiner ganzen Gestalt lag. Verächtlich zog er den Degen und wies mit der Spitze nach der Thür. »Hinaus mit dir!« sagte er ruhig.

Aber Wastel trat ihm einen Schritt entgegen und sprach nur das eine Wort: »Franzos!« Aber es kam heiser und ingrimmig aus seinem Munde heraus. Er sah wieder Funken flimmern wie eine webernde Lohe, und klar und deutlich stand in ihr die Gestalt des Offiziers mit gezücktem Degen. Nun schien es ihm, die Gestalt stürze auf ihn zu. Da vergaß er, daß er das geladene Terzerol in der Tasche trug, ergriff den nahestehenden Stuhl von schwerem Eichenholz, schwang ihn wie ein leichtes Scheit über dem Haupte und ließ ihn auf den Schädel des Offiziers nieder schmettern. Dabei empfing er die Spitze des 68 Degens in die Brust; aber der Offizier sank getroffen von der Wucht des schweren Eichenholzes zu Boden, und Wastel war im nächsten Augenblick über ihm, entwand ihm den Degen und stieß ihn tief in das Herz des Feindes. Da sah er in Wirklichkeit das Blut vor sich emporstrahlen, das er so lange bloß in der Einbildung gesehen hatte.

Lori schrie auf: »Jesus Maria!« und dann: »Wastel, was hast du gethan?«

»Ich habe es ihm heimgezahlt,« antwortete er finster, während der überwundene Gegner im Todeskampfe vor ihm lag.

»Rette dich!« rief Lori verzweifelt. »Wenn sie dich fangen! Mein Gott, mein Gott! wie bin ich unglücklich!«^

»Willst du's, daß ich mich rette, Lori?« fragte er.

»Ja, ich will's, ich will's. Du blutest –?«

»Es ist nichts.«

»Rette dich, Wastel!«

»Nun, dann will ich's auch,« sagte er. »Aber was ich gethan habe, bereue ich nicht. Ich hab's 69 ihm heimgezahlt. Er hat mir mein Leben geraubt, und ich hab' ihm das seine dafür genommen.«

* * *

Bis hierher hatte der Arzt die Erzählung geführt.

Inzwischen war der frühe Junimorgen angebrochen, das Tageslicht schien zum Fenster herein und brachte Holunderduft und Vogelgezwitscher mit. Die Sonne war prächtig über dem Berggelände im Osten aufgestiegen und sandte rosigen Schimmer ins Gemach, auf dessen Boden glitzernde Funken zu spielen begannen. Aber zugleich erhob sich draußen das Gewitter der Geschütze, und in einzelnen Schlägen begann der Donner der Kanonen aus beiden Heerlagern zu rollen. Die Fenster klirrten ängstlich, und in den schönen Sommermorgen stiegen Rauchwölkchen auf wie von einem Altare: aber es war der Opferaltar des Gottes der Schlachten, die grüne blühende Erde.

Der Arzt erhob sich plötzlich; sein Beistand wurde in dem beginnenden Kampfe gefordert; er 70 mußte gehen. Die leidende Frau, die ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört hatte, wollte das Ende der Erzählung erfahren. Er konnte jedoch nicht länger weilen. Er sagte, indem er sich zum Fortgehen anschickte, daß Wastel zu ihm gekommen sei, um sich die Wunde verbinden zu lassen, die er von dem Degen des Offiziers in der Brust empfangen hatte: sie war nicht tief. Doch der Arzt verband sie, behielt Wastel bei sich und wies ihm eine entlegene Kammer des Hauses als Zufluchtsort an. Dort weile er nun geborgen. Damit ging er, versprach aber noch vor Abend wieder zu kommen und nach der leidenden Frau zu sehen, wenn es sich thun ließe.

Als er sich entfernt hatte, wollte der besorgte Gatte das Fenster schließen, um den immer zunehmenden Hall der Geschütze zu dämpfen. Zugleich bat er sie, sich in ein entferntes Gemach zu begeben, wo sie in Sicherheit ruhen konnte. Sie wies aber das Anerbieten zurück; sie sei zu aufgeregt, um der Ruhe zu pflegen. Sie erhob sich auch von ihrem Lager und ging ans Fenster, 71 um das furchtbare Schauspiel zu betrachten, das sich weit draußen vor der Stadt abzuspielen begann, und das sie von ihrem Sitze mit einem Fernglase, welches ihr der Gatte auf ihren Wunsch brachte, verfolgen konnte.

Das Fenster öffnete sich gegen das östliche Hügelgelände, wo das Feld des immer heftiger beginnenden Kampfes lag. Ein dichtes Rauchgewoge, das von den Strahlen der Junimorgensonne beglänzt wurde, war vorerst alles, was sie sah. Allmählich aber zerteilten sich die Rauchwolken an den Hängen des grün umwaldeten Berges, und sie sah zur Rechten von Süden rückend befreundete weiße Uniformen schimmern, die sich in breiten von Waffen glitzernden Streifen vom Hintergrund abhoben. Zur Linken, dort wo eine schmucke Kirche ihren schlanken Turm erhob, sah sie dunkle Massen, welche sie als die blauen Uniformen der Feinde erkannte. Unweit der Kirche stand eine Batterie, deren Schlünde sie durch den Rauch feurig aufblitzen sah. Sie zitterte am ganzen Leib vor Aufregung, und doch verwandte sie kein Auge von dem furchtbaren 72 Bilde. Angst, Schrecken und Bewunderung pochten in ihrem Herzen und bannten sie an ihren Platz, trotz des Zuredens des Gatten, sich vom offenen Fenster zu entfernen. Der dumpfe Donner der großen Geschütze, das helle Geknatter des Kleingewehrs und das unbestimmte Getose des Kampfes, all dies drang in ihr Ohr mit schrecklich fesselndem Zauber. In die Sommerlandschaft, die sich herrlich bis zu den fernen Hügeln und der höheren Berglehne aufbaute, blickte sie über die Stadtmauer hinweg, und obgleich sie es nicht sah, fühlte sie, daß sich dort auf grünem, blühendem Grunde Menschenleiber verwundet und zerschossen in Todeszuckungen wanden; daß wildes Rufen, Röcheln, Gestampf der Rosse und tausend andere Töne sich zu einem wirren Klangmeer vereinigten: und ihr bleiches Antlitz rötete sich, und sie sog den näher schwankenden Pulverdampf mit den geblähten feinen Nüstern ein. So vergaß die leidende Frau gänzlich ihrer Nerven, vergaß Speise und Trank und blieb Stunden lang am Fenster. Den Gang des Kampfes konnte sie nicht verfolgen; aber 73 Hausgenossen brachten Nachrichten, wie es draußen stünde. Es waren dies böse Nachrichten. Die heimischen Truppen erlitten Verluste auf Verluste; die Batterie an der Kirche war für sie der böse Geist, der Blitz auf Blitz in ihre Reihen sandte, daß sie trotz alles Anstürmens zurückweichen mußten und ihrer viele dahin sanken. Eine Schar von dreihundert verwundeten Kämpfern wurde dabei von den Siegern gefangen genommen und in die Kirche gesperrt.

Gegen nachmittag war aber etwas geschehen, was wie eine mächtige Schicksalshand in den Gang des Gefechts eingriff. Die Batterie wurde auf eine wundersame Weise durch einen Ansturm im Rücken der Feinde genommen, und dieser nach erneuertem, heftigem Kampfe zurück gedrängt. Erst die dichten Wälder auf dem nahestehenden Bergrücken nahmen ihn auf und schützten ihn. Die Heimischen hatten den Sieg errungen. Die Umgehung der Franzosen ward von irgend jemand meisterlich ausgeführt, man wußte nicht, von wem. Darüber verbreiteten sich die widersprechendsten Nachrichten. Auch all diese Gerüchte 74 sog das Ohr der leidenden Frau gierig ein, die mit ihren zarten Nerven alles lebhafter empfand als jeder andere.

Aber als der Arzt am Abend wieder kam, war ihre erste Frage nach Wastel. Der Arzt hatte am Tageswerke in seinem Berufe mit andern Ärzten redlich mitgeholfen und war ermüdet.

»Wastel?« sagte er mit sonderbarer Betonung. – Er habe doch erzählt, daß er ihn in seinem Hause verborgen hätte? erinnerte sie ihn.

»Ja,« erwiderte er; »aber er ist nicht mehr dort.«

»Wo?«

Nun, er wollte ihr erzählen, wo sich Wastel jetzt befinde.

»Als ich nach Hause kam, war er nicht mehr in der Kammer, wo ich ihn verborgen hielt. Mein Diener berichtete mir, daß Wastel am frühen Morgen bei dem ersten Kanonenschuß nicht mehr zu halten war. Er machte sich auf; die Wunde in der Brust schmerzte ihn nicht mehr. 75 Er näherte sich allmählich, wie ich später erfahren habe, dem Gefechtsfeld, wo er von einer Erhöhung aus den Verlauf des Kampfes genau verfolgte. Dann begab er sich nach Sparbersbach zu einem der führenden Generäle, der dort stand, ich weiß aber noch nicht, zu welchem. Diesem teilte er einen Plan mit, wonach die Stellung des Feindes auf einem von ihm angegebenen Wege zu umgehen und die Batterie an der Kirche, die so verderblich wirkte, zu nehmen sei.

Der General soll ihn vorerst ungläubig und ungnädig angehört haben. Als aber Wastel eine Kohle von irgend einem erloschenen Beiwachtfeuer nahm und an der Wand einer nahe stehenden Scheune die Stellungen von beiden Seiten und den Umgehungsweg klar und bündig zeichnete, da erschien die Sache dem General doch geheuer, und er entsandte eine starke Abteilung, die Wastel führte. Die Umgehung gelang auch, wie man jetzt weiß, vollkommen. Die Abteilung unter einem beherzten Befehlshaber kam im Rücken der überraschten Feinde an und stürmte die Batterie, während gleichzeitig ein Vorstoß der Unsern von 76 Sparbersbach aus mit eingriff. Die Batterie wurde genommen und damit der Kampf entschieden. Noch wurden dreihundert Gefangene befreit, die die Franzosen vorher in der Kirche verwahrt hielten. Der Sieg war unser. Wastel hatte ein Bajonett vom Boden aufgerafft und war mitten unter den Stürmenden; das hörte ich sagen. Wo er sich jetzt befindet? Ich hab' ihn gesehen. – Er befindet sich dort, wo er schwerlich mehr daran denken wird, eine neue Maschine zu erfinden: im Reiche des Friedens. Er ist als einer der ersten im Sturme gefallen.«

 


 


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