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Einleitung des Herausgebers

Goethe hat einmal, im Gespräch mit Eckermann, das schöne, erleuchtende Wort geprägt von der wiederholten Pubertät und temporären Verjüngung, die außerordentlichen Naturen zuteil werde und sie in vorgerückten Jahren noch einmal zu jugendlich starken Schöpfungen von eigener Bewegung und Leidenschaft befähige.

Fichte ist einer von denen gewesen, die vorgelebt haben, was Goethe hier in Worte faßt. Einer von jenen begnadeten Menschen, denen es vorbehalten ist, nicht einmal, sondern zweimal jung zu sein, und ihre zweite, wiedergeborene Jugend in bleibenden Bekenntnissen aussprechen zu dürfen.

Beispiellos war der Schwung und die Kraft, mit welcher der größte Schüler Kants 1794 sein akademisches Lehramt in Jena ergriff. Er faßte es gleich im größten Stil. Menschheitsbildner wollte er sein; Menschheitsbildner wollte er erziehen. Er ist es gewesen und hat es erreicht, wie die wenigsten seinesgleichen. Man muß ihn neben Sokrates stellen, um die Größe seines Wollens und die Kraft seines Könnens in das richtige Licht zu setzen. »Ich habe eigentlich gar keinen Stil; denn ich habe sie alle« – so konnte und durfte er damals von sich bekennen.

In seiner Jenaer Glanzperiode (1794-1799) war er vom ersten Tage an, trotz manches heftigen Gegenstoßes, den sein unbändiger Wille erregte, der Stolz und die Freude des kommenden Geschlechtes. Freudig sahen sie zu ihm empor, der jugendlich-hochbegabte Schelling, der ganz sein Schüler zu werden versprach, Herbart, Hölderlin, Steffens und die beiden Schlegel, um nur die besten Namen zu nennen. Es war ein Glanz in seiner Rede, ein sittlicher Ernst in seinem Wort, vor dem es keine Schattenhöhle, kein Ausweichen oder Zweifeln gab. Er sprach von unerhörten Dingen, vom Geist, der sich den Körper baut, vom Ich, das aus dem reinen Nichts durch einen wundersamen Akt die Welt der sinnlichen Gestalten schafft, um eine sittliche Welt aus ihnen zu bauen. Er sprach von einem neuen Menschen, der reiner, wirkender Wille sei und dem man alles nehmen könne, nur nicht das unbegrenzte Streben, besser, vollkommener zu werden und über sich selbst hinauszuwachsen. Er lehrte eine Philosophie, für die es nichts Fertig-Vollendetes gibt, die alle toten Ruhepunkte in lebendige Werdereihen auflöst, die nichts besitzt, was sie nicht erzeugt, und nichts erzeugt, was sie nicht erlebt –, eine Philosophie, die man nur hat, insofern man sie ist, eine Philosophie im Leibnizischen Sinne, durch Kantische Imperative erhöht.

Und wie lehrte er sie! So, daß man ihn schürfen und graben hörte und mit dem Meißel der Dialektik Stein um Stein zur Hochburg der Wahrheit bearbeiten sah. Das Lebensgefühl eines neuen Geschlechtes schuf sich hier selbst sein erstes Gefäß, und Friedrich Schlegel wußte, was er sagte, wenn er, um die Jahrhundertwende, die Fichtesche Wissenschaftslehre mit der französischen Revolution und dem »Wilhelm Meister« zu den drei größten Tendenzen des Zeitalters rechnete.

Um die Jahrhundertwende! Da war das Unglück schon geschehen. Unter Goethes Augen geschehen. Der tückische Atheismussturm, nicht ganz ohne Fichtes Schuld entfesselt, hatte das Werk des Mannes verwüstet, Katheder und Hörsaal weggefegt. Fichte war seines Amtes entsetzt, die helle Morgensonne von Jena in dumpfen Wetterwolken verschwunden.

Was nun? Es trat eine Pause ein. Nicht gleich, aber dann um so fühlbarer. Wie die mächtige Eiche nach schwerer Sturmnacht, so bebte der starke Mann von Jena, als er, das Atheismusgespenst im Rücken, sich hilfesuchend nach Preußen wandte und in der Hauptstadt Friedrich Wilhelms III., des damals noch milden und weitherzigen Königs, festen Boden gefunden hatte. Die mächtig nachzitternde Erregung steigerte zunächst seine Produktivität. Die Jahre 1800 und 1801 sind noch Jahre verschwenderisch begabten Schaffens. Die »Bestimmung des Menschen«, die Abrechnung mit Nicolai und ein neuer Abriß der Wissenschaftslehre fallen in diese beiden Jahre.

Dann wird es still. Bemerklich still. Fichte schweigt – für das Publikum. Mit dem Jahre 1801 ist die literarische Epoche seines Lebens zu Ende. Er schreibt nicht mehr. Er verwirft die Feder. Er fängt an, alles Schreiben, alle Schreiber zu hassen. Skribenten, ehrlose Tintenkleckser!

Was war geschehen? Fichte hatte den Glauben verloren, den Glauben an das Publikum, soweit es lesendes Publikum war. Der Atheismusstreit gab ihm den ersten Stoß. Weitere Stöße folgten nach. Der schmerzlichste war das Zerwürfnis mit Schelling, das 1801, unter der äußeren Mitwirkung Hegels, aus dem Streit um die Naturphilosophie hervorging. Aus dem vielverheißenden Freunde war ein kühl widersprechender, argwöhnisch-gereizter, zu schärfster Gegnerschaft bereiter Selbst- und Eigendenker geworden. Ähnlich ging es mit kleineren Geistern, die ihm ehemals nahe gestanden. Zweifel, Verstimmung, Gegenzweifel. Tiefes Mißbehagen die Folge. Die helle Glocke der Spekulation schien einen Riß bekommen zu haben. Fichte mochte sie nicht mehr läuten. Er fühlte, daß es unmöglich sei, das Publikum »zum Verstehen zu zwingen.« Auch die »sonnenklarsten Berichte« konnten den Schatten nicht mehr zerstreuen, der zwischen ihn und sein Geschlecht getreten war. »Das Zeitalter kann nicht mehr lesen, und darum ist alles Schreiben vergeblich.«

Fichte schwieg. Ein gebrochener Mann, wie seine Gegner hoffen mochten, die kirchlichen und die spekulativen. Wer tiefer sah, durfte es besser wissen. Es war die Ruhe vor neuem Sturm. Die Stille, in der ein zweiter Blütenfrühling reifte.

1806 war das Erntejahr. Im Januar, März und April dieses Jahres kamen die drei großen Kundgebungen heraus, die, mit den Reden an die deutsche Nation vom Jahre 1808, die zweite Jugend Fichtes bezeugen und das geistige Deutschland daran erinnerten, daß er noch immer Führer war, wenn auch ein anderer Führer, als einst. Kein Schreibender, sondern ein Redender. Kein Philosoph für Philosophen, sondern ein Sprecher für alle Welt. Oder ein einsamer Monologist? Je nachdem man es versteht. Ein Monologist für das »lesende« Publikum, dem er nichts weiter zu sagen hatte, als daß er ihm – nichts zu sagen habe. Ein Sprecher für die Hörer des Wortes, die den Ernst und den Willen hatten, lebendig Erzeugtes lebendig aufzufassen und aus der stumpfen Scheide des Buchstabens das blanke Messer des Geistes herauszuziehen.

Nicht Bücher, sondern Bekenntnisschriften sind das Werk dieses neuen Geistes. Reden im eigentlichsten Sinn. Drei blitzende Wetter- und Flammenzeichen. Zuerst die »Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters«, gelesen in Berlin, im Winter 1804/05. Dann, während des akademischen Sommers in Erlangen Erlangen war damals bekanntlich noch preußische Universität., den er sich von der Regierung erwirkt hatte, um wenigstens einen Teil des Jahres als Hochschullehrer tätig zu sein, die Vorlesungen über das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit. Endlich, im Winter 1806, die »Anweisung zum seligen Leben«, abermals in Berlin gelesen, in der Sonntagstunde von 12-1 Uhr, angefangen am 12. Januar Vgl. die Ankündigung in der Spenerschen Zeitung vom 7. Januar 1806., im runden Saale der (alten) Akademie der Wissenschaften, in dem schon die »Grundzüge« gelesen worden waren und zwei Jahre später die Reden an die deutsche Nation gehalten wurden.

Die drei im Winter und Frühling des Jahres 1806 dicht nach einander veröffentlichten Vorlesungen bilden ein organisches Ganze; aber die Anweisung zum seligen Leben ist die größte unter ihnen Nach Fichtes eigenem Bekenntnis in der Vorrede ist sie der »Gipfel und hellste Lichtpunkt« des in den dreien entwickelten Standpunktes.. Sie ist das Herzstück der neuen Denkart, die Fichtes Geist und Kraft verjüngt hat, des religiösen Idealismus. Im Schutz und Schatten dieses Idealismus steht schon die Geschichtsphilosophie der »Grundzüge«, die in dem Bekenntnis gipfelt, daß Religion die Krone des geistigen Lebens, das einzige wahrhaft Edle im Menschen sei W W VII 251. – Ich zitiere nach den Bänden und Seitenzahlen der Gesamtausgabe von J. H. Fichte, 11 Bände, 1834-1846, die auch in der musterhaften, einer vollständigen Neuausgabe nahekommenden, sechsbändigen »Auswahl« von Fr. Medicus vermerkt sind (Leipzig 1908 ff., Verlag der Philosophischen Bibliothek). – Seitenzahlen ohne Angabe des Bandes beziehen sich auf die gegenwärtige Ausgabe. – Schriften, die bei Reclam erschienen sind, sind mit einem entsprechenden Vermerk nach den dortigen Seitenzahlen zitiert.. Noch stärker bricht dieser neue Geist in den Erlanger Vorlesungen durch, die dem Gelehrten nichts Geringeres zumuten, als das Übermenschenstück, die Welt mit Gottes Gedanken nachzudenken (Reclam S. 107).

Das vollkommenste Denkmal der neuen Stimmung ist die Anweisung zum seligen Leben. Hier ist die Religion nicht mehr Hintergrund, sondern hell beleuchteter Mittelpunkt, nicht mehr ein Grundbaß für fremde Themen, sondern selbst Thema und Führerstimme.

Der Sinn der großen Gedankenfuge, die Fichte aus diesem Thema gesponnen hat, ist hell und klar. In der letzten Vorlesung sagt er es selbst. Die Absicht ist die, den Nachweis zu erbringen, daß »alle Irreligiosität auf der Oberfläche der Dinge und in dem leeren Schein befangen bleibt, und eben darum einen Mangel an Kraft und Energie des Geistes voraussetzt, so wie notwendig Schwäche des Kopfes sowohl als des Charakters verrät; dagegen die Religion, als sich erhebend über den Schein und eindringend in das Wesen der Dinge, notwendig den glücklichsten Gebrauch der Geisteskräfte, den höchsten Tiefsinn und Scharfsinn und die davon unabtrennliche höchste Stärke des Charakters entdeckt« (S. 182 f.).

Dieses hohe Lied von der Größe der Religion, über dessen äußere Entstehung Fichte zu schweigen für gut befunden hat »Die Erzählung, wie ich überhaupt darauf gebracht worden, in dieser Stadt populäre philosophische Vorlesungen für ein gemischtes Publikum zu halten, würde zu weit führen.« (S. 184)., ist erstmals vor einer bunten Versammlung, Männern und Frauen der vornehmsten Stände, Meistern und Jüngern der Künste und Wissenschaften, aber auch ungelehrten Leuten, Geschäftsmännern aus den verschiedensten Berufen, erklungen (S. 16). Über Besuch und Wirkung schreibt Zelter, der selbst die ersten Vorlesungen »mit Satisfaktion« gehört hatte, an Goethe: Fichtens Auditorium konnte man, in Absicht auf den Gegenstand, zahlreich nennen. Was die Stimmung des Publikums betrifft, so glaube ich fast, daß er so viel Individuen für, als gegen sich hat, insofern besonders die jüngere Klasse einen Trieb zeigt, das Ernsthafte, wo nicht aufzunehmen und zu bewahren, doch frei an sich vorübergehen zu lassen (21.-25. April 1806; Reclam I 163).

Anweisung zum seligen Leben – so lautet der glücklich gewählte Oder von Schelling übernommene? Schelling hat später, als er nicht mehr recht zog und vom Vergangenen leben mußte, sehr nachdrücklich betont, daß Fichte den schönen Titel seines Werkes – nun, mit Anstand von ihm gestohlen habe, ohne das Publikum aufzuklären (Philosophie der Mythologie W W II 1 S. 465 Anm.). – An dieser Bemerkung ist so viel richtig, daß der fragliche Ausdruck in der Tat sich in der 1804 erschienenen, von Fichte sicherlich schon aus Verdruß gelesenen Abhandlung über »Philosophie und Religion« (W W I 6, S. 17) vorfindet; aber – als Verdeutschung von Ethik. Fichte hätte, selbst wenn er, was keineswegs ausgemacht ist, seinen Titel von dorther entnommen hätte, dann immer noch das entscheidende Verdienst, den Inhalt, und zwar eine wirkliche Religion, dazu geliefert zu haben – was Schelling, dem großen Seher und Plänemacher, bekanntlich nie gelungen ist. – Schon 1806 hat er übrigens, und zwar mit besserem Grunde, betont, daß Fichte die mit der Umgestaltung seines Gottesbegriffs von selbst geforderte Modifikation seiner Freiheitslehre aus der gleichen Schrift bezogen habe (Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre 1806 W W I 7 S. 82 f.). Titel, unter welchem Fichte die neue Religion und Religionslehre vorgetragen hat. Die neue Religion, die Religion der gottgewirkten, gottbegabten, gottausströmenden Innerlichkeit des spekulativen Idealismus. In diesen drei konstitutiven Momenten enthüllt sich das Wesen des seligen Lebens. Wir werden den Geist dieses Lebens erfaßt haben, wenn wir wissen, wie es entsteht, worin es besteht, und wie es sich vor der Welt bezeugt. Wie es entsteht: das ist die Frage nach der erzeugenden Kraft. Worin es besteht: das ist die Frage nach dem inneren Bestande. Wie es sich vor der Welt bezeugt: das ist die Frage nach seiner äußeren Gestalt.

Die erzeugende Kraft des seligen Lebens ist das Göttliche über uns. Also nicht der eigene Wille, nicht eigene Tugend, Kraft und Tat. Es ist der Irrtum des Stoizismus, zu glauben, daß dieses selige Leben aus eigener Kraft erzeugt werden könne. Der Stoizismus, der das Verdienst hat, die Frage nach dem seligen Leben zuerst mit Ernst und Nachdruck gestellt und als philosophische Frage behandelt zu haben, lehrt in der Tat, daß dieses Leben aus der Spannkraft des eigenen Willens hervorgeht. Wolle nur, und du wirst sein, wie Gott! Mit diesem Imperativ beginnt die erste Anweisung zum seligen Leben, die uns historisch überliefert ist, die Abhandlung Senecas de vita beata. Fichte hätte sie nennen können und würde sie wohl auch genannt haben, wenn sie ihm zufällig bekannt gewesen wäre. Gleichviel, ob mit oder ohne Beispiel: der stoische Imperativ ist falsch. Er begeht schon im Ansatz den entscheidenden Fehler, der die ganze folgende Rechnung verdirbt, unvermeidlich verderben muß. Allen Respekt vor dieser kühnen, in der Schwungkraft ihres Ansatzes und Energie ihrer Durchbildung »denn doch aller Ehren werten Denkart« (S. 120)! Aber »zur Wahrheit kommt sie nicht« (S. 121), kann sie nicht kommen; denn streng genommen ist schon die Ableitung des seligen Lebens aus der Bewegung des eigenen Willens die erste Profanierung desselben.

Warum? Weil sie das selige Leben zu einem bloß sittlichen Leben herabdrückt, und dazu noch zu einem sittlichen Leben, das lediglich durch den »Affekt des Gesetzes« (S. 117), den leersten und kältesten aller Affekte bestimmt ist, wogegen das wahrhaft selige Leben in die wärmsten aller Gefühlstöne, Sehnsucht und Liebe, eingesenkt ist. Der »Mittelpunkt« des lebendigen Lebens ist immer und überall die Liebe (S. 6). »Was du liebest, das lebest du« (S. 3). »Die ganze Form und Kraft des Lebens besteht in der Liebe und entsteht aus der Liebe« (S. 1). »Offenbare mir, was du wahrhaftig liebst – und du hast mir dadurch dein Leben gedeutet« (S. 3).

Diese lebendeutende Liebe kann nicht aus Paragraphen entspringen, auch nicht aus den hoch zu achtenden Paragraphen eines reinen Vernunftgesetzes. Der Paragraph ist der Tod der Liebe, und darum bleibt der Stoizismus bei aller äußeren Ansehnlichkeit im tiefsten Grunde minderwertig, oder, mit Fichte selbst zu sprechen, die erste und niederste Ansicht des höheren Lebens (S. 120); denn er »vernichtet alle Neigung, alle Liebe und alles Bedürfnis« (S. 119). Das macht: er kennt die Sehnsucht nicht, die tiefe, innige, quellende Sehnsucht nach ganzem, ungebrochenem Leben, auf der »alles endliche Dasein ruht« (S. 8), die echte, unverkennbare Wurzel aller »höheren Moralität« (S. 80) Durch diese Kritik ist auch der emotionale Höhepunkt der Kantischen Ethik, das reine Vernunftgefühl der Achtung vor dem gebietenden Sittengesetz, mitgetroffen und von der obersten auf die unterste Sprosse der geistigen Lebensleiter herabgesetzt..

Weil Sehnsucht die Wurzel der Liebe ist, und Liebe der Kern und die Seele des Lebens, so kann das wahrhaft selige Leben nicht aus dem liebeleeren Affekt eines kühlen Selber-Wollens entspringen, dessen einzig erkennbare Sehnsucht der konsequente – Verzicht auf Sehnsucht ist.

Aber wie, wenn jenes Wollen ein liebebeweisendes Wollen wäre, das sich nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch für das Gesetz verantwortlich fühlte, und jenes nur, weil dieses ist? Ein Wollen, das nicht auch anders könnte, wie es beim Stoizismus der Fall ist, sondern das notwendig wollen muß, weil es gar nicht aus sich geboren, sondern aus dem Lebensquell eines ewigen Weltwillens geflossen ist? Dann sind wir freilich in einer anderen Sphäre. Fichte nennt sie die Sphäre der höheren Moralität. Hier schafft der Wille nicht mehr das Gesetz, sondern umgekehrt: das Gesetz schafft den Willen. Darum wird es auch auf dieser Stufe nicht nur als ein rechtlich ordnendes, sondern als ein geist- und welterschaffendes Prinzip erlebt. Überhaupt nicht mehr als abstraktes Gesetz, sondern als lebendige Kraft, als höchstes, wahrstes, wirklichstes Sein. Nicht mehr als kategorischer Imperativ, sondern als kategorischer Indikativ. »Sein Zweck läßt sich kurz also angeben: es will die Menschheit in dem von ihm Ergriffenen, und durch ihn in andern, in der Wirklichkeit zu dem machen, was sie ihrer Bestimmung nach ist, zum getroffenen Abbilde, Abdrucke und zur Offenbarung des inneren göttlichen Wesens« (S. 79). Vergleichbar etwa der platonischen Idee des Guten in jener »dämonischen« Kraft und Größe, in der sie uns im sechsten Buch seiner Staatsdichtung begegnet Fichte spielt selber auf Platon an. S. 80..

Dann wäre also ein in der sittlichen Weltordnung verankerter Wille der Hebel und Schöpfer des seligen Lebens. Wohl; aber wie weit wird er es bringen? Das Leben des Willens ist Handlung und Tat. Ohne sie kein lebendiger Wille, der es zum Selbstbewußtsein bringt. Ein seliges Leben auf dieser Basis ist dann das Ganze von Taten und Kraftwirkungen, die ein durch das Lebensgefühl der Einheit mit dem sittlichen Weltwillen erzeugter Wille in der – Sinnenwelt vollbringt. Die Sinnenwelt ist und bleibt das Substrat, vielleicht das selbstgegebene Substrat – darauf kommt es hier nicht an –, an dem dieser Wille sich bewährt, von dem er folglich abhängig ist, mindestens nie ganz unabhängig wird. Diese einerseits vorgefundene, andererseits im Begriff des wirkenden Willens gleichsam schon a priori enthaltene Abhängigkeit ist es, die auch den kraftbegabtesten und liebebegeistertsten Willen unfähig macht, ein wahrhaft seliges Leben hervorzubringen. Dieses Leben, indem es sich selbst erzeugt und durch schöpferische Handlungen hervorbringt, bindet sich zugleich an die äußere Welt mit ihren möglichen Widerständen und setzt sich dadurch eine Schranke, die es nicht überspringen kann, ohne sich selber aufzuheben. Es ist und bleibt demnach ein Leben, das, auch in seiner höchsten Blüte, von Umgebungsbestandteilen abhängig bleibt, gegen die es machtlos ist, ein Leben unter äußeren Hemmungen, die, weil Handlung der Puls dieses Lebens ist, zugleich als innere gefühlt werden müssen. Das ist kein wahrhaft seliges Leben Dies scheint mir der allgemeine, durch den Zusammenhang des Ganzen geforderte Sinn der kritischen Betrachtung zu sein, durch welche Fichte die erweisbaren Grenzen dieses von ihm selbst so hoch geschätzten und vielleicht gerade darum nicht so objektiv geschauten Standpunktes zu bestimmen sucht. Vgl. namentlich die neunte Vorlesung und hier vor allem S. 149, wo es heißt: Solange die Freude an dem Tun sich noch mit dem Begehren des äußeren Produkts seines Tuns vermischt – und das ist, wie vorher gezeigt worden, die Regel, vielmehr die Basis dieses Standpunktes, mindestens seine restringierende Bedingung –, so lange ist selbst der höher moralische Mensch in sich selber noch nicht vollkommen im reinen und klaren. – Vgl. S. 153 f., wo es ebenfalls heißt, daß das Unvermögen, sein eigentliches inneres Sein von dem äußeren Erfolge des Handelns rein abzutrennen, die eigentliche Schwäche des durch höhere Moralität gesetzten seligen Lebens sei..

Also ist weder der formale Wille, noch der Wille der schöpferischen Tat die erzeugende Kraft des seligen Lebens, sondern – das Göttliche über uns. Das selige Leben entsteht allein durch das unverhoffte, nie zu erzwingende Hereinbrechen des Göttlich-Lebendigen in die menschliche Seelenenge. Mit andern Worten, wir machen es nicht: es wird in uns, und zwar wird es dadurch, daß uns das Göttliche – begegnet. Das einzige, was wir dazu tun können, ist dies, daß wir auf sein Kommen gerüstet, und, wenn es erscheint, auch ernsthaft bereit sind, es willig und würdig zu empfangen. Das heißt, wir müssen die Sehnsucht bewahrt haben, die Sehnsucht nach dem ewigen Gut, die das edelste Erbteil der Seele ist, und die doch so oft durch vergängliche Güter zerstreut, zerfasert, zerstückelt wird.

Die Anweisung zum wahrhaft seligen Leben läßt sich daher in eine einzige Bemerkung zusammenfassen. Sie lautet: Sei willig, wenn das Göttliche kommt, stoße es nicht in Dumpfheit zurück! Es heißt nicht: Erschaffe dir das Ewige, sondern: laß es zu dir herein! »Der Mensch soll nur das Hinfällige und Nichtige, mit welchem das wahrhaftige Leben nimmer sich zu vereinigen vermag, fahren lassen: worauf sogleich das Ewige mit aller seiner Seligkeit zu ihm kommen wird« (S. 13).

Hier schließt sich ein zweiter Gedankengang an, der eine ganz andere Basis hat und schwere Verwicklungen nach sich zieht. Es ist das Gebot der Selbstvernichtung. »Solange«, heißt es an anderer Stelle, »der Mensch noch irgend etwas selbst zu sein begehrt, kommt Gott nicht zu ihm; denn kein Mensch kann Gott werden. Sobald er sich aber rein, ganz und bis in die Wurzel vernichtet, bleibet allein Gott übrig und ist alles in allem. Der Mensch kann sich keinen Gott erzeugen; aber sich selbst, als die eigentliche Negation, kann er vernichten, und sodann versinkt er in Gott« (S. 136).

Die objektive Quelle des seligen Lebens ist hier, wie oben, die Überhöhung durch Gott. Aber die subjektive Mitbedingung ist eine gänzlich andere geworden. Nicht Konzentration, sondern Negation. »Die Selbstvernichtung ist der Eintritt in das höhere Leben« (S. 136). Man könnte versucht sein, hier Brücken zu schlagen und anzunehmen, daß es vielleicht nur das schlechte Ich, der in Selbstsucht und Eigensinn verlorene Wille ist, dessen Abtötung hier gefordert wird. Der vermittelnde Gedanke wäre dann der, daß jede Sammlung in gewissem Sinne eine Art von Vernichtung ist, nämlich Ausscheidung der zerstreuenden Elemente.

Der klare Wortlaut des Fichteschen Textes macht diese Deutung leider unmöglich. Was hier vernichtet werden soll, ist das Ich überhaupt, auch das gute, gottbegabte Ich.

Das Selbstsein ist unter jeder Form, auch unter der der Abhängigkeit von Gott, eine Schranke des wahrhaft seligen Lebens »Alles eigene Sein ist nur Nichtsein und Beschränkung des wahren Seins« (S. 142).. Dies wird besonders daran klar, daß Fichte den Standpunkt der höheren Moralität, der gar keine Eigensucht mehr kennt, und dem er selber so nahe steht, vor allem auch deshalb verlassen hat, weil das Ich auf ihm noch sich selbst empfindet, während nach seiner letzten Überzeugung die wahrhaft vollkommene Gottesliebe mit der Selbstliebe auch das Selbstsein bis auf die letzte Wurzel vertilgt, vertilgen muß, um wahr zu sein (vgl. S. 137). Die absolute Selbstvernichtung wird so zur Pforte des seligen Lebens (S. 168). »Wer noch ein Selbst hat, an dem ist sicher gar nichts Gutes« (S. 189). Den einfachen Gedanken des Christentums, Selbstsein in der Kraft des lebendigen Gottes, hat Fichte nicht zu denken vermocht; oder vielmehr er hat ihn gedacht und wieder und wieder mit der Fackel seines durch und durch sittlich geformten Geistes zur hellen, leuchtenden Flamme entzündet: aber er hat nicht die Kraft gehabt, ihn bis ans Ende festzuhalten. Zuletzt erlischt die Flamme der Ethik im luftleeren Raum einer Spekulation, die nur noch das rein Metaphysische erträgt und in kalter Gedankenblässe vollendet.

Beides, die positiv schöpferische Kraft des Göttlichen über uns, das in uns hineintritt, und der negative Koeffizient der Sinnendurst- und Selbstvernichtung, bestimmt die Grundform des seligen Lebens. In seiner innersten Wurzel erfaßt, ist das wahrhaft selige Leben zunächst nicht Handeln, sondern Haben und Sein. Ruhen und Beharren, wie Fichte sagt. »Ruhen und Beharren in dem Einen«, das alles für uns geworden ist (S. 14). »Lediglich betrachtend und beschauend, keineswegs an sich tätig und praktisch« (S. 83 f.). Kontemplation, nicht Aktivität. Reines Gefühl des Durchdrungenseins. Höchstes Bewußtsein der Sättigung. Welthoch über jener stumpfen, apathischen Seligkeit, mit der der Stoiker sich begnügt (S. 148). Seelenfülle, nicht Seelentod.

Seliges Leben ist das In-uns-Sein und In-uns-Walten des Göttlich-Lebendigen über uns. Die Merkmale des Göttlich-Lebendigen sind folglich der Schlüssel zur Innenform des seligen Lebens. Dieses Leben ist ein Leben im Geist, genauer ein Leben im Geistig-Reinen, wie die Quelle, aus der es entspringt, der Äther des reinen Geistes ist. Denn nur dort ist das wahrhaft Göttliche zu finden; wer es im Naturhaften sucht, verliert seine Spur und verwischt seinen Glanz und bildet es frevelhaft ins Dämonische zurück. Er lehrt einen unklaren Mystizismus, dem jede Kraft und Wahrheit fehlt (S. 30 f.).

Das Göttliche ist das Geistig-Reine, und weil es das Geistig-Reine ist, so ist es das Einfach-Unwandelbar-Ewige. Darum ist auch das selige Leben in seinem Kern und Grundgefüge »einfach, unveränderlich, ewig sich gleichbleibend« (S. 6). Es ist »in jedem Augenblicke ganz«; daher »weder eines Abbruches, noch eines Zuwachses fähig« (S. 7). »Einmal ergriffen, kann es nie wieder verloren werden. Der wahrhaftig Lebende hat es ergriffen, und besitzt es nun immerfort, in jedem Momente seines Daseins ganz und ungeteilt, in aller seiner Fülle, und ist darum selig in der Vereinigung mit dem Geliebten; unerschütterlich fest überzeugt, daß er es in aller Ewigkeit also genießen werde, und dadurch gesichert gegen allen Zweifel, Besorgnis oder Furcht« (S. 8). Das selige Leben ist ewiges Leben in der Zeit, nicht nach der Zeit, oder dieses höchstens, weil jenes ist (S. 10).

Vor allem: das selige Leben ist wahr. Wahr wie die Kraft, die es trägt und erhält. Es ist das strafende Gegenbild alles halben und unwahren Wesens. Sein im eigentlichsten Sinne, das Widerspiel zu allem Schein. Höchste Konzentration der Kräfte im Gegensatz zu jener hoffnungslosen Zerflossenheit, die weder ernsthaft liebt noch haßt, wo der Geist, wie Baal, über Feld gegangen ist oder dichtet oder schläft, und alles, nur nicht bereit und gesammelt ist (vgl. die 7. Vorlesung).

Auf der andern Seite ist das selige Leben bestimmt durch die gänzliche Abwesenheit aller und jeder Selbstempfindung; denn es ist nicht nur ein In-uns-sein Gottes, sondern ein In-Gott-sein unserer selbst, und es muß dann »der Strenge nach« (S. 136) heißen, daß, wo diese Stufe wirklich erreicht ist, jedes Eigenbewußtsein schwindet und nur noch das Gottbewußtsein gilt, ja auch dieses nicht mehr im eigentlichen Sinne, da zum Bewußtsein ja immer ein für sich bestehendes Subjekt gehört, dieses Subjekt aber hier aufgehoben ist. Das selige Leben im Leuchtpunkt der Liebe, wo Gott und Mensch vollkommen eins sind, ist überhaupt nicht, geschweige denn als Empfindung zu denken. Unter der Form der Selbstempfindung ist die Gottumklammerung des Menschen schon nicht mehr reine Gottesliebe; denn die reine Gottesliebe des Menschen ist in Wahrheit – die Liebe Gottes zu sich selbst (S. 161; vgl. S. 136). Das selige Leben ist von dieser Seite her der nicht weiter zu beschreibende Zustand der Gott-Ichheit, wobei das Göttliche voransteht und das Ich sich mit ihm vermischt, wie der Tropfen mit dem Ozean: indem er lautlos in ihm verschwindet.

Ist Fichte mit diesen starken Sätzen ein Vorläufer der Philosophie des Unbewußten geworden? Gewiß nicht; ein Philosoph, der, wie er, das Göttliche nur als reinen Geist in funkelnder Klarheit anerkennt, ist kein Prophet des Unbewußten. Aber vielleicht in Bezug auf die religiöse Bestimmung des Menschen? Auch dies wäre eine sehr einseitige, im tiefsten Grunde verfehlte Ansicht. Derselbe Fichte spricht an anderen Stellen mit derselben starken Betonung von dem an die Eigenform des Subjekts gebundenen, durch keine andere Form zu ersetzenden Leuchten Gottes in der Seele als der Höhe des wahrhaft seligen Lebens (S. 154 f.). Was er mit jenen bedenklichen Sätzen hat sagen wollen, scheint dieses zu sein: es gibt in der Religion Momente, wo das Gefühl der Gottergriffenheit so stark, so übermächtig wird, daß alles Selbstgefühl verschwindet. Gewiß; aber doch immer nur das Selbstgefühl als Inhalt, nicht als Form des Erlebens überhaupt. Indem Fichte diese notwendige Unterscheidung übersieht, gewinnt er jenen zweiten Begriff von seligem Leben, der äußerlich einer Apotheose der Bewußtlosigkeit sehr nahe kommt.

Das selige Leben, so hören wir weiter, bleibt nicht bei sich selbst. Es tritt aus der Innenform heraus; die ruhende Kraft will wirksam werden und sich in Taten und Handlungen ergießen. Diese Taten und Handlungen, dazu die Haltung im Verkehr mit den weltlichen Dingen, fassen sich zu einem neuen Bilde zusammen. Es ist die äußere Gestalt des seligen Lebens.

Aber kann denn das selige Leben es überhaupt zu einer äußeren Gestaltung bringen? Muß es nicht folgerichtig im Gestaltlosen enden, wenn die Aufhebung der Ichform in jedem Sinne ein Stück seines innersten Bestandes ist? An dieser Frage scheitert die Einheit der großen Fichteschen Konzeption, wenigstens die logisch-formale Einheit. Hier rächt sich die verhängnisvolle Duplizität seines Ansatzes, die durch die Beschreibung der Innenform durchgeht. Man kann nicht beides gleichzeitig fordern, die absolute Sammlung und die absolute Selbstzerstörung. Man kann nicht beides gleichzeitig sein, ein Ich und zugleich ein Nicht-Ich in Gott. Die psychologische Wurzel dieses merkwürdigen Zwiespaltes ist klar. Sie liegt in dem Kreuzungspunkt der beiden möglichen Betrachtungsweisen des Absoluten, der ethischen und der metaphysischen. Wird das Göttliche grundlegend als die Kraft des heilig Reinen und Guten gedacht, so genügt der ernste Wille zur Sammlung, um ihm den Weg in die Seele zu bahnen. Dann ist die Einheit Gesinnungseinheit, und das in Gott gefaßte Ich nicht getötete, sondern wiedergeborene, von der Last des Eigenwillens befreite Gelöstheit. Wie Fichte selbst es so eindrucksvoll am Ende der achten Vorlesung geschildert hat.

Oder das Göttliche wird grundlegend metaphysisch gedeutet, als reines, schrankenloses Sein. Dann ist alles Selbstsein, auch das begnadete, Hemmung, Schranke, Widerstand. Dann muß auch das Ich in dem Maße verschwinden, wie sich das Göttliche in ihm entfaltet, und endlich muß es ganz erlöschen, wenn nämlich Gott alles in ihm ist.

Es ist klar, daß von diesem Punkte aus kein Übergang zum Handeln gefunden werden kann. Es ist aber eben so klar, daß Fichte auf die Tat nicht verzichten will. Ausdrücklich nennt er die Tatenstille das Grundgebrechen des Mystizismus, von dem er seine reine Mystik wohl unterschieden wissen will. »Die wahrhafte Religion, ohnerachtet sie das Auge des von ihr Ergriffenen zu ihrer Sphäre erhebt, hält dennoch sein Leben in dem Gebiete des Handelns, und des echt moralischen Handelns fest.« Unser »Bewußtsein von der Vereinigung mit Gott« ist »täuschend und nichtig«, wenn es sich nicht in Taten ausspricht (S. 84). Das wahrhaft selige Leben sieht wohl über die Tat hinaus; aber es dispensiert sich nicht von ihr, weil es sich nicht dispensieren darf.

Dasselbe Dilemma macht sich geltend in der Behandlung der Freiheitsfrage. Wenn Gott im metaphysischen Sinne des Wortes alles ist, so bricht die menschliche Freiheit zusammen. Dann gibt es keinen Willen mehr, der selbständig unter Gottes Willen stünde, sondern ein solcher Wille unter Gott wäre in Wahrheit vielmehr ein Wille neben und außer Gott. Was wir Willenshandlungen nennen, sind dann nicht mehr in eigener Kraft vollzogene Handlungen des göttlichen Willens, sondern nur noch Reflexbewegungen, die »notwendige und unveränderliche äußere Erscheinung des in unserm Innern sich vollziehenden göttlichen Werks« (S. 141). In der Tat hat Fichte in diesem Zusammenhange den Freiheitsbegriff – nicht aufgegeben, aber so künstlich und leblos konstruiert, daß die Stätte, die ihm bereitet wird, in Wahrheit das Grab ist, in dem er versinkt. Freiheit nämlich soll es nach dieser Betrachtung nur bis zu dem Punkte geben, wo der Mensch sich aus seiner natürlichen Verfassung zur religiösen hindurchgekämpft hat. Ist er so weit, so hat er »sein Vermögen erschöpft, und das Maß seiner Freiheit verbraucht, es ist ihm in der Wurzel seines Daseins keine Freiheit mehr übrig« (S. 131). Mit anderen Worten: das »innige Selbstbewußtsein der Freiheit« ist wahr und wirklich als der heilsame, zur Religion forttreibende Stachel des Willens; aber auf der Höhe des seligen Lebens »fällt dieses Bewußtsein, das nun allerdings trügen würde, hinweg«, es ist ein überwundener – Schein (S. 131). Schelling wird recht haben, wenn er behauptet, daß Fichte diese, dem ethischen Grundcharakter seiner Metaphysik allerdings durchaus nicht entsprechende Freiheitstheorie von ihm bezogen habe (Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre. W W I 7 S. 82 f.).

Ein Wille, dessen Freiheit durch die Kraft und das Maß seiner Abhängigkeit von Gott bestimmt wird, existiert für diese Betrachtung nicht. Und doch hat Fichte an anderer Stelle gerade diesen wichtigen Gedanken unübertrefflich klar gestellt. Der Grund der Selbständigkeit und Freiheit liegt freilich in Gott; aber »ebendarum und deswegen, weil er in Gott liegt, ist die Selbständigkeit und Freiheit wahrhaftig da, und keineswegs ein leerer Schein« (S. 63). Hier haben wir einen Freiheitsbegriff, der bis in das Herz des seligen Lebens hineinragt und in demselben nicht etwa erstirbt, sondern gerade umgekehrt zu höchstem Dasein erweckt wird. Es ist die unvergleichliche Freiheit der absoluten, durch keine Gegenwirkung gehemmten Gottbestimmtheit des reinen Willens.

Welcher Auffassung sollen wir folgen? Der Weg, den wir zu gehen haben, ist nicht in unser Belieben gestellt, er ist uns von Fichte selbst vorgezeichnet. Wollen wir ihm bis ans Ende folgen, so müssen wir den zweiten gehen, der durch die ethischen Marksteine bestimmt ist; denn er allein führt auf die Höhe, wo das selige Leben auch äußere Form und Gestalt gewinnt und sich in einer Erscheinung darbietet, die es befähigt, die Probe von der Welt zu bestehen.

Die Existenz der anderen, metaphysischen Gedankenreihe soll dadurch nicht nachträglich aufgehoben werden. Sie ist vorhanden und durchgeführt und durch keine Auslegungskunst zu beseitigen. Sie durchkreuzt die ethische Linienführung und läßt sich nicht reinlich mit ihr verbinden. Die Basis, auf der sie sich erhebt, ist die unausgesprochene Gleichung von Selbst sucht und Selbst heit, an der man sich den Ursprung aller ferneren Verwicklungen, die Störung der ethischen Grundkonzeption durch das metaphysische Bedürfnis, vielleicht am besten veranschaulichen kann. In einer rein ethischen Betrachtung bleibt das Subjekt der unveräußerliche Exponent aller höchsten Lebensinhalte, mit Einschluß der Selbstvergessenheit, da das Subjekt die Bedingung ist, unter der diese Inhalte allein bewußte Inhalte bleiben, und Selbstvergessenheit im sittlichen Sinne nur als Begleiterscheinung des absoluten Ergriffenseins von etwas überwältigend Großem und Gutem, das die Seele vollständig ausfüllt, also im höchsten Grade bewußt wird, gedacht werden kann. Die Metaphysik erklärt dagegen: das Subjekt kann nie Träger des Absoluten werden; denn es ist das Endliche, und das Endliche kann nie Organ des Unendlichen werden, da es ja seine Schranke, im strengsten Sinne sogar der hartnäckige Kontrapunkt des Unendlichen ist.

Also die Differenz bleibt bestehen. Aber wenn wir weiter fragen, welcher von beiden Gedankenreihen in der verschlungenen Thematik des Werkes die letzte, entscheidende Geltung zukommt, so kann die Antwort nur lauten: der ethischen. Genauer der ethischen in jener religiös-metaphysischen Grundierung, die der ganzen »Anweisung« eigentümlich ist und ihre Kraft und Stärke ausmacht: es ist der Johanneische Gedanke des Selbstseins als eines Aus-Gott-Geborenseins.

Von hier aus allein verstehen wir die von Fichte so herrlich geschilderte Selbstbezeugung des seligen Lebens in der Welt. Es ist wahr, das selige Leben der Religion, zu dem uns Fichte erheben will, bleibt in allen Gestalten ein Sein; aber, wie es aus sich heraustritt, ist es ein taterzeugendes Sein. Der Kräftelauf ist hier umgekehrt, wie auf der vorangehenden Stufe der Moralität. Dort ist das Gefühl des seligen Lebens das Gefühl der seinerzeugenden Tat, hier das Gefühl des taterzeugenden Seins. Die Handlung folgt aus dem vorgewirkten Zustand, nicht der Zustand als Wirkung aus dem schöpferischen Handeln. Dies ist zugleich der kritische Punkt, an welchem Fichte umgelernt hat und über die religionsphilosophischen Positionen des Atheismusstreites am sichtbarsten hinausgegangen ist. Nicht hinweg-, aber hinausgegangen. Das Handeln, das damals alles war, ist jetzt »gar nichts an und für sich selbst, und es hat kein eigenes Prinzip; sondern es entfließt still und ruhig der Liebe, so wie das Licht der Sonne zu entfließen scheint, und so, wie der innern Liebe Gottes zu sich selbst die Welt entfließt« (S. 166).

Und doch, wie mutig ist dieses Handeln! Es sieht das Göttliche nur in dem, was der ihm Ergebene und von ihm Begeisterte tut (S. 82). Aus dieser Gottbegeisterung erwächst eine Kraft und Freudigkeit des Handelns, von der ein Doppeltes auszusagen ist. Einmal, daß sie jede, auch die geringste und bescheidenste Arbeit durch ihre Schwungkraft belebt und durch ihren Glanz verklärt, so daß sich an den gewöhnlichsten Verrichtungen festliche Gefühle entzünden können. Der Gedanke, an Gottes Stelle zu stehen und für Gottes Werk zu wirken, heiligt die Sache, der wir dienen, und wenn es die kleinste Sache wäre (S. 85).

Das andere ist die innere Belebung, die sich durch keine Erfolglosigkeit im Äußeren beugen oder brechen läßt. Für dieses Handeln gibt es keine Enttäuschungen, kein Verdrossensein, kein Verzagen. Man erkennt es daran, daß es nie und unter keiner Bedingung aufhört, Menschenliebe zu üben und an der Veredlung der Menschheit fortzuarbeiten (S. 170). Freilich manchmal mit Indignation, mit einer heiligen Entrüstung über das unwürdige und ehrlose Dasein eines in Dumpfheit erstickten Geschlechtes; aber nie mit Resignation, nie mit Verbitterung und mechanischem Mut, sondern mit dem freudigen Trotz eines unbeugsamen Zukunftsglaubens (S. 169).

Diesem Handeln entspricht die Haltung des seligen Lebens im Verkehr mit den äußeren Dingen. Der wahre Zeuge dieses Lebens ist von einer intuitiven Sicherheit in dem, was zu tun, was zu lassen sei, für die es keine Vergleichung gibt. Er ist »der Möglichkeit des Zweifels und der Ungewißheit auf ewig entnommen. In jedem Augenblick weiß er bestimmt, was er will und wollen soll; denn ihm strömt die innerste Wurzel seines Lebens, sein Wille unverkennbar ewig fort unmittelbar aus der Gottheit: ihr Wink ist untrüglich, und für das, was ihr Wink sei, hat er einen untrüglichen Blick« (S. 172).

So steht er fest, hinausgehoben über die beiden großen Unruhen jedes andern Lebens, die Furcht vor der Zukunft und die Reue über das Vergangene. Beide sind ihm gleich unbekannt. Für ihn ist nur das lebendige Gefühl einer vollständig erfüllten Gegenwart und das Hochbewußtsein eines Zustandes, der alles hat und nichts vermißt und immer und ewig die ganze Fülle dessen besitzt, was er überhaupt zu fassen vermag (S. 172).

Das sind die Grundzüge des seligen Lebens. Wir fassen zusammen. Es ist seinem Ursprunge nach ein gotterzeugtes, seiner Innenform nach ein gottdurchleuchtetes, seiner äußeren Erscheinung nach ein gottausstrahlendes Leben. Die Seligkeit dieses seligen Lebens wird noch deutlicher werden, wenn wir sie mit den übrigen Seligkeitsformen vergleichen. Es sind ihrer drei: die Seligkeit des Eudämonismus, die Seligkeit des Stoizismus und die Seligkeit des höheren Moralismus. Von der eudämonistischen Seligkeit unterscheidet sich die Seligkeit des seligen Lebens zunächst durch ihr Objekt. Das Objekt des Eudämonismus ist das rohe Sinnenglück; das Objekt des seligen Lebens ist die über allen Sinnenreiz erhabene Geisternahrung der göttlichen Lebensfülle. Sodann durch die sittliche Grundforderung, die der Eudämonismus nicht kennt. Die Glückseligkeit, welche der sinnliche Mensch sucht, ist von der Gottesseligkeit des seligen Lebens durch die Kluft der Unterwerfung unter ein heiliges Gesetz, vor dem jede Neigung verstummen muß, unvereinbar abgetrennt (S. 121).

Von der stoischen Seligkeit unterscheidet sich die des seligen Lebens durch die Eigenart ihres Ursprunges und die Kraft ihres Inhaltes. Durch die Eigenheit ihres Ursprunges, insofern sie nicht selbsterzeugt, sondern durch Gott erworben ist Fichte macht mit Recht darauf aufmerksam, daß der Stoizismus mit seinem herkulischen Ichbegriff verdeckter Atheismus ist. Er kommt »nur durch Inkonsequenz zur Annahme eines Gottes« (S. 120). Genau genommen müßte er sagen: Du selbst bist dir dein Gott, dein Heiland und dein Erlöser (S. 119). – Die ethisch-religiöse Kritik des Stoizismus, die Fichte in der siebenten Vorlesung geliefert hat, ist die erste durchgreifende moderne Kritik dieses so schwer zu widerlegenden Standpunktes. Und sie ist um so lehrreicher, als Fichte selbst durch diesen Standpunkt hindurchgegangen ist und z. B. die Sittenlehre von 1798 von diesem Standpunkte aus verfaßt hat. Vgl. das Bekenntnis S. 77: Auch wir für unsere Person haben diese Weltansicht ... als den eine Rechtslehre und eine Sittenlehre begründenden Standpunkt in unserer Bearbeitung dieser beiden Disziplinen angegeben, durchgeführt, und, wie wir uns bewußt sind, nicht ohne Energie ausgesprochen. – Die Fichtesche Kritik ist also gleichsam gestählt dadurch, daß ihr Verfasser als gründlicher Sachkenner urteilt.
Der nächste energische Kritiker des Stoizismus unter Denkern von Namen und Ruf ist Schopenhauer gewesen. Seine Bemerkungen über die stoische »Theorie des Gleichmuts und der Unabhängigkeit« im 16. Kapitel des zweiten Bandes der »Welt als Wille und Vorstellung« sind eine lehrreiche Ergänzung der Fichteschen Kritik, wie sie ihrerseits durch Fichtes Gedanken bedeutsam erweitert und vertieft werden.
. Durch die Kraft ihres Inhaltes, insofern sie sich darstellt als unbegrenzte Lebens fülle, die des Stoizismus dagegen als unbegrenzte Lebens leere. Die stoische Seligkeit ist, wie das Beispiel Senecas zeigt, rein negativ; sie besteht ausschließlich in einer gewissen Passivität und Unempfindlichkeit, die man sich nach und nach erwirbt durch eine planmäßige Abstumpfung gegen die Nadelstiche des Schicksals. Die Seligkeit des seligen Lebens ist durch und durch positiv, höchste Steigerung der Seinsgefühle, überquellende Lebensflut, nicht Abstumpfung, sondern Aufgeschlossenheit (S. 172).

Von der Seligkeit des höheren Moralismus unterscheidet sich die des seligen Lebens nicht mehr durch ihren inneren Gehalt, sondern durch den Aufbau und die Folge der Kräfte und durch die Überlegenheit im Endresultat. Als Beispiel kann uns die kleine Abhandlung des jungen Leibniz De vita beata. Opp. ed. Erdmann 1840. I 71 ff. über dasselbe Thema dienen. Hier wird das selige Leben beschrieben als ein in Zufriedenheit und Beruhigung getauchtes Leben Vita beata est, animo perfecte contento ac tranquillo uti. , als sanfte Gleichgewichtslage des Gemüts ( animi tranquillitas), welche hervorgeht aus methodischem Vernunftgebrauch ( sapientia) auf der einen, aus tapferer Kraftentfaltung ( virtus) auf der andern Seite.

Fichte, für welchen Leibniz neben Kant vielleicht der einzige neuere Denker gewesen ist, von dessen Charakterphilosophie er eine wirklich hohe Meinung hatte, würde diesen Entwurf gewiß gebilligt haben. Er würde aber dagegen bemerkt haben, daß sinnvolle Geistes- und Kraftentfaltung erst möglich wird, wenn wir schon festgeworden sind, das heißt aber: durch die Werkstatt Gottes hindurchgegangen; und daß es ein Irrtum ist, zu erwarten, daß jene Funktionen uns erst festmachen werden. Und wie sich die Stabilität des wahrhaft seligen Lebens von der des höheren Moralismus durch die Eigenart ihrer Grundlegung unterscheidet, so überragt sie dieselbe im Kampf mit der Welt. Die lediglich auf sich selbst gestellte Seligkeit der höheren Moralität ist von der Gunst der Objekte abhängig, die ihr den Stoff zur Kraftübung liefern. Wo diese Gunst zur Ungunst oder zur Tücke wird, da treten die Störungen und Niederschläge auf, die dieses Leben nie ganz überwindet. Das wahrhaft selige Leben ist auch über diese Klippe hinaus, aus dem einfachen Grunde, weil Handeln in ihm immer erst das zweite, das erste dagegen ruhiges Sein oder vielmehr ein Gewordensein ist, dessen leuchtende Lebensblüte durch die Gewitterstürme des Handelns nie eigentlich getroffen werden kann. Es ist also die innere Kontinuität, die völlige Unabhängigkeit von der Gunst und Ungunst der äußeren Dinge, die die Seligkeit des seligen Lebens von der des höheren Moralismus unterscheidet und – über die Grenzen desselben hinaushebt (S. 149 und S. 171 f.).

Der Vollbesitz dieses seligen Lebens ist nun das eigentliche große Wunder der allein so zu nennenden Religion. Die Anweisung zu solch einem seligen Leben darf daher Religionslehre heißen, wie wir's im Untertitel des folgenden Werkes auch wirklich finden.

Genauer betrachtet, ist diese Religion die Religion der absoluten Innerlichkeit. Es gibt in ihr nur Selbsterlebtes. Hieraus ergibt sich ein Doppeltes. Es findet in ihr kein Glauben statt. Das Glauben ist ins Schauen verwandelt (S. 83). Der Glaube im spezifischen Sinne ist nämlich nach Fichtes Urteil nur die »vorläufige Voraussetzung«, daß etwas Geschehenes wahr sei (S. 103). Fichte tritt damit, ohne es zu wissen, auf den Standpunkt der Alexandriner zurück, die den Glauben als die Vorstufe (πϱόληψις) der vollbewußten Gotteserkenntnis und Gottesanschauung definiert haben. Vgl. Clemens Alexandrinus, strom II 4. Dieses Glaubens bedarf der religiös Vollendete nicht mehr, da er Gott anschaulich in sich hat (S. 170 f.). In Summa: nicht darin besteht die Religion, daß man glaube, es sei ein Gott, sondern darin, daß man, in seiner eigenen Person, und nicht in einer fremden, mit seinem eigenen geistigen Auge, und nicht durch ein fremdes, Gott unmittelbar anschaue und besitze (S. 20). Von dieser Überzeugung aus hat Fichte an anderer Stelle auch das Glaubensprinzip der Reformation einer scharfen Kritik unterzogen und behauptet, daß auch der reformatorische Glaube blinder Autoritätsglaube sei, nur daß er die Beugung vor Papst und Kirche mit dem eben so dumpfen Gehorsam gegen den Bibelbuchstaben vertauscht habe Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 7. Vorlesung, W W VII 101 f. – Diese Kritik der Reformation beweist nur, daß Fichte, wie viele Große, Luther und Luthertum nicht unterschieden und die herrliche Entwickelung des weltumschaffenden Glaubens in der »Freiheit eines Christenmenschen« und der Vorrede zum Römerbrief 1522 entweder nie gelesen oder völlig vergessen hat. Größeres hat auch Fichte nicht sagen können, als was Luther in der Vorrede zum Römerbrief sagt: Glaube ist ein göttliches Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott ... und bringt den heiligen Geist mit sich. O es ist ein lebendig, geschäftig, tätig, mächtiges Ding um den Glauben, daß unmöglich ist, daß er nicht ohne Unterlaß sollte Gutes wirken. Er fragt auch nicht, ob gute Werke zu tun sind, sondern ehe man fragt, hat er sie getan und ist immer im Tun ... Glaube ist eine lebendige, erwegene Zuversicht auf Gottes Gnade ... Und solche Zuversicht ... macht fröhlich, trotzig und lustig gegen Gott und alle Kreaturen ... Daher der Mensch ohne Zwang willig und lustig wird, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, allerlei zu leiden, Gott zu Liebe und Lob, der ihm solche Gnade erzeigt hat, also daß so unmöglich ist, Werk vom Glauben zu scheiden, als Brennen und Leuchten mag vom Feuer geschieden werden. – Sind das nicht Stück für Stück die Grundsteine, aus denen auch Fichte das beste Teil seines seligen Lebens aufgebaut hat?.

Der Ausschaltung des Glaubens entspricht ganz folgerichtig die Ablehnung aller historischen Offenbarung als religiöser Lebensquelle. Die ganze reiche Welt des Geschichtlichen fällt der rücksichtslosen Autonomie des idealistischen Selbsterlebens zum Opfer. Das ist die zweite große Ausschaltung der neuen Fichteschen Religion. Eine Ausschaltung von ungeheurer Tragweite, wie die weitere Entwickelung der Dinge gezeigt hat, und eine Zuspitzung der Religion, die ihrer Auflösung nahe kommt! Fichte hat selbst diesen kritischen Punkt, der die eigene Kraft und die erdrückenden Schranken der idealistischen Offenbarungsenge gleichsam in Einem Strahle sammelt, klassisch fixiert, indem er erklärt: nur das Metaphysische, keineswegs aber das Historische, macht selig; das letztere macht nur verständig (S. 98). Das Metaphysische, das heißt, das Selbsterlebte, und zwar das ausschließlich aus eigener Begnadung Selbsterlebte, im Gegensatz zu dem Historischen, in welchem Fichte günstigsten Falls den Schatten des Nacherlebten erblickt. Daß auch Nacherlebtes der Quell eines unübertragbar eigenen Lebens, daß die Anschauung fremder Kraft die große Erweckerin eigener Kräfte werden kann, daß die Bereitschaft, sein eigenes Leben an fremdem Leben zu prüfen, nicht Schwächung, sondern Kräftigung und Sicherung bedeutet, diesen einfachen Gedanken der lebendigen Religion hat Fichte nicht zu denken vermocht. Er hat ihn dem Abstraktum eines schematischen Autonomismus geopfert.

So versinken Glaube und Offenbarung im Meere des Schauens und der Erleuchtung durch das Licht des reinen Gedankens; denn der reine Gedanke ist der eigentliche Leuchter der neuen Religion, nicht etwa das Gefühl, wiewohl die Freude des seligen Lebens im Grunde durchaus Gefühlszustand, nämlich innig geliebte Klarheit ist. Das Gefühl ist eben nicht klar genug und vor allem auch zu schwankend und unbeständig, um diese Liebe herbeizuführen (S. 12). Das vermag allein der reine Gedanke, das heißt, die absolute Idee, die ihrem Objekt in drei entscheidenden und grundlegenden Punkten gleichgeartet und wahlverwandt ist: sie ist so klar, so unantastbar, so unveränderlich, wie das selige Leben selbst Die Klarheit und Unveränderlichkeit hat Fichte in der Gefühlskritik S. 12, das dritte Moment der Unantastbarkeit in der Auseinandersetzung mit der Philosophie des Meinens und der verschiedenen Möglichkeiten in der dritten Vorlesung scharf betont. »Nur die sich selbst durchaus durchsichtige ... Flamme der klaren Erkenntnis verbürgt ... ihre unveränderliche Fortdauer« (S. 12.) »Das wirkliche Denken ... sinnt sich nicht aus, sondern ihm kommt von selber ... das allein Mögliche, Wirkliche und Notwendige ... Es führt seine Bestätigung unmittelbar in sich selber ..., mit unerschütterlicher, schlechthin alle Möglichkeit des Zweifels vernichtender Gewißheit und Evidenz die Seele ergreifend« (S. 43). – Der Erbfehler jeder anderen Grundlegung, z. B. durch phantasiemäßige Erfassung, liegt darin, daß es bei diesem Verfahren immer »mehrere Möglichkeiten« gibt (S. 42)..

Aus diesem dreifachen Grunde ist der reine Gedanke, und nur er, das Element, der Äther, die substantielle Form des seligen Lebens (S. 10 f.). Der reine Gedanke, das absolute Bewußtsein, die Idee, im Gegensatz zum Begriff oder zur Reflexion. Diese notwendige Unterscheidung ist von der größten Wichtigkeit und der einzige Schlüssel zum Verständnis einer sonst rätselhaften Unpünktlichkeit im Ausdruck. Wie könnte ein Denker von Fichtes Schärfe sonst einmal behaupten, daß zwischen dem Absoluten oder Gott, und dem Wissen in seiner tiefsten Lebenswurzel gar keine Trennung, sondern vollkommene Identität bestehe (S. 49 f.), daß in den Ideen Gott selbst heraustrete, wie er an sich oder innerlich sei (S. 145), das andere Mal dagegen, daß Bewußtsein, Begriff und Reflexion keineswegs reine Farben leiter, sondern Farben brecher seien, daß sie das göttliche Leben, unwiederbringlich in eine »stehende Welt« verwandeln, also doch wohl in sein Gegenbild! S. 65. – Dazu die Vergleichung des Bewußtseins mit dem Prisma S. 66 und die Bemerkungen über die gestaltend-umgestaltende Funktion des Begriffs S. 161 f.

Die einzig mögliche Lösung des Rätsels liegt in der pünktlichen Unterscheidung des reinen oder absoluten und des empirisch-psychologischen Geistes, wobei noch dies zu bemerken ist, daß beide Geistformen für Fichtes Spekulation eine überindividuelle Bedeutung haben, daß sie sich nicht wie objektiver und subjektiver Geist, sondern wie zwei übereinander gelagerte Schichten des objektiven Geistes zu einander verhalten Das ergibt sich aus der Behauptung, daß die allgemeinen Schöpfungen des Reflexionsbewußtseins – nicht die besonderen; die fallen der konkreten Erfahrung anheim – sich aus dem Begriffe desselben a priori ableiten lassen, und daß eine systematische Philosophie dies absolut erschöpfend und vollständig zu tun habe (S. 67).. Fichte hat diese Lösung gelegentlich selbst angedeutet. So, wenn er vom »absoluten Bewußtsein« spricht (S. 65), als dem »reinen Denken« (S. 57), das nie mit dem » wirklichen unmittelbaren Bewußtsein« zusammenfällt, sondern sich über dasselbe erhebt« (S. 66). Dieses Bekenntnis ist entscheidend. Es liegt darin das Zugeständnis, daß das Bewußtsein des reinen Gedankens, des Wissens oder der Idee, kein unmittelbar wirkliches Bewußtsein ist, sondern ein – unwirkliches, würde der Skeptiker sagen: ein überwirkliches, würde Fichte darauf erwidert haben.

Es ist der erste Fehler Fichtes, daß er diese grundlegende Erörterung des Unterschiedes von Idee und Begriff, Wissen und Bewußtsein oder Reflexion, nicht klar an den Anfang des Ganzen gestellt, sondern so versteckt hat, daß man sie mühsam zusammensuchen und gleichsam erst rekonstruieren muß, anstatt sie fertig vorzufinden.

Damit hängt ein zweiter Fehler zusammen, nämlich der, daß Fichte, infolge jener Unterlassung, an wichtigen Stellen von »Wissen« spricht, wo es »Bewußtsein« heißen müßte, und umgekehrt von »Bewußtsein«, wo nur an das »Wissen« gedacht sein kann Zwei Beispiele aus der vierten Vorlesung, zur Orientierung des aufmerksamen Lesers. S. 62 heißt es: Das Wissen, als ein Unterscheiden, ist ein Charakterisieren des Unterschiedenen. – Nein, nicht das Wissen; denn es soll ja mit dem Absoluten identisch sein: sondern, wie kurz zuvor richtig gesagt ist, das Bewußtsein. – Umgekehrt heißt es S. 65: Das Bewußtsein ... ist das göttliche Dasein selbst, und schlechthin eins mit ihm. – Nein, nicht das Bewußtsein, von dem es noch auf derselben Seite richtig heißt, daß es das göttliche Leben verwandelt, und zwar unwiederbringlich verwandelt, sondern das Wissen.. Das »Wissen« ist ja der Grund des Bewußtseins, oder, mit Fichte selbst zu sprechen, das »verborgene und dem Begriffe unzugängliche Sein des Bewußtseins« (S. 65), der »eigentliche Grundpunkt des geistigen Lebens« (S. 50). Also kann es zwar Bewußtsein werden; aber es kann nie an sich Bewußtsein sein; sondern es bleibt die transszendente Bewußtseinswurzel.

Indem nun Fichte diese transszendente Bewußtseinswurzel im Feuer der Darstellung wieder und wieder als etwas anschaulich Gegebenes beschreibt, indem er das Überwirkliche so darstellt, als ob es in begünstigten Erdenwesen, im Künstler und vor allem im Denker, absolut verwirklicht wäre, begeht er einen dritten Fehler, der auf die Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch verhängnisvoll zurückgewirkt hat. Fichte hat beides neben einander behauptet, die absolute Identität und die nie aufzuhebende Verschiedenheit; und zwar, worin der eigentliche Fehler steckt, in anscheinend einem und demselben Sinne. Er hat gesagt: Wir selbst sind Gottes Dasein und Leben (S. 65 und 81); Gott ist, was der ihm Ergebene und von ihm Begeisterte tut (S. 82 und 144). In die Individuen ist das ganze göttliche Sein zu unendlicher Fortentwicklung ausgeteilt (S. 150). Der Mensch, der reine Liebe geworden ist, ist, wie Gott selbst und bleibt Gott selbst (S. 165). – Und er hat andrerseits gesagt: der Mensch ist nichts Reales für sich (S. 71), und selbst im gottbeseelten Handeln bleibt er lediglich Schattenbild, eine » Erscheinung der Einen Liebe«; keineswegs ist er »die Sache selbst« (S. 167). Ja, selbst im Zustande der Lebenseinheit, des Zusammenfallens, wie Fichte sagt, wird Gott »nicht unser eigenstes Sein selber, sondern er schwebt uns nur vor als ein Fremdes und außer uns Befindliches, an das wir lediglich uns hingeben und anschmiegen in inniger Liebe« (S. 70).

Wo liegt die Wahrheit? Auf beiden Seiten. Aber wo ist der Übergang? Er liegt in der abermals versteckten Unterscheidung von Urwesen und Erscheinungswesen, oder, wie wir mit Kant sagen können, von intelligiblem und empirischem Charakter. Es ist die unsichtbar-schöpferische Idee und der anschaulich-beschränkte Begriff des Menschen, auf deren pünktlicher Unterscheidung die Lösung beruht und die doch in Fichtes lebhafter Darstellung immer wieder in eins verfließen. Den richtigen Hebel hat er selbst angesetzt, wenn er erklärt, daß wir in der innersten Wurzel unsers Daseins, nämlich im Element des reinen Gedankens, mit Gott zusammenhängen, ja das göttliche Dasein selber sind, daß wir aber, sofern wir zugleich mit Notwendigkeit reflektierend sind, nicht aufhören von Gott verschieden zu sein S. 55 – Die charakteristische Bezeichnung des reinen Denkens als unserer innersten Lebenswurzel ist ein sicheres Zeichen dafür, daß Fichte hier und überall sein eigenes spekulatives Lebensgefühl kanonisiert hat, und eigentlich nur hat sagen wollen: das Element, auf das es mir ankommt, ist die tiefste Tiefe des erleuchteten Geistes. So erklärt sich auch die sonst unverständliche Behauptung, daß der reine »Gedanke« der neuen Religion mit dem »Glauben« des Christentums identisch sei (S. 13). Der gemeinsame Charakter des Urphänomens ist das zusammenschließende Band..

Die Idee verhält sich zum Begriff, wie das Urbild zum Abbild, oder wie das Gestaltlos-Übersinnliche zu seiner versinnlichten Gestalt. Die Idee ist der absolute Begriff, der Begriff ist die reflektierte Idee.

Unter der Form des absoluten Begriffs ist der Gedanke das Element des seligen Lebens. Hat man sich dieses klar gemacht, so ist es kein Widerspruch, sondern eine kraftvolle Steigerung, wenn in der zehnten Vorlesung die Liebe an seiner Stelle erscheint; denn die reine Liebe ist nicht das Widerspiel der Idee, sondern das affektvolle Selbstbewußtsein, die affektvolle Selbstbejahung des reinen Gedankens »Liebe ist der Affekt des Seins«, wird also durch die Seinshöhe bestimmt (S. 113). Ist diese die Höhe des reinen Gedankens, so ist Liebe der Affekt des reinen Gedankens, der amor intellectualis Dei Spinozas.. Es ist auch, entgegen dem ersten Anschein, kein Widerspruch, wenn es von dieser Liebe heißt, daß sie »höher ist denn alle Vernunft« (S. 163); denn das ist der reine Gedanke auch: für die wirklich nachweisbare Vernunft ist und bleibt er transzendent.

Und nun verstehen wir auch, was es bedeutet, wenn Fichte an diesem Höhepunkte den Begriff als Deuter der Liebe einführt, als Deuter und als – Farbenbrecher (S. 161 f.). Dieser »Begriff« ist nicht die Idee, der reine Gedanke, von dem wir eben gesprochen haben, sondern das empirische und darum notwendig beschränkte und getrübte Selbstbewußtsein der absoluten Idee und ihres Selbstbewußtseins, der Liebe. In Summa: Der reine Gedanke und die ihm zugeordnete reine Liebe sind metaphysische Bewußtseinszustände, deren Bewegungen, seelisch betrachtet, »leer« sind, und daher erst im Begriff reflektiert werden müssen, um für die Seele – nicht für den Geist, der überseelischen Wesens ist – faßbar und gegenständlich zu werden (S. 161 f.). Das ist der pünktlich gefaßte Zusammenhang von Gedanke (Wissen), Begriff (Bewußtsein) und Liebe. Der Gedanke ist das Substrat der Liebe, die Liebe das Selbstgefühl des reinen Gedankens, und der Begriff die seelische Deutung der zur Liebe erhöhten Idee.

Jetzt erst dürfen wir es wagen, den letzten, schwierigsten Schritt zu tun und die Rätselsprache zu deuten, in welcher Fichte seine Gedanken über das Hauptstück der Religion, die Frage nach dem Wesen Gottes und seiner Beziehung zum Weltgefüge, ausgesprochen hat. Eigentlich sind es zwei Grundprobleme, die, nach Fichtes ausdrücklichem Urteil, das religiöse Denken beherrschen: die Frage nach dem Wesen Gottes und die nach dem Wesen des eigenen Ich (S. 55 f.). Aber wir dürfen die zweite hier ausschalten, da sie schon oben, unter der Frage nach dem inneren Bestande des seligen Lebens, ausreichend behandelt worden ist. Hier fügen wir nur noch dieses hinzu, daß gerade diese programmatische Stelle noch einmal das ethische Zentrum der Fichteschen Spekulation aus den metaphysischen Umklammerungen deutlich heraushebt. Die religiöse Selbstbeurteilung besteht nämlich hiernach positiv in der Erkenntnis – nicht, daß wir in Gott verschwinden müssen, sondern, daß wir alles, was wir wirklich sind und haben, nur in Gott und durch Gott haben und sind. Also Selbstsein im Schoß des lebendigen Gottes, nicht Selbstversinken im Meer des All-Einen.

Aber nun das Göttliche selbst: wie ist es in seinem Innern verfaßt und wie offenbart es sich in der Erscheinung? Daß es rein geistigen Wesens ist, daß jeder Versuch, es für die Natur in Anspruch zu nehmen und in den Naturprozeß zu verwickeln, eine Profanation bedeutet, haben wir schon oben gesehen. Aber innerhalb dieser Grundvoraussetzung werden nun Spekulationen geboten, die nach Fichtes eigener Aussage in die »tiefste Metaphysik und Ontologie« hineinführen (S. 18) und die »schärfste Abstraktion und lebendigste innere Anschauung« voraussetzen (S. 46).

Es handelt sich um nichts Geringeres, als um eine Konstruktion der göttlichen Lebensformen. Dieser Lebensformen sind fünf; sie fallen wieder unter zwei höhere Gesichtspunkte. Wir können sie mit zwei Stichworten bezeichnen: der Urstand und der Weltstand Gottes. Der Urstand umfaßt die zwei Wesensformen, der Weltstand die drei Erscheinungsformen des Göttlichen.

Wir versuchen, diese Formen in den Grundzügen zu beschreiben, indem wir die zerstreuten Resultate der dritten, vierten, achten und neunten Vorlesung zu einem Bilde zusammenfassen. Eine wichtige Bemerkung ist dabei vorauszuschicken. Wenn Fichte fünf göttliche Lebensformen unterscheidet, so könnte man denken, er habe versucht, eine Lebensgeschichte Gottes zu schreiben. Damit verstünde man ihn gänzlich falsch. Nichts hat ihm ferner gelegen, als dies. Das Wagestück einer Theogonie, wie wir es bei Hegel und dem späteren Schelling und neuerdings wieder bei Ed. von Hartmann finden, erscheint ihm als bare Unvernunft. Die fünf Lebensformen sind nicht objektiv nacheinander, sie sind überhaupt nicht objektiv, objektiv ist nur das ewig mit sich selbst identische, über allen Zeitlauf erhabene Göttlich-Eine; sondern sie sind nur in der Abstraktion, in unserer subjektiven Betrachtung, die freilich durch objektive Daten unwiderruflicher Natur zu ihren Unterscheidungen genötigt wird. An sich sind diese Unterscheidungen nichts; das Ewige fällt nicht in sie auseinander, sondern sie fallen umgekehrt im Ewigen in eins zusammen. Im Ewigen »kann nichts Neues werden, nichts anders sich gestalten, noch wandeln und wechseln; sondern wie es ist, ist es von aller Ewigkeit her, und bleibt es unveränderlich in alle Ewigkeit« (S. 44). Oder, um es noch deutlicher zu sagen: »In Gott und aus Gott wird nichts, entsteht nichts; in ihm ist ewig nur das Ist. – Weg mit jenem Phantasma eines Werdens aus Gott, einer Emanation, bei welcher er nicht dabei ist, sondern sein Werk verläßt; einer Ausstoßung und Trennung von ihm, die uns in das öde Nichts wirft und ihn zu einem willkürlichen und feindseligen Oberherrn von uns macht« (S. 93)! Die ganze Fichtesche Spekulation ist ein scharfer und leidenschaftlicher Protest gegen alle und jede Entwickelungsphilosophie. Alles Wahre und Ewige ist von Ewigkeit her vollendet, in allen seinen Lebensformen.

Allem voran das Göttliche. Wir wissen also, daß wir menschlich von ihm reden, wenn wir fünf Stufen in ihm unterscheiden. Die beiden ersten umspannen den Urstand des Göttlichen: Gott, wie er an und für sich ist.

Das absolute Urphänomen, der erste Urstand des Göttlichen, ist Gott an sich, im Sein vor dem Dasein, das heißt, im Zustand der Präexistenz, vor dem Akte der Selbsterfassung. Fichte nennt dieses erste Element den Zustand des in sich selber verschlossenen, verborgenen und aufgegangenen Seins (S. 45).

Die nächste Stufe, der zweite Urstand, ist Gott für sich, im Dasein des Seins, das heißt, im Selbstbewußtsein seines Wesens; denn »Dasein ist das Bewußtsein des Seins« (S. 47). Dieses erste Dasein=Selbstbewußtsein Gottes ist das »bildlos«-reine Dasein der absoluten Transzendenz (S. 51). Es ist die ungebrochene Urform des Göttlichen, wie es vom reinen Denken gedacht und im absoluten Wissen gewußt wird »Zwischen dem Absoluten, oder Gott, und dem Wissen in seiner tiefsten Lebenswurzel ist gar keine Trennung, sondern beide gehen völlig in einander auf« (S. 50).). Aber indem es also gedacht wird, wird und kann es nur »farblos« (S. 66) gedacht werden; farblos in dem doppelten Sinne von »farbenrein« und »farbenleer«. Das heißt, es bleibt für das wirkliche Bewußtsein ein »leerer, gehaltloser Schattenbegriff« (S. 81 und 161).

Gestalt und Farbe erlangt es erst im Spiegel des endlichen Bewußtseins, des Begriffs oder der Reflexion. Unter dem Brechungswinkel des Begriffs tritt das Göttliche in den Weltstand ein. Dieser Weltstand ist nicht ein Stand für sich, neben und außer dem Urstand des Göttlichen: er ist nur die Umformung dieses Urstandes nach den Gesetzen der Reflexion (S. 62 ff.). Die farblose Einheit verwandelt sich in eine farbige Mannigfaltigkeit, und zwar in eine dreifache Mannigfaltigkeit, nach den drei Brechungsgesetzen der Reflexion. So wird »im geistigen Sehen das, was an sich göttliches Leben ist, zu einem Gesehenen, d. i. zu einem vollendet vorhandenen Ganzen oder zu einer Welt« (S. 73).

Um den Hauptsatz voranzustellen: die Welt ist weder an sich existierend, noch als substantieller Ausfluß des Göttlichen; sie ist überhaupt nicht an und für sich, sondern nur als eigentümlicher Reflex des Göttlichen in uns. Mit andern Worten: die Welt ist das – Selbstbewußtsein Gottes im Menschen; daher auch nicht Gott, sondern der Begriff, als Exponent dieses Selbstbewußtseins, der »eigentliche Weltschöpfer« ist (S. 62). Dies ist der »organische Einheitspunkt aller Spekulation«, von welchem Fichte selbst bekennt, daß, wer in ihn eingedrungen sei, dem sei das letzte Licht aufgegangen (S. 126).

Die erste Brechung des Göttlichen in uns ist seine Entfaltung zur Geisterwelt. Ein Reich von rein-lebendigen Geistern, das ist die erste Verwandlung Gottes. In diese Welt der lebendigen Geister »ist das ganze göttliche Sein, zu unendlicher Fortentwicklung aus ihnen selber in der Zeit, gespalten, und an sie ... gleichsam ausgeteilt« (S. 150).

Der zweite Reflex des Göttlichen in uns ist das Schmerzenskind der Sinnenwelt. Sie entsteht, so zu sagen, durch Doppelbrechung. Sie ist nicht, wie die Geisterwelt, das beleuchtete Abbild eines selbstleuchtenden Urbildes, sondern der matte Widerschein eines Lichtes, das selbst schon in fremdem Lichte leuchtet. Der sogenannte Empirismus, gleichviel, ob niederer oder höherer Ordnung, der diesen Schatten zum Lichtquell macht, ist eine ungeheure Irrung und der brennende Schandfleck im reinen Mantel der wahrheitswilligen Philosophie (S. 40 ff.).

Was folgt aus diesen Deduktionen? Der absolute Akosmismus. Fichte hat selbst, schon während des Atheismusstreites, dieses charakteristische, durch Hegel und neuerdings Ed. von Hartmann in weiteren Umlauf gesetzte Stichwort für seinen philosophischen Standpunkt erfunden Gerichtliche Verantwortung gegen die Anklage des Atheismus 1799 W W V 269.. Akosmismus, das heißt: die Welt ist für sich nichts Wirkliches. Das Wirkliche an ihr ist – Gott; das Wirkliche in ihr ist der – Begriff, der sie, durch Anschauung, aus Gott herausschöpft. Das Bekenntnis des Akosmismus lautet: es ist, außer Gott, gar nichts wahrhaftig und in der eigentlichen Bedeutung des Wortes da; sondern es ist nur da im Bewußtsein und Denken, als Bewußtes und Gedachtes, und durchaus auf keine andere Weise Gekürzt aus S. 55. – Weitere Bekenntnisse S. 62 und 80. »Wahrhaftig und an sich ist nichts und wird in alle Ewigkeit nichts, denn der lebendige Gott in seiner Lebendigkeit.« »Gott allein ist und außer ihm nichts.«.

»Die Welt, sie war nicht, eh' ich sie erschuf.« Der Ton und Nachdruck liegt auf dem Ich. Wie wir oben schon sahen: der Begriff ist der eigentliche Weltenschöpfer. Dann aber ist es sinnlos, von einer Weltschöpfung durch Gott zu sprechen; doppelt sinnlos, weil solch eine Schöpfung zugleich eine Veränderung in Gott setzen würde: und wie könnte das Ewige sich verändern? In der Ableitung der Welt aus einer durch die Anschauung Gottes erzeugten subjektiven Begriffsschöpfung stimmt Fichte merkwürdig überein mit – Scotus Erigena, für den die Welt ebenfalls eine durch die Spiegelung Gottes im Intellekt hervorgebrachte »Theophanie« ist. – Vgl. Th. Christlieb, Leben und Lehre des Johannes Scotus Erigena 1860 S. 239, 209 und 280 Anm.; ferner Th. Wotschke, Fichte und Erigena 1906 S. 40.

Endlich, das dritte Spektrum des Göttlichen ist das System der fünf möglichen Standpunkte, von denen aus man die göttlichen und die weltlichen Dinge überhaupt betrachten kann. Auch sie »entstehen nicht etwa erst in der Zeit ..., sondern sie sind von aller Ewigkeit in der Einheit des göttlichen Daseins da, als notwendige Bestimmungen des Einen Bewußtseins; gesetzt auch, kein Mensch erfaßte sie« (S. 74). Diese fünf Standpunkte sind die in der fünften Vorlesung beschriebenen Weltansichten des Materialismus, der niederen und höheren Moralität und der naiven und spekulativen Religion.

Propheten einer neuen Art sehen gern auf Vorläufer zurück. Auch Fichte hat zurückgesehen und – Platon und Johannes unter seinen Vorgängern gefunden. »Nicht, als ob unsere Lehre an sich neu wäre oder paradox. Unter den Griechen ist Plato auf diesem Wege. Der Johanneische Christus sagt ganz dasselbe, was wir lehren und beweisen« (S. 27).

Platon? Es ist wahr, durch Fichtes »Anweisung« weht fühlbar Geist von seinem Geist. Und wer auch nur den Phaidros gelesen hat, weiß, daß das selige Leben hier und das selige Leben dort wie zwei lichtgekleidete Schwestern festlich neben einander stehen.

Aber noch richtiger wäre es gewesen, wenn Fichte statt des Platon den Plotin genannt hätte Bin ich Platoniker? fragt er sich selbst einmal in den Aufzeichnungen zur Sittenlehre 1812. Antwort: Ich glaube wohl mehr zu sein (W W XI 42). Vortreffliche Selbstcharakteristik! Das Plus liegt im Neuplatonischen. – Über Platon und Fichte handelt lehrreich H. von Stein, Sieben Bücher zur Geschichte des Platonismus III 1875 S. 290 ff. – Die fleißige Untersuchung von Luise Zurlinden, Gedanken Platons in der deutschen Romantik (1910) ist hier lediglich zu nennen wegen der Hoffnungen, die sie – nicht erfüllt. Fichte ist unbegreiflicherweise gänzlich unberücksichtigt geblieben.. Die plotinische Philosophie ist wirklich und in ganz anderer Bestimmtheit, als man es von der platonischen sagen kann, eine durchgebildete Anweisung zum seligen Leben. Das Thema ist, genau wie bei Fichte, die einzige Größe des Ewig-Einen, und die Formel des Lebens der Aufschwung zu ihm (φυγὴ μόνου πϱὸς μόνον ennead VI 9, 11). Die Seligkeit des Gotteslebens, das diesem Wagestück entquillt, hat Plotin fast mit Fichtes Worten beschrieben. »Wer es geschaut hat, weiß, was ich sage: daß die Seele dann ein anderes Leben empfängt, wenn sie herantritt und schon herangetreten ist und schon ihn besitzt, also, daß sie, dieses erfahrend, erkennt: der Chorführer des wahren Lebens ist da, und nun tut nichts anderes mehr not, nein, dieses andere ist abzutun, und in diesem Einen soll ich stehen und dieses Eine werden, wenn ich alles, was mich umhüllt, weggestreift habe. So müssen wir denn eilen, hinauszukommen, und unwillig werden über unser Gebundensein, auf daß wir mit unserm ganzen Wesen ihn umfangen und keinen Teil mehr an uns haben, mit dem wir nicht Gott berührten. Dann dürfen wir ihn hier schauen und uns selber, wie zu schauen frommt: uns selber in der Glorie, des geistigen Lichtes voll, nein reines Licht selber, unbeschwert, leicht, Gott geworden, nein, selbst wie Gott. Entbrannt sind wir da; sinken wir aber wieder, wie ausgelöscht« ( ennead. VI 9, 9). – Ein Lebensbild, Aug um Aug, wie bei Fichte! Und auch das ist bemerkenswert, daß Plotin in einer eigenen Abhandlung ( ennead. I 6) die absolute Unabhängigkeit des seligen Lebens von der Zeit im Fichteschen Sinne festgestellt hat.

Unter neuplatonischer Inspiration hat der große Augustin ein Schriftchen vom seligen Leben verfaßt. Abermals dieselben Töne, die uns in Fichtes »Anweisung« begegnen. »Seliges Leben ist Erkenntnis, Besitz und Genuß des lebendigen Gottes.« Die Schrift ist 386 verfaßt und gehört zu den ersten schriftstellerischen Versuchen Augustins. Später, in den Retraktationen, hat er sich korrigiert und den transszendenten Charakter der absoluten Gotteserkenntnis und -liebe scharf und nachdrücklich betont ( Retr. I 2).

Merkwürdig, wegen seiner Übereinstimmung mit Fichte, die aber auch nur auf der gemeinsamen neuplatonischen Grundlage ruht, ist ein »Schwärmer« des Reformationsjahrhunderts, Valentin Weigel, der theosophische Pfarrer von Zschopau in Sachsen (1533-1588), nach Leibnizens Urteil ein Mann von Geist und sogar zu viel Geist Théodicée, Discours sur la conformité etc. § 9.. Dieser Mann hat, vor 1570, ein Büchlein vom seligen Leben verfaßt, das 1609 unter dem Titel Libellus de vita beata, non in particularibus ab extra quaerenda, sed in summo bono intra nos ipsos possidenda gedruckt worden ist. Nach Weigel besteht das selige Leben in dem entschlossenen Verzicht auf die weltlichen Güter und der ungeteilten Hingabe an das Göttliche Das Schriftchen ist, wegen der über Weigel verhängten Verfolgung, äußerst selten geworden und auch auf der Kgl. Bibliothek zu Berlin nicht vorhanden. – Um so wertvoller ist der Auszug bei A. Israel, Val. Weigels Leben und Schriften 1888 S. 48 ff..

Damit ist die neuplatonische Stimmung der Philosophie des seligen Lebens wohl hinreichend bewiesen. Viel stärker, als Fichte wahrscheinlich selber geahnt hat, denkt und dichtet er in ihren Tönen Wie diese Töne an ihn gekommen sind, wie überhaupt der neuplatonische Strom in das Flußbett des deutschen Idealismus einbricht, das ist in der Tat eine wichtige Frage, die aber noch nie untersucht worden ist und hier nur angedeutet werden kann. Das Problem liegt tief. Der Briefwechsel gibt nicht den mindesten Aufschluß. Wahrscheinlich ist Schelling dabei im Spiel. Sein »Bruno« von 1802, der im romantischen Kreise aufmerksam und mit Freude gelesen ward, trägt viel neuplatonisches Gut herbei..

Ihn selbst hat ein anderer Zusammenhang bewegt, die Ideengemeinschaft mit Johannes, und, durch ihn, mit dem Christentum. Seit 1804 ist Johannes der Leuchter, auf welchen Fichte, mit wachsender Freude, das Licht seiner eigenen Gedanken gestellt hat. In der Wissenschaftslehre von 1804 treffen wir ihn zum erstenmal (WW X 291), um ihm dann wieder und wieder zu begegnen. So stark sind die Fühlungen und Bezüge, daß man neuerdings, mit Recht, mit dem Jahre 1804 eine neue, johanneische Periode in Fichtes Denken angesetzt hat F. Medicus, in der vorzüglichen Einleitung seiner Fichte-Ausgabe 1911 S. CIL..

Das reifste Dokument dieser neuen Periode ist unzweifelhaft unsere »Anweisung«. Sie bewegt sich am stärksten in johanneischen Spuren. Schon in Bezug auf den Sprachgebrauch. Die leitenden Grundbegriffe des Werkes, Licht, Leben, Liebe, sind mit Bewußtsein aus Johannes geschöpft. Dazu kommt der eigen kühne Versuch der sechsten Vorlesung, die neue, spekulative Religion unmittelbar auf die religiöse Stimmung des johanneischen Evangeliums zurückzuleiten.

Der verfügbare Raum gestattet uns nicht, diesen wichtigen Punkt im großen zu behandeln. Wir müssen uns hier auf die Frage beschränken, worauf, nach Fichtes Konstruktion, die eigentümliche Größe des Johannes, oder, was dasselbe ist, die Identität des Fichteschen und des Johanneischen Evangeliums beruht.

Das vierte Evangelium ist für Fichte die »echteste und reinste Urkunde« des Christentums (S. 87). Ihm hat man es ausschließlich zu danken, daß das Christentum das »entwickelnde Prinzip und der eigentliche Charakter der neueren Zeit« geworden ist (S. 21), daß es heute noch gleichsam »isoliert, als eine wunderbare und rätselhafte Zeiterscheinung, ohne Vorgang und ohne eigentliche Folge« dasteht (S. 89).

Warum gerade dem Johannes? Aus einem dreifachen Grunde, lautet die Antwort. Johannes ist der einzige, der wirkliche Religion gibt, nicht nur verklärte Moral, wie die andern (S. 88 f.). Er ist der einzige, der die Wurzel der wahren Religion erreicht hat, in der herrlichen Kühnheit, mit der er – voraussetzt, daß nur das Eine, Ewige sei, und daß das Vergängliche durchaus nicht sei (S. 58).

Das ist das erste; das zweite ist dies, daß er allein das Wesen des Christentums verstanden hat. Sein Gott ist nicht, wie das angeblich dämonische Wesen des Paulus, der große rabbinische Partner des Menschen, mit dem man nie völlig ins reine kommt, sondern die Kraft der ewigen Liebe, die alle Furchtgespenster zerstreut und »den ganzen Wahn von der Sünde« zerstört (S. 103). Johannes kennt nur Eine Offenbarung dieses ewig liebenden Gottes, den Logos, das heißt: das Bewußtsein überhaupt (S. 93 f.; dazu die Deutung von Joh. 1, 18, S. 98 f.). Unzweifelhaft verwirft er das Schöpfungsdogma, den Grundirrtum aller Pseudoreligion. Er hat richtig erkannt, daß der Logos, das Bewußtsein, die Reflexion der eigentliche Weltenschöpfer ist (S. 91 und 93). Auch das Verhältnis von Gott und Mensch hat er in seiner Tiefe erfaßt. Er hat richtig gesehen, daß dieses Verhältnis, in Kraft der Religion, ein Identitätsverhältnis ist (S. 96; dazu die Deutungen von Joh. 5, 19; 10, 28-30, S. 99). Und er hat endlich dieselbe Einsicht auf unsere Stellung zu Christus übertragen, indem er auch hier, in kühnster Symbolik, die volle Wesenseinheit fordert (S. 101 f.).

So hat er das Wesen des Christentums in seinen tiefsten Gründen erfaßt. Und mit dem Wesen zugleich den Weg, der allein seine Wahrheit aufschließt. Das ist der dritte und letzte Punkt. Johannes hat den einzig möglichen Beweis des Christentums entdeckt, nämlich den inneren, der allein vor der Philosophie bestehen kann. Die übrigen stützen sich auf die äußere Beweisführung durch Wunder (S. 88). Er dagegen fordert den Beweis des Geistes und der Kraft: daß jemand den Willen tue des, der Jesus gesandt hat (S. 103).

Auf die mehr als gewagte Kühnheit und – zweifellose Originalität dieses Anlehnungsversuches näher einzugehen, ist an diesem Ort unmöglich. Dagegen darf hier ein Dritter nicht fehlen, den Fichte freilich mit gutem Grunde übergangen hat, den wir aber nicht mit übergehen können, weil die ganze »Anweisung« erst als Gegenwurf gegen ihn vollkommen klar und verständlich wird. Dieser Dritte ist Kant.

Kant hat zwei Begriffe von Religion, die um so genauer zu unterscheiden sind, je weniger er selbst sich ihres Gegensatzes bewußt geworden ist. In Fichtes Sprache würden diese beiden Begriffe etwa so zu bestimmen sein. Einmal sagt Kant: Religion ist die Hoffnung auf ein seliges Leben, das heißt, auf eine jenseitige Welt, in der der Gute triumphiert, d. i. von Gott nach Verdienst beglückt wird. Das andere Mal heißt es statt dessen bei Kant: Religion ist der Glaube an ein seliges Leben, das heißt, an eine übersinnliche Welt, in der das Gute triumphiert, d. i. durch die unter Gottes Leitung stehende gemeinsame Arbeit der Guten zur höchsten Weltmacht und Wirklichkeit emporsteigt. – Der Gegensatz beider Anschauungen ist klar und verschärft sich, wenn man hinzunimmt, daß im ersten Falle eine aus der Schwäche der menschlichen Natur geschöpfte Bedürfnisreligion, in dem andern dagegen eine auf die Kraft des sittlichen Selbstbewußtseins gestellte Gesinnungsreligion entsteht.

Der Kantischen Bedürfnisreligion hat Fichte schon 1798 und 1799, in den sogenannten Atheismusschriften, den tödlichen Stoß gegeben, von dem sie sich nicht wieder erholen sollte. Diese eudämonistische Moralitätsreligion ist in Wahrheit die Religion der permanenten Immoralitäten, ihr erklügelter Gott ein ekelhafter, abscheulicher Götze (W W V 219 ff). Hinweg mit dieser Bedürfnisreligion! »Wer da Genuß will, ist ein sinnlicher, fleischlicher Mensch, der keine Religion hat und keiner Religion fähig ist; die erste wahrhaft religiöse Empfindung er tötet in uns auf immer die Begierde ... Ein Gott, der der Begier dienen soll, ist ein verächtliches Wesen; er leistet einen Dienst, der selbst jedem erträglichen Menschen ekelt. Ein solcher Gott ist ein böses Wesen – denn er unterstützt und verewigt das menschliche Verderben – und die Herabwürdigung der Vernunft!« (W W V 219).

Der hier an der Flamme lebendig-reiner Sittlichkeit entzündete Protest gegen die Kantische Bedürfnisreligion flackert noch einmal drohend auf in der siebenten Vorlesung des gegenwärtigen Buches. Kalt wegwerfende Verachtung ist die einzige Antwort der wahren Religion an die Pseudopropheten der Glücksversicherung. Verzichte! sagt die Stimme der Wahrheit. »Sie können es nicht, und darum behaupten sie: kein Mensch könne es« (S. 116).

Anders verläuft die Kritik der Kantischen Gesinnungsreligion. Fichte gibt a priori zu, daß sie der andern um die ganze Höhe eines wirklich sittlichen Denkens überlegen ist. Aber wenn Kant sich in jene viel zu sehr vertieft hat, so hat er sich in diese nicht genügend vertieft. Diese Gesinnungsreligion ist nämlich nicht, wie Kant will, als ein subjektiv unentbehrlicher Glaube von der objektiven Verpflichtung zur Sittlichkeit zu unterscheiden, sondern sie ist identisch mit ihr und darum auch eben so objektiv, wie diese; ja, sie ist, streng genommen, das einzige absolut gültige Objektive, sie ist das Gewisseste, was es gibt, ja der Grund aller anderen Gewißheit WW V 187). Der Glaube an die Absolutheit des Guten ist die Voraussetzung des sittlichen Handelns, nicht umgekehrt. Oder vielmehr: Moralität und Religion sind absolut Eins; beides ein Ergreifen des Übersinnlichen, das erste durch Tun, das zweite durch Glauben. Religion ohne Moralität ist Aberglaube; aber Moralität ohne Religion ist – auch nur ein äußerer ehrbarer Lebenswandel (WW V 209).

Das ist die Höhe von 1799 und 1800; denn die »Bestimmung des Menschen« aus diesem Jahre ist das Evangelium der Fichteschen Gesinnungsreligion. Wie steht die »Anweisung« dazu?

Die Antwort muß lauten: sie hat dieses Evangelium erneuert; aber als Teil einer größeren Verkündigung, die es nur ihrerseits modifiziert und in höhere Beleuchtung gestellt hat. Das Neue liegt in folgenden Punkten:

1. Religion ist nicht mehr schöpferische Tat, sondern Neuschöpfung des Menschen durch Gott. Nicht mehr ein Ergreifen, sondern ein Ergriffen sein. Ergriffensein von der Gegenwart Gottes, die man nur anschauen, nicht erzwingen kann, so wenig wie den Sonnenaufgang.

2. Religion ist nicht mehr ein Glauben, sondern ein Schauen, Haben und Sein; dieses Sein ist der Grund alles andern Seins, vor allem auch des sittlichen.

In diesen beiden Stücken liegt der augenfälligste Umschwung von 1806. Es kommen zwei weitere Stücke hinzu:

3. Das Göttliche ist aus einer rein ethischen eine kosmische Potenz geworden. Es ist nicht mehr nur sittlicher Weltwille, sondern aller Dinge Grund und Leben.

4. Ein neuer Begriff von Beseligung ist gewonnen. An die Stelle der Selbstbeseligung des sittlichen Willens, von der noch die Atheismusschriften ausschließlich sprechen Noch in der mächtigen »Appellation an das Publikum« von 1799 heißt es ausdrücklich: Seligkeit ist die absolute Selbstgenügsamkeit der Vernunft (W W V 206). – Die Entdeckung letzter Seinserhöhungen, die, jenseit aller Moralität, wie freie Kinder Gottes kommen und sagen: da sind wir, ist vielleicht das Größte an der ganzen »Anweisung zum seligen Leben«, jedenfalls das innerlichst Religiöse in ihr. Erst durch Fichtes »Beseligung«, und zwar Beseligung ohne Verdienst, ist Lessings einseitiges Evangelium vom Guten um des Guten willen überwunden, weil gleichzeitig vertieft und erhöht., tritt die Beseligung durch Gott, die höher ist denn alle Vernunft, und die ganz rein gefühlt werden darf: denn sie ist Beseligung ohne Verdienst.

In diesen vier Punkten liegt der Fortschritt der »Anweisung« über die Höhe von 1800 hinaus. Sie lassen sich sämtlich aus der spekulativen Mystik erklären, die – wir wissen nicht, wie – über Fichte gekommen ist, und seinem religiösen Denken eine neue Tiefe gegeben hat Wie sehr hier die Mystik beteiligt ist, lehrt eine Vergleichung mit dem, was Fichte vom Standpunkt der Sittenlehre von 1798 aus über sie zu sagen hatte. In der »Anweisung« ist das selige Leben die klar und tief gefühlte Gegenwart des Ewigen mitten in der Zeit. In der Sittenlehre von 1798 heißt es dagegen ausdrücklich § 12 (W W IV 151): Der Irrtum der Mystiker beruht darauf, daß sie das Unendliche, in keiner Zeit zu Erreichende, vorstellen als erreichbar in der Zeit. – Was damals mystischer Irrtum hieß, ist inzwischen für Fichte selbst tiefste, lebendigste Wahrheit geworden.. Aus der Gesinnungsreligion ist eine Zustandsreligion geworden, die den Gesinnungsglauben erst aus sich entwickelt, und mit ihm die Welt des geistigen Lebens.

Damit ist die letzte Frage beantwortet, die Fichte selbst uns aufgegeben hat, die Frage nach der Kontinuität seines Denkens Vgl. die Fichtesche Vorrede. Fichte selbst geht doch zu weit, wenn er behauptet, daß die Entwicklung seines Geistes zwar manches an ihm selber, aber nichts an seinen Gedanken geändert habe. Freilich hat sie vieles geändert; aber allerdings in der Linie der Kontinuität. Die Unterscheidung von Kontinuität und Identität wird hier wichtig. An Identität ist nicht zu denken, wohl aber an Kontinuität. Und was ist Kontinuität letztlich anderes, als Identität unter dem Phänomen der Bewegung? – Das Richtige hat schon Jacobi gesehen, wenn er, brieflich, September 1806, zu Koeppen von vielem Vortrefflichen spricht, was Fichte nicht aus seinem System, sondern in dasselbe geschöpft habe (Fr. H. Jacobis auserlesener Briefwechsel II 1827 S. 396).. Wir dürfen diese Frage mit Ja beantworten. Gewiß, er hat sich korrigiert, und so erheblich korrigiert, daß ganz neue Grundanschauungen entstanden sind. Aber er hat das Neue so gestellt und gefaßt, daß es das Alte nicht erdrückt, sondern umspannt und über sich selbst hinausführt. Es ist mit dieser zweiten Fichteschen Philosophie, wie wenn man einem Fernrohr mit einer Linse eine zweite scharfe Linse hinzufügt. Die zweite Linse ist die in ihrer spezifischen Kraft und Eigenart erfaßte Religion. Es kann kein Zweifel daran sein, daß sie Fichtes Sehkraft mächtig erhöht hat. Sein scharfes spekulatives Auge ist durch sie nicht getrübt, sondern nur noch weiter geschärft worden, geschärft für die Dinge, die wir mit Recht die letzten nennen, und deren Enthüllung den Text und das Thema der »Anweisung zum seligen Leben« bildet.

Die Anweisung zum seeligen Leben oder auch die Religionslehre

Durch Johann Gottlieb Fichte,
der Philosophie Doktor, Königl. Preuß. ordentlichen Professor der Spekulation an der Friedrich-Alexanders-Universität zu Erlangen, der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften Mitglied
in Vorlesungen
gehalten zu Berlin, im Jahre 1806

Berlin, 1806

Im Verlage der Realschulbuchhandlung.


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