Johann Gottlieb Fichte
Reden an die deutsche Nation
Johann Gottlieb Fichte

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Sechste Rede.

Darlegung der deutschen Grundzüge in der Geschichte.

Welche Hauptunterschiede sein würden zwischen einem Volke, das in seiner ursprünglichen Sprache sich fortbildet, und einem solchen, das eine fremde Sprache angenommen, ist in der vorigen Rede auseinander gesetzt. Wir sagten bei dieser Gelegenheit: was das Ausland betreffe, so wollten wir dem eigenen Urtheile jedweden Beobachters die Entscheidung überlassen, ob in demselben diejenigen Erscheinungen wirklich einträten, die zufolge unserer Behauptungen darin eintreten müßten; was aber die Deutschen betrifft, machten wir uns anheischig darzulegen, daß diese sich wirklich also geäußert, wie unsern Behauptungen zufolge das Volk einer Ursprache sich äußern müsse. Wir gehen heute an die Erfüllung unseres Versprechens und zwar legen wir das zu Erweisende zunächst dar an der letzten großen und in gewissem Sinne, vollendeten Weltthat des deutschen Volkes, an der kirchlichen Reformation.

Das aus Asien stammende und durch seine Verderbung erst recht asiatisch gewordene, nur stumme Ergebung und blinden Glauben predigende Christenthum war schon für die Römer etwas Fremdartiges und Ausländisches; es wurde niemals von ihnen wahrhaft durchdrungen und angeeignet, und theilte ihr Wesen in zwei nicht aneinander passende Hälften; wobei jedoch die Anfügung des fremden Theils durch den angestammten schwermüthigen Aberglauben vermittelt wurde. An den eingewanderten Germaniern erhielt diese Religion Zöglinge, in denen keine frühere Verstandesbildung ihr hinderlich war, aber auch kein angestammter Aberglaube sie begünstigte und so wurde sie denn an dieselben gebracht, als ein zum Römer, das sie nun einmal sein wollten, eben auch gehöriges Stück, ohne sonderlichen Einfluß auf ihr Leben. Daß diese christlichen Erzieher von der altrömischen Bildung und dem Sprachverständnisse, als dem Behälter derselben, nicht mehr an diese Neubekehrten kommen ließen, als mit ihren Absichten sich vertrug, versteht sich von selbst; und auch hierin liegt ein Grund des Verfalls und der Ertödtung der römischen Sprache in ihrem Munde. Als späterhin die ächten und unverfälschten Denkmale der alten Bildung in die Hände dieser Völker fielen und dadurch der Trieb, selbstthätig zu denken und zu begreifen, in ihnen angeregt wurde: so mußte, da ihnen theils dieser Trieb neu und frisch war, theils kein angestammtes Erschrecken vor den Göttern ihm das Gegengewicht hielt, der Widerspruch eines blinden Glaubens und der sonderbaren Dinge, welche im Verlaufe der Zeiten zu Gegenständen desselben geworden waren, dieselben weit härter treffen, denn sogar die Römer, als an diese zuerst das Christenthum kam. Einleuchten des vollkommenen Widerspruchs aus demjenigen, woran man bisher treuherzig geglaubt hat, erregt Lachen; die, welche das Rätsel gelöst hatten, lachten und spotteten, und die Priester selbst, die es ebenfalls gelöst hatten, lachten mit, gesichert dadurch, daß nur sehr wenigen der Zugang zur altertümlichen Bildung, als dem Lösungsmittel des Zaubers, offen stehe. Ich deute hiermit vorzüglich auf Italien, als den damaligen Hauptsitz der neurömischen Bildung, hinter welchem die übrigen neurömischen Stämme in jeder Rücksicht noch sehr weit zurück waren.

Sie lachten des Truges, denn es war kein Ernst in ihnen, den er erbittert hätte; sie wurden durch diesen ausschließenden Sitz einer ungemeinen Erkenntniß um so sicherer ein vornehmer und gebildeter Stand, und mochten es wol leiden, daß der große Haufe, für den sie kein Gemüth hatten, dem Truge ferner preisgegeben und so auch für ihre Zwecke folgsamer erhalten bliebe. Also nur, daß das Volk betrogen werde, der Vornehmere den Betrug nütze und sein lache, konnte es fortbestehen; und es würde wahrscheinlich, wenn in der neuen Zeit nichts vorhanden gewesen wäre, außer Neurömer, also fortbestanden haben bis ans Ende der Tage.

Sie sehen hier einen klaren Beleg zu dem, was früher über die Fortsetzung der alten Bildung durch die neue und über den Antheil, den die Neurömer daran zu haben vermögen, gesagt wurde. Die neue Klarheit ging aus von den Alten, sie fiel zuerst in den Mittelpunkt der neurömischen Bildung, sie wurde daselbst nur zu einer Verstandeseinsicht ausgebildet, ohne das Leben zu ergreifen und anders zu gestalten.

Nicht länger aber konnte der bisherige Zustand der Dinge bestehen, sobald dieses Licht in ein in wahrem Ernste und bis auf das Leben herab religiöses Gemüth fiel, und, wenn dieses Gemüth von einem Volke umgeben war, dem es seine ernstere Ansicht der Sache leicht mittheilen konnte, und dieses Volk Häupter fand, welche auf sein entschiedenes Bedürfniß etwas gaben. So tief auch das Christenthum herabsinken mochte, so bleibt doch immer in ihm ein Grundbestandtheil, in dem Wahrheit ist und der ein Leben, das nur wirkliches und selbstständiges Leben ist, sicher anregt; die Frage: was sollen wir thun, damit wir selig werden? War diese Frage auf einen erstorbenen Boden gefallen, wo es entweder überhaupt an seinen Ort gestellt blieb, ob wol so etwas, wie Seligkeit im Ernste möglich sei, oder, wenn auch das erste angenommen worden wäre, dennoch gar kein fester und entschiedener Wille, selbst auch selig zu werden, vorhanden war, so hatte auf diesem Boden die Religion gleich anfangs nicht eingegriffen in Leben und Willen, sondern sie war nur als ein schwankender und blasser Schatten im Gedächtnisse und in der Einbildungskraft behangen geblieben; und so mußten natürlich auch alle fernere Aufklärungen über den Zustand der vorhandenen Religionsbegriffe gleichfalls ohne Einfluß auf das Leben bleiben. War hingegen jene Frage in einen ursprünglich lebendigen Boden gefallen, so daß im Ernste geglaubt wurde, es gebe eine Seligkeit und der feste Wille da war, selig zu werden und die von der bisherigen Religion angegebenen Mittel zur Seligkeit mit innigem Glauben und redlichem Ernste in dieser Absicht gebraucht worden waren, so mußte, wenn in diesen Boden, der gerade durch sein Ernstnehmen dem Lichte über die Beschaffenheit dieser Mittel sich länger verschloß, dieses Licht zuletzt dennoch fiel, ein gräßliches Entsetzen sich erzeugen vor dem Betruge um das Heil der Seele und die treibende Unruhe, dieses Heil auf andere Weise zu retten und was als in ewiges Verderben stürzend erschien, konnte nicht scherzhaft genommen werden. Ferner konnte der Einzelne, den zuerst diese Ansicht ergriffen, keineswegs zufrieden sein, etwa nur seine eigne Seele zu retten, gleichgültig über das Wohl aller übrigen unsterblichen Seelen, indem er, seiner tiefern Religion zufolge, dadurch auch nicht einmal die eigene Seele gerettet hätte: sondern mit der gleichen Angst, die er um diese fühlte, mußte er ringen, schlechthin allen Menschen in der Welt das Auge zu öffnen über die verdammliche Täuschung.

Auf diese Weise nun fiel die Einsicht, die lange vor ihm sehr viele Ausländer wol in größerer Verstandesklarheit gehabt hatten, in das Gemüth des deutschen Mannes, Luther. An alterthümlicher und feiner Bildung, an Gelehrsamkeit, an andern Vorzügen übertrafen ihn nicht nur Ausländer, sondern sogar viele in seiner Nation. Aber ihn ergriff ein allmächtiger Antrieb, die Angst um das ewige Heil und dieser ward das Leben in seinem Leben und setzte immerfort das letzte in die Wage und gab ihm die Kraft und die Gaben, die die Nachwelt bewundert. Mögen andere bei der Reformation irdische Zwecke gehabt haben, sie hätten nie gesiegt, hätte nicht an ihrer Spitze ein Anführer gestanden, der durch das Ewige begeistert wurde; daß dieser, der immerfort das Heil aller unsterblichen Seelen auf dem Spiel stehen sah, allen Ernstes allen Teufeln in der Hölle furchtlos entgegenging, ist natürlich und durchaus kein Wunder. Dies nun ist ein Beleg von deutschem Ernst und Gemüth.

Daß Luther mit diesem rein menschlichen, und nur durch jeden selbst zu besorgenden Anliegen an alle und zunächst an die Gesammtheit seiner Nation sich wendete, lag, wie gesagt, in der Sache. Wie nahm nun sein Volk diesen Antrag auf? Blieb es in seiner dumpfen Ruhe, gefesselt an den Boden durch irdische Geschäfte und ungestört fortgehend den gewohnten Gang, oder erregte die nicht alltägliche Erscheinung gewaltiger Begeisterung blos sein Gelächter? Keineswegs, sondern es wurde wie durch ein fortlaufendes Feuer ergriffen von derselben Sorge für das Heil der Seele und diese Sorge eröffnete schnell auch ihr Auge der vollkommenen Klarheit und sie nahmen auf im Fluge das ihnen Dargebotene. War diese Begeisterung nur eine augenblickliche Erhebung der Einbildungskraft, die im Leben und gegen dessen ernsthafte Kämpfe und Gefahren nicht Stand hielt? Keineswegs, sie entbehrten Alles, und trugen alle Martin und kämpften in blutigen zweifelhaften Kriegen, lediglich damit sie nicht wieder unter die Gewalt des verdammlichen Papstthums geriethen, sondern ihnen und ihren Kindern fort das allein seligmachende Licht des Evangeliums schiene; und es erneuten sich an ihnen in später Zeit alle Wunder, die das Christenthum bei seinem Beginnen an seinen Bekennern darlegte. Alle Aeußerungen jener Zeit sind erfüllt von dieser allgemein verbreiteten Besorgtheit um die Seligkeit. Sehen Sie hier einen Beleg von der Eigentümlichkeit des deutschen Volkes. Es ist durch Begeisterung zu jedweder Begeisterung und jedweder Klarheit leicht zu erheben und seine Begeisterung hält aus für das Leben und gestaltet dasselbe um.

Auch früher und anderwärts hatten Reformatoren Haufen des Volks begeistert und sie zu Gemeinden versammelt und gebildet; dennoch erhielten diese Gemeinden keinen festen und auf dem Boden der bisherigen Verfassung begründeten Bestand, weil die Volkshäupter und Fürsten der bisherigen Verfassung nicht auf ihre Seite traten. Auch der Reformation durch Luther schien anfangs kein günstigeres Schicksal bestimmt. Der weise Kurfürst, unter dessen Augen sie begann, schien mehr im Sinne des Auslandes als in dem deutschen weise zu sein; er schien die eigentliche Streitfrage nicht sonderlich gefaßt zu haben, einem Streite zwischen zwei Mönchsorden, wie ihm es schien, nicht viel Gewicht beizulegen und höchstens blos um den guten Ruf seiner neu errichteten Universität besorgt zu sein. Aber er hatte Nachfolger, die weit weniger weise, denn er, von derselben ernstlichen Sorge für ihre Seligkeit ergriffen wurden, die in ihren Völkern lebte, und vermittelst dieser Gleichheit mit ihnen verschmolzen bis zu gemeinsamem Leben oder Tod, Sieg oder Untergang.

Sehen Sie hieran einen Beleg zu dem oben angegebenen Grundzuge der Deutschen, als einer Gesammtheit und zu ihrer durch die Natur begründeten Verfassung. Die großen National- und Weltangelegenheiten sind bisher durch freiwillig auftretende Redner an das Volk gebracht worden und bei diesem durchgegangen. Mochten doch ihre Fürsten anfangs aus Ausländerei und aus Sucht vornehm zu thun und zu glänzen, wie jene, sich absondern von der Nation und diese verlassen oder verrathen, so wurden sie auch später leicht wieder fortgerissen zur Einstimmigkeit mit derselben und erbarmten sich ihrer Völker. Daß das erste stets der Fall gewesen sei, werden wir tiefer unten noch an andern Belegen darthun; daß das letztere fortdauernd der Fall bleiben möge, können wir nur mit heißer Sehnsucht wünschen.

Ohnerachtet man nun bekennen muß, daß in der Angst jenes Zeitalters um das Heil der Seelen, eine Dunkelheit und Unklarheit blieb, indem es nicht darum zu thun war, den äußeren Vermittler zwischen Gott und den Menschen nur zu verändern, sondern gar keines äußern Mittlers zu bedürfen, und das Band des Zusammenhanges in sich selber zu finden; so war es doch vielleicht nothwendig, daß die religiöse Ausbildung der Menschen im Ganzen durch diesen Mittelzustand hindurchginge. Luthern selbst hat sein redlicher Eifer noch mehr gegeben, denn er suchte, und ihn weit hinausgeführt über sein Lehrgebäude. Nachdem er nur die ersten Kämpfe der Gewissensangst, die ihm sein kühnes Losreißen von dem ganzen bisherigen Glauben verursachte, bestanden hatte, sind alle seine Aeußerungen voll eines Jubels und Triumphs über die erlangte Freiheit der Kinder Gottes, welche die Seligkeit gewiß nicht mehr außer sich und jenseit des Grabes suchten, sondern der Ausbruch des unmittelbaren Gefühls derselben waren. Er ist hierin das Vorbild aller künftigen Zeitalter geworden und hat für uns alle vollendet. – Sehen Sie auch hier einen Grundzug des deutschen Geists. Wenn er nur sucht, so findet er mehr, als er suchte; denn er geräth hinein in den Strom lebendigen Lebens, das durch sich selbst fortrinnt und ihn mit sich fortreißt.

Dem Papstthume, dieses nach seiner eigenen Gesinnung genommen und beurtheilt, geschah durch die Weise, wie die Reformation dasselbe nahm, ohne Zweifel Unrecht. Die Aeußerungen desselben waren wol größtenteils aus der vorliegenden Sprache blind herausgerissen, asiatisch rednerisch übertreibend, gelten sollend, was sie könnten, und rechnend, daß mehr als der gebührende Abzug wol ohnedies werde gemacht werden, niemals aber ernstlich ermessen, erwogen oder gemeint. Die Reformation nahm mit deutschem Ernste sie nach ihrem vollen Gewichte; und sie hatte recht, daß man Alles also nehmen solle, unrecht, wenn sie glaubte, jene hätten es also genommen und sie noch anderer Dinge, denn ihrer natürlichen Flachheit und Ungründlichkeit, bezüchtigte. Ueberhaupt ist dies die stets sich gleichbleibende Erscheinung in jedem Streit des deutschen Ernstes gegen das Ausland, ob dieses sich nun außer Landes oder im Lande befinde, daß das letztere gar nicht begreifen kann, wie man über so gleichgiltige Dinge, als Worte und Redensarten sind, ein so großes Wesen erheben möge und daß sie, aus deutschem Munde es wieder hörend, nicht gesagt haben wollen, was sie doch gesagt haben und sagen, und immerfort sagen werden, und über Verleumdung, die sie Consequenzmacherei nennen, klagen, wenn man ihre Aeußerungen in ihrem buchstäblichen Sinne und als ernstlich gemeint, nimmt, und dieselben betrachtet als Bestandteile einer folgebeständigen Denkreihe, die man nun rückwärts nach ihren Grundsätzen, und vorwärts nach ihren Folgen herstellt; indeß man doch vielleicht sehr entfernt ist, ihnen für die Person klares Bewußtsein dessen, was sie reden, und Folgebeständigkeit, beizumessen. In jener Anmuthung, man müsse eben jedwedes Ding nehmen wie es gemeint sei, nicht aber etwa noch darüber hinaus das Recht zu meinen und laut zu meinen, in Frage ziehen, verräth sich immer die noch so tief versteckte Ausländerei.

Dieser Ernst, mit welchem das alte Religionslehrgebäude genommen wurde, nöthigte dieses selbst zu einem größeren Ernste, als es bisher gehabt hatte, und zu neuer Prüfung, Umdeutung, Befestigung der alten Lehre, so wie zu größerer Behutsamkeit in Lehre und Leben für die Zukunft: und dieses, so wie das zunächstfolgende, sei Ihnen ein Beleg von der Weise, wie Deutschland auf das übrige Europa immer zurückgewirkt hat. Hierdurch erhielt für das Allgemeine die alte Lehre wenigstens diejenige unschädliche Wirksamkeit, die sie, nachdem sie nun einmal nicht aufgegeben werden sollte, haben konnte; insbesondere aber ward sie für die Vertheidiger derselben Gelegenheit und Aufforderung zu einem gründlicheren und folgegemäßeren Nachdenken, als bisher statt gehabt hatte. Davon, daß die in Deutschland verbesserte Lehre auch in das neulateinische Ausland sich verbreitet und daselbst denselben Erfolg höherer Begeisterung hervorgebracht, wollen wir hier, als von einer vorübergehenden Erscheinung schweigen: wiewol es immer merkwürdig ist, daß die neue Lehre in keinem eigentlich neulateinischen Lande zu einem vom Staate anerkannten Bestande gekommen; indem es scheint, daß es deutscher Gründlichkeit bei den Regierenden und deutscher Gutmütigkeit beim Volke bedurft habe, um diese Lehre verträglich mit der Obergewalt zu finden, und sie also zu machen.

In einer andern Rücksicht aber, und zwar nicht auf das Volk, sondern auf die gebildeten Stände, hat Deutschland durch seine Kirchenverbesserung einen allgemeinen und dauernden Einfluß auf das Ausland gehabt; und durch diesen Einfluß das Ausland wieder zum Vorgänger für sich selbst, und zu seinem eigenen Anreger zu neuen Schöpfungen sich zubereitet. Das freie und selbsttätige Denken, oder die Philosophie, war schon in den vorhergehenden Jahrhunderten unter der Herrschaft der alten Lehre häufig angeregt und geübt worden, keineswegs aber, um aus sich selbst Wahrheit hervorzubringen, sondern nur, um zu zeigen, daß und auf welche Weise die Lehre der Kirche wahr sei. Dasselbe Geschäft in Beziehung auf ihre Lehre erhielt zunächst die Philosophie auch bei den deutschen Protestanten und ward bei diesen Dienerin des Evangeliums, so wie sie bei den Scholastikern die der Kirche gewesen war. Im Auslande, das entweder kein Evangelium hatte, oder das dasselbe nicht mit unvermischt deutscher Andacht und Tiefe des Gemüths gefaßt hatte, erhob das durch den erhaltenen glänzenden Triumph angefeuerte freie Denken sich leichter und höher, ohne die Fessel eines Glaubens an Uebersinnliches; aber es blieb in der sinnlichen Fessel des Glaubens an den natürlichen, ohne Bildung und Sitte angewachsenen Verstand; und weit entfernt, daß es in der Vernunft die Quelle auf sich selbst beruhender Wahrheit entdeckt hätte, wurden für dasselbe die Aussprüche dieses rohen Verstandes dasjenige, was für die Scholastiker die Kirche, für die ersten protestantischen Theologen das Evangelium war; ob sie wahr seien, darüber regte sich kein Zweifel, die Frage war blos, wie sie diese Wahrheit gegen bestreitende Ansprüche behaupten könnten.

Indem nun dieses Denken in das Gebiet der Vernunft, deren Gegenstreit bedeutender gewesen sein würde, gar nicht hineinkam, so fand es keinen Gegner, außer der historisch vorhandenen Religion und wurde mit dieser leicht fertig, indem es sie an den Maßstab des vorausgesetzten gesunden Verstandes hielt und sich dabei klar zeigte, daß sie demselben eben widerspräche, und so kam es denn, daß, so wie dieses alles ins Reine gebracht wurde, im Auslande die Benennung des Philosophen und die des Irrreligiösen und Gottesläugners, gleichbedeutend wurden, und zu gleicher ehrenvoller Auszeichnung gereichten.

Die versuchte gänzliche Erhebung über allen Glauben an fremdes Ansehen, welche in diesen Bestrebungen des Auslandes das richtige war, wurde den Deutschen, von denen sie vermittelst der Kirchenverbesserung erst ausgegangen war, zu neuer Anregung. Zwar sagten untergeordnete und unselbständige Köpfe unter uns diese Lehre des Auslandes eben nach – lieber die des Auslandes, wie es scheint, als die eben so leicht zu habende ihrer Landsleute, darum, weil ihnen das erste vornehmer dünkte – und diese Köpfe suchten, so gut es gehen wollte, sich selber davon zu überzeugen; wo aber selbstständiger deutscher Geist sich regte, da genügte das Sinnliche nicht, sondern es entstand die Aufgabe das, freilich nicht auf fremdes Ansehen zu glaubende, Uebersinnliche in der Vernunft selbst aufzusuchen und so erst eigentliche Philosophie zu erschaffen, indem man, wie es sein sollte, das freie Denken zur Quelle unabhängiger Wahrheit machte. Dahin strebte Leibnitz im Kampfe mit jener ausländischen Philosophie; dies erreichte der eigentliche Stifter der neuen deutschen Philosophie, nicht ohne das Geständniß durch eine Aeußerung des Auslandes, die inzwischen tiefer genommen worden, als sie gemeint gewesen, angeregt worden zu sein. Seitdem ist unter uns die Aufgabe vollständig gelöst und die Philosophie vollendet worden, welches man indessen sich begnügen muß, zu sagen, bis ein Zeitalter kommt, das es begreift. Dies vorausgesetzt, so wäre abermals durch Anregung des durch das neurömische Ausland hindurchgegangenen Alterthums im deutschen Mutterlande die Schöpfung eines vorher durchaus nicht dagewesenen Neuen erfolgt.

Unter den Augen der Zeitgenossen hat das Ausland eine andere Aufgabe der Vernunft und der Philosophie an die neue Welt, die Errichtung des vollkommenen Staats, leicht und mit feuriger Kühnheit ergriffen und kurz darauf dieselbe also fallen lassen, daß es durch seinen jetzigen Zustand genöthigt ist, den blosen Gedanken der Aufgabe als ein Verbrechen zu verdammen und Alles anwenden mußte, um, wenn es könnte, jene Bestrebungen aus den Jahrbüchern seiner Geschichte auszutilgen. Der Grund dieses Erfolgs liegt am Tage: Der vernunftgemäße Staat läßt sich nicht durch künstliche Vorkehrungen aus jedem vorhandenen Stoffe aufbauen, sondern die Nation muß zu demselben erst gebildet und herausgezogen werden. Nur diejenige Nation, welche zuvörderst die Aufgabe der Erziehung zum vollkommenen Menschen, durch die wirkliche Ausübung, gelöst haben wird, wird sodann auch jene des vollkommenen Staats lösen.

Auch die zuletztgenannte Aufgabe der Erziehung ist seit unserer Kirchenverbesserung vom Auslande geistvoll, aber im Sinne seiner Philosophie mehrmals in Anregung gebracht worden, und diese Anregungen haben unter uns fürs erste Nachtreter und Uebertreiber gefunden. Bis zu welchem Punkte endlich in unsern Tagen abermals deutsches Gemüth diese Sache gebracht, werden wir zu seiner Zeit ausführlicher berichten.

Sie haben an dem Gesagten eine klare Uebersicht der gesammten Bildunsgeschichte der neuen Welt, und des sich immer gleichbleibenden Verhältnisses der verschiedenen Bestandtheile der letzten zur ersten. Wahre Religion, in der Form des Christentums, war der Keim der neuen Welt und ihre Gesammtaufgabe die, diese Religion in die vorhandene Bildung des Alterthums zu verflößen und die letzte dadurch zu vergeistigen und zu heiligen. Der erste Schritt auf diesem Wege war, das die Freiheit raubende äußere Ansehen der Form dieser Religion von ihr abzuscheiden, und auch in sie das freie Denken des Alterthums einzuführen. Es regte an zu diesem Schritte das Ausland, der Deutsche that ihn. Der zweite, der eigentlich die Fortsetzung und Vollendung des ersten, ist der, diese Religion und mit ihr alle Weisheit in uns selber aufzufinden. Auch ihn vorbereitete das Ausland, und vollzog der Deutsche. Der dermalen in der ewigen Zeit an der Tagesordnung sich befindende Fortschritt ist die vollkommene Erziehung der Nation zum Menschen. Ohne dies wird die gewonnene Philosophie nie ausgedehnte Verständlichkeit, vielweniger noch allgemeine Anwendbarkeit im Leben finden; so wie hinwiederum ohne Philosophie die Erziehungskunst niemals zu vollständiger Klarheit in sich selbst gelangen wird. Beide greifen daher in einander und sind eins ohne das andere unvollständig und unbrauchbar. Schon allein darum, weil der Deutsche bisher alle Schritte der Bildung zur Vollendung gebracht und er eigentlich dazu aufbewahrt worden ist in der neuen Welt, kommt ihm dasselbe auch mit der Erziehung zu; wie aber diese einmal in Ordnung gebracht ist, wird es sich mit den übrigen Angelegenheiten der Menschheit leicht ergeben.

In diesem Verhältnisse also hat wirklich die deutsche Nation zur Fortbildung des menschlichen Geschlechts in der neuen Zeit bisher gestanden. Noch ist über eine schon zwei Mal fallen gelassene Bemerkung über den naturgemäßen Hergang, den diese Nation hierbei genommen, daß nämlich in Deutschland alle Bildung vom Volke ausgegangen, mehr Licht zu verbreiten. Daß die Angelegenheit der Kirchenverbesserung zuerst an das Volk gebracht worden, und allem dadurch, daß es desselben Angelegenheit geworden, gelungen sei, haben wir schon ersehen. Aber es ist ferner darzuthun, daß dieser einzelne Fall nicht Ausnahme, sondern daß er die Regel gewesen.

Die im Mutterlande zurückgebliebenen Deutschen hatten alle Tugenden, die ehemals auf ihrem Boden zu Hause waren, beibehalten: Treue, Biederkeit, Ehre, Einfalt; aber sie hatten von Bildung zu einem höhern und geistigen Leben nicht mehr erhalten, als das damalige Christenthum und seine Lehrer an zerstreut wohnende Menschen bringen konnten. Dies war wenig, und sie standen so gegen ihre ausgewanderten Stammverwandten zurück, und waren in der That zwar brav und bieder, aber dennoch halb Barbaren. Es entstanden unter ihnen indessen Städte, die durch Glieder aus dem Volke errichtet wurden. In diesen entwickelte sich schnell jeder Zweig des gebildeten Lebens zur schönsten Blüte. In ihnen entstanden, zwar auf Kleines berechnete, dennoch aber treffliche bürgerliche Verfassungen und Einrichtungen, und von ihnen aus verbreitete sich ein Bild von Ordnung und eine Liebe derselben erst über das übrige Land. Ihr ausgebreiteter Handel half die Welt entdecken. Ihren Bund fürchteten Könige. Die Denkmäler ihrer Baukunst dauern noch, haben der Zerstörung von Jahrhunderten getrotzt, die Nachwelt steht bewundernd vor ihnen und bekennt ihre eigene Unmacht.

Ich will diese Bürger der deutschen Reichsstädte des Mittelalters nicht vergleichen mit den andern ihnen gleichzeitigen Ständen und nicht fragen, was indessen der Adel that und die Fürsten; aber in Vergleich mit den übrigen germanischen Nationen, einige Striche Italiens abgerechnet, hinter welchen selbst jedoch in den schönen Künsten die Deutschen nicht zurückblieben, in den nützlichen sie übertrafen und ihre Lehrer wurden, – diese abgerechnet waren nun diese deutschen Bürger die gebildeten und jene die Barbaren. Die Geschichte Deutschlands, deutscher Macht, deutscher Unternehmungen, Erfindungen, Denkmale, Geistes, ist in diesem Zeitraume lediglich die Geschichte dieser Städte, und alles übrige, als da sind Länderverpfändungen und Wiedereinlösungen und dergleichen, ist nicht des Erwähnens werth. Auch ist dieser Zeitpunkt der einzige in der deutschen Geschichte, in der diese Nation glänzend und ruhmvoll und mit dem Range der ihr als Stammvolk gebührt, dasteht; so wie ihre Blüte durch die Habsucht und Herrschsucht der Fürsten zerstört und ihre Freiheit zertreten wird, sinkt das Ganze allmählich immer tiefer herab und geht entgegen dem gegenwärtigen Zustand; wie aber Deutschland herabsinkt, sieht man das übrige Europa eben also sinken, in Rücksicht dessen, was das Wesen betrifft und nicht den blosen äußern Schein.

Der entscheidende Einfluß dieses in der That herrschenden Standes auf die Entwicklung der deutschen Reichsverfassung, auf die Kirchenverbesserung und auf Alles, was jemals die deutsche Nation bezeichnete und von ihr ausging in das Ausland, ist allenthalben unverkennbar, und es läßt sich nachweisen, daß alles, was noch jetzt Ehrwürdiges ist unter den Deutschen, in seiner Mitte entstanden ist.

Und mit welchem Geiste brachte hervor und genoß dieser deutsche Stand diese Blüten? Mit dem Geiste der Frömmigkeit, der Ehrbarkeit. der Bescheidenheit, des Gemeinsinnes. Für sich selbst bedurften sie wenig, für öffentliche Unternehmungen machten sie unermeßlichen Aufwand. Selten steht irgendwo ein einzelner Name hervor und zeichnet sich aus, weil alle gleichen Sinnes waren und gleicher Aufopferung für das Gemeinsame. Ganz unter denselben äußern Bedingungen, wie in Deutschland, waren auch in Italien freie Städte entstanden. Man vergleiche die Geschichten beider; man halte die fortwährenden Unruhen, die innern Zwiste, ja Kriege, den beständigen Wechsel der Verfassungen und der Herrscher, in den ersten, gegen die friedliche Ruhe und Eintracht in den letztern. Wie konnte klarer sich aussprechen, daß ein innerlicher Unterschied in den Gemüthern der beiden Nationen gewesen sein müsse? Die deutsche Nation ist die einzige unter den neueuropäischen Nationen, die es an ihrem Bürgerstande schon seit Jahrhunderten durch die That gezeigt hat, daß sie die republikanische Verfassung zu ertragen vermöge.

Unter den einzelnen und besondern Mitteln, den deutschen Geist wieder zu heben, würde es ein sehr kräftiges sein, wenn wir eine begeisternde Geschichte der Deutschen aus diesem Zeitraume hätten, die da National- und Volksbuch würde, so wie Bibel oder Gesangbuch es sind, so lange, bis wir selbst wiederum etwas des Aufzeichnens Werthes hervorbrächten. Nur müßte eine solche Geschichte nicht etwa chronikenmäßig die Thaten und Ereignisse aufzählen, sondern sie müßte uns, wunderbar ergreifend und ohne unser eigenes Zuthun oder klares Bewußtsein, mitten hinein versetzen in das Leben jener Zeit, so daß wir selbst mit ihnen zu gehen, zu stehen, zu beschließen, zu handeln schienen, und dies nicht durch kindische und tändelnde Erdichtung, wie es so viele historische Romane gethan haben, sondern durch Wahrheit; und aus diesem ihrem Leben müßte sie die Thaten und Ereignisse, als Belege desselben, hervorblicken lassen. Ein solches Werk könnte zwar nur die Frucht von ausgebreiteten Kenntnissen sein, und von Forschungen, die vielleicht noch niemals angestellt sind, aber die Ausstellung dieser Kenntnisse und Forschungen müßte uns der Verfasser ersparen und nur lediglich die gereifte Frucht uns vorlegen in der gegenwärtigen Sprache, auf eine jedwedem Deutschen ohne Ausnahme verständliche Weise. Außer jenen historischen Kenntnissen würde ein solches Werk auch noch ein hohes Maß philosophischen Geistes erfordern, der eben so wenig sich zur Schau ausstellte; und vor Allein ein treues und liebendes Gemüth.

Jene Zeit war der jugendliche Traum der Nation in beschränkten Kreisen von künftigen Thaten, Kämpfen und Siegen, und die Weissagung, was sie einst bei vollendeter Kraft sein würde. Verführerische Gesellschaft und die Lockung der Eitelkeit hat die heranwachsende fortgerissen in Kreise, die nicht die ihrigen sind, und indem sie auch da glänzen wollte, steht sie da mit Schmach bedeckt und ringend sogar um ihre Fortdauer. Aber ist sie denn wirklich veraltet und entkräftet? Hat ihr nicht auch seitdem immerfort und bis auf diesen Tag die Quelle des ursprünglichen Lebens fortgequollen, wie keiner andern Nation? Können jene Weissagungen ihres jugendlichen Lebens, die durch die Beschaffenheit der übrigen Völker und durch den Bildungsplan der ganzen Menschheit bestätig werden, – können sie unerfüllt bleiben? Nimmermehr. Bringe man diese Nation nur zuvörderst zurück von der falschen Richtung, die sie ergriffen, zeige man ihr in dem Spiegel jener ihrer Jugendträume ihren wahren Hang und ihre wahre Bestimmung, bis unter diesen Betrachtungen sich ihr die Kraft entfalte, diese ihre Bestimmung mächtig zu erweisen. Möchte diese Aufforderung etwas dazu beitragen, daß recht bald ein dazu ausgerüsteter deutscher Mann diese vorläufige Aufgabe löse!


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