Heinrich Federer
Lachweiler Geschichten
Heinrich Federer

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Vater und Sohn im Examen

Die Schulkinder von Lachweiler sitzen heute steif in ihren verkerbten Bänken und blicken mit ängstlicher Ungeduld bald zur Türe, bald zum Lehrer am Pult.

Philipp Korn selber, ein Mann, der heute den vierzigsten Geburtstag seines staubigen, mit Papier verklebten und mit so viel Tinte verklecksten Lebens feiert, Philipp Korn wartet mit einer gewissen unruhigen und bekümmerten Festlichkeit auf das Erscheinen der Examenherren. Heute liegen seine Hosen straff, sie glänzen von Sauberkeit, ja, sie zeigen jene scharfe Falte vorne, die nur neue, eben aus dem Warengeschäft geholte Hosen zeigen. Seine Rockärmel sind an den Ellbogen nicht verschlissen und fadenscheinig wie an gewöhnlichen Schultagen, und die Krawatte fasert nicht; sondern es ist der feiertägliche Frack, den er trägt, und die weisse Seidenkrawatte, welche nur zu Ostern und am Bezirksfest, als Philipp eine Bankettrede auf das Vaterland der Pädagogen hatte halten müssen, aus dem seidenpapiernen Umschlag gewickelt und hernach gleich wieder sorglich von der Lehrerin eingepackt wurde.

Jedes Stäubchen hatte Frau Monika Korn von ihrem Mann gebürstet. Rein steht er da wie ein Mensch, der soeben frisch aus der Hand Gottes hervorgegangen ist.

Über der hohen, weissen Stirne hat er das spärlich braune Haar in der Mitte gescheitelt und bedächtig nach beiden Seiten über die kahlen Stellen gekämmt. Einst trug er einen vollen Schopf. Aber bei viel Kopfweh und der übeln Gewohnheit, sich ins Haar zu fahren und darin herumzureissen, wenn er die Hefte der Schüler durchlas und auf Schreibfehler stiess, hatte sich nach und nach das Dickicht gelichtet.

Es ist ein bleiches, knappes Angesicht, das Herr Philipp zeigt, mit feuchten, hellbraunen, schwächlichen Augen, die sich vor der Kraft der Wirklichkeit gleichsam mit einer Brille zu schützen suchen. Die wächsernen, dicken Ohren stehen weit ab, und die ebenso weisse Nase treibt in ein kurzes, aber starkes Dreieck. Trotz der schweren, vollen Lippen ist der Mund schön und fein geformt, gegen die Winkel fast so scharf und dünn, wie dies bei Lehrern und Schauspielern und etwa noch bei spitzfindigen Theologen wegen ihrer so genauen Aussprache der Buchstaben häufig vorkommt.

Alles an Kandidat Philipp gedieh. Der Leib schoss wie ein Halm in die Höhe, der Hals reckte sich mutig aus dem Kragen hervor, die Lockenfülle Absaloms schlug über seinem Haupte zusammen – nur eines wollte nicht glücken: der Schnurrbart, dieser Stolz des Mannes, diese lebendige Urkunde eines mutigen Geistes.

Das stimmte den Kandidaten traurig, denn er besass ein frauenhaft feines, leicht verletzliches Empfinden. Als er im Seminar so viele Jünglinge sah, die er wie ein Saul um Haupteslänge überwuchs, aber die bereits ein kleines, dunkles Wölklein unter der Nase trugen, da hoffte er immer noch. Im Hoffen war Philipp überhaupt stark. Jeden Tag befragte er seinen Taschenspiegel. Und der Bauer drüben im Badischen oder Schwäbischen, welcher sein Korn ausgesät und darauf all sein Glauben abgestellt hat, weil er die Ernte in schweren Wagenfuhren zur Stadt bringen und mit dem Erlös den drohenden Konkurs vom väterlichen Heimwesen abhalten will: dieser Bauer, der sonntags mit seiner guten, treuen Frau über den Acker spaziert und nachsieht, ob noch immer kein grünes, vorwitziges, spitzes Hälmlein aus der Scholle gucke, ein einziges wenigstens; – nicht ängstlicher forscht er über den kahlen Feldplan, als der Seminarist Philipp damals nach einem ersten Härchen, einer wenn auch noch so unscheinbaren Spur der Mannbarkeit auf seiner Oberlippe suchte. Wenn dieses Härchen nicht kommt, dann geht sein Ansehen bei den Mitschülern fallit. Der moralische Konkurs droht! Denn im Seminar gilt der Spruch: Ein Weib, ein Zopf – ein Mann, ein Schnauz! Was dazwischen kriecht, sind Narren und Kinder!

Endlich, endlich schattet es unter der Nase, ein Härchen ums andere wuchs hervor. Langsam, zaghaft, mager sprosste es zwar, mit lichten Stellen zwischenhinein wie in einem durchgeschlagenen Forst – aber es sprosste doch! Und wenn man alles sparsam zusammenzählte, so ergaben diese zweiunddreissig Schnauzhaare doch zusammen einen Schnurrbart.

Von nun an ging es Herrn Philipp recht leidlich in der Welt. Das Lehrerexamen bestand er kraft seines zähen Gedächtnisses und seiner noch zähern Beflissenheit mit der besten Note, und die kleine friedsame Gemeinde Lachweiler berief den neugebackenen Lehrer sogleich an ihre Schule. Eine nette Wohnung, die noch netter gewesen wäre, wenn der Ofen Winters nicht sämtlichen Rauch in die Stube gestossen, wenn die Vorfenster besser in die Rahmen gepasst und Sommers sich die Flöhe etwas manierlicher benommen hätten, wurde nun seine Residenz. Bald hatte er auch in der ehrsamen und praktischen Jungfrau Monika Eva Robbe eine Gattin gefunden, die nicht bloss in seinem unruhigen Herzen, sondern auch in seiner von Papierschnitzeln, Federhaltern und Hemdkragen durchflatterten Stube einige Ordnung schaffte.

Ein Bübchen war dieser Ehe entsprungen, Wenzeslaus, dem der Lehrer schon im dritten Jahre zeigte, wie man einen Griffel in die Finger nimmt, und das im vierten Jahr bereits ein Dutzend Schiefertafeln glücklich in Scherben geschlagen hatte. Ihm weissagte der Lehrer eine wunderbare Zukunft. Dieser Wenzel sollte ein zweiter Salomon werden. Das konnte, das durfte nicht anders sein! – Nicht ein gewöhnlicher Schulmeister sollte in ihm der Welt entstehen, o nein, sondern ein Lehrer ganzer Städte und Länder, ein Professor der Hochschule, einer, zu dessen Füssen Prinzen und künftige Staatslenker sitzen, ein Mann, der jedes Jahr mit einem neuen Buch die Welt sozusagen aus den Angeln wirft: ein solches Wunder sollte Wenzel werden. Gerne wollte Vater Philipp dann in seinem Dörfchen bei den halbwilden Landkindern bleiben und geduldig das Einmaleins und Abc weiter lehren, getröstet, dass vom Ruhme seines grossen Sohnes auch ein kleiner, warmer Strahl in seinen Erdwinkel auf sein demütiges Haupt fallen werde.

Das ganze gläubige Dorf teilte seine Erwartung. Dieser flinke, kleine Lehrerbub, sagte man, wird wohl ein Gelehrter werden. Bücher und Tinte hat er genug im Hause. Sein Vater, das weiss man, wird ihn drillen und drehen, bis er seine Aufgabe vorwärts und rückwärts gleich gut auswendig kennt. Die Bauern konnten sich gar nicht denken, dass der Sohn eines Vaters, den man nie anders als mit einer Feder hinter dem Ohr und einem Buche unter dem Arme durchs Dorf laufen sah, nicht auch notwendig ein Gelehrter werden müsse.

Dieser liebe Wenzel! – Er trug Augen, so blau und ach, so rein wie ein neugeborenes Engelchen. Seine Nase war frohmütig aufgestülpt, und immer klebte vom Mittagessen etwas Spinat oder vom Vesperbrot ein Tröpfchen süsser Brombeerlatwerge ungemein zierlich daran. Er war gesund und hellsinnig wie das lautere Bächlein in der Schulwiese. Lachte er – und er lachte viel und gern – dann blitzten zwei Reihen grosser, breiter, zuckerweisser Zähne hervor. Nicht ein einziger Zahn fehlte. Seine Backen waren immer kirschrot und so rund und voll, als bliese ein Wind darein. Er trug ein schroffes, steifes, weissblondes Haar, das Frau Monika umsonst mit Öl und Milch zu locken versuchte. Die Stirne war um so viel zu niedrig, als die väterliche zu hoch schien. Aber sie glänzte so heiter, als läge immer die Sonne darauf. Und Wenzel war ein Sonnenkind. Alles an ihm atmete Fröhlichkeit. Er ging nicht, er hüpfte, sein Reden war wie Singen zu hören, das Leben galt ihm einen Spass.

Wenn er Griffel knickte und den Rahmen der Tafel zerbiss, statt ein anständiges A oder B zu schreiben, oder wenn er auf der hölzernen Weltkugel des Lehrers geographische Gewaltstreiche verübte, die unmöglichsten Wege nahm und mit einem lustigen Riss Nord– und Südamerika voneinander trennte, dann schüttelte Philipp wohl unmutig das Haupt, aber tröstete sich, alle Genies hätten in der Jugend Tollheiten getrieben. Das seien nun einmal ihre Flegeljahre. Bei den Dummen kämen sie erst später, bei so Gescheiten recht früh. Warte man, bis der Junge in die Schule muss. Man wird dann ein blaues Wunder erleben!

Und nun war das erste Schuljahr Wenzels vorüber, und der Kleine sass da in der vordersten Bank und wartete wie die andern Kinder, bis das Examen begänne. Während aber die meisten Knaben und Mädchen ein ernstes Gesicht schnitten, im Gefühl, dass nun die Stunde da sei, wo sie gewogen und vielleicht zu leicht befunden würden, hockte der kleine Lehrersohn so vergnüglich auf seinem Stühlchen, legte die Arme so getrost übereinander und lachte mit den blauen Augen so freundlich die Wandtafel und die Rechnungstabellen an, als wären sie seine besten Freunde.

Und doch hatten sie ihn gequält während dieses abgelaufenen ersten Schuljahres. Denn Wenzel hatte nur Freude an den schönen, braunen Kühen des Nachbars Martin Hofter, an den langhaarigen, witzigen Geissen des Mützelbauern, an dem von einem roten Ochsenpaar gezogenen, ungeheuren Futterwagen des Tornhofers und am Knallen einer langen, flinken Geissel über das Gespann hin in den frühen Morgen hinein. Wie gern hütete er mit dem gleichaltrigen Ferdinand, des Tornhofers Sohn, das Vieh auf den Weideplätzen. Wohl lagen sie fern vom Dorf, aber man sah doch noch über dem dunkeln Wald der Obstbäume den Helm des alten Kirchturms, den Giebel zweier Bauerngehöfte und den Küchenrauch zur Vesperzeit emporkräuseln. Dass man das Schulhaus nicht sah, war eine Gnade. Und still war es da! – Man hörte geradezu nichts, als die Einsamkeit selber wie mit unbeschuhten, sehr leisen Füssen, einem geräuschlosen, ungefalteten Gewand und mit dem Finger über den geschlossenen Lippen wie ein Gewölk vorüberwallen. Oft auch glaubte er von weitem ein seltsames Rauschen zu vernehmen. Kein Grashalm regte sich, die weissen Flocken am Himmel standen still. Und doch war es ein Rauschen wie von einem fernen Winde oder wie von unzähligen wandernden Völkern. War das vielleicht »die Welt draussen«, wovon man in Lachweiler so respektvoll, ja furchtsam redete? – Und wieder hörte Wenzel weder die Ferne noch den eintönigen Klang der Einsamkeit, und dennoch war es nicht still und nicht schläfrig um ihn her. Ja so, er hörte sein Herz klopfen, sein junges Blut rinnen und seine eigenen Träume und Gedanken leise wie Schmetterlinge herumfliegen. Denn Wenzel besass eine tiefe Einbildungskraft, er hatte nach innen und aussen ein feines Ohr und dachte viel. Wenn er aber im Gras mit Ferdinand auf dem Rücken lag und den Mücken zuschaute, die über seiner Nase summten, und den Wolken, die hoch im Blau wie riesenhafte Tagfalter langsam dahin und dorthin schwebten, oft so unverständig und ziellos, dann dachte er gar nichts, dann sah er nur zu und sagte höchstens zum Kameraden: »Siehst du's auch?«

»Eine Wolke, was sonst!«

›Eine Wolke! – der Dumme!‹ sagte sich Wenzel leise und nun fing er wieder an zu träumen. Das war doch keine gewöhnliche Wolke. Das war eine Stadt, wie er sich das Ding vorstellte, mit Türmen und gezackten Bauten und eitel Gold auf den Dächern. Oder es war ein wunderbarer Wald mit Ästen wie Menschenarmen oder ein gewaltiges Tier, das keinem der bekannten irdischen Tiere glich und doch an ein jedes erinnerte.

Meister Philipp sah dieses Träumen mit verdächtiger Miene an, der nüchterne Buchstabenmensch verstand diese Trägheit nicht. Aber er verschuldete sie selber. Nie gab er ja seinem Bübchen Spielzeug in die Hand, wie Holzpferdchen und geschnitzte Schäfchen sind. Landkarten, Bücher mit Rätselfragen und Schachteln voll Griffel und Federn lagen unter Wenzels Weihnachtsbaum. Ganz heimlich musste ihm die Mutter einen Gaul aus Lindenholz, den ihm Ferdinand geschenkt hatte und dem ein Bein über dem Knie gebrochen war, in der untersten Schublade aufbewahren, und nur wenn der Lehrer fort war, durfte Wenzel damit spielen. Es ist nicht zu sagen, wie der Junge auf den Augenblick harrte, da er wieder das dreibeinige Pferd zäumen und mit ihm den Trab und Galopp versuchen durfte.

Doch mit der Schule hatte auch diese versteckte, seltene Freude aufgehört. Da sass er nun seit einem Jahre jeden Vormittag und Nachmittag in der ersten Bank und sollte lesen, schreiben und rechnen lernen. Und mittlerweile zogen die Kühe auf die Weide, meckerten die Ziegen des Mützelmoritz durch das Dorfgässchen in die freien Wiesen hinaus, fuhr Knecht Laurenz mit den Ochsen zum Forst hinauf und holte gefällte und geschundene Tannenstämme und er, der junge, rüstige Wenzel war nicht dabei! Welch ein Unglück! –

Es ist richtig, der Junge suchte sich für diese Entbehrungen auf seine Art zu entschädigen. Statt der grossen und kleinen Buchstaben zeichnete er Schäfchen und Kühe, denen er zum Trotz vier Hörner gab. Warum liess man ihn nicht bei den Kühen mit zwei Hörnern, diesen langsamen, treuen, behaglichen Freunden seiner Kindheit! Auch Ziegen und Hammel zeichnete er in sein Schönschreibheft, und bald guckte der Knebelbart eines Geissbocks, bald der Fettschwanz eines Widders aus den Zeilen, wo doch nur geordnete Buchstaben oder Zahlen von 1 bis 10 stehen sollten.

Der Lehrer strafte seinen Sohn, und Wenzel hörte auf, Kühe und Schafe ins Heft zu kritzeln.

Aber nun sah er mit seinem erfinderischen Auge die Buchstaben genauer an und forschte nach, ob sie nicht seinen lieben Tieren glichen. Und wirklich, bald hatte er sie aus seinem Lesebuch mitten aus den bedruckten Seiten herausgefunden. War das ein köstliches Wiedersehen! – Die ›t‹ und ›d‹ waren natürlich die Ziegen mit ihren spitzen Hörnern. Aber die sanft gewölbten ›n‹ und ›m‹ stellten die Schafe mit ihrem wolligen Rücken vor. Wie glich das grosse ›Y‹ der Gabel, womit er so oft dürres Heu aufgewirbelt hatte. Wer kennt nicht den Rechen ›T‹ – die Sense ›F‹ – die Sichel ›S‹ – den Sägebock ›X‹ und die geschwungene Peitsche ›&‹? – Doch das grosse ›W‹ war ein Lastwagen, und niemand bei gesunden Sinnen konnte leugnen, dass das dicke, schwere ›O‹ einen Stier und das ›Q‹ eine Kuh mit milchstrotzendem Euter bedeuteten. Aber das ›K‹ mit dem rüstig vorschreitenden Bein war niemand anders als des Doktor Nubener Droschkenfuchs. Ja sicher, so war es!

Mit diesem Abc las Wenzel nun grosse, herrliche Geschichten, Geschichten voll Herden und Wiesen, Hütten und Hirten, – Geschichten süss wie kalte Milch und frisch wie grünes Lenzgras, stark wie der zottige Stier und wieder schmiegsam wie Lämmchen. Das ganze Dorf, seine ganze Welt goss er in diese Geschichten.

Doch mit diesem sonderbaren Lesen war Meister Philipp nicht einverstanden. Er bat, er drängte, er bestürmte, donnerte, prügelte, – umsonst, Wenzel lernte nicht anders lesen. Mit unendlichem Stottern und Stocken konnte er bis zu Ende des Jahres ein bisschen buchstabieren. Aber immer noch verwechselte er ›U‹ und ›V‹, ›F‹ und ›E‹ und nahm die 6 für eine 9 und die 3 für eine 5.

Der Lehrer gab dem Knaben Privatstunden nach der Schule. Er marterte sein armes Büblein und sich selber unsäglich dabei. Er weinte mit dem Knaben, und die Tatzen, die er auf die kleinen, zitternden Hände Wenzels schlug, taten dem empfindsamen Manne wenigstens so weh wie dem Jungen. Nach einer Stunde sagte der Bub die Sache so her, wie Philipp sie haben wollte. Nach zwei Stunden sagte er sie wieder verkehrt. Es war nichts zu machen. Philipp wollte verzweifeln.

Die anderen Kinder mit Ausnahme einiger Faulpelze lasen und schrieben schon ganz tüchtig. Auch diese traurigen Faulenzer konnten wenigstens bis auf Hundert zählen und die drei ersten Seiten im Lesebüchlein ohne Stocken lesen. Aber Wenzel zählte nicht einmal auf zwanzig, und schon beim ersten Satze des Lesebuchs, wo ein grosses ›G‹ kam, wirklich ein grosses und unverschämtes ›G‹, das der Kleine immer mit dem groben Holderbauern auf dem Berg verwechselte, schon da stutzte er immer, stammelte unterständiges Zeug, wusste nicht mehr weiter und geriet in ein unverbrüchliches Schweigen.

Wenn man ihn nur nicht ausfragte, sondern wie jetzt vor dem Examen ruhig auf seinem Plätzchen sitzen liess! – O, dann war er schon zufrieden. Dann schaute er verstohlen zum Fenster auf die grünen Wiesen hinaus. Das Korn stand schon hoch mit seinen dünnen, im Wind geschaukelten Halmen. Aber das Gras hielt sich heuer noch niedrig für die Jahreszeit. Doch war das Geissblatt schon verblüht, der Löwenzahn prangte und vergoldete jetzt die Matten, und sicher gab es nun drüben am Bach schon Vergissmeinnicht. Auch die Kirschbäume blühten. Da waren nur zwei Farben, weiss vom Blust und grau vom Geäst. Die Birnbäume und gar der Apfel gefielen ihm besser. Zwischen Zweig und Blume tauchten da schon allenthalben grüne Blätter hervor. Das war nun schon dreifarbig. Bis Ende April, schätzte Wenzel, wird auch der Apfel an die Reihe kommen. Dann hat man noch ein süsses, weiches Rot, hurra, vier Farben!

Dann wieder sah er, wie sein Nachbar Melchior Berner, der Vater der kleinen, befreundeten Franziska, welche gerade hinter ihm sass, – er sah, wie dieser Berner mit dem Pflug durch den Acker fuhr, einen Klepper und eine träge Kuh im Gespann. Mitten durch die Wiese ging der Acker wie ein langes, samtbraunes Tuch. Herrlich waren vom Fenster aus die geraden Furchen zu sehen, die das Eisen durch die Erde riss. Viel gerader noch als die Schreiblinien im Hefte liefen sie. Wenzel merkte es sogleich und genau, wenn das Werkzeug etwas schief geriet. Dann zappelte er unter der Bank unrastig mit den Füssen, schüttelte zornig den Kopf und neigte sich mit dem Oberleib links über, als wollte er sagen: ›So pass doch auf, Melk! – Mehr links! – Du kommst ja dort unten in die Zwetschgenbäume!‹

»Sag' mir, Wenzeslaus,« fragte in einem solchen Augenblick der Lehrer, »nach welcher Seite schreibst du die Buchstaben, nach rechts oder links?« –

Er hatte eben erklärt, dass man die Schrift schräg stelle, zur rechten Hand geneigt.

»Mehr links!« schrie Wenzel zornig, noch ganz im Eifer über den ungeschickten Knecht. Denn er hatte jetzt bei der Wendung des Pfluges gesehen, dass es nicht der Bauer selber, sondern sein Knecht Fritz war. Und das freute ihn wegen Franziskas.

»Mehr links!« wiederholte er entrüstet.

Ein fast unlöschbares Lachen rauschte durch die Schulstube. Alle lachten, nur Franziska und der Lehrer nicht.

Traurig rief Philipp sein Bürschchen ans Pult und liess den Haselstecken durch die Hand gleiten.

»Die Hand her!«

Wenzel streckte das siebenjährige und daher noch so weiche Händchen aus dem Ärmel, worein er es unwillkürlich geborgen hatte.

»Mehr rechts oder links?« fragte Philipp zögernd, um dem Sünder nochmals das Pförtchen der Barmherzigkeit und Bekehrung zu öffnen.

»Mehr links!« behauptete Wenzel. Er konnte nicht lügen.

Darauf fiel der Haselstecken schwer hernieder. Wie das brannte! Des Lehrers Haselstecken, das muss man wissen, tut sehr weh. Aber der Haselstecken des Vaters tut noch einmal so weh. Jedoch am wehesten tat Wenzel, dass er unschuldig gestraft worden war. Denn dieser holperige Knecht war einfach zu weit rechts gefahren.

Dergleichen Stücklein voll Spass und Leid passierten bis zur Osterprüfung öfter. –

Als der Lehrer gestern abend die Noten seiner Schulkinder ausrechnete, um sie am Schlusse der Prüfung laut vorzulesen, zum Lobe der Braven und zur Schmach der Faulen, wie es uraltes Herkommen in Lachweiler war: – ach, wie erschrak er da über die dicken, schweren Zahlen, die er bei seinem lieben Buben zusammenzählen musste.

Die Einer des Doktorsohnes, des Gemeindeschreibers, der Schneidertochter und Franziskas, ha, wie sie glänzten, hell wie die Tugend! – Weiss wie Kreide erschienen sie dem Lehrer, der sich nichts Weisseres als Kreide vorstellen konnte. Die Zweier waren noch immer ganz nett und sozusagen gemütlich, der Dreier dunkelte schon im Schatten der Dummheit, und der Vierer war durchaus zu verwerfen. Aber der Fünfer, der Fünfer war schwarz wie Tinte, schwarz wie die Verdammnis.

Eine Weile versuchte Philipp alle Künste seiner Arithmetik. Umsonst, sein Bübchen war nicht zu retten. Er konnte addieren von oben nach unten und von unten nach oben, immer erhielt er einen Fünfer. Einen Augenblick kam er in Versuchung, die Zahl ein wenig zu mildern und die hässliche Fünf in eine Vier umzuschweifen. Aber die Zahlen selber weigerten sich. Sie sind so ungleich, – sie lassen sich nicht ohne Zwang verschwistern, die Vier und Fünf. Die Natur hat sie schon zu Feindinnen gemacht. Wie sollte da der ehrliche Lehrer sie aussöhnen können? – Und wenn sich die Zahlen noch hätten umbiegen lassen, seine steife Gerechtigkeit hätte er doch nie zu biegen vermocht. Bei seiner Ampel zeichnete er also die Fünf unter den Namen seines Sohnes und zerbrach dann voll Schmerz die Feder. Weit in die Ecke schleuderte er sie, als ob sie eigentlich an allem die Schuld trüge. Doch nach einer Weile erhob er sich und las sie vom Boden auf. Er bog sie mit den beiden Stahlspitzen auf dem Daumennagel und seufzte. Scheinbar seufzte er über die zerbrochene und nun unbrauchbar gewordene Feder. In Wirklichkeit schwebte ihm jedoch etwas anderes vor, das zerbrochen und unbrauchbar geworden war. Nur konnte er es nicht mit genauem Namen bezeichnen. Und darum eigentlich seufzte er so tief und qualvoll.

»Frau,« sagte er und trat zu Monika in die kleine Stube hinaus, »gehen wir zu Bett.«

Monika sah wohl, dass ihr Gatte einen Kummer hatte. Doch wollte sie es ihn nicht merken lassen, sondern zuwarten, bis sie erführe, worin dieses Unbehagen Philipps bestände. Dann erst wusste sie, ob mit Lachen oder einem Tadel oder mit mitfühlenden Worten sie in die Sache einzugreifen habe. Sie war klug, ja schlau wie eine Katze, die aber diese Tugend nur zum Wohle der anderen gebraucht. Schweigend hob sie den Lichtschirm von der Stirne und blickte fragend zu Philipp auf.

»Morgen ist Examen,« fuhr der Gemahl düster fort, »und Wenzel hat einen Fünfer.«

»In Gottes Namen!« – Monika rollte den Strumpf auf, den sie bereits bis zur Ferse für ihren langbeinigen Mann gestrickt hatte.

»Aber Monika, – wie kannst du dabei so ruhig sein?« rief der Lehrer voll Ärger und Bitterkeit. »Alle meine Freude auf morgen und immer ist damit verpfuscht!«

Nun war ihre Zeit gekommen. Fest blickte sie mitten durch seine Brillengläser hindurch in die Augen und fragte. »Philipp, bist du denn nur der Lehrer unseres Wenzel? – Du hast, mein' ich, doch auch noch andere Schulkinder! – Jetzt komm zu Bett!«

Darauf führte sie ihn zur Kammer wie ein Kind. Philipp wusste kein Wort zu erwidern.

Aber als sie durch die Kammer des Buben schritten, auf den Sohlenspitzen, um den Schläfer nicht zu wecken, flüsterte Frau Monika: »Horch einmal!«

Sie standen beide still und lauschten, wie man auf ein schönes Lied hört. Durch die grosse Stille der Nacht vernahm man nichts als die kleinen, regelmässigen und unendlich zufriedenen Atemzüge des Kindes.

»Schau einmal!« sagte die Frau wieder und erhob ihre Kerze.

Da erblickten sie das rotbackige Gesicht ihres Jungen in dem eingedrückten, groben Kissen. Eine Hand liess er über die Decke hinunter hängen, die andere lag flach auf seinem Hemdchen, aber bewegte sich leise mit den Fingerspitzen. Sein Mäulchen stand ein wenig offen, so dass die Zähne hervorblitzten, schöne, weisse, breitschauflige Zähne. Doch die Augen hielt er geschlossen in einem so tiefen Schlafe, wie ihn nur ein siebenjähriges Kind haben kann. Nichts war zu vergleichen mit der Ruhe, die über diesem hellen Gesichte lag. Der Junge träumte wohl, wie er im Klee liege, von weissen, langhaarigen Hasen umhüpft, und wie weit oben vom Hügel etwas grosses Weisses herunterschaut, – ist es eine Wolke oder ein blühender Kirschbaum? – und Duft und Bienengesumm zu ihm nieder sendet.

Frau Monika sagte weiter keine Silbe. Diesen starken, frohen Knaben sehen und völlig zufrieden sein, dass er so und nicht anders ist, war für die Frau mit ihrem einfachen, gesunden Gemüte ein und dasselbe.

Aber auch Philipp fühlte, dass dieser kräftige Knabe da, dem das Bettchen bald schon zu klein wurde, einen Fünfer, ja, wenn es sein musste, ihrer sogar ein Dutzend ganz leicht tragen werde, ohne unter der Last zu wanken. Deswegen wird er zu Mittag auch nicht einen Löffel der ihm so lieben Mehlsuppe weniger nehmen. –

Wie fröhlich sass der dumme Bursche nun da in der vordersten Bank. Neugierig sah er nach der Türe, durch die der Schulratspräsident, der Ammann, der Pfarrer und der Kaplan, die Ratsherren und so viele Väter und Mütter hereinkommen sollten, die sich an der Weisheit ihrer Kinder erlaben wollten. Wie auf ein kurzweiliges Schauspiel wartete der Knabe. Er begriff nicht, wie links von ihm Friedel Meier noch so eifrig im Büchlein die Aufgabe überlesen mochte und Johann Taler hinter ihm immer wieder, so oft er zurückschaute, seine schwitzenden Hände an den Knien abrieb. Und gerade in seinem Rücken sagte eine kleine Marie zu einer ebenso kleinen Therese: »Nur die Hand musst du vor den Mund halten, – und dann darfst du ziemlich laut einsagen, was ich nicht weiss. – Das feine Täschchen mit dem roten Schnürchen, – ich gebe es dir dann!« – Ach, warum sich bemühen? – Warum schwitzen und sich einflüstern? – Was liegt denn daran, ob man etwas weiss oder nicht weiss? – Sein Vater weiss ja alles, alles auf Erden! – Das ist wahr. Aber kann er eine Kuh melken? – Oder auch nur eine Geiss? – Er, Wenzel, kann sogar die störrische Geiss des Bergbauern melken, was nicht einmal der Knecht immer kann. Oft schlägt sie aus und entzieht sich ihm. Aber wenn Wenzel daran geht, hält sie immer geduldig still, wechselt kaum den Fuss einmal und sucht ihm noch gar die Schulter oder den Ärmel zu schlecken. Darauf ist er stolz.

Und die Ratsherren, wissen die etwa alles? – Der Herr Markus Megerle kann nicht einmal recht lesen! – In der Kirche hat er nur zu Ostern und Pfingsten ein Büchlein in der Hand, und dann hält er es verkehrt, so dass die Buchstaben gegen Himmel schauen, als wollte der Mann sagen: ›Herrgott, lesen kann ich selber diese Gebete nicht! – Darum kehr' ich das Buch deinen gescheiten Engeln zu, dass sie dir die Sache vorlesen an meiner Statt.‹ – Da weiss Wenzel wenigstens, wie man ein Buch halten muss, um es zu lesen. Jedes Buch, das kleinste und grösste, wird er richtig in die Hand nehmen und sogleich würde er lärmen, wenn man ein ›t‹ umgekehrt stellte. Denn nie steht eine Ziege auf den Hörnern und geht so herum.

Und erst der Schulratspräsident! – Schon die Erstklässler wissen, dass er nur zusammenzählen, aber weder abziehen, noch vervielfachen kann. Auch dass der reiche Schlehbauer Ott nur die zwei Buchstaben seines Namens schreiben kann, das grosse ›O‹ und das kleine ›t‹. Das grosse ›T‹ und das kleine ›o‹ könnte er schon nicht mehr kritzeln. »Mit zwei Buchstaben,« sagte er einmal im Bauernverein und schlug seine fette Bauernfaust auf den Tisch, dass die Gläser auftanzten, »mit zwei Buchstaben bin ich Kirchenvorsteher geworden.« –

Wenn diese Ratsherren und Grossbauern nicht Angst haben beim Examen, sollten dann die Knaben und Mädchen sich fürchten, die so viel verstehen? – Ja sollte sich nur schon Wenzel fürchten, da er doch das ganze Abc kennt, nur dass er den Buchstaben schönere Namen gibt und sie nicht wie eine tote Schrift, sondern wie eine lebendige Welt vor sich sieht, Menschen und Tiere, Augen und Nasen und Ohren, Gesichter voll Lachen und Weinen, je nachdem! – Nein, nein, Wenzel hat sich nicht zu fürchten!

Endlich geht die Türe auf; zwei Schulräte treten ein und schütteln dem Lehrer bieder die Hand. Sie tragen das Feiertagskleid mit einer gewissen steifen Würde. Ihre sonnverbrannten und starkbehaarten Hände riechen vom Stall. Aber der lange weite Rock, in dessen Futter die Frauen Nelkenwasser gespritzt haben, macht diesen Geruch der Arbeit verschwinden. Die beiden Männer stellen sich in eine Ecke und betrachten von da freundlich die Kinder. Heimlich gratulieren sie sich, dass zu ihren Zeiten solche strenge Schulen und enge Bänke und so viel Wissensmarter noch nicht bekannt waren. Hie und da nicken sie einem bekannten Mädchen zu, dessen Mutter bei ihnen die Wäsche bügelt, oder übergehen geduldig einen Knaben, der letzten Herbst ihr einziges Pfirsichbäumchen am Strassenhag geschüttelt hat, – der verdammte Kerl!

Es klopft wieder, und sogleich, ohne das Herein abzuwarten, stösst der breitschulterige Schulratspräsident die Türe auf. Er hinkt ein wenig mit dem linken Bein, der Mann, der nicht multiplizieren kann. Doch ist sein linker Fuss darum nicht kürzer, sondern er hinkt mehr der Feierlichkeit wegen, um sich sozusagen damit eine beschwerliche Wichtigkeit zu geben. Langsam rutscht er in den hochlehnigen Ehrenstuhl, zieht die Stirne kraus und dreht die Uhr mit dem Schlüsselchen auf.

»Beginnen Sie, Herr Lehrer,« sagt er würdig, nachdem er noch einen Blick auf den Stundenzettel geworfen hat. »Beginnen Sie mit der Giographie!« Sein Lebtag hat der Präsident nie Geographie gesagt. Und doch war er bei der Grenzbesetzung als Fähnrich bis an jenes Land gekommen, wo man Bonschur und Mussiö sagt, – und dreimal hatte er eine gescheckte Herde von Rindvieh über den Gotthard ins Mailändische hinuntergeführt.

Man beginnt also mit der Geographie.

Die oberen Klassen fangen an von unserem schönen und braven Vaterland zu reden. Wie gross es sei – die Kinder behaupten steif und fest, es gebe kein grösseres Land auf Erden. Wenn man auf dem Kirchturm des Dorfes steht, dort wo in den Ecken so viele Fledermäuse wie braune Lederlappen an den Krallen hängen, – glaubt ihr, man sehe wohl von einem Ende des Vaterlandes zum andern? – Nicht einmal, wenn man auf den Melzberg steigt, der über dem Dörfchen sich steil erhebt. Man sieht weit dort oben, das ist nicht zu leugnen, und die Nachbarn von Wohlheim, die von ihrem Guggistock noch mehr sehen wollen, lügen wie immer. Nein, man sieht hier auf dem Melzberg am weitesten, sogar den grossen Fluss, der zur Hauptstadt wie ein starker Wanderer läuft, sieht man in der Ferne prachtvoll im Schweisse seines Angesichtes glitzern. Und wenn es hell ist, am Abend, ein wenig nach Sonnenuntergang, dann tauchen am südlichen Himmelsrand sonderbare Gebilde auf. Man meint zuerst, es seien Wolken. Dann aber sieht man, dass es Berge sind, die fernen, ungeheuern des Oberlandes, dunkelgrün an den Füssen, grau an der Brust, aber von der Schulter an weiss im heitersten Schnee. Und hinter diesen Bergen hört das Land noch immer nicht auf. Da kommen wieder neue Täler, neue Berge, ach Gott, unser Vaterland hat kein Ende.

Und die Kinder erzählen auch, wie schmuck es sei. Schon das Dorfbächlein ist sehr schön, besonders wenn die Dotterblumen und weisse Vergissmeinnicht daran blühen – und die Sau des Bauern Martin mit ihren elf gesprenkelten Ferkeln nicht darin herumwatet. Unten am Dorfe springt das Wasser über eine jähe Rampe. Dieser Sprung ist ein Kunststück. Das sagen alle, die ihn zum erstenmal sehen. – Aber wie viel schöner muss nun dieser Bach als Fluss erst in der Ferne sein! – Und dieser Fluss rauscht wie die Kirchenorgel, wenn man zu Ostern das Halleluja spielt. Ha, und wie weit er zieht! – Soll einer probieren und ihn aufhalten. Da kommt ein See. Er läuft hinein. Meint ihr, er bleibe da? Keine Rede. Unten springt er heraus und schüttelt sich wie eine Dogge. Als wäre es nur ein Spass gewesen, rennt er lachend weiter. – Nun steht ein Wald entgegen. Mitten durch die alten Tannen rauscht der Strom. Ein Fels stemmt sich breit und schwer gegen sein Wasser. Wie ein Geharnischter trotzt er. Hier ist mein Strom schlau. Er stutzt heuchlerisch, tut als solle er umkehren und schiesst dem Ritter plötzlich zwischen den Beinen durch. Nie hat ein Mensch erlebt, was unser Strom: solche Stadtbilder mit Türmen und Glockensang, der den ganzen Tag nie aufhört, solche Menschen, die ganz andere Augen im Gesicht tragen und eine neue Sprache reden, lateinisch wie der Pfarrer in der Kirche oder noch wunderbarer; und solche Schiffe, Schiffe wie Häuser und dann wieder wie Haselnusschalen; und solche Fabriken mit tausenden sausenden Rädern; und solche Kirchen aus grauem Stein, still, hoch und mächtig wie Berge. O unser Strom, – es gibt auf Erden keinen besseren.

Dann berichten die Kinder, wie viele Dörfer und Städte in unserem Vaterland seien. Die Dörfer kann man gar nicht zählen, – die Städte vergisst man, so viele sind ihrer, – und nur die ganz grossen kann man mit Namen angeben. Aber grösser und schöner als alle andern ist die Hauptstadt, wo die Regierung wohnt und der Bischof haust. Sie sehen zueinander von ihren Marmorfenstern und grüssen sich am Morgen: »Guten Tag, hohe Herren des Landes!« – »Guten Tag, Herr Bischof!« –

Unser Vaterland ist fleissig wie eine Ameise. Welchen Hanf spinnen sie da draussen im Flachland! Man verdirbt sich die Augen am feinen Faden! – Welche Seide wird da gewoben! – welch weisses Linnen in die Sonne gebreitet! – Man meint, es sei Schnee. Aber der Schnee dürfte sich davor schämen. Nirgends nährt der Boden ein stattlicheres Vieh. Unsere Rosse reiten am schnellsten. Und habt ihr das Obst gesehen, das man von den Dörfern in die Stadt fährt? Wahrhaft, es ist wunderbar, was auf unserm vaterländischen Boden wächst!

In unsern Städten gibt es nebstdem Maler, die nicht nur mit allen Farben, sondern sogar mit Gold und Silber malen. Bildhauer schnitzeln steinerne Helden, die so gross sind, dass das Dorf Lachweiler in ihren Häuptern Platz fände. Den ganzen Tag laufen die Maschinen, blauen und grauen Rauch werfen die Kamine unaufhörlich aus, es rennen die Wagen, es fliegen die Luftballons, es blitzen die Schienen wie ein silbernes Netz durch die Landschaft, – kein Wunder, dass unser Vaterland reich ist. Ja, das Vaterland ist so reich, dass es selber Geld machen kann, und wenn es einmal in Not käme, keine Angst! – sogleich prägt es wieder Geld. Es kann nicht arm werden.

Und erst wie stark ist unsere Heimat! – Das wissen vor allem die Buben. Viele Feinde haben schon an seine Türen mit ihrer unverschämten Faust geklopft. »Riegelt zu!«, würden natürlich die dummen Mädchen sagen. Haben unsere Väter etwa zugeriegelt? – Dummheit, – weit aufgerissen haben sie die Tore und sind den Angreifern ins Gesicht gefallen. Seit siebenhundert Jahren haben wir Kriege gehabt. Nie verspielten wir! – Es kamen die Österreicher, – wir droschen sie wie reifen Weizen; es kamen die Franzmänner, – wir zerdrückten sie zwischen den Bergen, dass ihr Blut wie Most an der Kilbi floss; die Russen, die Engländer, mögen sie nur kommen, wir hauen sie auch nieder! – Am liebsten aber die Türken! – Wir fürchten nicht einmal den Teufel! Zwischen den Hörnern schlagen wir ihm den Kopf ein, schlagen Kopf und Leib durch bis auf den Schwanz. – Stark ist unser Vaterland!

Bei solcher Schilderung werfen sich die Ratsherren in die Brust. Der Präsident nimmt voll Vergnügen eine Prise Schnupf nach der andern. Selbst der engbrüstige Kaplan prüft den Handmuskel und berechnet, ob er es in einem Kreuzzug gegen den Halbmond mit zwei oder gar drei Mohammedanern aufnehmen könnte. Die lässige Stellung, welche die Gäste eingenommen haben, wandelt sich in eine kriegerische um. Besonders heroisch steht der dünne, magere Gemeindeschreiber Felix da. Ein Pariser Schauspieler könnte von ihm die grosse Pose lernen, wie man mit Todesverachtung einen zehnmal grössern Feind empfängt. Alle die Examenleute fühlen den Geruch von Eisen und Pulver durch die Stube ziehen, und allen ist dabei unendlich wohl. – Das Vaterland ist stark!

Auch Wenzel erfreut sich an diesen Schilderungen. Wie oft hat er sie schon von Drittklässlern gehört und wie gut gefallen sie ihm immer wieder! – O wollte man nur auch ihn einmal darüber abfragen! – Er wüsste das alles auch und noch viel mehr dazu. Denn er hat ein gutes Gedächtnis und weiss famos zu erzählen. Aber nie forderte man ihn in der Schule dazu auf. Konnte er ja nicht einmal lesen! – Wie sollte er da erzählen? – Zuerst kommt doch das Abc, dann das Lesen, dann das Erzählen. Nicht umgekehrt! – Das war des Lehrers unantastbarer Glaubenssatz. Ach, wie schade das war!

Wenzel hätte so viel von den alten Helden gewusst! – Nicht bloss vom Tell und Winkelried, nein, auch von dem See bei Murten, in dem rote Burgunderhosen schwimmen, – auch vom Glatteis des Tessin, über dem die Lombarden straucheln, – auch vom Webermeister und Staatsgewaltigen Hans Waldmann, vom frommen Klaus im Ranft und vom geköpften Henzi, der noch hinter der Augenbinde über die kleinen und grossen Henker im Vaterland gelacht hat. Er wüsste zu schildern bis auf die letzten Zeiten, die man bereits mit dem Finger streift. Wenzel hat seinen Kameraden schon viele Geschichten erzählt. Auch Zweit– und Drittklässler hören ihm gerne zu. Sonntags nach der Vesper erzählt er hinter dem Dorfe am Weidhügel. Dort sind Haselstauden, und das Gras wird früh gemäht. Nirgends erzählt sich besser. Was Wenzel weiss, ist wunderbar; noch wunderbarer, woher er es hat. Da schwirrte es durch die Gasse, da flog es von einer dürren Lippe, da ward es am Brunnen ausgeklatscht oder wurde von einem Vogel gepfiffen; aus der Stube des Totengräbers und der Hebamme, aus dem Gespräch der Männer, die am Feierabend auf der Dorfmauer ihr Pfeifchen rauchen, wehten einzelne Fetzen zu. Und alles behielt und verband Wenzel zu ganz neuen Geschichten. Man kauerte sich zusammen, wenn er erzählte, strafte mit zornigen Blicken jeden, der unter der Geschichte sich einmal schneuzte oder hustete, und wenn Wenzel endlich fertig war, aufstand und die Halme von den Hosen wischte, da zerrte man ihn wieder ins Gras zurück und rief: »Noch ein letztes Geschichtlein!« – Und Wenzel setzt sich wieder und gibt noch ein Geschichtlein. Und da wird nichts geschildert, wo nicht ein Hund mitredet oder eine Kuh muht oder ein Schaf blökt oder eine Ziege nützliche Hornstösse verübt. In seinen Geschichten haben die Tiere eigentlich mehr als die Menschen zu tun. Er kennt sie wie seine Geschwister. Er liest in ihren – ich muss es sagen – in ihren Seelen. Dann steht er auf und sagt: »Genug für heute!« Und zum zweitenmal reissen ihn die Kinder ins Gras herunter. »Nur noch ein letztes, allerletztes, o bitte, Wenzelchen!« – Gut, also! – Aber wenn sie ihn zum drittenmal packen, dann gibt er nach rechts und links drei ausgezeichnete Rippenstösse und ruft: »Jetzt geh' ich die Geissen melken!« – Und er springt den Hang hinunter, selber wie eine tolle Geiss, aber kehrt sich nochmals um und legt den Finger an den Mund: »Dem Vater nichts sagen!« – Und alle verstehen ihn und sagen dem Lehrer wirklich nichts davon, was für ein grosser Erzähler sein Sohn sei. Aber das ganze Dorf weiss davon, eben nur der eigene Vater nicht.

Gerade als die Buben von dem Teufel sprachen, den unser Vaterland gar nicht fürchte, trat der Pfarrer herein. Man wollte aufstehen. Aber der geistliche Mann winkte rasch mit der flachen Hand und rief: »Sitzen bleiben, sitzen bleiben!« – Zwar die Mädchen erhoben sich dennoch alle von den Bänken und von den Buben gleichfalls die etwas schmeichlerischen und zutunlichen. Einige Unsichere blieben in halber Höhe hangen. Unser Wenzel aber sass natürlich bockfest. Wenn einer sagt: »Sitze!« – so sitzt er; sagt einer: »Steh auf!« – so steht er auf. Das ist doch einfach. Es sitzt niemand daher so keck aufrecht im Gestühl wie Wenzel. Mit Zärtlichkeit betrachten ihn alle Examengäste. Wer ihm böse sein könnte, müsste der Böse selber sein.

»Rechnen, Herr Lehrer,« keuchte nun der Präsident, »zuerst im Kopfe, dann auf der Tafel!«

Der Lehrer nickt und blickt dann sorglich über die zweite Klasse, die jetzt an die Reihe kommt. Wie Rekruten vor der Parade, so richten die Kinder dem Lehrer ihre von Eifer glänzenden Stirnen zu.

Ein ergötzliches Scharmützel beginnt. Vom Pulte fliegen saubere, runde Zahlen in die Bänke. Wie Bälle werden sie dort aufgefangen und zurückgegeben. Die wohlgenährte, in ihrem Fett keuchende Null, der spitze, magere, etwas giftige Einer, die schöne, kokette Drei, der kecke Springer Fünf, die behäbige Acht, die vornehme Sechs und der schwermütige, immer an das Ende der Welt und den jüngsten Tag denkende Neuner, – sie fliegen hinüber und herüber und zwitschern dazu wie Vögel. Es wird einem ordentlich wohl dabei. In den Ratsherrenköpfen wächst das Staunen. Die Beherzteren versuchen zuerst die Rechnungen auch zu lösen. Aber bis ihre alte Maschine funktionierte, waren die kleinen Mäuler mit dem Resultat längst fertig. Da hörten die Männer auf, sich zu quälen, und bewunderten nur noch. Aber in ihre Bewunderung mischte sich auch Angst und Schrecken. Wenn man so rechnen, im zweiten Schuljahr schon so rechnen kann, wo will das hinaus? – Wo ist da Platz und Stoff genug für solches Rechnen? – Jetzt freilich sind es nur Einer und Zehner. Dreistellige Zahlen sind noch ein Geheimnis. Aber wie lange? – Zusammenzählen – nun das würde man noch begreifen. Schliesslich auch noch das Vervielfachen. Aber abziehen und gar teilen, teilen in vier, fünf, sieben und mehr Teile, das ist schwer. Es geht gegen das Blut, man tut's ungern. Man möchte vergrössern, nicht verkleinern. Es ist nicht auszudenken, wohin diese unheimliche Rechnungskunst noch führt. In der dritten Klasse, ich wette, da spielen sie mit den Hunderten nur so leichthin. Es kommen die Tausender, Zehntausender, der Tross der Nullen mehrt sich. Immer vornehmer wird die Zahl, immer grossartiger ist ihr Mägde– und Knechtegefolge. Wahrhaft, das ist nicht mehr republikanisch! – Was sage ich von Millionen! – Man hört von Billionen und Trimelonen oder ähnlichem reden. Schreiben kann man das nicht mehr, nur noch denken. Aber es schwindelt einem dabei. Was soll aus der Erde werden? – Sie ist doch immerhin ein altes und da und dort rissiges Haus. Wenn man mit solchen Zahlen auffährt, sie wie Berge zusammenwirft, was gibt das für Gewalttätigkeiten! – Und wenn man mit solchen Zahlen gar zu teilen beginnt, welche Armut müsste entstehen! – Wir kommen alle um, alle geraten wir an den Bettelstab.

Aber die Kinder zählen ruhig weiter. Sie lachen dazu. Für sie sind die Zahlen nichts weiter als Zahlen. Kinder und Zahlen sind noch gleich unschuldig. Diese Rechner wissen noch gar nicht, was für ein gefährliches Subjekt diese so einfältige Eins ist, welche Tücken die Zwei bereits versteht, – und wie der Dreier schon eigentliche Untaten verübt. Gottlob, dass sie es noch nicht wissen, sie würden wahrlich nicht lachen! –

Das Tafelrechnen fängt jetzt an. Der Schulweibel hätte nie gedacht, dass man mit so wenig Kreide so grosse Aufgaben löst. Man rechnet von Jahren und Jahrzehnten, von Ziegeln auf dem steilsten Dache, von Blumenstöcken am Gesimse, von Soldaten, Vögeln, Rossen, und alles wird mit den gleichen Zahlen geschrieben. Da muss man nicht erst die Ziegel vom Dache holen oder die Vögel abfangen, nein, hier an der Tafel mit ganz wenig Kreide und diesen verdammten Zahlen wird alles Nötige besorgt. Und handelte es sich um einen Löwen, man schriebe eine Eins. Und er steckte in der Eins. Und wäre es ein Walfisch, zwanzig Walfische, einerlei, nur ein wenig Kreide und nur eine kleine Zahl. Wenn wir nur Zahlen und Kreide haben, wir zerdrücken die Welt zwischen Daumen und Zeigefinger.

Die Ratsherren dürfen wohl staunen. In der Tat, das ist grossartig. Aber beängstigend ist es doch auch!

Dennoch, die Mädchen mit ihren dünnen Handgelenken und ihren kleinen, roten Fingern schreiben die Zahlen lustig her. Und die Buben, das kleine Pack, wie gleichgültig malen sie die dickste Ziffer auf, als wäre es nur eine Erbse. Die spielen sozusagen mit dem Schiessgewehr und wissen nicht, dass es geladen ist.

Der Pfarrer allein fürchtet sich nicht im mindesten vor diesem Spielzeug der Kinder. In seiner Jugend hat er nichts lieber getan, als gerechnet. Ja, man darf sagen, er hatte das Zeug zu einem grossen Rechner. Oft hat er dem Professor zugerufen: »Herr Doktor, das würde ich noch einfacher so –« oder: »Sollte man nicht kürzer –« usw.; ja, lange Zeit trug er sich wirklich in Heiratsgedanken mit der schönen, kalten Dame Mathematik herum. Damals war sein Angesicht noch blass und von jugendlicher Sehnsucht nach dem Ideal verzehrt, daher mager und leidend. So wie er jetzt da sass, behäbig, mit dem roten, gemütlichen Gesicht, der tiefen Zufriedenheit in jeder Miene, der genügsamen Freude am kleinsten Spässchen, an der geringsten Prise Schnupf, am schwächlichsten Antworten der Kinder, hätte ihn niemand von seinen alten Kameraden, hätte er sich selber nicht mehr gekannt.

Denn da begab es sich, dass er im zweiten Kursus der Philosophie einen fremden, berühmten Prediger von der Gotteskunde reden hörte. – Es war eine Abendandacht, in die er nicht freiwillig, sondern mehr durch eine Reihe von Zufällen geraten war. Dämmerung hüllte schon das Volk, die bemalten Kirchenwände und selbst die Kanzel ein. Auch das helle, verklärte Antlitz des Predigers versank im zunehmenden Schatten. Dafür waren seine Worte wie Lichter, die in die Dunkelheit hinausgeschleudert wurden.

Er sagte, wie es noch keiner so beweglich gesagt hatte, was das für eine Kunst sei, die Vergangenheit der Völker aufzudecken, gleichsam die Toten lebendig zu machen. Und erst welche Weisheit, das Stäblein des Richters zu führen und messerscharf zu zeigen: »Hier hört das Recht auf, und hier beginnt das Unrecht!« Doch jedesmal, wenn man meinte, jetzt werde er ausrufen: »Also, werdet Richter, werdet Geschichtsforscher, werdet Geographen!« und wenn die Zuhörer fast nicht mehr an sich halten konnten vor Begeisterung, dann wälzte er ein »aber« wie einen Berg daher. »Aber die Theologie!« – Und da sah man denn bald, dass ihr der Geschichtsforscher nicht die Füsse waschen und der Jurist sie nicht trocknen dürfe. – Indessen grösser als die übrigen Künste sei die Zahlenkunst, fuhr der Redner fort. Sie messe Himmel und Erde, löffle das Meer aus, binde die Luft in ein Sacktuch. Schon wieder hüpfte dem Kandidaten der Mathematik das Herz. Und siehe, wieder rollte ein »aber« daher und diesmal das schwerste von allen. Aber alles in der Rechenkunst sei endlich, alles zählbar, alles messbar, und wenn sie dennoch von Unendlichem rede, so sei das ein Selbstbetrug. Denn sie, die Mathematik, wolle doch immer zählen, das heisst, eben ihren Dingen Namen und Grösse geben, sie eingrenzen oder umrahmen. Das bleibe dann doch alles etwas Endliches. – Aber die Theologie sei die Kunst und Wissenschaft des Unendlichen. Da könne man Millionen Nullen hinter eine Zahl schreiben, sie spotte darob. Über alle Zahlen, über alles Mass gehe sie hinaus, wie der Himmel über die Erde. Denn ihr Wesen sei Geist, Hauch des Ewigen, Unendlichkeit.

Jetzt wurde die Predigt zu einem majestätischen Strom, auf dessen rauschendem Rücken die Theologie wie ein stattlicher Dampfer in der Mitte fährt, mit weissen Segeln und weissen Fahnen, und ringsum sind die Juristerei und die Arithmetik und die Künstlerschaft nur kleine, schwache Nachen, die bald übermüdet sich da und dort am Ufer bergen, während die hochgemute Theologie in aller Grösse in den Ozean hinausschwimmt.

An jenem Abend gingen fünf Studenten der Philosophie zum Prediger in sein kleines Gaststübchen und liessen sich für den geistlichen Beruf einschreiben. Zwei wurden nach einem Semester wieder untreu, einer starb, der ein Aloisius geworden wäre, der vierte sattelte noch im dritten Jahre um, er aber, Cyrillus Zelblein, harrte aus. Er wollte mit unendlichen Zahlen rechnen.

Bald wurde er Pfarrer in Lachweiler. Beim ersten Besuch der kleinen Gemeindeschule dachte er, das werde nur so eine Vorstufe für seinen fernern Lebensgang sein, eine einfache Gleichung, bevor er zu den Differentialgleichungen gelange. Nachher würde er Stadtvikar, Pfarrer an der Hauptkirche der Residenz, schliesslich Professor der Theologie an der Universität, ein Orakel für Zweifler, ein Leuchtturm in der Wirrnis religiöser Meinungen.

Doch es blieb bei der einfachen Gleichung. Nach und nach verbauerte der Mann. Nicht im schlimmen Sinne, beileibe nicht! Aber je länger er unter den freundlichen Dorfmenschen weilte und je genauer er sich in das Einzelmenschliche hineinstudierte, um so klarer wurde es, dass er auch hier auf seine Rechnung komme. In jedem ihm anvertrauten Dörfler fand er schon so viel Unmessbares, Unendliches, dass er daran völlig genug bekam. Weder schrieb er das achtbändige Werk moderner Theologie, wovon er in heissen Stunden der Jugend unbändig schöne Dinge geträumt hatte, noch rollte er je einmal die europäische Karte wieder auf, deren Hauptstädte er mit roter Tinte als Kanzeln seiner späteren Apostelreisen in den unvergorenen Seminarjahren bezeichnet hatte. Seine niedrige Kirche mit dem schmalen Mittelgang, seine enge Behausung, der kleine Garten mit Hühnerstall und seine sechshundert Seelen waren ihm jetzt Welt genug. Von den vielzifferigen Zahlen kehrte er nach und nach wieder zu den Einerstellen zurück. Er fing an zu glauben, dass die höchste Mathematik vielleicht doch eher im Eins als in Unsummen enthalten sei.

Niemand hörte dem kindlichen Rechnen so aufmerksam, niemand so glücklich zu wie Pfarrer Zelblein. Auf diese Zahlen sah er jetzt, wie ein Schiffer am Ufer auf die geflickten, veralteten oder auch neu herausstaffierten Schiffe blickt, die im Meer herumfahren und ihn an so schwere Stürme und Schädigungen und an die endliche Sicherung des Lebens hier auf dem festen Uferboden gemahnen. Immer heiterer wurde er. Schliesslich erhob er sich, schritt zur Tafel mit jenem breiten, ruhigen Schritt, in den sich nach und nach sein drängendes Jünglingshasten verwandelt hatte. »Geben Sie mir die Kreide, Herr Lehrer!« sagte er mit verhaltenem, greisem Mutwillen.

»Hier, Herr Pfarrer,« machte Philipp zögernd; er liebte es nicht, dass man ihm ins Programm pfuschte.

Die Kinder reckten die Köpfe. Die Ratsherren lächelten im Vorgefühl eines guten Spasses. Doch mit wachsender Unsicherheit zog der Lehrer an seinen Frackzipfeln, obwohl keine Falte vorlag. Das stand nun einmal nicht im Programm, dass der Pfarrer rechne, und was nicht im Programm stand, das machte Meister Philipp, den Buchstabenmenschen, sogleich unsicher.

Aber dieser unprogrammässige Pfarrer gefiel um so besser dem Sohn Wenzel. Ei, wie der Bub lachte! Der Pfarrer – die Kreide in der Hand! – nein, das ist zu lustig! Wird er wohl Zahlen schreiben? Ein Pfarrer schreibt sicher ganz andere Zahlen als die gewöhnlichen Leute! Sieh' da!

Herr Cyrill schrieb wirklich mit grossen, etwas steifen Ziffern, die sozusagen noch ein wenig nach Theologie und Unendlichkeit rochen, die Zahl 890 auf. Dann wandte er sich nach den Drittklässlern, die die dreistelligen Zahlen schon durchgenommen hatten und sagte: »Ihr da – die Geschichte versteht ihr prächtig, aber rechnen muss man auch können. Na, welche von den zwei Zahlen ist denn grösser und stärker, die Acht oder die Null?«

Alle, auch die Zweitklässler und einige vom ersten Kurs riefen einhellig, die Acht sei viel grösser.

»Wenn ich aber behaupte,« neckte der Pfarrer listig, »die Null sei mächtiger, he?«

Was, die Null? Unmöglich! Die dumme, faule, dicke Null! Die Nichtstuerin, mit ihrem blöden Gesicht ohne Augen, ohne Mund, ohne Ausdruck! Unmöglich! Wenn es nur nicht gerade der Pfarrer gesagt hätte! Man muss ihm doch glauben! Man sollte doch!

»Ihr glaubt mir nicht,« lachte Cyrill. »Ihr Bösewichter! So, so, da sollt ihr mal sehen, was für ein braves, starkes Ding diese Null da ist! Achtung, jetzt nehme ich die Acht weg, was hab' ich noch?«

»Neunzig!« schrien die Kinder.

»Gut! Aber nun schneide ich die Null ab, was bleibt jetzt, Kinder?«

»Neunundachtzig!«

»Da habt ihr's: wenn die Acht weggeht, so sind doch immer noch neunzig übrig, genug, um die Russen und Türken zum Kuckuck zu jagen. Doch zieht die Null von uns, so stehen nur noch neunundachtzig Mann fest, der Führer fehlt, und wir werden allenfalls noch die Russen, aber nicht zugleich die Türken zusammenhauen.«

Alles lachte. Nur der Lehrer machte eine schmerzliche Miene. Er fühlte sich durch diesen unkorrekten Scherz in seiner Würde als Rechenlehrer verletzt.

»Glaubt ihr jetzt, dass die Null stärker sei?« fragte der Pfarrer.

»Ja!«

»Eine ganze Antwort!« mischte sich Philipp ein. Es kostete ihn zwar eine grosse Selbstüberwindung, diese tolle Unwahrheit nochmals anzuhören. Aber die Korrektheit der Form siegte in ihm.

»Ja, die Null ist stärker, wir glauben es!« schrie der Chor übermütig.

»Und seht doch, wie bescheiden die Null immer bleibt! – Sie lässt die Acht vorausmarschieren und kommt zuhinterst wie ein Knechtlein, das der Herrschaft den Korb nachträgt. Und doch ist die Null mehr als die Acht!«

»Aber, aber –« stammelte es aus der hintersten Bank.

»Was willst du, Bernhard?« fragte der Pfarrer einen kleinen, verwachsenen Knaben, dessen Augen von Witz funkelten.

»Die Acht schon, – aber, aber – wenn ich die Neun wegschneide, – dann – dann –«

»Was dann?« begehrte der Pfarrer rüstig.

»Dann bleiben nicht einmal neunundachtzig, sondern nur noch achtzig. Also« – endete das Bürschchen mutiger, als es den zunickenden Kopf des Lehrers bemerkte, »also ist die Null kleiner als die Neun und –« er sah wieder das Nicken des Lehrers, »und vielleicht –«

»Du Schwerenöter,« unterbrach ihn hier der Pfarrer mit erkünsteltem Zorn, »die Neun schon, das ist richtig, aber die Acht doch nicht.«

»Je, je, – Herr Pfarrer!« machte der Kleine und blinzelte listig zum Geistlichen. Er schien dem Schelmenstücklein auf die Spur zu kommen.

»Lass mir jetzt meine Null in Ruhe, Spitzbube!« wehrte der Pfarrer lachend. »Was hat sie dir denn zuleide getan?« Und zum Präsidenten sich bückend, flüsterte er: »Den Bernhard sollte man studieren lassen!«

»Von der Zunge genommen, Herr Pfarrer. Dachte schon vorhin –« das übrige verlor sich in einem unverständlichen Keuchen und Lachen. Der Herr Präsident war einer von jenen glücklichen Menschen, die alles, was andere denken, eine Minute vorher auch gedacht, wenn auch in übertriebener Bescheidenheit noch nicht ausgesprochen hatten.

»Ein Mordskerl, dieser Berni!« sprachen die Eltern zueinander. »Ganz wie der Vater, – hitzig, witzig!«

Alle Kinder merkten indessen, dass der Pfarrer einen Scherz getrieben, dass die Null doch kleiner als die Acht sein müsse. Nur Wenzel merkte das nicht. Er betrachtete die runde Null an der Tafel mit unschuldiger Freude. Aufs Wort glaubte er dem Pfarrer. Eine liebe, gute, treue Null das! – Ein Knechtlein, hatte der Pfarrer gesagt. Da läuft es hinter den anderen Zahlen einher, sie schauen es nicht einmal an, so stolz sind sie! Und doch, was wären sie ohne das Knechtlein – diese Herren? – Wer würde die Ziegen melken, die Kühe treiben, den Stall ausmisten? – Und überhaupt Ordnung halten, wer? – Alles würde faulen und zugrunde gehen. Solche Nullen, solche Knechte sind nötig.

Wenzel dachte weiter, dass er auch so eine Null sei. Möge lesen, wer es braucht! Rechnen, wer es bedarf! – Er aber wollte wie ein Knechtlein hinterhergehen, diesen Leuten, die sich mit Rechnen und Lesen abgeben, das Haus besorgen, Stall und Wiese pflegen, dass sie Milch und Käse und Sonntags Butter bekommen, – dass ihr Gras gemäht, ihr Korn geschnitten und ihr Futter zu ordentlichen Preisen verkauft wird; und dass man den Acker im Lenz düngt und das Obst im Herbst schüttelt, das wollte er auf sich nehmen. Was wollten sie anfangen, diese gescheiten Leute, ohne das Knechtlein?

Je länger Wenzel die Null betrachtete, desto mehr dünkte ihn, dass sie ihm glich. Wie ein Brüderchen von ihm, nein, wie er selber sah sie aus. In ihrer runden Scheibe glaubte er sich wie in einem Spiegel zu erkennen. Er musste lachen, nicken, grüssen, – und die Null schien ein gleiches zu tun. Plötzlich knickte er zusammen. »Die erste Klasse, Herr Lehrer!« keuchte der Präsident und tupfte mit dem Daumen auf die letzte Zeile im Programm der Prüfung. »Lassen Sie Nummer 12 lesen: ›Die treue Katze‹!«

Viele Kinder erschraken. Nummer 12 war eines der letzten Lesestücke, das sie nicht mehr so fliessend lesen konnten wie die ersten Kapitel, die auf den vordersten, an den Ecken von den Fingern so schweissigen und gebräunten Blättern standen. Noch mehr erschrak der Lehrer. Nur auf der ersten Seite konnte sein Wenzel lesen und auch da nur die ersten Zeilen und auch die nur aus dem Gedächtnis und mangelhaft. Aber auf Seite 12 war er unfähig ein Wörtchen zu buchstabieren.

»Ist Ihnen nicht wohl?« fragte der Pfarrer. »Sie sehen so bleich aus.«

»Es ist nur die Hitze, Herr Pfarrer!« erwiderte der Lehrer und wischte sich den Schweiss vom Gesicht. Auch die anderen Herren und besonders der dicke Weibel gebrauchten ihre Nastücher fleissig. Denn es lag wirklich eine schwüle, gewitterhafte Glut verstohlen in der morgendlichen Luft. Doch der Lehrer fror eher. Ein Schauder nach dem andern strich ihm den Rücken hinauf. Er hatte schlecht geschlafen, vor Aufregung nicht frühstücken mögen, und nun drückte ihn neben der schweren, dumpfen Luft die nahende Schande mit seinem Sohne. Es war ihm wie einem General zumute, der seine Soldaten gegen die feindliche Front marschieren lässt und voraussieht, dass viele Schwache darunter sind, die ohne einen Schwertstreich fallen. Unter diesen Machtlosen und Geringen ist sein eigener Sohn! – Immer näher rückt er dem Treffen entgegen, jetzt gerät er ins Gefecht, packt schwächlich an, – o, der Vater sieht, er sieht, wie der Jüngling sich Blösse auf Blösse gibt, sieht, wie man ihn niederringt und in den Boden tritt. – Und das ist sein Sohn, sein einziger Sohn!

Wenzel hat keine Furcht. Er kennt die Geschichte auf Seite 12 sehr gut. Lesen kann er sie nicht. Aber erzählen könnte er sie vom Hörensagen. Wollte doch sein Vater ihn darüber ausfragen! – Wie sollte er diese Mutterkatze ausmalen, diese schwarzbraune, samtene, – ihre kleinen, ebenso schwarzbraunen Jungen, dann den schrecklichen Vogel mit dem krummen Schnabel. – Doch wie sollte man ihn ein Geschichtlein erzählen lassen, dessen Titel er nicht einmal lesen konnte! –

Das Lesen begann, wie es bei Abc–Schützen gebräuchlich ist, lehrhaft, langweilig, singend, rasch, wo die Kinder ihrer Sache sicher waren, langsam, wo der Boden uneben wurde. Das Lesen glich einem unsicheren Tasten. Wort um Wort wird erst sozusagen befühlt. Oft hüpft die erste Silbe hurtig wie ein Schwälbchen aus, aber die längere, zweite Silbe braucht Zeit, sie scharrt sich mühselig wie eine Bruthenne vorwärts. Doch zwischen dieser ersten und zweiten Silbe behält der kleine Leser den Mund offen oder bewegt mit leisem, scheinheiligem Eifer die Lippen, als rede er mit sich selber, dreht die Augen wie ein Schauspieler herum, schüttelt den Kopf und gebärdet sich wie ein Hahn, ehe er kräht, oder ein Wahrsager, bevor er sein Orakel ausgibt. In der Tat, es ist ein mühsames Lesen, selbst für die Zuhörer, die jeden Augenblick einspringen und den Stotternden das Nötige einflüstern möchten.

Dennoch liest kein Weiser und kein Künstler so herrlich wie die Kinder hier, sicher nicht. Man sehe einmal diesen Eifer an! – Nicht bloss mit dem Mund und beiden flinken Augen lesen sie; nein, auch mit der Stirne, die sie rümpfen wollen, mit den Backen, die sie aufblasen und bald hell, bald dunkel färben, mit dem nickenden Kinn, dem hin und her gedrehten Hals, mit den Achseln, den kläubelnden Fingern, mit den wechselnden Füssen, mit dem ganzen Menschen lesen sie. Und mit der ganzen Seele sind sie dabei. Jedes Wort fassen sie wie ein Bild, das vor ihren Augen hängt. Sie lachen, wenn es heisst: »Die jungen Kätzlein hüpften possierlich um die alte Mutter herum.« – Wahrhaft, sie biegen dabei ihre weichen Hälschen und wiegen sich auf den leichten Hüften, als wollten sie das Gaukelspiel nachahmen. »Da kam ein Geier wie ein Schatten über sie herab.« Habt ihr gesehen, wie sich die Mädchen beim Worte Geier alle ducken und eine tiefe Angst aus ihren Augen strömt? – »Katze und Raubvogel krallen sich ineinander.« Welch ein Wort ›krallen‹! – Die Buben machen eine Faust, und die Mädchen beschauen sich die scharfen, roten Fingernägel. Jetzt fliegt der Geier mit der Katze in die Luft. Er kann sich ihrer, sie kann sich des Geiers nicht entledigen. Ineinander verhackt, müssen sie mitsammen steigen und fallen. Hoch geht es über den Kirchturm und den Weidhügel empor in die grauen Wolken. – Die Kinder schauen zur Diele, was sage ich, durch die Diele hinaus in schwindelige Höhen, Stolz, Mitleid und Angst im Auge. – Endlich stürzen die verblutenden Tiere nieder, und die armen Kätzlein schnuppern und miauen um ihre tote Mutter herum. – Hier werden die hellen Stimmen der Schüler dunkler; starkes Bedauern zittert durch ihre Stimmen. Ja, Franziska Berner, das lustige Töchterlein in Wenzels Nachbarschaft, muss jetzt fast weinen.

Unstreitig, die Kinder erleben, was sie lesen.

Die Zuhörer sind mit den Schülern zufrieden. Doch der Lehrer wird immer unruhiger. Jedesmal, wenn er ein Kind sitzen heisst, macht er eine Anstrengung, um den Namen seines Sohnes zu rufen. Und jedesmal fehlt ihm die Kraft, und ein anderer gerät ihm auf die Lippe. Seine Aufregung wächst, je weniger Kinder übrig bleiben, die noch nicht gelesen haben. Wieder streiten das Schamgefühl und die Ehrlichkeit in ihm. Seine blassen Wangen röten sich. Aber es ist nicht das gesunde Rot des Lebens, sondern es sind jene kleinen, dunkeln Rosenflecken, die das Fieber auf ein Gesicht wirft. Man sieht die Muskeln zittern, den Puls darunter schlagen. Der arme Lehrer! – Er kommt einem lächerlich vor. Aber wenn man wüsste, wie er gehungert und gedurstet, gefroren und Geld zusammengeschabt hat, um seine dürftige Schullehrerweisheit zu kaufen, – wenn man wüsste, welchen Respekt er vor der Wissenschaft und besonders vor jener Wissenschaft hat, die ihm noch ein versiegeltes Buch ist; – wenn man wüsste, wie er seit sieben Jahren diese grosse, fremde, geheimnisvolle Wissenschaft mit seinem Büblein zusammenkoppelt, so dass er eines ohne das andere sich nicht denken kann! – Wenn man dann gehört hätte, wie er den ersten Schritt, das erste Lallen seines Knaben als eine besondere Gescheitheit den Dorfleuten darstellte, als ein anderes Lallen und einen anderen Schritt, als wie bei den übrigen Mutterkindern! – Und wie er seine grossen Hoffnungen im ganzen Weichbild herumtrug und mit seiner Sicherheit, dass in Wenzel ein kleiner Salomon gedeihe, die gesamte Gemeinde ansteckte! – Und weiter, wenn man wüsste, wie Philipp zwei Tage und Nächte gebetet hat und auf den Knien um das Bett Wenzels gerutscht ist, als der Junge an der Halsbräune litt und Miene machte, schon wieder aus der Welt zu laufen; – und wenn man wüsste, welche ein schönes Stück Geld er sich am Munde abgemausert hat – die eine Hälfte liegt auf der Sparbank, damit der Junge einmal ohne Mühe die Hochschule beziehen kann; die andere Hälfte ist in kluge, tiefgründige Bücher gesteckt worden, die nun in hübschen, braunen Lederbänden mit Rotschnitt und goldenem Titel von der Wandlade niederschauen, – wenn man das alles wüsste, und dazu, welch ein feiner, nervöser, aufgeregter Mann dieser Lehrer ist, wie er schon als Knabe über den leisesten Vorwurf seiner Eltern errötete, den geringsten Tadel des Lehrers wie eine Geisselung empfand und sich über den kleinsten Fehler in seinem Seminarheft wochenlang bitter grämen konnte, – noch einmal: wer das alles weiss, der begreift, was der gute Herr Philipp in diesem verflossenen Schuljahr litt, wie die Torheit seines Buben ihm jeden Tag versalzte und wie jetzt, an diesem Examen, wo die Glorie und die Schmach des ganzen Jahres sich gleichsam in einen kurzen Vormittag zusammendrängte, alle die ungezählten Bitterkeiten und Enttäuschungen, die er Tag für Tag geschluckt hat, nun sozusagen noch einmal in einem vollen Bechertrunk genossen werden müssen. Ja, wer das alles wüsste, der würde die Fieberflecken in den Wangen, diese zitternden Finger, dieses Frösteln über den Rücken hinauf, die stockende Stimme, die trüben, halb verschleierten Augen und diese gesamte, peinliche Unsicherheit des Schulmeisters wohl verstehen.

»Es ist nicht zum Aushalten,« sagte der Schulweibel und fächelte sich eine Fliege mit dem roten Nastuch von der Backe. »Sieh, auch der Lehrer hat einmal rote Backen!«

»Warum lässt er doch seinen Bub nicht aufsagen?« entgegnete Wirt Andreas. »So bescheiden müsste er doch nicht sein, der Lehrer!«

»Er will ihn jedenfalls am Schlusse aufrufen,« meinte Schulrat Gebhard, »Wenzel soll das Examen krönen, das ist doch klar!«

Und er blickte auf den Lehrer und Lehrersohn wie auf einen alten und jungen Prahlhans.

»Er will ihn übergehen,« flüsterten sich leise zwei Väter zu, die von ihren Kindern wussten, wie übel es um Wenzel mit der Schulweisheit stand. »Das ist nicht recht! Aber man sagt ja: parteilich wie ein Schulmeister!«

Indessen waren nur noch zwei Schüler übrig, die noch nicht aufgesagt hatten, Emil, des Doktors Sohn, der gescheiteste, und Wenzel, der dümmste von allen.

Philipp wollte rufen: ›Wenzel!‹ – er hustete, drehte den Hals und sagte. »Emil!«

Rüstig stand der Doktorsohn Emil auf. Seine Augen lachten. ›Ich kann alles,‹ sagten sie. ›Frage, was du willst, wo du willst, wie du willst, – ich bin auf alles gewappnet.‹ Auf seinen roten, scharfen Lippen oder in seinen stahlgrauen Augen schienen die Antworten schon wie flügge Vögel zu warten. Sie stehen auf den Zehen, schlagen die Schwingen radrund und zittern mit dem Schwänzchen. –

Emil blickte leuchtenden Auges auf seinen Vater wie um ihn aufzufordern, er möge sich nicht ängstigen, er solle auch lachen, er werde gleich sehen, was sein Emil in der Schule leiste, ah! – Ungeduldig blickt er dann wieder dem Lehrer auf die Lippen und scharrt mit den Füssen wie ein feuriges Füllen, das nur auf das »Hüh!« wartet, um in die freie Weite zu galoppieren.

»Schliesse das Buch jetzt, Emil, und erzähle uns, was gelesen worden ist!« gebot der Lehrer.

Emil schloss das Buch und liess nicht einmal den Finger darin stecken, wie zaghafte Schüler. Nein, schallend warf er es auf die Bank, verschränkte die Arme und begann. Wie ein Buch erzählte er die traurige Sache, wagt hie und da ein anderes Wort als das Lesebüchlein und setzt einmal sogar für die gebildete, aber wie ihm schien, unklare Redeweise im Büchlein eine dorfmässige Sprechart ein. Man sah, er verstand die Geschichte. Nicht ein Zug der Erzählung wurde vergessen, nicht eine Farbe der Tiere, nicht ein Miau der Kätzchen ausgelassen. Klar und rasch berichtete er über das Trauerspiel. Doch wechselte er die Stimme nicht und färbte den Ton weder dunkler noch heller. So kann auch einer erzählen, der die Sache nicht glaubt. Emil wusste alles, aber fühlte nichts dabei.

Dennoch, alle entzückte diese kecke, fehlerlose Erzählung, alle, nur nicht – Wenzel.

Leise bewegte er seine Lippen und erzählte das Geschichtlein gleichzeitig mit Emil. Leider durfte er es nur sich selber geheim erzählen. Im Wesen war es die gleiche Fabel, aber in die kalten Sätze seines Kameraden warf der Lehrersohn einen ganzen Haufen Farben und Lichter hinein. Das gaukelte und miaute, duckte sich und krallte, das flog in die Lüfte und fiel in die Tiefe, ah, ganz anders als bei Emil. Da war Blut und Leben. Da glaubte, da erlebte man! – Ach, dass doch nur ein einziger Mensch ausser seiner Seele diese wunderbare Geschichte hören könnte! – Doch niemand vernimmt ihn, und als der Lehrer sagt: »Ausgezeichnet!« und als die Ratsherren nicken und der Präsident ein halbersticktes Bravo! keucht, da gilt das alles nicht Wenzel, sondern dem klugen, verständigen Emil.

»Nun lies uns noch den Nachsatz!« sagte Philipp mit klangloser Stimme. Er bemühte sich umsonst, noch einige Haltung zu wahren.

Emil öffnete hurtig das Buch und las mit einer fast klingend freudigen Betonung: »Kinder, lernt von diesem unvernünftigen Tiere, wie die Eltern ihre Kinder lieb haben und wie darum auch die Kinder ihre Eltern lieben sollen!«

»Gut, sehr gut!« sagte der Lehrer mit einiger Überwindung und im steten, entsetzten Gedanken an seinen Wenzel, den er nun doch noch aufrufen müsse. »Du hast deine Sache brav gemacht, wie übrigens das ganze Schuljahr hindurch.« – Philipp wollte noch dem Vater Emils einen Blick der Bestätigung zuwerfen, gleichsam ihm zu seinem flotten Knaben gratulieren, aber er brachte es nicht mehr zuwege.

Ein kurzes Stillschweigen entstand. Noch einmal zauderte der Lehrer, dann siegte seine edle Seele, und er rief: »Wenzel!«

›Aha,‹ dachte der Kleine, ›jetzt darf ich auch erzählen.‹ Er rieb die Zungenspitze an den Lippen, wie ein Schleifer das Messer geschmeidig macht. Ernst sah er zu Philipp auf. Er sah jetzt, wie immer in der Schule, nicht den Vater, sondern einen fremden, gestrengen, achtungheischenden Mann in ihm. Und wie bisher noch jedesmal dachte er auch jetzt wieder beim Anblick des kümmerlichen Schnurrbarts: ›Es ist aber doch mein Vater, niemand trägt einen ähnlichen Schnauz, so lang, mager und von einer ähnlichen Missfarbe; – und doch, er ist es nicht – er tut ja, als kenne er mich nicht. Der Vater lächelt doch immer, wenn er mit mir redet. Aber der Lehrer runzelt greulich die Stirne wie ein Zorniger. Ist er es also oder ist er es nicht? Wer ist es? Ein Halbvater, – ach wie lustig!‹ Und wieder wie jedesmal noch verwirrte ihn diese Betrachtung und besonders dieser lange, magere Schnauz, der dem Knaben immer wieder bewies, dass der Lehrer wahrhaft auch sein Vater sei, und daneben der komische Halbvater.

»Gib doch acht!« machte Philipp bekümmert. »Wiederhole uns die Lehre aus dieser Geschichte!«

Wenzel stutzte. Die Lehre aus der Geschichte? – Konnte er das sagen? – Das war ja nicht mehr die Geschichte, nichts mehr von Katze und Geier und den drolligen Jungen. Die Lehre aus der Geschichte? – Die Geschichte, Gott weiss, wie gut er sie geben würde. Aber die Lehre, die Lehre, die Lehre! Was war das? – Das schmeckt schon wieder nach dem Schulbuch. einen Spruch, eine Regel aus der Erzählung ziehen, das konnte er nicht.

Hätte der Schulmeister nur nicht so schulmeisterlich gefragt, hätte er zum Beispiel gesagt: »Was würde die Katze zu euch Kindern sprechen, wenn sie reden könnte?« dann hätte er schneidig geantwortet: »Ich lasse mir meine Kinderchen nicht töten vom Geier. Komm nur, böser, grosser Vogel, ich fürchte mich nicht! Ich bin die Mutter dieser Jungen. Lieber will ich mich selber töten lassen, als dass du meinen Kätzlein nur ein Haar ausrupfst.« – Das hätte er für die Katze, die nicht sprechen kann, geantwortet und beigefügt: »Vater oder Mutter haben ihre Kinder eben schrecklich gern.«

Aber so ganz bild– und farblos konnte er die Lehre der Fabel nicht aufsagen. Daher schwieg er nun standhaft und bewegte nur die Lippen, als suche er und drehe er eine Antwort im Munde herum.

»Also, Wenzel, was folgt aus dieser Geschichte?« rief der Lehrer zitternd vor Aufregung.

Diese zweite Frage kam dem Buben noch dunkler vor. Er blieb stumm und schnitt jene einfältige Miene, die deutlicher als Worte erklärt: ›Frage nicht weiter! – Alles ist vergebens! – Ich weiss absolut nichts!‹ –

Der Lehrer wollte sich mit der Rechten auf sein Pult zurückstützen, so hinfällig fühlte er sich in diesem Augenblick. Aber er ermannte sich noch einmal, trat näher und bat Wenzel schier schmeichlerisch: »So lies den Nachsatz noch einmal, den vorhin Emil gelesen hat.«

In mechanischem Gehorsam öffnete Wenzel aufs Geratewohl das Buch. Er bekam Seite acht. Was wusste er auch, wo Seite zwölf war? Nicht ein Wort ging über seine Lippen.

Der Lehrer hätte das voraussehen können. Noch nie hatte Wenzel die richtige Seite aufgeschlagen. Aber in der Verwirrung erschwerte sich Philipp selber und dem Jungen die Lage immer mehr.

»Welches Blatt hast du denn da aufgeschlagen?« rief er stirnrunzelnd und stützte sich nun schweratmend auf die Banklade.

Wenzel kehrte sein Büchlein dem Lehrer zu. Der kurzsichtige Mann nahm es über die Bank entgegen.

»Seite acht!« rief Emil, der zunächst sass, plötzlich mit Schadenfreude. Aber im gleichen Moment warf der Doktor ihm einen so vernichtenden Blick zu, dass der Spötter sogleich das Lachen abbrach und beschämt den Kopf senkte. Augenblicklich aber nahm der rasch bedachte Junge nun sein eigenes Büchlein auf und gab es Wenzel in die Hand, indem er mit dem Finger auf die Zeile deutete, die Wenzel lesen sollte. Zugleich lispelte er mit jener wunderbaren Kunst der Schulkinder, die sich deutlich verständigen und einflüstern können, ohne den Mund sichtbar zu bewegen, dem Kameraden die Anfangsworte des Lehrspruchs ein: »Kinder, lernt von diesem unvernünftigen –«

Und in das Buch verständnislos blickend, plapperte nun Wenzel lahm und sinnlos nach: »Kinder, lernt von diesem unvernünftigen –«

»Wir sind zufrieden!« sagte in diesem schweren Augenblicke der Präsident, sei es, weil der Zeiger auf elf Uhr stand, sei es, weil er die unbehagliche Lage des Lehrers empfunden hatte. Zugleich erhob er sich geräuschvoll aus seinem Armstuhl und gab den Kindern vor der Preisverteilung eine kleine Pause.

Mit finsterer, tiefgekränkter Miene gab der Lehrer seinem Jungen das Zeichen sich niederzusetzen.

Zwei Schulräte trugen jetzt in einem Henkelkorbe die Prämien in die Stube. Man sah da Bücher mit farbigem Deckel, mit Goldschrift und einem so feinen Duft am Schnitt, dass man sie nicht bloss lesen, sondern sogar hätte essen mögen. Niedliche Federkästchen lagen dazwischen mit eingelegten Holzfiguren. Sie klapperten wundersam beim Auf– und Zuschliessen. Ferner gab es glänzend schwarze Schiefertafeln, auf die einen fast reute zu schreiben, dicke, gelbe Schwämme, die noch immer nach dem grossen Meer rochen, aus dem sie genommen waren, endlich blaue, unbeschriebene Hefte, die nach einem schreibenden Kinderhändchen und einem muntern Inhalt schrien.

Lüstern schielten die Kinder nach diesen Preisen, und in jedem Paar dieser hellen, glänzenden Augen malte sich ein Fünkchen oder auch eine ganze Flamme von Hoffnung, so ein Buch oder eine Federschachtel oder doch allermindestens einen Schwamm zu erhalten. Vielleicht aber doch einen Schwamm samt Tafel! Wer kann es wissen? –

Wenzel ist der einzige, der nichts hofft. Aber das trübt sein helles Gesicht nicht. In den Prämien kann er keine liebenswürdigen Geschenke erblicken, sondern nur neues Marterwerkzeug. Er sehnt sich nicht danach. Er hat genug an der alten Folter. Mit jener königlichen Unwissenheit, mit der ein Neger den Diamanten als unnützes Glas wegwirft, lacht Wenzel über diesen Korb voll Kostbarkeiten, der ihm nichts, so gar nichts geben kann. –

Er denkt nun nicht mehr an die grässliche Angst, die er eben noch beim Lesen ausstand, nicht an die Lesung der Noten, die nun kommen musste. Aber daran wollte er denken, dass das erste Schuljahr gottlob vorbei war, dass die Sommerferien mit dieser Stunde beginnen, dass man vier Wochen lang nicht mehr in diesen hässlichen grauen Bänken sitzen müsse. Mit wilder Freude macht er sich einen Ferienplan im Kopfe zurecht voll grüner Wiesen mit braunen Kühen und weissgelben Schafen, voll schattiger Nachmittage unter dem Buchendach, voll kühler, durchsichtiger Waldbrunnen.

Wenzel sieht in Gedanken schon das warme Sommerheu dampfen von Duft und Blütenstaub, hört die Bässe der Hummeln um die niedrigen, blassroten Kleeköpfe schwirren, ja, er liegt selbst im Gras, von lustigen kleinen Grastierchen umkrochen, von grossen weissen Wolken und darüber vom stillen blauen Himmel überdacht. Und neben ihm durch die Ruhe der Landschaft gehen auf unhörbaren Sohlen die süssen Faulenzerstunden der Ferien vorüber.

Inzwischen kramte Lehrer Philipp mit schier erstorbenen, kalten Fingern das Notenverzeichnis der Kinder aus dem Pulte und legte es vor sich hin. Wie wenn er darin sein Todesurteil läse, blickte er es an. Er merkte nicht, dass inzwischen der Pfarrer und der Schulratspräsident einander etwas heimlich ins Ohr raunten, nach dem Lehrer schielten und dann die andern Herren zu sich herüber winkten. Er sah nicht einmal, wie der Geistliche in seine tiefe Rocktasche griff und ihr ein rotes Lederfutteral entnahm, aus dem er eine schwere silberne Taschenuhr schälte, mit Sekundenzeiger und, wie er wusste, mit einem lieblich klingenden Schlagwerk.

Meister Philipp hörte und sah nicht, was um ihn her vorging; er sah nur die Zahlen im Notenverzeichnis und darunter besonders eine schwere, dicke, hässliche Ziffer, die ihn wie ein Teufelsgesicht angrinste und ihn fast schwindelig machte. Gar nicht mehr anschauen wollte er sie, und doch musste er gerade nur immer diese eine Zahl ansehen. Es zwang ihn förmlich dazu.

»Herr Lehrer!«

Philipp sah auf und gewahrte jetzt voll Verwirrung den Pfarrer mit der Uhr und den Halbkreis der übrigen Herren vor sich postiert.

»Herr Lehrer,« wiederholte der Geistliche und zeigte ein hübsches und ansteckendes Lächeln auf seinen roten Backen, »bevor wir den fleissigen Schülern die Prämien verteilen, müssen Sie uns erlauben, auch eine Prämie dem fleissigen Lehrer zu geben. Ein Jährchen in der Schulbank sitzen, will nichts heissen« – hier sah er die Kinder an, als lache er sie aus und warf zugleich geringschätzig die Hände von sich, – »aber zwanzig Jahre lang mit Stecken und Buch vor den Bänken der Kinder stehen und ihnen das Abc und das Einmaleins begreiflich machen, das ist eine Tat, die niemand, am wenigsten ein so kleiner Ort wie Lachweiler würdig prämiieren kann.« –

Der Lehrer wurde bei den ersten Worten blass, dann rot und wieder bleich. Rasch und heftig stürzte ihm das Blut über die Augen hinauf und wogte aufs Herz zurück. Ratlos sah er bald den Pfarrer, bald die blitzende Uhr an.

»Ein ganzes Geschlecht haben Sie unserem Dorfe schon erzogen,« fuhr der Geistliche weiter, »ein neues bildet sich da in den Bänken. In diesem frohen, aber auch mühsamen Wandel sind Sie allein der gleiche, standhafte, ruhige Mann geblieben, der jedes Jahr das alte Buch wieder auf der vordersten Seite aufschlug und bis zum hintersten Blatt mit den so lieben und so bösen, so gescheiten und so dummen Kindern durchnahm. Wir achten und lieben Sie darum, Herr Lehrer! Behalten Sie das wohl im Sinne, – und wir werden Sie nie aus unserem Dörfchen ziehen lassen.«

Den Lehrer schüttelte es wie im Fieber. Das frohe Wort des Priesters erfüllte ihn augenblicklich mit Freude. Hatte er wirklich so viel getan? – Das hätte er nie gedacht. Wie gut waren alle diese Menschen, dass sie ihm so schön dankten!

»Wenn ich Ihnen hier diese Uhr überreiche, die nicht von einer Maschine, sondern von einer fleissigen und meisterlichen Hand in allen Kleinigkeiten verfertigt wurde, so geschieht das nicht, um Ihnen zu danken, sondern um zu zeigen, dass wir danken möchten.« »Fein! Sehr fein!« flüsterte hier der Doktor dem Kaplan zu. – »Denn Gold und Silber wiegen die Liebe und Weisheit eines Lehrers nicht auf. Aber wir möchten wenigstens, wenn wir könnten, gerne danken, und die Uhr soll Ihnen von diesem Wunsche und von diesem Unvermögen Kenntnis geben.«

Bis jetzt hatte Philipp steif dagestanden, wie gelähmt von der Überraschung. Jetzt vermochte er endlich den Kopf und die Hände zu schütteln, als wollte er widersprechen.

»Wenn es ganz leise in diesem Werke hämmert und schlägt,« – unvermerkt drückte der Redner auf eine Feder und hielt inne, bis der elfmalige silberne Glockenschall unter der lautlosen Verwunderung der Kinder durch die Stube verklungen war, – »dann erinnern Sie sich an die feinen Kinderstimmen, die Sie gelehrt haben, uns am Examen so schöne Dinge aufzusagen. Und wenn Sie die vielen Rädchen, Federchen und Spulen betrachten, die in dieser Schale ineinander greifen, so denken Sie an die unzähligen Eigenheiten der Kinderseele, mit denen Sie zu rechnen hatten, die Sie überwinden oder fördern und in ein harmonisches Zusammenspiel bringen mussten. Und wie der Zeiger hier niemals rückwärts geht, sondern immer vorwärts zeigt an der Scheibe, so gemahne Sie das, wie nichts von allem Guten, das Sie getan, irgendwo auf dem Wege zurückblieb und verloren ging, sondern alles in die Zukunft treibt, von der ersten Stunde bei den Abc–Schützen bis zum zwölften Stundenschlag der vollen, reifen Arbeit bei unsern zwölf– und dreizehnjährigen Schlingeln.«

Mit diesem schelmisch betonten Worte reichte der Pfarrer dem Lehrer die Uhr. Philipp ergriff sie mechanisch und legte sie auf das Pult nieder, ohne auch nur eine Silbe des Dankes zu finden.

Der Redner und die andern Herren traten nun ganz ans Pult heran und drückten dem Beschenkten unter unverständlich gemurmelten, aber herzlichen Glückwünschen die kalten Hände.

Währenddem standen die Schüler auf den Fusspitzen und guckten sich schier die vorwitzigen Augen nach der silbernen Kostbarkeit aus. Wenzel lachte mit seinem ganzen Gesichte.

»Ich danke – unverdient! – Ich weiss nicht, warum – was – es ist zu sehr –« stammelte der Lehrer endlich und fuhr sich hastig über die Stirne. Es war ihm doch im ganzen elend zumute in dieser Mischung von Freude und Sorge.

Indessen hatte sich der kleine, kurze Präsident wieder in den Armstuhl geworfen und rief keuchend: »Bevor wir jetzt zum Examentrunk gehen – Herr Pfleger, sind die Brötchen und Würste bestellt?«

»Gewiss, Herr Präsident!« nickte der Gefragte aufgeräumt.

»Bevor es zum Trunke geht,« wiederholte der Präsident und netzte mit seiner Zunge die trockenen Lippen an, »wollen wir noch die Noten der Kinder hören. Beginnen Sie, Herr Lehrer!«

Es wurde nun wieder ganz still in den Bänken. Die Eltern der Kinder drängten sich gegen den Lehrer, um besser zu hören. Der Pfarrer stand am Korbe und ergriff den ersten Preis, ein Buch mit Goldschnitt, das von berühmten Kindern in Wort und Bild handelte.

Diese Gabe erhielt Emil. Er war der erste von allen Einern.

Dann bekamen noch sechs Kinder, vier Mädchen und zwei Knaben, erste Preise. Mit einer wunderlichen Mischung von Scheu und Neugier traten sie vor, empfingen das Geschenk und gaben dem Pfarrer ein Kusshändchen. Da waren hochgewachsene Mädchen und lange Recken, die das noch taten. Es schien vielleicht kindlich, aber war ein alter heiliger Brauch in Lachweiler und daher unausrottbar.

Eifersüchtig folgten die Augen der übrigen diesen wenigen Glücklichen. Hell glutete der Neid aus ihrem ganzen unverstellten Gesichte, als sie wahrnahmen, welche hübsche Büchlein mit Silberbeschlag und seidengepressten Deckeln das waren.

Es kam die Reihe an die Schüler der zweiten Note. Das sind immer noch wackere Leutchen und bringen es im Leben gewöhnlich noch weiter als die glänzenden Einer. Denn sie sind beharrlicher, ruhiger, geduldiger und leiden nicht an so blitzenden, aber auch wunderlichen Launen wie die kleinen Genies. Der Korb leert sich, der letzte Schwamm ist vergeben. Nun kommt die lange Schnur der Dreier. Ein Dreier bekommt natürlich keine Prämie. Sie bilden den Mittelstand des Geistes. Es sind gelassene, bequeme Menschen, ohne Ehrgeiz, ohne Feuer, ehrliche Treter des Allerleutepflasters. Rechne sie zu den glücklichsten Menschen! Sie heben den Kopf nicht zu hoch, aber auch nicht zu tief. So hübsch durch die Mitte schlüpfen sie, oft noch etwas knapp nach unten. Aber sie schlüpfen durch! Sie sind noch zufriedener und gutmütiger als die Zweier. Ohne sie könnte man das Leben auf Erden nicht aushalten. Man würde aufgerieben von den Talenten der ersten und zweiten Klasse. Es wäre eine Luft so verzehrend wie Sauerstoff ohne die Wohltat des Stickstoffes.

Was nicht zu den Einern und Zweiern gehört, kommt in diese dritte Gruppe. Ein Schulkind um das andere steht auf, wenn es gerufen wird, und schreit: »Hier!«

Dann wird es über und über rot, sitzt nieder, lächelt auf seine Bank hinunter und schielt zum nächsten Schüler, der aufstehen, ebenso erröten und lächeln muss. Einige reiben die Schuhe heftig aneinander in der Erwartung, jetzt werde doch ihr Name endlich gerufen. Doch nein, da kommt zuerst noch Hermann Faller, Martina Precht, der Wernerli Stumpf, und jetzt erst heisst es endlich auch Ferdinand Ferri, Elsa Gluck und so weiter.

Ach, wie peinlich ist dieses Warten, wenn nur noch drei übrig sind, entsetzlich, wenn nur noch ein Zweitletzter und Letzter wartet!

Doch nun sind alle aufgerufen, alle ohne Ausnahme, – nur das Lehrerbüblein nicht! – Wenzel wartet immer noch.

Es geniert Wenzel gar nicht, dass er zuletzt kommt. Das hat er nicht anders erwartet. Fröhlich lächelt er dem Vater zu, der die Noten so seltsam langsam herunterliest. Die kleinen Arme verschränkt er über der Brust. Eigentlich sieht und hört er weder den Lehrer, noch die Kinder um ihn herum, sondern er hört den Wald rauschen, den Bach singen, die Spätzlein im Nest wispern; er hört den Kuckuck oben am Hügel und unten im Tal den Wind. Er weilt gar nicht mehr in der Schule, sondern ausserhalb des Dorfes bei seinem lieben Ferdinand, dem reichen Bauernbuben, dem Kameraden seiner freien Stunden, mit dem er die Ziegen melkt und auf junge Kirschbäume klettert. Darum lacht er so herzig. Die Vakanz wirft schon ihr Licht auf ihn voraus. Dass die Kinder ihn immer mitleidiger betrachten, je einsamer er wird, dass sein Nachbar, der gescheite Emil, scheu, als fürchte er eine Ansteckung, von ihm wegrückt, so dass eine weite Lücke entsteht wie auf einem Armensünderbänklein, das sieht er nicht. Er merkt nicht einmal, wie die blaue Stirnader des Lehrers in der Aufregung anschwillt. Nicht einmal die Totenstille gewahrt er, die jetzt in der Stube herrscht, da nur noch sein Name übrig bleibt. Wie sollte er das sehen, da er nicht einmal merkt, wie jetzt alle Schulräte auf ihn und den Lehrer schauen und sich verwundert zuflüstern: »Was Teufels ist denn mit dem Lehrerbuben?« – Wenzel sieht nichts, hört nichts, er lächelt voll Unschuld und Harmlosigkeit allen diesen Menschen, die seinetwegen betrübt sind, ins Gesicht.

»Die vierte Note,« liest der Lehrer mit klangloser Stimme, »hat kein Kind verdient.«

Jetzt wird auch der Pfarrer unruhig. Seine klugen Augen forschen den bleichen Lehrer aus. Ah, er versteht auf einmal. Und auch der dicke, kurze Präsident versteht. Denn er schneuzt sich, wie er immer tut, wenn er etwas lieber nicht sehen, noch hören möchte, was er doch miterleben muss. Selbst die schadenfrohen, wilden Knaben haben jetzt einen Blick des Bedauerns für ihren Wenzel. Wenzels kleine Freundin in der hintern Bank taucht mit dem doppeltgezopften Köpfchen unter die Bank, als sei ihr der Griffel auf den Boden gefallen. Aber sie reibt sich unten im Dunkel ein nasses, braunes Äuglein mit dem Fingerknöchel aus. Doch Wenzel lächelt immer seliger. Er sitzt gerade auf dem Bock vorn an des Grossbauern Wendel Wagen, er schwingt die Peitsche über dem Doppelgespann der fetten Ochsen, er jodelt, hei – er –

»Die fünfte Note hat – die fünfte Note ist –« der Lehrer schwankt, das Blatt zittert zwischen seinen Fingern. Er würgt, er keucht, er hustet, um es herauszubringen. Wie ein Geist sieht er aus.

»Die fünfte –«

»Genug, genug, Herr Lehrer!« schreit plötzlich der Pfarrer mit unnatürlicher Heftigkeit und erhebt sich knarrend vom Stuhle. Auch die andern Herren stehen wie auf ein Zeichen auf.

In diesem Augenblick begibt sich etwas Ausserordentliches in Meister Philipps Seele. Er merkt das Mitleid. Man will ihn schonen. Da erwacht eine wahrhaft selbstmörderische Gerechtigkeit in ihm. Er muss es heraussagen, was wahr ist. Kein Pfarrer und keine Obrigkeit soll ihn daran hindern. Mögen sie lärmen mit den Stühlen, wie sie wollen.

»Genug, Herr Lehrer, das Examen ist fertig, wir sind zufrieden, mit allem zufrieden!« donnert der Geistliche. »Nicht wahr, meine Herren, nicht wahr?«

»Jawohl, ja freilich, gewiss, Herr Lehrer, – so gut ist alles abgelaufen! Wackere Schule, beste Ordnung!« – Solches und anderes tönt höflich untereinander.

Aber Herr Philipp bäumt sich auf, als hätte er keinen grimmigern Feind als diese Lobredner da. Alle Kraft seines Willens nimmt er zusammen und ruft mit einer starken, gequälten, fremdartigen Stimme durch die Stube, hastig, als könnte man ihn unterbrechen, und laut, dass es allen andern Lärm gewaltig übertönt: »Die fünfte Note hat Wenzel Korn, Lehrers.« –

Mit diesem Wort ist auf einen Hauch alle seine Kraft dahin. Das Papier entfällt ihm. Mit kraftlosen Händen greift Philipp in die Luft, sucht die Stirne zu erfassen, neigt sich seitlings und gleitet, von den Armen des Pfarrers und Ammanns aufgefangen, wie ein steifes Stück Holz in den Armsessel. Unzählige kleine Schweisströpfchen decken seine Stirne, und die Augendeckel fallen ihm wie einem Schlafenden zu. –

Der Doktor löste dem Bewusstlosen rasch Kragen und Weste, rief nach Wasser und hielt ihm Riechsalz unter die Nase. Ängstlich duckten sich die Kinder in ihren Bänken zusammen, einige Mädchen weinten, Emil holte die Lehrersfrau. Überall wollten die eckigen Schulräte helfen, und überall standen sie im Wege. Die einen öffneten die Fenster, andere schlossen sie wieder. Der Pfarrer wischte dem Lehrer mit seinem roten, seidenen, noch ganz sauberen Taschentuch die Stirne ab, und der Schulratspräsident fragte den Ohnmächtigen zum drittenmal: »Herr Lehrer, hören Sie mich noch? Herr Lehrer, kennen Sie mich noch?«

Noch nie hatten die Kinder einen so bleichen Menschen gesehen. Vor Grausen rückten sie eng und enger zusammen wie Haselhühner im Busch, wenn Jäger Tod draussen das Gewehr schultert. In Wenzel aber begann sich plötzlich etwas Dunkles zu klären. Wie ein Vorhang riss etwas auseinander, das bisher vor seinen Fenstern gehangen hatte. Der Knabe spürte, dieses Unglück geschah seinetwegen, weil er so dumm war, weil er nicht lesen konnte, weil er einen Fünfer hatte. Er tötete seinen Vater.

Das nie empfundene Gefühl einer unsagbaren Schuld wälzte sich über sein kleines weiches Herz.

»Ich wollte es ja nicht tun,« rief er laut und drängte sich stürmisch aus der Bank, die zwei grossen Augen behangen mit schweren, durchsichtigen Tropfen. »Vater, ich will schon noch lesen lernen, Vater!« – Er schob sich durch die Männer hindurch, warf sich vor dem Lehrer auf den Boden und drückte seinen Kopf heftig an die Knie des Vaters. »Vater,« schrie er wieder auf, »ich kann ja erzählen, frage mich nur aus! – Ganz gut weiss ich es: Es war eine Katze, – die hatte ihre Jungen lieb, o so lieb! – Sie streichelte und schleckte sie und wärmte sie an ihren dicken Pelz und trug sie am Tag aufs Dach an die Sonne und nachts an den warmen Herd, – die Katze. Vater, hörst du?«

Er hob den steilhaarigen, weissblonden Kopf aus den Knien und weinte laut auf, da er noch immer das Auge Philipps streng geschlossen sah. Aber sogleich fuhr er wieder trotz des Schluchzens und der Ratsherren, die ihn wegziehen wollten, unaufhaltsam in der Geschichte fort: »Da kam ein Geier aus der Luft herabgeschossen; gross wie eine Wolke kam er und schnell wie der Wind. Seine wüsten Krallen streckte er aus nach den Kätzlein, den weissen und schwarzen und braunen – ihr Haar war wie Wolle oder Seide so lind. – Vater, wenn du mich hören wolltest, sieh doch, ich kann es!«

Wieder barg der Junge den Kopf zwischen die Knie des Schulmeisters, dem die Lehrersfrau nach den Weisungen des Doktors die Schläfen gerade mit Branntwein einrieb.

»Aber die mutige Katze wehrte sich gegen den Vogel. Und doch war sie viel kleiner,« rief Wenzel so eilig, als hinge jetzt alles Heil von seiner Erzählung ab. »Sie liess sich zerhacken und umkrallen und vom Raubvogel in die Lüfte tragen. Wenn nur ihren jungen Kätzlein nichts Leides geschah.«

»Sei ruhig, Kleiner,« gebot der Ammann und versuchte die Arme des Bürschchens von den Knie des Patienten zu lösen. »Was hilft das?«

»Lasst ihn nur!« riet der Arzt und deutete auf die Lider Philipps, die sich langsam und erstaunt öffneten.

»Vater, – fest hing die Kätzin dem Geier um den Hals. Sie liess ihn nicht mehr los. Und doch taten ihr seine Nägel so weh. Für meine Kinder, dachte sie, für meine Kinder! – Nicht wahr, Vater, ich erzähle es recht!« –

Ein Flüstern der Verwunderung ging durch die Reihen der Umstehenden. Vater Philipp hatte gelächelt oder doch versucht zu lächeln, Doch seine Hände hingen noch kraftlos über die Lehnen herunter, und die Augen fielen wieder zu.

»Er hat nicht geschlafen, die ganze Nacht nicht!« erklärte die Lehrerin, die schlaffen Hände ihres Mannes aufhebend und an ihren roten, warmen reibend, »und auch gefrühstückt hat er nicht. Kein Wunder, dass ihm übel wurde, dem armen Philipp! – Die Ferien tun ihm not!«

»Vater, ich muss es fertig erzählen, höre doch! Die Kätzin war dem Geier zu schwer. Wie Blei hing sie ihm am Hals und würgte ihn. Da liess er die Flügel hangen und fiel hinunter, senkrecht hinunter wie ein Stein neben die Kätzlein. Und der Geier und die Katze waren tot.«

Jetzt gelang es dem Lehrer, mit der rechten Hand das Kinn des Knaben zu erreichen. Kaum spürte Wenzel die Liebkosung, so drückte er mit beiden Händen die grosse, kalte Hand des Vaters an seinen Mund und küsste sie auf alle Finger, oben und unten, bald weinend, bald lachend.

»Vater,« fuhr er erfrischt fort, »und die armen Jungen! Ach Gott, sie schnupperten an ihrer Katze herum, sie leckten ihr die Pfoten, sie rieben sich an ihrem schönen Fell, sie miauten und suchten Mäulchen, die kleinen, armen Kätzlein! Und sie schleckten das Blut von ihrem Mütterchen und wollten es warm und lebendig machen.«

Philipp horchte nun mit offenen Blicken und belebter Miene. Dem Wenzel aber schoss jetzt ein kleines, lustiges Feuerchen durch die Augen, und er schrie: »Und sicher, Vater, sicher, von dem allein ist die Kätzin wieder erwacht. Sie war doch nicht ganz tot, wie's im Buche steht, nur krank, nur müde! Aber jetzt erwachte sie wieder und war wieder lebendig. Und da hatten die Jungen eine grosse Freude. Ist's nicht so, Vater, gelt, so! Siehst du, ich kann ja erzählen, ich will auch lesen lernen und rechnen, das will ich.« Und wieder küsste er den Vater auf die schon wärmere Hand.

Philipp mit seinem bleichen Lächeln erhob sich sachte im Stuhle und zog den Sohn zu sich herauf.

»Das hab' ich ja nicht gewusst, das ist besser als lesen!« sagte er und presste Wenzel glücklich an seine noch feuchten und vom Branntwein riechenden Wangen.

»Ja,« mischte sich nun der Doktor mit seiner harten Stimme ein, »das haben Sie leider nicht gewusst. Der Schüler ist diesmal gescheiter gewesen als der Schulmeister.« Darauf gab er seinem Buben in der ersten Bank einen Wink. Sogleich erhob sich Emil.

Indessen hatte der Pfarrer das Notenregister vom Boden aufgelesen, wo es unbemerkt gelegen hatte. Die Feder in die pechschwarze Tinte tunkend, rief er schallend durch die Stube: »Sind die Herren Schulräte einverstanden, wenn ich diesen Fünfer ausstreiche und dafür einen Zweier schreibe?«

»Einverstanden!« ertönte es im Chore von zuständigen und unzuständigen Lippen.

Darauf tat der Pfarrer einen Federzug, der wie ein Schwerthieb klang. Nie hat er einen Fünfer lieber geköpft und nie einen schöneren Zweier gezeichnet, einen Zweier mit so stolzem, rundem Leuenkopf und so prachtvollem Ringelschwanz.

»Emil!« rempelte der Arzt seinen Buben, der indessen herzugetreten war, mit seiner barschen, aber vor heimlicher Aufregung zitternder Stimme an: »Emil, wie hat Wenzel die Geschichte erzählt?«

»Gut!« erwiderte der Knabe etwas unsicher.

Eine ganze Antwort! dachte der Lehrer; aber sprach es mit einiger Selbstüberwindung diesmal nicht aus.

»Was hast du also zu tun, Emil?« fragte der Arzt mit der Miene eines Verhörrichters.

Verlegen blickte der dunkle Bursche mit seinen Stahlaugen bald seinen Kameraden, der immer noch halb neben Herrn Philipp kniete, bald das hübsche Heldenbuch an, das ihm aus dem Sonntagsrock guckte. Wie in einem innern Widerstand schüttelte er den Kopf, schüttelte ihn nochmals und heftiger und zog das Buch entschieden aus der Tasche. »Da, Wenzel,« sagte er und beugte sich zum Lehrersohn hinunter, »da hast du meine Prämie!«

Der Lehrer wollte aufstehen, wollte protestieren. Aber der Doktor hielt ihn mit einem befehlenden Blicke seiner schwarzen Augen zurück.

»Warum,« fragte er unerbittlich weiter, als gälte es, seinen stolzen Knaben bis zu Boden zu demütigen, »warum, Emil, gehört die Prämie dem Wenzel und nicht dir?«

Eine heisse, helle Röte überschwemmte augenblicklich die weisse Stirne des Doktorbuben. Er neigte sich noch tiefer und sagte leise: »Weil er die Geschichte besser weiss, als ich!«

Nun hielt der knurrige Doktor nicht länger an sich. Kräftig packte er seinen Burschen und riss ihn an den wilden Bart hinauf und küsste ihn stürmisch.

Er war jetzt viel stolzer auf seinen unbeschenkten Emil, als wenn der Bub den ganzen Korb voll Prämien heimgetragen hätte.

Nie gab es in Lachweiler einen gemütlichern Examentrunk als nach dieser Prüfung. Bei jedem Schluck Wein erklärte der Lehrer lachend: »Glaubt ihr, ich sei krank? Torheit, gesund bin ich heute geworden! Erst recht gesund! Vom Buchstaben bin ich genesen und zum Geist gekehrt worden. Ha!«

Ein wenig sagte er das im Fieber, ein wenig auch wohl im Anhauch des Weines. Aber er redete nicht irre. Das Wunderbare, wovon er sprach, war wirklich und ganz ohne den Zwang eines Wunders zustande gekommen.

O teure, heilige, grüne Jahre tief hinten im Dorfe unter Nussbäumen und alten, braunen Schindeldächern! Wie Schwalben seid ihr gekommen, wie Schwalben seid ihr verflogen. Und die Nester, die ihr erbaut habt, fast alle sind sie zerfallen.

Aber Magister Philipp lebt noch und gedenkt das Stecklein noch nicht so bald niederzulegen. Durch achtundzwanzig Auflagen ist er bereits mit dem Schulbuch gegangen vom ersten bis zum hintersten Blatt. Gar zu gern möchte er es jetzt auch noch mit den Dreissigern versuchen.

Wenzel ist ein ernsthafter, urchiger Bauer geworden. Schönere Pferde hat freilich der junge Dr. Emil Nubener, stärkere Stiere zieht Freund Ferdinand auf, und die Schafe von Franziskas Vater tragen unstreitig eine feinere und schwerere Wolle. Aber die milchreichsten Kühe, die muntersten Ziegen und den feinsten Obstwuchs nennt unser Wenzel sein eigen. Indessen ist er bescheiden und lässt vielleicht in diesen Artikeln mit sich markten. Aber dass er das schönste und zugleich das beste Weibchen nicht nur in seinem Dorfe, sondern in der ganzen weiten »Giographie« des Schulpräsidenten selig besitzt, das ist für ihn eine so ausgemachte Sache, dass alles Reden hierüber überflüssig scheint.

Oft indessen am späten Feierabend, wenn andere Lachweiler Karten spielen oder mit ihrem Frauchen scharmutzieren, dichtet Wenzel – wer sollte es glauben? Geschichten und Gedichte dichtet er, die zu Neujahr in den Kalendern erscheinen und in den Bauernstuben über Winter mit innigem Behagen von der Grossmutter durch die trübe Hornbrille hindurch ihren staunenden und ergötzten Kindeskindern vorgelesen werden.

Herr Philipp aber fragt nicht ungern beim feiertäglichen Schoppen im »Sternen«, wenn der Tisch rundum besetzt ist, seinen Nachbar so leise, dass alle es hören: »Wieviel Uhr mag es sein, Holderbauer?«

»Noch fünf Minuten bis sechs Uhr!« antwortet für den Gefragten der Küster, durch die niedrige Scheibe zur Turmuhr blickend.

»Die Kirchenuhr geht zurück,« schreit der Ammann und zieht seine schwere Sackuhr hervor, von der viele Lachweiler glauben, dass sie nicht silbern, sondern nur vernickelt sei. »Es geht noch vier Minuten bis sechs«

»Noch sechs Minuten,« ruft der Holderbauer, der eine Uhr mit einem Sekundenzeiger besitzt.

»Meine Herren,« erklärt jetzt der Lehrer und lässt umständlich den Silberdeckel seiner Uhr springen, »wir haben jetzt genau fünf Uhr und neunundfünfzig drei Viertel Minuten!«

Vorsichtig erhebt er sich. »Ich muss noch einige Schulhefte durchpirschen,« meint er lächelnd. »Doch hören Sie!«

Er drückt das silberne Knöpfchen, und leise, aber eindringlich klingelt es aus dem edlen Gehäuse: »Bim – bim – bim – bim – bim – bim!« Sechsmal hintereinander.

»Eine feine Uhr! Geschicktes Werk!« lobt man.

Der Lehrer aber lauscht dem letzten, fernen Klange nach, und ihm ist, er höre seine lieben, kleinen Schüler mit ihren ungebrochenen Stimmen rechnen und lesen, von der Heimat und der vaterländischen Geschichte unglaublich prahlen, Fabeln deklamieren und hohe deutsche Lieder singen. Und da zieht es den alten Magister unwiderstehlich zu den blauen Heften, den Tintenfässern, zu Kreide, Lineal, Schwamm und Stecken, mit einem Wort zur Poesie seiner von Kindergeruch und grauer Weisheit erfüllten heimeligen Schulstube. –

 


 


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