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Die fliegenden Brüder

Aber dann kam erst einmal das Leben und verlangte sein Recht. Und Kinderspiel, Kinderseligkeit und Kinderträume versanken irgendwo im Nebel des Gewesenen. Helicoptere, Schraubenflieger, Drachen – war das alles nicht Spielzeug? Weiter nichts als Spielzeug, nicht wert, daß sich ein heranwachsender Junge weiterhin damit beschäftigte? Andere, ungleich wichtigere Dinge und Aufgaben galt es ins Auge zu fassen und zu meistern.

Der sehr angesehene und beliebte Vater Milton Wright hatte es gewiß in seiner geistlichen Laufbahn zu hohen Würden gebracht, aber leider waren diese Ämter nicht mit entsprechenden Einnahmen verbunden. Und eine Familie mit sieben Kindern halbwegs anständig zu ernähren und zu kleiden, das war auch für einen Bischof und Präsidenten des Kirchenrates alles andere als einfach.

Da waren nun die beiden Brüder, Wilbur und Orville – im Alter runde vier Jahre auseinander, waren sie sich doch in ihrer Statur, in ihrer charakterlichen Veranlagung, in ihrem ganzen Wesen, ja, sogar in ihren Wünschen und Neigungen ähnlich wie Zwillinge. So ähnlich, wie Zwillinge es oft genug nicht sind. Bescheiden, zurückhaltend, nüchtern und sachlich, von einer nicht anerzogenen, noch weniger äußerlich zur Schau getragenen, aber tief in ihrem ganzen Wesen wurzelnden Frömmigkeit, zeichneten sie sich früh durch eine unerschütterliche Ruhe, durch eine zähe, hartnäckige Zielstrebigkeit und erstaunliche Energie aus. Sie bedurften beide einer gewissen Zeit, um irgendeinen schwerwiegenden Entschluß zu fassen. War dies aber erst einmal geschehen, so konnte nichts sie von ihrem Weg, nichts sie von ihrem Ziel abschrecken, kein Spott oder gar Hohn der Besserwisser, keine Enttäuschung auch, wie sie jedem Pionier, der auf irgendeinem Gebiet in Neuland verstößt, immer wieder zuteil wird.

Beide erwiesen sich frühzeitig als eminent praktisch veranlagt. Sie waren die geborenen Techniker, und Milton Wright, ihr Vater, war viel zu einsichtig und viel zu lebenskundig, als daß er versucht hätte, sie in einen Beruf zu drängen, der mit ihrer natürlichen Veranlagung in Widerspruch stand, der ihre Talente verkümmern lassen mußte.

Der Drachentraum, der Fliegertraum schien längst begraben. Aber da gab es, auf der festen, vertrauten, sicheren Erde, ein neues Fortbewegungsmittel, das die Aufmerksamkeit der beiden Brüder seit geraumer Zeit schon auf sich gelenkt hatte: das Fahrrad! Es stak noch sozusagen in den Kinderschuhen, es war, einstweilen, noch ein primitives Ding, und von Kugellager, Freilauf und Rücktrittbremse hatte noch niemand etwas gehört. Ja, der irische Arzt Dunlop hatte sich gerade erst über die tiefen Spuren geärgert, die das Dreirad seines Jungen im Garten hinterließ, und die mit Luft gefüllte Gummibereifung, die Pneus, erfunden, die bald die Welt erobern sollten.

Aber die beiden Wrights hatten, so jung sie auch noch waren, den Blick, das Ahnungsvermögen für die Bedeutung, die dem Fahrrad einmal bei der Überwindung von Entfernungen zukommen würde, sie fühlten, daß es sich hier um eine technische Errungenschaft handelte, der eine ungeheure Entwicklung bevorstand. Eine Entwicklung, die, wie sich später ergab, nicht einmal durch die Erfindung des Kraftwagens ernsthaft behindert werden konnte.

So beschlossen sie, sich ganz auf den Bau von Fahrrädern zu werfen, und es spricht für ihren Vater, daß er diesem Vorhaben bedingungslos zustimmte. Sie fingen an wie einfache Arbeiter, und sie waren in dem ersten Stadium ihres Werdeganges gewiß nichts anderes als einfache Arbeiter mit einem großen Plan, mit einer großen Idee. Sie wurden Selfmademen in des Wortes echtester, ursprünglichster Bedeutung, Männer eigener Kraft, denen der bischöfliche Vater nichts weiter mitzugeben vermochte als seinen Segen. Denn Rat und Förderung auf technischem Gebiet konnten sie billigerweise von Milton Wright nicht erwarten, und geldlich konnte der Vater, der so viele hungrige Mäuler stopfen mußte, sie kaum nennenswert unterstützen.

Aber sie hatten ja ihr Kapital, das sie in das Unternehmen einbrachten – ein Kapital, das schwerer wog und wertvoller war als ein Beutel mit USA-Dollars: ihren Glauben, ihre Energie, ihren zähen Willen und, nicht zuletzt, die unerschütterliche Gesundheit ihrer schlanken, nur aus Muskeln und Sehnen gebauten Leiber.

Aus kleinsten, bescheidensten Anfängen erwuchs so den beiden jungen Männern ein Unternehmen, das die Mitbürger ihrer kleinen Heimatstadt Dayton in Ohio stolz eine Fahrradfabrik nannten, das sie selbst vielleicht sogar, in verständlicher und verzeihlicher Eitelkeit, so bezeichneten. In Wahrheit war es wohl, wenn man nach der Zahl der Belegschaft, der Mitarbeiter, ging, nicht mehr als ein größerer Handwerksbetrieb, dem die beiden Brüder mit jenem Ernst und jener Sicherheit vorstanden, wie sie gemeinhin nur die Frucht der Jahre und des Alters sind. Noch herrschte eine Art patriarchalischen Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, noch kannten Wilbur und Orville jeden Arbeiter und jeden »foreman« beim Namen, wußten um ihre Familienverhältnisse, um ihre Sorgen und Nöte und Wünsche und Hoffnungen. Noch gab es kein laufendes Band, keine Beschränkung der Arbeitsleistung des Einzelnen auf nur jeweils ein paar ausgeklügelte und in ermüdender Monotonie sich wiederholende Handgriffe, noch fühlten sich alle mit dem Werk und mit dem, was darin erzeugt wurde, gleichsam persönlich verbunden, noch versank keiner der Werksangehörigen in der Anonymität der großen Zahl. Eine Liliput-Fabrik also, vom heutigen Standpunkt aus gesehen. Aber eine beachtliche Leistung, auf die man wohl stolz sein durfte, wenn man die damaligen Begleitumstände berücksichtigt.

Da geschah, sehr fern von ihrer Heimat und dem eng umrissenen Bereich ihrer Arbeit, etwas, was das Leben der beiden Brüder in eine völlig andere Richtung biegen sollte. Im August des Jahres 1896 meldete der Telegraph, daß der deutsche Ingenieur und Flugtechniker Otto Lilienthal bei einem seiner kühnen und aufsehenerregenden Flugversuche in der näheren Umgebung Berlins abgestürzt und ums Leben gekommen sei.

Es war Wilbur Wright, der Ältere – nun schon ein angehender Dreißiger! – der als erster über diese durch die Presse in ganz Amerika verbreitete Nachricht stutzte. Plötzlich wurden Erinnerungen an Kinderspiele und Kinderträume, die er längst vergessen und begraben wähnte, in ihm wach. Es brauchte also doch nicht bei den Träumereien zu bleiben! Es war möglich, sie in die Tat umzusetzen. Es war möglich, sich, unabhängig von einem gasgefüllten Ballon, vogelgleich in die Luft zu schwingen, wie es einst, der griechischen Sage nach, Ikarus getan hatte. Ein Deutscher, Otto Lilienthal, hatte es bewiesen. Er war gestürzt, gewiß, und er hatte sein Bemühen mit dem Kostbarsten bezahlen müssen, was er besaß: mit seinem Leben. Aber was bewies das schon? War das nicht das beinahe schon übliche Schicksal aller Pioniere, aller, die die Menschheit einen Schritt weiter zu bringen versuchten? War nicht dieser Weg nach oben, der Weg zur Vervollkommnung, seit jeher begleitet von den Gräbern jener, die vor Erreichung ihres hochgespannten Zieles sterben mußten? War nicht ständige Opferbereitschaft, ja, das Opfer selbst untrennbar mit allem Fort schritt verbunden?

Mit der Energie, ja, mit der ganzen fanatischen Verbissenheit eines Menschen, der plötzlich seine eigentliche Aufgabe, seine Berufung erkennt, stürzte sich Wilbur Wright auf alle ihm nur irgend zugänglichen Werke, die sich in der oder jener Form mit der Theorie und auch mit der Praxis des Flugwesens, vor allem mit dem Problem des Vogelfluges und des Gleitfluges, beschäftigten und auseinandersetzten. Es gab schon so manchen Theoretiker auf diesem Gebiet. Und es gab einen, dessen Namen bereits besonderen Klang hatte, es war der Professor Marey, dessen Werk Wilbur Wright in vielen dem Schlaf abgerungenen Nächten mit zäher Gewissenhaftigkeit studierte. Und was die Praxis anbelangte, da war ja eben jener verunglückte Lilienthal selbst. Der hatte mancherlei veröffentlicht, was man sich, wenn auch nur mit Mühe, zu beschaffen vermochte. Von dem bald dreißig Jahre älteren Landsmann französischer Abstammung Octave Chanute, der auf amerikanischem Boden und von Lilienthal ganz unabhängig zahlreiche Versuche unternommen hatte, die sich in der gleichen Ebene bewegten wie jene des Deutschen, wußte Wilbur Wright damals noch nichts. Mit diesem großen Anreger würde man erst später in Berührung kommen.

Das so plötzlich bei Wilbur auftretende Interesse für eine Sache, an die man Jahre und Jahre nicht mehr gedacht hatte, konnte dem jüngeren Bruder nicht lange verborgen bleiben. Sie waren keine Zwillinge, und ihre Ähnlichkeit im Äußerlichen war gröblicher Art. Sie beschränkte sich auf die ungefähr gleiche Statur, der Ältere war nur um weniges größer, auf die gleich schlanken, zähen, sportgestählten Körper, auf die gleichen hohen, klugen Stirnen, den Ernst und die Nachdenklichkeit der etwas tiefliegenden Augen und die geraden, von Energie zeugenden großen Nasen. Das war nicht viel, und man mußte schon wissen, daß sie Brüder waren, um sie als solche zu erkennen. Aber innerlich glichen sie sich wie ein Ei dem andern. Sie hatten die gleichen Charakteranlagen, sie hatten die gleichen Neigungen, und ihre Herzen schlugen im selben Takt. So war es eigentlich nur selbstverständlich, daß sich das so jäh geweckte Interesse des Älteren für die Fragen des Flugwesens auf Orville, den Jüngeren, wie eine ansteckende Krankheit übertrug.

Fortan und für alle Zukunft gingen sie nun gemeinsam dem entgegen, was sie als Ziel und Aufgabe ihres Lebens erkannt hatten. Noch freilich schwebte ihnen dieses Ziel nur in nebelhaften Umrissen vor Augen, noch dachten sie, bescheiden und allem lauten Klappern, das angeblich zum Handwerk gehört, abhold, nur an die Möglichkeit, zu verbessern und zu vervollkommnen, was andere schon vor ihnen in Angriff genommen hatten. Noch konnten sie nicht ahnen, geschweige denn wissen, daß sie einmal Bahnbrecher im Bereich der Fliegerei werden sollten. Daß sie der Menschheit, der einst Kolumbus einen neuen Erdteil geschenkt hatte, nun, vierhundert Jahre später, eine ganz neue Welt schenken würden: das Reich der Luft.

Nüchtern, praktisch, sachlich fingen die Brüder, denen ihre Fahrradfabrik fortan eigentlich nur noch die wirtschaftliche Basis für ihre Experimente bedeuten sollte, ihre Arbeit auf dem Papier an und mit dem Rechenstift. Sorgfältig verfolgten sie an Hand des ihnen zugänglich gewordenen Materials den Weg von Otto Lilienthal, und siehe da: zu ihrer maßlosen Überraschung stellte sich heraus, daß Lilienthal während fünf langer Jahre im ganzen nur ungefähr ebenso viele Stunden fliegend in der Luft verbracht hatte. Eine Stunde im Jahr! Und dann dachten sie an ihre Fahrräder und an die Menschen, die sie kauften und benutzen wollten und von denen doch keiner, wenn er nur halbwegs vorsichtig war, es wagen würde, sich nach nur fünf Stunden Übungszeit auf dem Rad in den Strudel des lebhaften Straßenverkehrs zu stürzen.

Freilich: ein Flugapparat war kein Fahrrad, und wer lernen wollte zu fliegen, der konnte das nicht auf der festen Erde tun, der mußte sich notgedrungen der Luft, dem Wind und den Gesetzen der Luftbewegung, die man doch nur mangelhaft kannte, anvertrauen. Das ging nun mal nicht anders, und wenn man das bedachte, dann war der von Lilienthal zuletzt erzielte Erfolg – eine ununterbrochene Flugdauer, ein »non-stop-Flug!« von nur zehn Sekunden – immerhin schon ein recht beachtlicher Erfolg.

Die erste Lehre also, die sie aus dem Studium der Versuche anderer zogen, war die, daß nur unermüdlich wiederholte Flüge, daß nur Praxis und immer wieder Praxis sie würde weiterbringen können, daß Praxis also die. Grundlage alles Wissens und der Schlüssel zur einstigen Enthüllung des Fluggeheimnisses, wenn man sich so ausdrücken darf, sei. Die zweite Voraussetzung war die eines wirklich günstigen, eines möglichst idealen Flug- oder Übungsgeländes. Otto Lilienthal war lange Zeit und zuweilen, so schien es ihnen wenigstens, etwas planlos in der näheren und weiteren Umgebung Berlins herumgepilgert, ehe er endlich fand, was er suchte, er hatte manche, ja, viele Flüge auf recht bedenklichem, mindestens etwas fragwürdigem Gelände ausgeführt. Diese Zeit und Mühe kostenden Umwege wollten sie sich ersparen, und wirklich fanden sie nach einigem Suchen einen allen Anforderungen entsprechenden Platz in Nord-Carolina, auf der schmalen Landzunge, die den Albe-Marle-Sund vom Atlantic trennt. Südlich der kleinen Stadt Kitty Hawk – deren Name seitdem in die Geschichte des Flugwesens eingegangen ist – entdeckten sie einen Sandhügel, der die ominöse Bezeichnung Kill-Devil, Töte-den-Teufel, trug. Die Wrights ließen sich durch diesen Namen nicht schrecken, denn der Hügel hatte eine Höhe von etwa fünfunddreißig Metern, er hatte eine Neigung von noch nicht zehn Grad, ringsum war flaches, sandiges, vegetations- und also hindernisloses Gelände, und die Nähe des Meeres ließ das häufige Auftreten ab- oder auflandiger Winde mit Sicherheit erwarten. Das alles aber war es gerade, was sie brauchten, und so war ihr Entschluß rasch gefaßt.

siehe Bildunterschrift

Unbemannter Wright-Gleiter (Wilbur links, Orville rechts) in Kill Devil Hills, North Carolina, 1901.
Quelle: de.wikipedia.org

Die Maschine, richtiger gesagt der Gleitflieger, den die Brüder nun bauten, hatte einen Flächeninhalt von noch nicht achtzehn Quadratmetern Ausmaß. Sie verwendeten, wie Chanute – auf dessen Versuche und Systeme sie mittlerweile gestoßen waren – bei seinen späteren Experimenten zwei Tragflächen, gingen aber im übrigen schon hier ganz eigene Wege. Vor allen Dingen wurde der bei anderen Apparaten übliche »Schwanz« fortgelassen und durch eine den Haupttragflächen vorgebaute kleinere Tragfläche ersetzt. Dadurch hofften die Brüder, dem sonst so oft erfolgenden Kippen und Abtrudeln des Gleitfliegers vorzubeugen.

Aber die wesentlichste und grundlegende Änderung war darin zu sehen, daß sich der Flieger nicht, wie bei allen anderen, die bisher derartige Versuche unternommen hatten, in aufrechter, im Gestänge hängender Stellung befand, sondern eine horizontale Lage einnahm. Dieser Gedanke entsprang vor allem dem Hirn Wilbur Wrights, der die Gründe für seine Änderung mehrfach und überzeugend dargelegt hat. Die Vorteile dieser horizontalen Stellung waren mehrfacher Art. Der erste war zugleich der am meisten ins Auge springende: die Verminderung des Luftwiderstandes. Wilbur Wright errechnete, daß ein hängender Menschenkörper der Luft einen fast dreimal so großen Widerstand entgegensetzte wie ein liegender. Das also war Kraft, die zwecklos vergeudet wurde. Des weiteren überzeugten sich die Brüder bei zahllosen praktischen Versuchen, daß man sich in liegender Stellung mit dem Flugapparat sehr [Zeile fehlt im Buch. Re] Man spürte dann, ganz anders als in aufrechter Stellung, auch die geringsten Verschiebungen oder Störungen des Gleichgewichts und bedurfte nicht pendelnder Bewegungen nach allen möglichen Seiten, um diese Störung zu beheben. Es genügte vielmehr eine geringe Verschiebung der Lage des Körpers, um dieses wichtige Ziel fast mühelos zu erreichen.

Diesen und anderen Vorteilen standen natürlich auch, wenigstens anfänglich, bestimmte Nachteile gegenüber. Man konnte nicht, wie bei aufrechter Haltung, beim Start gegen den Wind anlaufen – die Wrights versuchten es trotzdem, anfänglich, aber es erwies sich bald als schwierig, sich dann durch eine Art Turnübung in die liegende Stellung zu bringen –, sondern man war auf die Hilfe Dritter angewiesen, die den Apparat an den seitlichen Verstrebungen packen und mit ihm hügelabwärts gegen den Wind laufen mußten, bis die Tragflächen genug Luftwiderstand auffingen, um sich vom Boden zu lösen. Auch konnte man natürlich bei hängendem Körper die etwaigen Stöße bei der Landung und dem Aufsetzen des Apparates, der ja noch keine Räder hatte, sehr viel besser auffangen. Trotzdem hielten die Wrights an ihrem System fest, das sich alsbald in der Praxis hundertfach bewährte, das auch rein äußerlich viel geschickter wirkte als der aus dem Gleitflieger niederhängende, schwebende und pendelnde Körper. Es bot zudem noch den Vorteil, daß es viel geringere körperliche Kraftanstrengungen notwendig machte, die bei anderen Systemen nach Meinung Wilbur Wrights, des offenbar größeren Theoretikers unter den beiden Brüdern, lange Flüge sehr erschweren, wenn nicht unmöglich machen würden.

Tagaus tagein, Stunde um Stunde, wurde geübt. Es ging schneckenlangsam vorwärts, aber es ging eben doch vorwärts. Jede kleine Verbesserung war die süße Frucht bitterer und langwieriger Bemühungen, auf zehn enttäuschte Hoffnungen kam ein bescheidener Erfolg. Aber die beiden Brüder ließen sich nicht entmutigen, sie wurden nicht müde. Müde zu werden, das hätte ihrer Natur, deren hervorragendste Kennzeichen Zähigkeit und Ausdauer waren, widersprochen.

Es gab natürlich auch, trotz der so günstigen Lage von Kitty Hawk, Tage ohne Wind, vollkommen windstille Tage, oder solche, bei denen die Stundengeschwindigkeit unter der erforderlichen Mindeststärke von zwanzig Kilometern lag. Dann wurde gemessen, gerechnet, Theorie getrieben, dann wurden Versuche mit dem unbemannten Gleiter gemacht, den man wie einen Drachen an einer starken Schnur in die Luft steigen ließ. Noch war der Schritt vom Gleiten zum Segeln nicht gemacht worden, noch dachte niemand daran, daß es möglich sein würde, im Aufwind und also ohne Höhenverlust zu gleiten. Daß man auf diese Art in zwanzig, dreißig Jahren Strecken von mehr als fünfhundert Kilometern überwinden, Flüge von mehr als sechsunddreißig Stunden Dauer machen und Höhen von mehr als viertausend Metern erreichen würde. Und es waren nicht die Brüder Wright, die diesen Schritt unternehmen würden. Ihre Aufgabe lag auf anderem Gebiet, ihr Weg sollte sie in einer völlig anderen Richtung führen.

Um die Jahrhundertwende konnten die Wrights bereits auf eine Anzahl von feststehenden Erkenntnissen und Erfahrungen zurücksehen, die sich in der Praxis Dutzende, ja Hunderte von Malen als richtig erwiesen hatten. In der Frage der Steuerung hatte es sich herausgestellt, daß dazu eine schmale Tragfläche erforderlich war, die umgekehrt geneigt war wie die Haupttragflächen, und daß sie am sichersten erfolgte, wenn der Pilot zu ihrer Bedienung nicht seine Stellung oder Lage zu verändern brauchte. Außerdem ergab sich, daß die Erhaltung des seitlichen Gleichgewichts, der Stabilität nach den Seiten, sich viel besser durch Verwinden der Tragflächen erreichen ließ als etwa durch Körperbewegungen, wie noch Otto Lilienthal sie für unerläßlich gehalten hatte.

Mittlerweile waren die Brüder mit ihrem Landsmann Octave Chanute in persönliche Berührung gekommen, der nicht nur ein berühmter Ingenieur und als solcher Präsident des Vereins amerikanischer Ingenieure war, sondern auch, wie schon erwähnt, der erste amerikanische Flugtechniker überhaupt. Chanute, 1838 in Paris geboren, war nun bereits ein Sechziger. Sein Alter hatte ihn gezwungen, die praktischen Flugversuche aufzugeben. Nun lernte er in den Wrights zwei Menschen kennen, deren natürliche Begabung, verbunden mit ungewöhnlicher Energie und Wagemut, ihm imponierten. Sie, die rund dreißig Jahre jünger waren und also im besten Mannesalter standen, versprachen, das zu vollenden, was er selbst begonnen hatte. Und da er, wie alle von einem hohen Ziel beseelten Menschen, die Sache über das Persönliche stellte, so war er sofort entschlossen, ihnen so weit wie nur möglich zu helfen und ihnen seine in langen Jahren gesammelten Erfahrungen zur Verfügung zu stellen. Das war der Beginn einer Freundschaft, die alle kommenden Jahre überdauern und sich in jenem Augenblick besonders bewähren sollte, als die Brüder Wright schwer um die Anerkennung ihrer Leistungen ringen mußten.

Im Juli 1902 begannen nun die Brüder im Beisein Chanutes neue Versuche mit einer Maschine, deren Tragflächen sie auf etwa fünfunddreißig Quadratmeter vergrößert und mit einer Wölbung von 1:12 versehen hatten. In verhältnismäßig kurzer Zeit gelangen ihnen mit diesem neuen Apparat Flüge bis zu 100 m bei Stundengeschwindigkeiten von 25 bis 45 km. Es ist wahrscheinlich vor allem dem Einfluß und den Anregungen Chanutes zuzuschreiben, daß die Wrights, die anfänglich das Fliegen doch wohl mehr als einen Sport betrachteten, dem sie sich mit fast jungenhafter Begeisterung widmeten, sich nunmehr entschlossen, aus dem Sport eine Wissenschaft zu machen. Der erste Schritt auf diesem Wege bestand in dem Bau mehrerer Modellmaschinen für Winddruckmessungen – Windkanäle, wie die Technik sie heute entwickelt hat, mit Komponentenwaagen zur Messung der Luftkräfte und vollautomatischer Aufzeichnung von Auftrieb und Widerstand gab es damals ja noch nicht – und in der Konstruktion verschiedenartiger Tragflächen mit wechselnder Neigung von 0 bis 45 Grad. Die derart gewonnenen theoretischen Kenntnisse übertrugen die Brüder nun auf das richtige Flugzeug, bei dem die noch immer als schwierig empfundene Frage des Verspannens der Drähte eine neue und zweckmäßige Lösung erfuhr. Sie ermöglichte es, die Drähte sogar während des Fluges nach Belieben anzuziehen oder zu lockern, als Material bewährte sich Klaviersaitendraht aufs beste.

Wieder begann man vorsichtig, die Stabilität des neuen Gleitfliegers zunächst bei unbemanntem Apparat zu überprüfen, d. h. ihn drachenähnlich an einer Leine in die Luft steigen zu lassen. Erst dann erkletterten die Brüder selbst abwechselnd ihren Apparat.

Die Ergebnisse erfüllten, ja übertrafen teilweise sogar ihre Erwartungen. Da war etwa das unter gleichzeitigem Fortfall des Schwanzes vorn angebrachte Höhensteuer. Noch Jahre später, als der Name Wright längst in die Geschichte der klassischen Aviatik eingegangen war, pflegte ein Mann vom Bau mit leisem Spott zu sagen: Der Wright'sche Apparat erinnert wirklich fatal an ein Huhn, dem man die Schwanzfedern ausgerissen hat. Aber die Brüder wußten schon, was sie taten und weshalb sie es taten, und hielten zäh an der von ihnen für richtig erkannten Konstruktion fest. Ermöglichte sie es doch, selbst bei verhältnismäßig großer Fluggeschwindigkeit durch leises Heben dieses Höhensteuers kurz vor der Landung den Apparat ganz sanft auf den Boden aufzusetzen. Auch glückte es, mit erstaunlicher Sicherheit Flüge bei Windgeschwindigkeiten bis zu 16,7 Metern in der Sekunde, d. h. bis zu mehr als 60 Kilometern in der Stunde, auszuführen. Das hatte vor ihnen noch niemand gewagt.

Aber trotz alledem und trotz der mehr als tausend Flüge, die sie im Laufe des letzten Halbjahres 1902 ausführten: länger als sechsundzwanzig Sekunden vermochten sie sich nicht in der Luft zu hallten. Und die längste Strecke, die sie in diesem Zeitraum überflogen, betrug nur rund sechshundert Meter. Und mehr als einmal drängte sich den Brüdern, bei allem ihnen angeborenen Optimismus, die Besorgnis auf, es könnte nie gelingen, auf dem bis jetzt eingeschlagenen Wege zu wirklich brauchbaren, für alle Menschen verwertbaren Ergebnissen zu kommen. Der Gleitflug würde also immer nur von besonders talentierten Menschen und nur nach jahrelanger Übung zu letzten Endes doch nur bescheidenen Resultaten gesteigert werden können.

In diesem Augenblick sollte ihnen ein neuer Anstoß und damit die Ausrichtung auf ein neues Ziel von einer Seite aus zuteil werden, an die sie bislang noch keinen Gedanken verschwendet hatten.


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