Max Eyth
Die ersten Tanzschuhe
Max Eyth

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1. Morgens

Wenn mir manchmal in einer ruhigen, gemütlichen Stunde, in der die Minuten vorüberschleichen, wie die Lämmlein am Himmel, so friedlich und stille, die gute schwäbische Reichsstadt, mein liebes Heilbronn, vor die Seele tritt, wie sie vor so und so vielen Jahren gewesen ist, da weiß ich oft nicht: möchte ich lieber lächeln oder weinen. Damals freilich sah's noch anders aus als jetzt! Hohe, graue Stadtmauern umschlossen das Herdlein der Häuser, die sich fast ängstlich ineinander hineingedrängt hatten; in den halb ausgetrockneten Stadtgraben, diesen Bildern des Friedens, sangen abends die Frösche ihr trauliches Lied und ließen sich kaum von den mutwilligen Buben unterbrechen, welche Pfützen und Lachen redlich mit ihnen zu teilen suchten; und über Mauern und Gräben herein schaute der alte Wartturm und das Häuschen daneben und lockte Blick und Gedanken zu sich hinauf; welches schöne Heilbronner Kind aus jener Zeit wußte nicht davon zu sagen? Die Mauern hat man jetzt eingerissen und die Gräben haben sie aufgefüllt; die Häuser rücken auseinander, als ob sie sich voreinander fürchteten; die Straßen werden länger und gerader; nur der Wartberg sieht noch auf sie herunter mit Turm und KnopfDer Turm auf dem sog. Wartberge, dem Hauptvergnügungsorte der Heilbronner, hatte das Eigentümliche, daß er auf dem Dache eine kolossale kupferne hohle Kugel trug, »Knopf« genannt, in welcher zwölf Personen bequem (und unbequem sogar vierundzwanzig Personen) Platz fanden. Dieser »Knopf« diente zu Signalen und ist erst kürzlich entfernt worden. A. d. H. wie einst, und selbst der nicht mehr ganz mit dem alten, lieben Gesicht. Denn das Haus neben dem Turme ist ein anderes, ist größer und schöner geworden; – und auch der Saal ist nicht mehr so freundlich, so hell; es tanzt sich nimmer so frisch und fröhlich drin herum, wie einst! Meine schönen Leserinnen mögen es glauben oder nicht, aber ich weiß es aus Erfahrung: es war besser in den guten, alten Zeiten!

– Doch wozu klagen, daß sie vorüber sind? Wozu wehmütig auf die Tage zurücksehen, die nun einmal nie mehr wiederkehren? Ein Tag aus jenen heiteren, frohen Zeiten ist ja noch nicht vorüber für mich; einen Tag, der für mich so unaussprechlich viel Freude und Lust, Qual und Jammer umfaßt, – den kann ich immer noch heraufbeschwören, so oft ich will; grad' als wäre er erst gestern verflossen. Und ich tu's gern und hab' schon oft meine kindische Freude daran gehabt. Denn was bleibt dem Menschen am Ende von all den harmlosen Jugendfreuden und Jugendsorgen, wenn er mit Schrecken merkt, wie ein Härlein um das andere grau wird und eine Blume um die andere verwelkt, – was bleibt ihm dann als das süße Glück der Erinnerung?

– Ich lag noch gemütlich im Bette. Über braune, krumme Giebel und hohe Schornsteine hatte die muntere Herbstsonne schon längst ihren Weg vor mein Fenster gefunden und bemühte sich wacker, zwischen dem grünen Vorhang und der Wand hindurch dem Siebenschläfer einen ihrer mildmahnenden Strahlen ins Gesicht zu werfen.

Ich hatte das Spiel schon längst bemerkt und blinzelte schadenfroh über die mißlingenden Versuche durch die halbgeschlossenen Augenlider. Dann gab ich mir wieder einen Augenblick Mühe, mich zu besinnen, ob ich vielleicht wache, oder noch schlafe; aber bald spannen sich die vorigen Träume weiter, die durch dieses neckische Zwischenspiel nur halb unterbrochen waren. Was hätte ich mich auch stören lassen sollen? Konnte ich doch draußen im Gange höchstens hie und da leise Tritte und das vorsichtige Aus- und Zugehen einer Türe vernehmen! Schreckte mich doch nicht mehr der grelle Schall der Klosterglocke oder das grobe Rütteln eines Famulus aus meinen Träumen auf! – Ja, dieser Quälgeister war ich endlich los. Ich war den Tag vorher zeitig mit einer Retourchaise von Stuttgart angekommen, hatte dort drei schwere, verhängnisvolle Tage im Examen geschwitzt, hatte es überstanden und, wie ich gewiß sein durfte, glücklich überstanden. Heute war nun der erste klare, sonnenhelle Morgen, an dem ich auf mein vierjähriges Klosterleben jubelnd zurücksehen und all die Leiden, all die kleinen, deshalb aber nicht weniger drückenden Sorgen eines Seminaristen ungestraft verlachen durfte. Und welche Zukunft lächelte mir durch das wonnige Gewirr meiner Träume! Tübingen, dieser schimmernde Hoffnungsstern, der mit mir einzog in die düstern Mauern des Klosters, der mir in mancher trüben Stunde, wo alles andere in Nacht und Trauer versinken wollte, am öden Himmel gefunkelt hatte, Tübingen, dieses Zauberwort, das den gebeugten Mut neu belebte, die erschlaffende Kraft zu neuen Anstrengungen spornte, dieses hohe Ziel eines vierjährigen mühevollen Strebens war nun erreicht; ich durfte hoffen, mit Glanz erreicht! Meine Eltern hatten mir schon gestern gezeigt, wie sehr sie dadurch die Liebe zu ihrem einzigen Jungen – das war ich – belohnt sahen, und wenn auch mein Vater in dieser Beziehung stiller und zurückhaltender blieb als meine Mutter, so verstand ich doch seinen gutherzigen Blick zu genau, um nicht bei ihm die gleiche Befriedigung mit meinen Leistungen zu bemerken. Unter solchen Umständen eine Ferienzeit von vier Wochen allein zwischen den väterlichen Mauern zuzubringen, hätte hingereicht, mich vollkommen glücklich zu machen. Doch auch außer dem Hause warteten meiner noch Freunde und Bekannte genug, um mir die nur allzu kurzen Tage zu versüßen. Und das Gefühl, jetzt unter ihnen als Student, als Tübinger Student auftreten zu können, gab mir vor mir selbst ein Ansehen, das nicht wenig dazu beitrug, mein Behagen zu steigern.

Unwillkürlich führten mich nun meine Gedanken zu all den Plätzchen und Punkten, die mir früher in meiner Vaterstadt und der Umgegend lieb geworden waren. Ich betrachtete sie der Reihe nach und es tat mir wohl, mich ihnen in meiner neuen Würde zu zeigen und ihnen dabei zu sagen, daß ich für sie doch der Alte geblieben sei. So durchwanderte ich allmählich alle Straßen und Gäßchen, alle versteckten Winkel der Stadt und kam, wie von ungefähr, auch an unserem eigenen Hause vorüber. Das Gebäude gegenüber schien mir neu angestrichen, oder sonst verändert; kurz, es fiel mir auf und wie ein Blitz fuhr in demselben Augenblick etwas durch meine behaglichen Träumereien. –

Mit einem Sprung war ich auf den Beinen, in zwei Momenten in den Kleidern und im nächsten stand ich neben dem grünen Vorhang, um der Sonne endlich ihr lang vorenthaltenes Recht einzuräumen. Noch, als reute mich dieser gute Vorsatz plötzlich wieder, schob ich den Vorhang bloß mit dem Finger ein wenig auf die Seite und sah durch die Spalte hinaus.

Frisch angestrichen war nun unser Nachbarhaus gerade nicht; das hatte mich eigentlich auch nicht aus den Federn getrieben und der Traum hatte mich ganz unnötigerweise betrogen. Aber etwas anderes fand ich und mein Herz fing an, lauter zu klopfen, als wär's ihm mit einem Mal zu enge geworden; ich fühlte, wie das Blut in meinen Wangen brannte und leise an der Stirne pochte. »Sie ist's! Sie ist's!« sagte ich endlich vor mich hin und ließ fast erschrocken, als hätte ich etwas Böses gesagt, den Vorhang wieder über die Spalte hingleiten. Die ich meinte, war's auch. Sie saß schon drüben unter dem halbgeöffneten Fenster im netten, einfachen Morgenkleide und nähte eifrig, und das Spiegeln unserer Scheiben warf einen naseweisen Streifen Licht auf das hübsche Nähtischchen, so daß ich jedes Fädchen unterscheiden konnte. »Und wie sie groß geworden ist!« dachte ich weiter und schob den Vorhang wieder ein wenig auf die Seite. Eben war ihr eine ihrer schönen, schwarzen Locken über die Wange geglitten; sie sah auf, strich sie langsam zurück und warf einen lächelnden Blick herüber auf unser Haus. Sie mußte gerade etwas Lustiges gedacht haben, und auch die Sonne schien ihr munter in das etwas vorgebeugte Gesichtchen und malte auf ihren frischen Wangen ein Rot, auf ihrer freien Stirne ein Weiß, wie sie es nur im Frühling zu malen versteht.

In diesem Augenblicke hörte ich leise eine Türschnalle klappen und die Türe hinter mir aufgehen. Wie der Blitz war ich vom Fenster weg und sah mich um. Meine Mutter stand vor mir.

»Guten Morgen, Eduard!« sagte sie freundlich und sah mich dann lange an. Ich konnte nicht zum Sprechen kommen und jede Sekunde, die lautlos zerrann, machte mir's unmöglicher, einen Ton hervorzubringen.

»Hast du auch ordentlich geschlafen und was Gescheites geträumt nach deiner gestrigen Reise?« fragte sie endlich und sah mich dabei an, daß mir angst und bange wurde. Ich war fest überzeugt, daß ein großes Geheimnis verraten sei, und konnte mich erst allmählich überzeugen, daß diese Blicke der reinen, besorgten Mutterliebe noch nicht eine provisorische Verurteilung des entlarvten Verbrechers bedeuteten. Meine Fassung kehrte zurück und wir gingen ruhig plaudernd in das Wohnzimmer hinüber, wo der Kaffee und der Herr Papa bereits auf mich warteten.

Als ich eintrat, stund er am Ofen, putzte nach uralter Sitte seine uralte Pfeife und seiherte den gestern gerauchten Tabak in eine blecherne Büchse, die Sommer und Winter, Tag und Nacht dort ihren Platz hatte, um die zurückbleibenden Teilchen, auf die er sehr viel hielt, noch einmal zu benützen. Man verstand in jener Zeit die Genüsse des Lebens auszunützen. Er ließ sich durch meinen Eintritt wenig stören und grüßte mich nur mit einem freundlichen Nicken des Kopfes. Endlich, als alles bereinigt war und wir uns um den Tisch und die mächtige Kaffeekanne gesetzt hatten, die schon längst lockend genug dampfte, sagte er und schlug dabei eifrig mit dem ausgewetzten Stahl auf den ebenso alten Feuerstein: »Vielleicht in einem halben Jahre, Bürschlein, kann ich dir auch das erste Päckchen Tabak schicken!«

Ich dachte dabei an meinen dritten Pfeifenkopf, den ich gestern noch in Stuttgart gekauft hatte und der tief versteckt im Grunde meines Koffers lag. Denn der zweite war während der Examenstage, wo man abends doch auch auf irgendwelche Weise neuen Mut für neue Kämpfe sammeln mußte, ad patres oder vielmehr ad patrem gegangen, da sein Vorgänger schon längst, tief verscharrt in einem Wäldchen, nicht weit von dem Kloster, im Reich des Todes weilte. Natürlich nahm ich ein höchst erfreutes Aussehen an und spielte emsig mit meinem Kaffeelöffel.

»Ob mir wohl Tante Julie die versprochene Ehrengabe bringen wird, von der sie mir gestern so viel gemunkelt hat?« fragte ich meine Mutter, die mit großer Aufmerksamkeit das eben angekommene Tagblättchen durchblätterte. Sie sah lachend auf.

»Du hast mit deinem letzten Brief allerhand Unheil angerichtet«, meinte sie und sah dabei so schelmisch drein, wie ich's ihr gar nicht zugetraut hätte. Kein Wunder, daß meine Neugier gewaltig rege wurde. Doch ich konnte nicht näher auf die Sache eingehen; denn in diesem Augenblick klopfte es leise an und meine Mutter rief mit einer Stimme, wie es nur bei einem längst erwarteten und wohlbefreundeten Besuche Brauch und Sitte war: herein!

Und wie gerufen, trat mit einem leichten Morgengruß meine gute, alte Tante Julie in das Zimmer, und hinter ihr drein schob sich wedelnd und schwänzelnd ihr unabtreiblicher Begleiter, mein treuer Freund Joli.

Es ist mir unmöglich, seit ich diese unvergeßliche Tante verloren habe, ihren Namen zu nennen, ohne daß ihr Bild, wie sie leibte und lebte, mir vor die Seele tritt. Ich habe nie eine Großmutter gekannt; sie war dazu bestimmt, diese Lücke auszufüllen. Da sie überdies eigentlich meine Großtante war, konnte sie auch äußerlich Wohl dafür angesehen werden, und wenn das Verzärteln und Verziehen sonst gewöhnlich das Recht und die Pflicht der Großeltern ist, so hat sie treulich getan, was ihres Amtes war. Ich übergehe all die kleinen Beweise ihrer Liebe, die ich täglich von ihr empfing; es ist hier auch nicht der Ort, die Hunderte von Kreuzern und Groschen aufzuzählen, die ich ihr jahraus, jahrein auf alle ersinnbare Weise abzupressen wußte. Ihr Bild aber soll hier aufgehängt sein, zur Ehre des wichtigsten Tages meines Lebens, mit dem sie zur Türe herein kam.

Fünfzig Jahre und mehr waren schon über sie hingegangen. Sie hatte in den bewegten Zeiten der französischen Revolutionskriege, die auch für sie nicht ohne schweren Verlust und bittern Schmerz geblieben waren, denn ihr Bräutigam fiel in einem Gefecht im Schwarzwald, ihre heitere, offene Lebensanschauung bewahrt. Das Einförmige und Abspannende ihres späteren Lebens hatte ihr diese Munterkeit nicht geraubt. Im Gegenteil: ihr Interesse an Leid und Freud Anderer, ihre rege Teilnahme überall, wo sie mit Rat und Tat helfend beispringen konnte, ihre Aufopferungsfähigkeit wuchs mit dem Alter und was sie je durch Undank und Neid leiden mußte, konnte sie ohne Bitterkeit mit ihrem immer frischen, nie versiegenden Humor überwinden. Auch ich war von meiner Wiege an ihr kleiner Schützling geworden und hatte mich ihrer besondern Gunst zu erfreuen.

Was Wunder, daß sie mir einst das Ideal aller weiblichen Liebenswürdigkeit, daß mir all ihre kleinen Eigentümlichkeiten, welche sie bei Andern vielleicht lächerlich machten, angebetete Tugenden wurden? Zu diesen gehörten unter anderem auch die Liebe zu einem Schoßhunde, den sie sich, wie man mir sagte, infolge eines Witzes meines Vaters am Tag meiner Taufe ins Haus bringen ließ. Mit dem Hündlein war ich aufgewachsen, wir hatten Brot und Kuchen miteinander geteilt und auf Tod und Leben Freundschaft geschlossen; jetzt freilich war der arme Kerl steinalt geworden und konnte nur noch mühevoll seine steifen Gliedchen der Gebieterin nachschleppen, die sich's daher seit längerer Zeit angewöhnt hatte, auf all ihren Gängen eine Strohtasche mitzuführen, um das Tierlein, das immerhin die frische Luft genießen sollte, zu tragen, wenn es sich schwer atmend auf den Boden niederkauerte.

So trat sie nun heute ein mit Korb und Hündlein. Letzteres schien mich wieder zu erkennen; es stand ernsthaft wedelnd vor mich hin und sah schwermütig an mir hinauf; eine Erinnerung aus glücklichen, vergangenen Zeiten zog durch den kleinen Kopf; es schüttelte ihn mißbilligend und schien zu knurren: Edward, wie haben wir uns verändert! Dann legte es sich still unter das Sofa und folgte mit müdem Blick jeder meiner Bewegungen. Die Tante, die ich schon gestern begrüßt hatte, legte indes ihre Strohtasche mit mehr Sorglichkeit als sonst auf die Seite und setzte sich zu uns, um noch eine Tasse mitzutrinken. Mein Vater dampfte ruhig aus seinem Ulmer Kopf, meine Mutter las ihr Blättchen und ich und die Tante waren bald in ein lebhaftes Gespräch über die schönen alten Zeiten verwickelt; denn auch ich fühlte heute, daß ich auf ein Menschenalter zurücksah. Eine halbe Stunde war schnell vergangen. Die Mutter schien endlich ausstudiert zu haben; sie las, wie sie gewöhnlich zu tun pflegte, den letzten Satz halblaut vor sich hin, zum Zeichen, daß sie nun auch an der allgemeinen Unterhaltung teilzunehmen wünsche. Ich verstand:

»Heute abend, den 26. September, findet als Vorfeier des Geburtstags unsers vielgeliebten Kronprinzen Wilhelm Tanzunterhaltung auf dem Wartberg statt«.

»Nu bringst mich auf das rechte Thema«, fiel Tante Julie ein, die ebenfalls aufgemerkt hatte. »Ei, Eduard, ist's denn wahr, was du in deinem letzten Brief geschrieben hast? Du hast das Tanzen gelernt?«

»Ob's wahr sei?« wiederholte ich und sah sie dabei mit verletzter Würde an, was seine gehörige Wirkung tat; denn sie schlug die Augen nieder und ihr Blick blieb an meinen Pantoffeln hängen. »Meinst du« – fuhr ich in gekränktem Tone fort –, »im Kloster lerne man gar nichts?«

»Aber tanzen, tanzen!« rief sie mit komischem Entsetzen. »Sag' mir nur, wie sich das hinter Klostermauern ausnimmt? Studierlampen, vielleicht noch Kutten und ewige Lichtlein, Kreuzgänge und Mondschein; und dazu Tanzen! Verzeih, Eduard, aber ich kann's schlechterdings nicht zusammenreimen; ich glaub's nicht.« »So muß ich dir am Ende erzählen, wie ich dazu kam«, sagte ich. Mir schien die Sache so ungereimt nicht, und ich tat mir was auf meine Tanzkunst zu gut. Doch warf ich zuvor noch einen prüfenden Blick zu meiner Mutter hinüber, deren Neugier mich jedoch über die Befürchtungen beruhigte, die während ich sprach, in mir aufgestiegen waren. Ich begann, im Gefühl wachsender Würde, mit rüstigem Eifer die Verfechtung der Sache zu übernehmen.

»Wenn solche Ideen über unser Klosterleben noch im Lande spuken (sagte ich), so wundert mich's nicht, daß die armen Landexaminanden»Landexaminanden« sind in Württemberg die jungen Bewerber um die Aufnahme in eines der vier ev. Seminarien, welche alljährlich in Stuttgart aus dem ganzen Lande zusammenkommen, um das erforderliche Examen deshalb zu machen. von jeher dein unverdientes Mitleid erregt haben, sie mögen durchfallen oder aufgenommen werden. Die Gespenstergeschichten von Kreuzgängen und eisgrauen, runzeligen Professoren sind bei wirklichem Lampenlicht betrachtet so schrecklich nicht. Ha, meine verehrte Jungfer Tante, du solltest einmal in eine unserer Stuben hineingesehen haben, Winters von acht bis neun Uhr, nachts oder sonst in einer freien Stunde, wo man zusammengesperrt ist wie die Schafe im Pferch! Nicht wahr, da denkst du dir die zehn Burschen, – jeden mäuschenstill an seinem Pult, ein Buch in der Hand: der eine studiert, der zweite liest eine moralische Erzählung, der dritte träumt von Freiheit und Sonnenschein, und der vierte schläft vielleicht, wie die übrigen sechs! Weitgefehlt! Da wird geschrieen und gesungen, geneckt und gebalgt, gepfiffen und gepoltert, gezündelt und gespritzt, daß man mitmachen muß, man mag wollen oder nicht. Auf unsrer Stube war nun ein Stuttgarter, der manchen dummen Streich ausgeheckt hat. Einmal in seinem Leben ist er auch auf einen vernünftigen Gedanken gekommen und das war im letzten Semester, wo das Examen ihm ein wenig bange machte. Er hatte nämlich in den Frühlingsferien in seiner Vaterstadt das Tanzen gelernt, und weil er sonst in nichts besonderes Glück hatte, legte er sich mit ganzem Eifer auf diesen Zweig der Wissenschaften. Anfänglich, als er uns seine neue Errungenschaft mitteilte und sich glücklich pries, nun überall in der großen Welt Zutritt zu haben, wären nur die verwünschten Mauern und Riegel nicht, hatten wir unser Gaudium und unsern Spott mit ihm. Doch das währte nicht lange und eh' man sich's versah, hatte er ein kleines Trüpplein Getreuer um sich versammelt, die als Schüler und Jünger seinen Fußstapfen nachfolgten. Denke nur, dein Herr Neffe war der erste derselben. Übrigens meinte unser Lehrer, das komme vom Himmelsstrich her, und prophezeite mir als Unterländer, als Heilbronner vollends, die glänzendsten Erfolge. Wie wir's angriffen, unentdeckt unser Wesen zu treiben? Nachts um zehn Uhr, wenn alles schlief, außer Eulen und Ratten, die uns wenig genierten, zogen wir mit einem einzigen Lichtlein schweigend auf den Dachboden des Klosters. Die schwarzen Schatten des Gebälks schwankten und nickten wie Gespenster. Doch wir begannen getrost unsere Studien. Ein altes, ausgebrauchtes Violoncell schnarrte laut genug, um unsere zierlichen Schritte im Takt zu halten. Ich, das kann ich dir versichern, machte meinem Lehrer Ehre und Vergnügen!« Das Gelächter meiner Tante und das sehr ernste Gesicht meines Vaters unterbrach hier meinen Bericht. Er mochte wohl über das zunehmende Verderben der Jugend, selbst der besseren, zu der er mich rechnete, nachdenken; denn seine Pfeife – ein seit Menschengedenken unerhörter Fall – hing ihm kalt an den etwas gebräunten Zähnen. Doch getrost fuhr ich fort: »Leider wurde das einzige Licht, das wir uns zur spärlichen Beleuchtung unserer Exerzitien gönnten, unser Verräter. Der alte, halbtaube Famulus, der einmal noch außerordentlich spät die Runde machte, glaubte Gespenster gesehen zu haben und zeigte es höheren Orts an. Wenn auch die angestellten Untersuchungen kein Resultat lieferten, so hatte die drohende Entdeckung unseres Verbrechens doch die meisten Teilnehmer zu sehr in Schrecken gesetzt, als daß an eine Fortsetzung des Kursus zu denken gewesen wäre.«

Die Stirne meines Vaters heiterte sich bei diesem Schluß auf; Meine Tante jedoch schien nicht ganz befriedigt und fragte:

»Und du kannst also jetzt doch nicht recht tanzen?«

»Hast du die Geschichte von dem Elefanten in Rom noch nicht gehört?« fragte ich statt aller Antwort.

»Von was?«

»Von dem Elefanten, der im Mondschein die Kunststücke einstudierte, die er bei Tag nicht begriff?«

»Und du wärest –«

»Ein Elefant!« sagte ich zuversichtlich; »das heißt«, fügte ich mit Würde hinzu, » mutatis mutandis!«

Diese gelehrte Verbesserung war ein wenig zu spät gekommen und konnte die Wirkung eines so offenherzigen Geständnisses nicht schwächen. Selbst mein Vater lachte herzlich und merkte dabei mit Schrecken, daß seine Pfeife wirklich und vollkommen ausgegangen war.

»Nach drei Wochen«, fuhr ich eifrig fort, um wenigstens das Gelächter zu unterbrechen, »machte ich meinem Lehrer die neu eingeschulten Touren vor. Er fiel mir anmutig um den Hals und sagte: ich habe ihn, ich habe mich selbst übertroffen!«

»Ach was, der!« sagte die Tante geringschätzig, nachdem sie sich erholt hatte. »Der!« rief ich nicht wenig erzürnt. »Ich sage dir, Tante, du würdest dich wundern, wenn du mich –«

Es war vergebens. Ich mochte sagen, was ich wollte, es steigerte sich nur das Gespött und Gelächter. Resigniert lehnte ich mich in meinen Stuhl zurück und war entschlossen, alles ruhig über mich ergehen zu lassen, bis ein günstigerer Augenblick mir einmal Gelegenheit geben würde, durch die Tat solche Angriffe zu widerlegen.

»Du seist so groß geworden, hast du auch geschrieben!« sagte endlich meine Tante und ging auf ihren Korb zu, der auf der Seite in einer Sofaecke lag.

Statt aller Antwort stand ich auf. Ich war wirklich um mehr als einen Zoll gewachsen und bemerkte mit Vergnügen, wie meine Mutter an mir hinaufsah.

»Nun« – sagte die Tante plötzlich sehr freundlich, »daß du siehst, wie ernst unsere Neckereien gemeint waren, bekommst du dies von mir zum glücklich überstandenen Examen!«

Und damit zog sie vor meinen erstaunten Augen zwei glänzend gewichste Schuhe hervor und stellte sie auf den Tisch. »Ich habe sie vielleicht ein wenig zu groß machen lassen (setzte sie hinzu, als ich ihr herzlich für ihre unerwartete Aufmerksamkeit die Hand drückte). »Dein Fuß scheint mir ein wenig hinter der andern, so gerühmten Größe zurückgeblieben zu sein. Das konnte ich nicht erwarten. Aber vielleicht tut sich 's doch. Vielleicht heute abend – was meinst du? –«

Schon seit ein paar Minuten war mir so was im Kopfe herumgegangen. Diese Zuvorkommenheit überraschte und freute mich. Meine Mutter schien mit dem Vorschlag gar nicht unzufrieden; sie mochte wohl denken, ich habe in letzter Zeit eine kleine Erholung wohl verdient, und mein Vater lachte still in sich hinein. »Werden wohl viele Leute hinaufkommen?« fragte ich etwas befangen und half dabei meiner Tante den Shawl umlegen; denn sie meinte, sie sei schon viel zu lange da.

»Das kannst du dir denken!« entgegnete sie und sah mich lustig an. »heute wird's droben voll und wenn's mit Kübeln schüttet! – Wie die Sonne so schön scheint!«

»Gehen unsere Nachbarsleute auch noch manchmal hinauf?« fragte ich weiter und beschäftigte mich mit großem Eifer an einer Falte ihres Tuchs.

»Was willst du damit?« fragte sie anscheinend gleichgültig.

»Nun, ich meine nur so – Kerns sind doch sonst fleißig auf den Wartberg gekommen!«

»Ja, der alte Kern hat an der Aussicht droben einen Affen gefressen, oder am Wein; was weiß ich?«

»Und nicht wahr, sie lassen ihn nicht gern allein ausgehen? Er muß schon sehr alt sein.«

»Wer ›sie?‹«

»Natürlich, Tante, seine Leute, seine Frau und – und«

»Und? –«

Tante Julie drehte sich mit diesem »und« rasch um und sah mich an. Ich fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg, wie ich rot sein mußte. Rot und Tübinger Student! Der Gedanke machte mich röter.

»Und Fräulein Emilie!« setzte sie so leise hinzu, daß nur ich es hören konnte, war wenige Augenblicke darauf vor der Türe und lachte laut die Stiege hinunter.

Ich stand noch immer auf demselben Fleck und stierte auf den Boden meiner leeren Kaffeeschale.

»Verkauft und verraten!« murmelte ich vor mich hin; »verkauft und verraten, ehe ich eigentlich hier bin, ja ehe ich noch weiß, was ich eigentlich will. O die Tanten! O du bitterböse Welt!«


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