Max Eyth
Die ersten Tanzschuhe
Max Eyth

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2. Abends.

Der Plan, den Mittag und vielleicht auch den Abend auf dem Wartberg zuzubringen, war den Morgen über vollends schnell gereift. Meine Eltern, Tante Julie, ohne den Hund diesmal, aber mit dem Korb; denn er enthielt ja meine ersten Tanzschuhe, die ich nach ihrem Verlangen erst droben anziehen sollte, und meine Wenigkeit bildeten die kleine Karawane, die von unserem Haus hinweg den Wartbergweg hinaufzog. Was den zu erwartenden Besuch der heutigen Abendunterhaltung betraf, so hatte meine Tante vollkommen richtig prophezeit. Offiziere, Damen, Kinder, junge Herren im Sturmschritt und alte freie Reichsbürger mit spanischer Grandezza wallten in langem, buntem Zug über die ebene, sonnige Straße hin und verschwanden in dem gekrümmten Hohlweg, welcher den rebenbedeckten Berg hinaufführt. Es war ein außerordentlich frühes Weinjahr gewesen; in den Feldern brannten da und dort Kartoffelfeuer und sendeten ihren weißen Rauch kerzengerade auf zum Himmel; Sonnenfäden hingen an den Stoppeln und flogen über den Weg; von Zeit zu Zeit rasselte ein knallender Karrenbauer hinter uns her und jauchzte hellauf, wenn er in dem Weinberg, dem er das leere Faß zuführte, weißen Dampf aufwirbeln sah und der muntere Knall von Böller und Pistolen seinem schwerfälligen Roß einen heilsamen Schrecken bereitete.

Mir war nur halb wohl dabei. Das herbstliche Bild, das die ganze Gegend darbot, grüßte mich traulich, wie einen alten, lieben Bekannten, und doch fehlte mir, ich wußte selbst nicht, was? Das heißt, ich wußte es ganz genau. Ich sah die Straße auf und ab; es begegneten mir hundert bekannte Gesichter, die mich freundlich wieder willkommen hießen, und doch suchte ich immer weiter und fand nicht, was ich eigentlich finden wollte.

So waren wir allmählich oben angekommen. Kaum erhaschten wir in einem der kleinen Zimmerchen noch ein bescheidenes Plätzchen und auch das konnte ich nicht ruhig behaupten; denn erst jetzt ging das Begrüßen der alten Kameraden recht an, die sich zu mir drängten, über Examen und Kloster Berichte verlangten und mich fröhlich durch die plaudernde Menge zogen.

Endlich, es war schon gegen Abend, hatte ich mich von dem Schwarm losgemacht. In den Laubgängen um den Wartturm und auf der Terrasse außen war's stiller geworden; die Leute hatten sich allmählich verlaufen und was noch geblieben war, zog sich in das Haus, wo Lichter angezündet wurden, und in den gedrängt vollen Saal zurück. Langsam ging ich auf den stillen, verlassenen Waldwegen meinem alten Lieblingsplätzchen zu; ich hatte mir diesen Genuß für jetzt aufgespart und wollte mir ihn nicht durch das gutgemeinte Geschwätze meiner ehemaligen Schulkameraden verderben lassen, denn ich fühlte mich voll tiefer Gedanken, die sich hartnäckig weigerten. Form und Gestalt anzunehmen. Ich fürchtete nur, es könnte seitdem irgendeine Veränderung mit dem schlichten, luftigen Häuslein gegen Weinsberg vorgenommen worden sein, und das hätte mir sehr wehe getan. Doch es war das alte geblieben. Halbverbrannte, pulverschwarze Papiere lagen an dem falben Rain und auf dem Boden der Hütte; ihre hölzernen Gesimse zeigten die deutlichen Spuren von Feuerteufeln, welche böse Buben drauf losgebrannt hatten; sonst war alles noch wie vor einem halben Jahre, als ich noch gewissermaßen ein Kind war.

Ich setzte mich auf das Gesimse, lehnte meinen Rücken an einen der hölzernen Eckpfeiler und sah durch die weite Fensteröffnung hinaus in die stille, feierliche Abendlandschaft. Es war ruhig geworden weit und breit; im Tale wiegte sich ein leichter, zarter Nebel und schlich sich unmerklich in den Wald, welcher den langen Rücken des Wartbergs schon mit einem rötlich braunen Schein gekrönt hatte. Rechts drüben, vom Wiederschein der Abendröte matt erhellt, lagen die Trümmer der »Weibertreu«, und auch durch sie hatte der Herbst seine farbigen Schlingen gewunden. Ferner, schon in nächtlichem Blau stand der Scheuernberg und schaute halbschlummernd herüber über das breite Sulmtal. Was weiter noch von den Löwensteiner Bergen hinter der Weibertreu hervorschielte, konnte man kaum mehr unterscheiden; denn sie lagen in tiefem Schatten und der Mond ging eben hinter ihnen auf – voll, groß, bleich, – und warf seine zitternden Strahlen der scheidenden Abendröte entgegen. – Ach freilich, gestand ich mir, alles noch wie vor einem halben Jahre; schöner sogar und großartiger, und doch! – Drum war ich ein Anderer geworden seit dem vergangenen halben Jahre und es tat mir fast leid.

»Ja, wenn ich sie neben mir hätte, an die ich jetzt denke«, sagte ich weiter halblaut vor mich hin; »wenn ich ihr die Weibertreu, die alte Burg dort, zeigen könnte und das Tal und den Wald und den weichen Nebel über Busch und Baum; wenn ich die lieben, schwarzen Locken ihr aus der Stirne streichen dürfte, daß der Mond ihr frei und fröhlich ins frische Gesichtlein scheinen könnte und sich schämen müßte, daß er so bleich ist und so griesgrämig; o wenn und wenn – und wenn –«

Es wurde mir ganz bange vor all den »wenn«, die mir langsam und heiß durch Kopf und Herz zogen; es war mir, als müßte etwas zerspringen, wenn ich sie noch lange ihr Wesen treiben ließ, und! doch konnte ich ihnen nicht wehren. »Soll denn kein Einziges von euch wahr werden?« rief ich endlich und sprang auf. Der Nachtwind fuhr durch den Wald heran und die Zweige murmelten etwas in sich hinein. Doch ich konnte nicht verstehen, sagten sie ja oder nein! und bald war's wieder still ringsum. – Da zog ich mein Taschenmesser heraus und fing an, ein großes, tiefes E in den Pfosten vor mir einzugraben. »Es könnte ja auch Eduard heißen, oder Ernst«, dachte ich dazwischen; »wer kann unterscheiden, was ein E bedeutet?«

Ein paar helle, schmetternde Akkorde, die durch das Gebüsch tönten, schreckten mich aus meinen träumerischen Arbeiten. Ich sollte ja heute noch tanzen und vielleicht, vielleicht sie treffen! Im Hui war das Messer zugeschnappt, die kleinen Späne weggeblasen und ich auf dem Wege zum Tanzsaal.

Das Gedränge war nicht so groß, als ich befürchtet hatte, doch der Gegensatz zwischen der Dunkelheit draußen und der plötzlichen Helle, der Stille dort und dem Gewirr der Stimmen hier blendete und betäubte mich in den ersten Augenblicken, als ich eintrat. Ich stellte mich in einer Ecke auf, um mich ein wenig umzusehen; doch kaum hatten meine Augen ihren Kreislauf durch den Saal begonnen, so waren sie um keinen Preis mehr zu bewegen, den einmal fixierten Punkt zu verlassen. Und warum hätten sie auch weiterwandern sollen? Hatten sie doch gefunden, was sie suchten. –

Emilie war da. Gott weiß, wo ich sie den Mittag über zu suchen vergessen hatte. Balltoilette gab es hier oben noch keine. Sie hatte ein schwarzes Kleid an und durch ihre dunkeln, glänzenden Haare ein rotes Band geschlungen; das war ihr ganzer Schmuck. Aber auch nur ein Ringlein weiter hätte mir das liebe Mädchen verdorben, dachte ich, das ich heute früh am Nähtischchen belauscht hatte. Sie mußte mich bemerkt haben, denn hinter dem Rücken eines Offiziers vorbei, der mit ihrer älteren Schwester sprach, hatte sie schon zweimal gegen mich hergesehen. Ich war überzeugt, daß ich der Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit war, und diese holde Gewißheit befestigte in mir den felsenfesten Entschluß, heute zu tanzen, es möge kosten, was es wolle.

Jetzt, als der entscheidende Augenblick so nahe gerückt war, hörte ich doch ein wenig aufmerksamer auf die Musikanten, die ihr Möglichstes taten, mit Pauken und Trompeten zu verkünden, wie mir's ums Herz war. Gott im Himmel! erst jetzt merkte ich, welch verzweifelt rasches Tempo in die Instrumente gefahren war. Freilich unser altes zweisaitiges Violoncell auf dem Klosterdachboden hatte einen solideren Takt als die fieberhaft aufgeregten Geigen auf dem Wartberg, ein ruhigeres Blut als die offenbar vom Wein erhitzten Clarinette und Piccolos. Doch was war zu machen? Und wenn auch mein Mut etwas zu wanken anfing, wenn das heute früh noch so feste Vertrauen auf meine Kunst schwinden wollte, sobald ich an einen solchen Walzer dachte: – ein Blick auf das holde Wesen, das schüchtern neben dem ekelhaften Leutnant saß, gab mir den Mut wieder; ich war entschlossen zu siegen oder zu sterben.

Meine Tante, auf der jetzt alle meine Hoffnungen beruhten, befand sich an unserem alten Tische und hatte mich schon längst mit Ungeduld erwartet. Sie sagte mir nicht ohne einigen Unwillen, daß sie mich seit einer halben Stunde überall gesucht habe und daß sich meine Eltern auf den Heimweg gemacht hätten, da sich bei meiner Mutter auf dem luftigen Berg ihr altes Übel, das Zahnweh, so heftig eingestellt hatte, daß sie nicht langer bleiben konnte.

So sehr mich diese Nachricht hätte betrüben sollen, so war doch jetzt, ich gestehe es, mein Kopf zu sehr von andern Gedanken eingenommen. Das große Wagnis mußte gewagt werden. Jetzt oder nie! Wie ich dies meiner Tante mitteilen sollte, war das erste Hindernis, das mir entgegenstarrte.

»Tante, ich muß tanzen!« sagte ich düster, nach einer gewitterschwülen Pause.

»Du mußt?« fragte sie lachend; »nun, ich möchte doch wissen, wer dich zwingt?«

Ihre muntere Art, mich zu necken, gab mir meine entschwundene Heiterkeit zurück. Ich erwiderte daher etwas mutiger:

»Hast du noch nie von einer Schicksalstragödie gehört? Von Ödipus zum Beispiel, der seine Mutter heiraten mußte. Du hast doch die Schuhe noch da?«

Statt der Antwort griff sie nach ihrer Tasche und zog mit gehöriger Feierlichkeit einen um den andern hervor. Ich betrachtete sie mit wonniger Freude.

»Du hast die Schuhe doch schon anprobiert?« fragte sie.

»Ich? – nein!« entgegnete ich etwas erschrocken. Denn plötzlich schienen sie mir eine bedrohliche Größe anzunehmen.

»Nun, so zieh sie in Gottes Namen an, und tanze, bis du genug hast,« tröstete meine Tante; »sie werden's schon tun.« –

Auch ich hatte die Zweifel an der Zuverlässigkeit meines glänzenden Piedestals mit innerlicher Entrüstung unterdrückt und da sich gerade niemand im Zimmer befand, fing ich mit geschäftigem Eifer an, meine Vorbereitungen zu treffen. Dabei fiel mir wieder der rasende Takt der Musik auf, die auch hier oben in dem verlassenen Zimmerchen deutlich genug gehört wurde, und ich sagte etwas besorgt: »Ich wollte, ich könnte es doch vorher ein wenig probieren! Sie spielen ja wie närrisch!« »Wird dir schon bang?« fragte meine Tante spöttisch.

»Mir? – Kein Gedanke! aber wie gesagt – was meinst du? – könntest du mir den Gefallen nicht tun?«

Und damit rückte ich ein paar Stühle auf die Seite, um meine etwas unklaren Worte deutlicher zu machen. Denn es lag – das fühlte ich zu gut –, es lag doch etwas Beschämendes in dieser Generalprobe meiner Tanzkunst, die ich hiermit vorbereitete. Aber meine gute Tante ersparte mir eine nähere Erklärung; sie hatte den ersten Wink verstanden und warf vergnügt ihr Strickzeug auf den Tisch.

»Aber in den Strümpfen wirst du doch wohl nicht zu tanzen im Sinn haben, Herr Neffe?« sagte sie und half mir einen Tisch auf die Seite schieben. Ich hatte wohl meine Stiefel ausgezogen die bei meinem abendlichen Gang nach der Hütte durch einen ungeschickten Tritt über und über mit Kot bespritzt waren; an das Weitere aber hatte ich noch nicht gedacht.

Während sie zur Türe ging um uns vor jedem Überfall zu sichern, holte ich das Versäumte mit doppeltem Eifer nach und schlüpfte in meine Schuhe. Großer Gott, wie ging das so leicht! eisig kalt fuhr mir ein entsetzlicher Gedanke durch den Kopf. Doch ich schwieg, es konnte sich ja alles noch zum Guten wenden. Aber auch meine Tante schien in diesem Augenblick nicht ganz befriedigt. Sie durchmaß mit ungeduldigen Blicken die wenigen Quadratschuhe Raum, die wir durch das Zusammenrücken der Tische und Stühle gewonnen hatten, und besann sich. »Nein, das geht nicht!« sagte sie endlich und riegelte die Türe wieder auf; »hier bliebe uns nichts übrig, als an der Decke zu tanzen wie die Mücken!«

Auch ich mußte, wenngleich ungern, beistimmen und wir standen uns ratlos gegenüber. – Plötzlich schien ein glücklicher Gedanke in ihrem erfindungsreichen Kopf aufgestiegen zu sein. Ich sah's an dem freudigen Zucken ihrer Wimpern, das immer etwas sehr Wichtiges bedeutete. Noch konnte ich nicht lange fragen. Mit mädchenhafter Lustigkeit faßte mich plötzlich die liebe, alte Frau am Arm und riß mich hinaus. Mein Protestieren, daß man uns sehen könne, daß ich keine Probe brauche, daß es draußen zu kalt sei für sie, alles half nichts, ich mußte mit und nach wenigen Sekunden standen wir draußen unter dem alten Wartturme mutterseelenallein in der stillen Nacht.

»Angetreten!« kommandierte sie, als eben im Saal die Musik wieder von neuem anfing, und ich tanzte.

Das wäre wohl etwas für einen Dritten gewesen, der hinter dem Gebüsch hätte zuschauen können! Der Mond schien hell über den alten, schwarzen Turm herein, der ruhig und schweigend seinen scharfen Schatten auf das falbe, matterhellte Gebüsche warf; das graue Gemäuer sah so ernst und finster drein, der weiße Nachtnebel lag so schaurig in der Tiefe des Waldes, es hätte einem ordentlich bange werden können. Und dazu das koboldartige Paar, das sich – mir wenigstens schien es so – in rasenden Wirbeln um den Turm drehte; es war ein gespenstiger Anblick, der nicht jeden Tag zu genießen war. Meine Tante schien plötzlich wieder um dreißig Jahre jünger geworden; sie tanzte merkwürdig gut; so ganz anders als im Kloster; ich konnte ihr kaum folgen. Hinter mir drein klapperten, wie die Peitschen der Furien, meine Tanzschuhe, die bei jedem Tritte halb abfielen und sich wieder, wie lebende Wesen, an meinen Fersen anklammerten. Ich hielt endlich, erschöpft von der Anstrengung meiner Füße und meiner Lachmuskeln; denn auch ich konnte, trotz meiner tragischen Stimmung, der Komik dieser Szene nicht widerstehen.

»Für diesen Tanzboden wäre es schon ordentlich gegangen!« meinte Tante Julie, nachdem sie sich ein wenig erholt hatte. »Aber, sage, was hat denn immer so hinter uns drein geklappt? Es war ja wie ein Spuk!«

»Ach, meine Schuhe!« – sagte ich kleinlaut.

Doch sie schien wenig Empfindung für mein Unheil zu haben. Im Gegenteil belustigte sie die Ursache, die mir in diesem Augenblick namenlosen Kummer machte, ganz ungemein. Ich konnte ihren Spott kaum mehr ertragen.

»Aber so kann ich ja ganz unmöglich tanzen; daran denkst du gar nicht!« warf ich empfindlich drein.

»Ja, willst du denn noch weiter tanzen!« rief sie verwundert. »Jetzt gehen wir brav ordentlich heim! komm! –« und mit diesen Worten wandte sie sich rasch um und ging dem Hause zu, um Shawl und Hut zu holen. Einen so traurigen Ausgang all meiner sehnsüchtigsten Hoffnungen hatte ich nicht erwartet. Ich folgte ihr nicht. Schweigend und in mich gekehrt stand ich noch auf demselben Platze, wo sie mich verlassen hatte, und starrte dumpf auf den Boden. Das Mäuerlein mir gegenüber war mit weichem, üppigem Moos überzogen, und da der Mond gerade so hell darauf schien, zog es meinen Blick unwillkürlich an. »Heureka, heureka! ich hab's gefunden!« jubilierte ich in die Mondnacht hinaus, und im nächsten Augenblick bemühte ich mich, meine weiten Schuhe mit dem weichen, feuchten Moos auszupolstern, das in reicher Menge an den Steinen herumhing.

Das Unternehmen gelang über alles Erwarten. Mein guter Genius half mir emsig. Schon nach fünf Minuten stand ich in meinen Schuhen wie ein Postillon in seinen Stiefeln. »Es mag gehen, wie es will, ich tanze!« rief ich und befand mich im nächsten Augenblick unter der Türe des Tanzsaals. –

Tante und Schuhe waren vergessen. Dort saß sie ja noch immer, der zulieb ich alles, selbst das Leben gewagt hätte. Doch noch immer stand auch der verzweifelte Offizier neben ihr, sprach bald mit ihrer Schwester, bald mit ihr selbst und ließ sich durch nichts bewegen, seine Belagerung aufzugeben. Da muß gestürmt werden! sagte ich mir mit einer Entschlossenheit, über die ich mich selbst wunderte. Noch ein Blick auf meine Füße, die durch meine zum Glück weiten und langen Beinkleider vor frechen Blicken geschützt waren und so jeder Gefahr trotzten, und ich trat dann näher.

Ihre Schwester schien mich zuerst bemerkt zu haben und rief mir schon von weitem entgegen:

»Ach, Sie sind auch wieder hier, Herr Eduard? Sie verzeihen doch, – fast hätte ich »Du« gesagt und das wäre gewiß recht unpassend gewesen.«

Sie lachte. Ich hätte mir diese Einleitung schon gefallen lassen, doch der Offizier hatte zugehört und lachte auch; das Blut schoß mir siedend heiß ins Gesicht. Da sah Emilie ihre Schwester an, mir schien's, etwas unwillig, und alles war wieder gutgemacht.

»Ich werde mir's immer zur Ehre rechnen, Fräulein«, – sagte ich etwas leis, – »wenn Sie mich auch ferner Ihrer mütterlichen Freundschaft würdigen.«

Ich hatte es gut gemeint; Fräulein Elise war um vier Jahre älter als ich, und hatte mich als Jungen manchmal gehofmeistert. Ein entrüsteter, stolzer Blick lohnte mich jetzt für das »mütterliche« Verhältnis, das ich ihr in aller Unschuld vorgeschlagen hatte, und weckte mit einemmal tausend Qualen meines beängstigten Gewissens, die das stetige, boshaft freundliche Lächeln des impertinenten Leutnants zu einer furchtbaren Höhe steigerte. Doch wieder sollte Emilie mein Retter sein. Sie wandte sich freundlich gegen mich, wohl um mich zu trösten, und sagte: »Nicht wahr, Herr Eduard, Sie sind schon seit gestern abend hier?

Mehr bedurfte es nicht, um mich wieder vollkommen selig zumachen; doch dieser glückliche Frieden sollte nicht lange dauern.

»Der junge Herr ist wohl gekommen, um nach dem Klosterleben die Herbstvergnügen mitzugenießen?« warf Fräulein Elise ein und maß mich von oben bis unten mit einem mehr als sarkastischen Blick.

»Ha ha, um zu tanzen! ha ha ha!« lachte der Leutnant grinsend, der endlich anfing, zu fühlen, daß er einen Witz machen sollte.

»Allerdings, mein Fräulein«, sagte ich empört und trat, auf jeden Ausgang gefaßt, etwas näher; »allerdings habe ich im Sinne gehabt, heute abend zu tanzen und werde, wenn anders nichts dazwischen kommt, dieses entsetzliche Vorhaben auch durchführen. Da aber zu der Ausführung dieses Projekts, wie ich gehört habe, meine Wenigkeit allein nicht ausreicht, so – so würde ich mir die Freiheit nehmen, um – für den nächsten Walzer – um die Hand ihrer Fräulein Schwester – – –«

Weiter kam ich nicht; denn Emilie schlug plötzlich die Augen auf und wurde bis an die Stirne rot. Auch der Leutnant, der während meiner langen Rede, über seinem Witze brütend, mit schwermütigem Blick auf die Seite geschaut hatte, fuhr in diesem Augenblick auf und stimmte, als er Elise in ein unwiderstehliches Lachen ausbrechen sah, pflichtschuldig und kräftig mit ein.

»Um die Hand meiner Schwester wollen Sie anhalten!« rief sie endlich; »aber um Gottes willen! bei mir doch nicht? Da müssen Sie sich an Papa wenden, oder an die Mama!«

»Ha ha ha! Um ihre Hand! Um Fräulein Emiliens charmante Hand! Ha ha! Auf Ehre, kühn, ha ha ha! sehr kühn!« wieherte der Leutnant.

Doch Emilie sprang rasch auf.

»Sie sind ja unser alter Nachbar!« sagte sie in meine schwirrenden Ohren; »wir werden schon miteinander herumkommen. Kommen Sie!«

Und damit bot sie mir schüchtern und mutig zugleich die kleine Hand und zog mich rasch in das Gewühl der Leute; denn eben fingen die Paare an, sich zu ordnen.

Diesen Ausgang hatte unser Offizier so wenig erwartet als ich; wie versteinert stand er da, als wir an ihm vorbeiglitten, und machte dann vor Fräulein Elise eine tiefe Verbeugung, um sich in verletztem Selbstgefühl zurückzuziehen. Er hatte selbst auf Emilie spekuliert. –

Für Augenblicke reinen, ungetrübten, wonnigen Glücks hat der Mensch kein rechtes Gedächtnis.

So geht es mir wenigstens mit den paar Minuten des so ereignisvollen Tags, die vor dem Antreten zum Tanz zerrannen. Was ich sprach, was Emilie sprach, ich weiß keine Silbe mehr; nur das weiß ich noch, daß ich glücklich war und stolz wie ein König, und daß Himmel und Erde vor meinen Blicken schwammen wie ein Nebel, und durch den Nebel klar und hell ihr Auge drang und sich in mein Herz bohrte, tief, bis zum untersten Grunde. – Aber das alles läßt sich nicht beschreiben. Das Paar vor uns wirbelte in den Saal hinein, ich umschlang meine Tänzerin und fort ging's!

Wie lang ich so tanzte, ohne zu wissen, was ich tat, weiß ich wieder nicht. Es ging so leicht, so schwebend, die Musik, die mir früher unerträglich rasch vorgekommen war, trug und wiegte mich; ich fühlte nichts vom Boden, hörte nicht die Paare, die wir zurückließen, die uns verwundert nachsahen; in meinen Adern glühte es, aber nicht unruhig und unbändig. Ich wiegte mich in schönem Maß und Takt, wie die alten Griechen getanzt haben mochten, wenn sie am Meeresstrande den Frühling begrüßten. Da ging langsam die Türe des Saales auf. Kühl und frisch wehte der Nordwind in das schwüle Gemach herein. Unwillkürlich flog mein Blick über die freie Mitte des Bodens. Dort, vom Zuge leicht bewegt, tanzte und hüpfte in wunderlichen Kreisen und Ringen – eine Flocke Moos.

Hätte man mich in diesem Moment in einen eiskalten Strom gestürzt, ich hätte mich glücklich geschätzt. Einen Augenblick betrachtete ich mit starrem Entsetzen das dämonische Spiel der Flocke; dann sah ich auf meine Füße. Und welcher Anblick! Mein rechter Schuh war halb hinuntergetreten und ein wohl fünf Zoll langes Schwänzlein meines verhängnisvollen Ausstopfmaterials wedelte und zappelte hinterdrein und flog bei jedem Schritt lustig in die Höhe.

Emilie ahnte noch nichts. Ich hatte nicht anhalten können. Ein entsetzlicher Blick auf die Umstehenden zeigte jedoch, daß ich nicht der Einzige war, der das Schrecklichste wahrgenommen. Ich machte eine fürchterliche Anstrengung, zu stehen, glitt aus, sank in die Knie. Emilie sprang mit einem unterdrückten Schrei auf die Seite, ich wieder in die Höhe, – und hinaus, hinaus riß mich's mit höllischer Gewalt; die Reihen der Nächststehenden waren in einer Sekunde durchbrochen, die Türe aufgerissen und lautes Gelächter und Geschrei zitterte durch das Haus, als ich sie betäubt hinter mir zuschlug.

Drinnen, mitten im Saal, lag mein moosgefüllter Tanzschuh! – Wie ich heimgekommen, ist mir bis auf den heutigen Tag noch unklar. Meine Stiefel ließ man des andern Morgens durch einen Knecht vom Wartberg holen; denn ich war in der Nacht nur mit einem Schuh zu Hause angelangt; den anderen brachte gegen Mittag unseres Nachbars Magd mit einem anonymen Billett an mich. War's auch der Handschrift nach von Fräulein Elise, enthielten, wie mir schien, die kurzen Zeilen auch den beißendsten Hohn: ich drückte es an meine Lippen und eine bittere Träne fiel darauf; es war doch von ihrer Schwester.

Am Abend desselbigen Tages drückte ich mich in die Ecke eines Postwagens, um eine mir versprochene Reise in die Schweiz anzutreten. Ich hatte mit jener Träne Abschied genommen von allem, was Erdenglück heißt; ich wollte wenigstens dem Spotte entfliehen. Meine gute Tante, meine treuen Eltern hatten sich vergeblich abgemüht, meinen Entschluß zu andern.


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