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XVI.

Souvent femme varie,
Bien fol, qui s'y fie.

Franz I. von Frankreich.

 

Er fuhr zum Lido hinaus und schwamm im Meer. Er schlenderte am Strande an den Capannen vorbei. Er traf manchen Bekannten, plauderte hier und dort ein paar gleichgiltige Worte –

Am späten Nachmittag fuhr er zur Stadt zurück. Er ging zu Danieli und gab seine Karte ab; die Damen waren aus, aber den Kommerzienrat traf er an. Sie sassen im Rauchzimmer und redeten; der Kommerzienrat erzählte ihm, dass er eine neue Gesellschaft gegründet habe zur Herstellung von Monoplanen.

»Ich denke, Sie arbeiten mit der Motorluftschiffgesellschaft?« fragte Frank Braun.

Der alte Lewi lachte: »War einmal! Alles abgestossen – vorteilhaft! Heute bin ich überzeugter Aviatiker.«

»Ist schon alles in Reih und Glied?« fragte Frank Braun. »Wenn Sie noch eine kleine Aufsichtsratsstelle frei haben, so bitte, denken Sie an mich. Ich sammele solche Posten. Dabei bin ich der geborene Aufsichtsrat, bin ebenso diskret, wie repräsentativ, mische mich in gar nichts und gebe unbesehen jede Unterschrift.«

»Man kann es überlegen.« sagte der Kommerzienrat. »Vielleicht ist noch etwas frei. Uebrigens ist da auch die Karamingesellschaft, die ich gerade gründe; dafür brauche ich noch ein paar gute Namen. Oder versteifen Sie sich auf die Aviatik, Doktor?«

»Durchaus nicht – ich nehme eines wie das andere. – Karamin? – Was ist denn das?«

Herr Siegfried Lewi blies laut den Atem durch die Nase und klatschte auf die Schenkel mit den etwas zu feisten Fingern. »Keine Ahnung, lieber Doktor, keine Ahnung! Es muss so etwas Aehnliches sein wie Mondamin oder Palmin. Aber äusserst reell, eine sehr gute Sache; wir haben fabelhafte Gutachten!«

»Bah, ich zweifle nicht daran. Aber trotzdem – für Karamin bin ich teurer, mit Ihrer Erlaubnis.«

Er verabschiedete sich; fuhr dann ins Hotel, traf wieder Bekannte und speiste mit ihnen zu Abend.

Es war ein Viertel nach neun Uhr, als er zum Markusplatze ging.

»Ich kann heute nicht warten,« dachte er, »so mag sie es tun.«

Lotte Lewi kam ihm mit langen Schritten entgegen. »Ich weiss!« rief er ihr zu. »Uebrigens war es Absicht und nicht Nachlässigkeit. Ich war den ganzen Tag unter Menschen. Ich mochte nicht allein sein heute, auch für Minuten nicht. Das war es.«

Sie bot ihm ihren Arm. »Angst?«

Er zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen. Vielleicht – Angst. – Gestern freilich war es ein wenig mehr.«

»Und jetzt?« fragte sie.

Er schob seinen Arm in den ihren. »Jetzt? – Jetzt ists gut. Plaudern Sie nur.«

»Danke. Sie kommen um vor Liebenswürdigkeit. – Also dazu bin ich gerade gut, Ihre schlechte Laune fortzutreiben?«

Er drückte leicht ihren Arm. »Ach, Lotte, wir zwei wollen uns doch nichts vormachen. Freilich ists so, wie Sie denken. Aber ist es nicht auch irgendeine Laune, die Sie veranlasst, heute nacht mit mir durch Venedig zu schwimmen? – So ist es, Lotte: ich will an irgend etwas nicht denken. Und dazu schickte mir ein guter Gott Lotte Lewi hierher, die es wohl versteht, wenn sie will, den Menschen festzuhalten, der neben ihr geht – das ist ein Kompliment, mein kluges Fräulein. – Ich möchte ein anderes denken und aus dem gestern die allerfernste Vergangenheit machen: so bin ich gewiss das allerbeste Objekt für alle Ihre Wünsche zu heute. Sie aber haben irgendeine Idee, die Sie lockt. Ich weiss nicht, was es ist, aber ich weiss gut, dass Ihnen niemand dafür mehr geeignet erscheint, als gerade ich. Sie haben hundert Bekannte hier und Sie konnten keinen davon brauchen – – zu dem, was Sie nun einmal wollen. Mich aber können Sie gut dazu gebrauchen – und deshalb waren Sie froh, als Sie mich trafen heute morgen. So bin ich das Kaninchen, an dem die liebe Lotte irgendein Gift probieren will. Und da das Kaninchen krank ist und sich einbildet, dass ihm Lottes Gift vielleicht helfen mag, so ist es zutunlich und frisst aus der Hand. Da haben Sie unsern Pakt, Lotte!«

Sie sah ihn voll an und sagte: »Ich glaube, ja.«

»Und deshalb, Lotte,« fuhr er fort, »muss man das Kaninchen streicheln und recht lieb zu ihm sein. – Versparen Sie also alle kleine Bosheiten für Ihren gräflichen Bräutigam.«

Sie zog die Lippen. »An den Sie mehr denken als ich, wie es scheint. – Um die Wahrheit zu sagen – nun habe ich fast gar keine Lust mehr dazu.«

»Zum Heiraten?« fragte er.

»Ach was! – Zu dem, was ich heute wollte. – Sie haben mir beinahe meinen Wunsch verleidet, Frank Braun.«

»Verleidet?«

»Ach, Sie sollen nicht jedes Wort wägen. – Also nicht – verleidet. Aber abgeschnitten, glatt an der Wurzel.«

»Warten Sie nur, Lotte, er wird von neuem keimen. – Wo wollen wir hingehen?«

»Es ist mir gleich.« seufzte sie. »Schlagen Sie nur vor.«

Sie schritten unter den Lauben der Procuratien. Er zeigte auf ein Plakat: »Zum Theater Goldoni? – Novelli spielt da.«

Sie nickte: »Wie Sie wollen.«

Er las den Zettel – – Hamlet. »Nein,« sagte er, »nein! Das ist ein furchtbares Stück.«

»Hamlet?« Sie sah ihn erstaunt an.

Er zog sie fort. »Ja,« sagte er – »heute – für mich.«

Sie gingen durch die Merceria. Sie schwiegen, blickten in die Menge, die dicht sich drängte. Oder in die hellen Schaufenster, vollgepfropft mit billigem Fremdentand.

»Plaudern Sie doch, Lotte.« bat er.

Sie blieb stehn, sah unverwandt auf eine grosse bunte Affiche – der Graf von Monte Christo, wie er im Sack ins Meer geworfen wird.

»Ein Kinema!« rief er vergnügt. »Wollen wir hingehen, Lotte? Ach, wie lange habe ich keinen Rollfilm mehr gesehn!«

Sie sagte: »Wie Sie wollen.« Es klang tonlos, unendlich gleichgiltig. Und doch schien ihm, als läge irgendeine Absicht in dieser Gleichgiltigkeit. Er sah sie an, aber sie erwiderte seinen Blick nicht.

Sie traten ein, setzten sich vorne in eine Loge. Sie sahen Blériot, wie er über den Kanal flog mit seinem Vogel. »Ach, prächtig!« flüsterte Frank Braun. »Prächtig! – Uebrigens müssen wir Ihren Vater herführen, er interessiert sich zur Zeit für Aviatik.«

Sie antwortete nicht. – In der Pause bat sie ihn, ein Programm zu besorgen, und las es aufmerksam durch.

Dann kam der Clou des Kinema: die Geschichte des Grafen von Monte Christo. Frei nach Dumas Vater. Ein Riesenfilm von Gaumont, der durch zwanzig Minuten lief. Ein wenig sentimental und bürgerlich romantisch, aber prachtvoll gespielt an Ort und Stelle und mit packenden Einzelheiten, die keine Bühne der Welt entfernt erreichen konnte. Diese Landung auf Chateau d'If –

Er freute sich, war ausgelassen wie ein Knabe. Er erzählte ihr von seinen Besuchen bei Gaumont und Pathé, sprach entzückt von diesen gewaltigen Etablissements, setzte ihr auseinander, wie man alles mache und erklärte ihr hundert gute Tricks. »Ach, der Kientopp!« rief er begeistert. »Es ist das herrlichste, was unsere Zeit schuf! Ich weiss nicht, wer ihn erfand – sagen wir Thomas Alva Edison in dubio! Aber mir ist der Mann lieber als Marconi und Zeppelin und Röntgen und Koch und Cook und hundert andere!

Der Kinema lässt uns Reisen machen in alle Länder, er ist der beste Historiker, ein Fanatiker der Wahrheit, der keinen Irrtum kennt. Und zugleich ist dieser selbe Kinema der echte Alchemist, er schlägt in Stücke, was die Vernunft predigt und ist der einzige Zauberer der Welt. Er macht Gegenwart zur Vergangenheit und Vergangenheit zur Zukunft, macht die Ursache zur Wirkung und die Wirkung zur Ursache. Ist das nicht herrlich? – Haben Sie schon einmal einen Film rückwärts laufen sehen? Warten Sie, ich will nachher mit dem Besitzer sprechen! Also nehmen Sie ein einfachstes Beispiel! Sie, Lotte, sitzen da und rauchen eine Zigarette: dies kleine Genrebild kinematographiere ich! Sie sehen dann auf dem Film die Lotte, die ein Streichholz nimmt, es anzündet an der Schachtel, die Zigarette in Brand setzt und das Streichholz wegwirft. Dann raucht sie und schlägt die Asche in den Becher; die Zigarette wird kürzer und kürzer. Endlich drückt sie sie aus und zieht die leere Hand fort. – Nun aber, Lotte, lassen wir den Film rückwärts laufen. Was geschieht? Die Lotte streckt die leere Hand zur Aschenschale, drückt die Zigarette – an – nicht aus – und führt sie zum Munde. Sie raucht – das heisst: rings aus der Luft fliegen hübsche runde Kringeln in Lottes runden Mund. Aus dem Aschbecher fliegt die Asche heran, setzt sich vorne ans Feuer, die Zigarette wird länger und länger. Endlich hat sie ihre ursprüngliche Grösse, dann fliegt ein brennendes Streichholz vom Boden auf und löscht sie aus. Das Streichholz aber führt Lotte zur Schachtel, reibt – und die Flamme verschwindet. Dann marschiert die Zigarette in ihr Etui und das Streichholz in seine Schachtel und alles ist aus! – Nun, kluge Lotte, ist das nicht Zauberei?«

Sie sass schweigend, aber er bemerkte es nicht. Lachend plauderte er weiter.

»Oder, Lotte, ich esse Maccaroni. Der ganze Teller ist voll und ich nehme Löffel und Gabel und futtere auf Napolitanerart. Ich greife sie mit der Gabel auf, drehe sie hübsch in den Löffel und lasse sie verschwinden zwischen den Zähnen. Nichts bleibt übrig, glatt leer wird der Teller – ich esse sehr gern Maccaroni, wissen Sie!

So, nun wenden wir den Film. Da steht der leere Teller und ich führe die Gabel zum Mund. Sie kommt zurück, voll von Maccaroni. Die rolle ich im Löffel ab, führe die Gabel zum Teller, dann leer wieder an die Lippen und hole eine neue Portion heraus. – Unästhetisch? – Aber keine Spur! Meine Maccaroni sind so sauber und appetitlich, als wären sie nie zerkaut und verschluckt worden. Und am Ende sitze ich wieder vor meinem hohen Teller mit Maccaroni – die ich doch längst aufgegessen habe.

Aber das sind kleine Spielereien, Lotte, die wir jeden guten Tag machen können! Lassen Sie uns nun ein bisschen unbescheidener werden. Nehmen Sie an, ein Kinematograph begleitet Sie Ihr ganzes Leben hindurch. Er ist fürstlich bezahlt von Ihrem Vater, der will, dass seiner einzigen Tochter Leben allen späteren Geschlechtern im Bilde erhalten bleibt. Der Mann ist also immer um sie; wenn er müde ist, vertritt ihn einer seiner Vizereservekinematographen. Also: die verflossene Baronin Kühbeck, damals aber – entsetzlich – einfache Frau Ludmilla Lewi schenkt ihrem Siegfried das erwartete Kindlein. Zwei Aerzte holen es und eine Wehmutter und der guten Frau Ludmilla ist gar nicht recht wohl dabei, sie schwört leise, dass es ganz gewiss das letztemal sein solle. Aber Lotte wächst, wird ein Mägdlein und ein Backfisch, ein Jungfräulein, ein Fräulein und eine junge Frau. Dann eine ältere Frau und eine noch ältere und eine ganz alte am Ende. Bis sie stirbt und begraben wird – nein, verbrannt wird sie, nicht wahr? Bah, Lotte, es würde ein hübscher, interessanter Film werden, und die liebe Nachwelt möchte allerhand nette Sachen erfahren.

Ich aber, Lotte, der ich noch zwanzig Jahre älter werden will wie Sie, nehme den Film und lasse die Lotte rückwärts leben. Aus der Asche, Zauberlotte, wird im Feuer ein richtiger Leib, ein recht alter, krummer, verhutzelter freilich, aber doch ein Menschenleib. Und die Tote wird zur Lebenden, und die Greisin zur alten Frau. Die alte Frau wird zur jungen und die junge Frau zum Mädchen, zum Kinde und zum Säugling. Und wieder stehen die klugen Leute an Frau Ludmillas Bett, aber sie holen keine Lotte mehr! Der Herr Medizinalrat reicht das frischgewaschene Baby der Wehmutter zurück, die wäscht es: da wird es schmutzig. Und dann nimmt sie es – – und Lotte kriecht wieder in der Mutter Bauch, woher sie einstmals gekommen.

Die Lotte ist weg, weg, als ob sie niemals auf der Welt gewesen sei!

Ach, kann man besser ad oculos demonstrieren, dass alles Leben nur eine grosse Lüge ist?«

Sie sah ihn an, ihre schmalen Lippen zogen sich hinauf. »Sie sind ein lieber Junge.« sagte sie. Dann erhob sie sich schnell, schüttelte den Kopf, als wollte sie irgendeinen Gedanken wegjagen. »Kommen Sie,« fuhr sie fort, »wir wollen gehen.«

Aber er bat sie: »Ach, Lotte, nur eine Nummer noch. Eine, bitte schön! Ja? Nachher tue ich alles, was Sie haben wollen.«

Sie seufzte und setzte sich wieder. Sie nahm ihren Hut ab, strich leicht das rotbraune Haar aus der Stirne. Sie wandte den Kopf, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte, starrte über die Menge.

Dann war die grosse Pause zu Ende. Das Licht erlosch, auf dem weissen Vorhange leuchtete der Name des nächsten Films: Schlangenfang auf Java.

Das Bild zeigte einen Laden in Batavia; ein hübsches Liplapmädchen legte einem weissen Herrn ihre Waren vor – Fabrikate aus Schlangenhaut. Der Herr war sehr kauflustig, er erstand Portemonnaies, Briefmappen, Portefeuilles, Peitschen, Stöcke und entzückende kleine Pantöffelchen. Es war ganz gewiss ein sehr feiner Herr, er fragte gar nicht nach den Einzelpreisen, liess sich nur die Summe nennen, zog ein Scheckbuch und schrieb ihr einen Scheck. Dann gab er ihr die Adresse seines Hotels, zog höflich den Hut und ging.

»Nun werden wir sehen, Lotte, wie alle die hübschen Dinge gemacht werden.« flüsterte Frank Braun.

Einen Moment war es dunkel, dann leuchtete ein ander Bild auf. Malaien strichen durch eine Lichtung des Dschungel, immer zwei und zwei, sie schlugen mit grossen Stöcken in das hohe Gras, um die Schlangen aufzuscheuchen. Dann fanden sie eine und flogen wie Katzen auf sie zu. Der eine betäubte den Python mit einem starken Stockschlag auf den Kopf, der andere warf ihm eine Schlinge um den Hals und zog sie fest zu. Dann hoben sie vorsichtig das gut zwei Meter lange Tier auf und trugen es zu einem grossen Korbe. Bald fingen sie ebenso eine zweite Schlange; andere Burschen brachten noch mehr heran. Sieben bunte, herrliche Pythonschlangen fingen sie. Sie umschnürten den Korb, luden ihn auf einen starken Esel und zogen ab.

Dunkel auf einen Augenblick. Er fühlte Lottes leichten Atem, dicht bei seinem Ohre. Er wollte irgend etwas sagen, aber schon leuchtete ein neues Bild auf.

Ein Hof, rechts eine Bambushütte der Eingeborenen. In der Mitte war ein grosses Reck, daran hingen regungslos, am Halse angebunden, die sieben Schlangen; der Schwanz schleppte ein wenig auf dem Boden. Aber sie lebten wohl, eine – die zweite war es von links aus – hob den Schwanz, kletterte an sich selbst in die Höhe, verschlang sich und wand sich in festem Knoten oben um das Reck. Dann kamen ein paar Burschen heran, es waren dieselben, die vorhin im Walde den ersten Python griffen. Einer trug ein langes Messer in der Hand, er trat an das Reck und näherte sich einer der Schlangen. Er machte einen Kreisschnitt rings um den Hals und einen andern vom Halse bis hinab zur Schwanzspitze. Dann nahm er das Messer in den Mund und setzte alle Finger in die kreisrunde Wunde. Und während zwei andere das Tier am Schwanze griffen, festhielten und streckten, zog er mit aller Kraft der Schlange die starke Haut vom Leibe.

Rasch ging er zur zweiten Schlange und zur dritten, in wenigen Minuten waren die sechs Schlangen geschunden. Nur die letzte, die zum Knoten verschlungen oben am Reck hing, liessen sie dort hängen.

Und ein Leben kam in die sechs Schlangenleiber. Sie sahen schneeweiss aus auf dem Bilde, leuchtend weisser, wie irgend etwas, das es gab. Und im langsamen Todeskampfe arbeiteten die gewaltigen Muskeln der Tiere, sie wanden sich, drehten sich, sahen aus wie die schlanken, gewundenen Marmorsäulen, die man in maurischen Palästen sieht.

Sechs nackte, hautlose, schneeweisse Schlangenleiber –

Die Malaien traten zur Seite, nahmen die Häute und reinigten sie. Aber er sah nicht hin, was sie machten, sah nur auf die sechs lebenden Schlangenleiber, die sich zu Marmorsäulen wanden –

– Einmal – als er ein Sekundaner war, war er ins Affenhaus gekommen im Zoo. Fünf Kinder lachten vor dem Gitter, Buben und Mädchen. Er trat hin und sah, dass sie den Affen kleine Frösche hineinwarfen. Und die Affen griffen die zappelnden Frösche und zogen ihnen lebendig die Haut ab. Das war so possierlich und die Kinder lachten und freuten sich. Er schlug mit seinem Stock nach den Affen, dass sie ihre Beute fallen liessen; er strich mit dem Stock die verstümmelten Frösche heraus aus dem Käfig und zertrat sie in Wut und Angst mit dem harten Absatz. Und dann fiel er über die Kinder her – oh, er erinnerte sich gut, wie jede starke Ohrfeige, die er austeilte, ihm unendlich wohl tat, und wie mit den Schlägen der dumpfe erstickende Druck schwand, der ihm Hals und Kehle zuschnürte.

Er dachte daran –

Hier aber konnte er niemanden schlagen. Es war ja nur ein Bild, das er sah, nur ein Bild. Und nichts gab es, das ihn befreien und ihm Luft schaffen konnte.

Und das Bild, das er anstarrte, war schön, wunderbar schön. Sechs herrliche, weisse, marmorne Säulen.

Und sie lebten –

Es war entsetzlich – es war entsetzlich –

Und so schön war es –

Ihre heisse Hand legte sich auf seine. Er fühlte, dass ihr grüner Blick auf ihm ruhte. Er drang durch das Dunkel und drang durch seine Schädeldecke. Er kroch in sein Hirn und trank sich satt an alle dem, was seine Seele fühlte in diesem Augenblicke –

Ihre kleine Hand streifte über seine Wange. Sie berührte leicht sein Ohr und ihr Finger fuhr unendlich weich rund um seinen Hals. Und es war ihm, als griffe sie in die offene Haut und zöge sie hinab, als hinge er selbst dort, eine nackte, weisse, hautlose Pythonschlange, die sich nun wand zu einer marmornen, lebendigen Säule –

Seine Zähne gruben sich in seine Lippen, er schloss die Augen –

* * *

Es ward hell im Saale; sie standen auf und gingen. Vor der Türe fragte er sie: »Warst du schon einmal hier?«

Sie nickte.

»Das also war es?« fragte er. Und sie nickte wieder.

Sie schritten durch die enge Gasse, dem Kanale zu.

»Der Film ist von Pathé.« sagte sie still. »Zur selben Stunde läuft er nun jeden Abend in tausend Städten, Und viele hunderttausend Menschen sehen ihn. Sehen ihn – wie sie jeden andern sehn. Ich aber wusste –«

Sie brach ab. Sie blickte zur Seite, zupfte an dem Seidentuche, das sie in der Hand hielt. »Darum führte ich dich hin.«

Er fragte: »Und –?«

Sie lachte kurz auf. »O, es ist schon gut so. Ich bin zufrieden.«

Er rief durch die Nacht: »Gondola! Gondola!«

Sie stiegen ein, schweigend fuhren sie durch Venedig. Das sommerfaule Wasser der Kanäle stank, dicker Unrat schwamm überall. Mücken und Motten standen darüber in ungeheuren Mengen, deckten fast die Fläche, wie ein feiner Totenschleier. Hoch hoben sich zu beiden Seiten die Paläste, leuchteten wie nackte Totenschädel im trüben Scheine der Laternen. Attrappen, herrliche Fassaden, die tagsüber einen Schein des Lebens logen. Aber nun blickte aus tausend toten Augen ihre schmutzige Leere, grinste aus allen Ritzen der faule Moder einer verschwundenen Pracht, die längst der Wurm frass.

Und er dachte, dass Venedig eine einzige gewaltige Leiche sei. Längst war das Fleisch verfault, nur die harten Rippen und Knochen standen noch aufrecht. Zerbrochen hie und da, angenagt, morsch und zerfressen, aber doch aufrecht. Sie aber schwammen in diesem toten Riesenleibe, glitten lautlos einher durch seine verfaulten Adern.

Ein Geruch der Verwesung brach aus den Fetzen dieses Fleisches, hauchte seine giftigen Fieber in die Nacht. Feiste Ratten liefen über die Grundmauern, sprangen ins Wasser und tauchten zwischen den Gondelpfählen. Hässliche Aaskrabben flohen seitwärts über die ausgebrochenen Treppen, grosse schwarze Asseln krochen aus ihren Löchern.

Ausgefressen war längst das Gehirn und das Herz und die einstmals atmenden Lungen. Wie Maden hausten die Menschen immer noch in diesem faulen Aase, dessen Moderduft weither alles heranlockte –

– Eine Gondel kam ihnen entgegen, ein schwarzer, schwimmender Sarg, wie alle andern. Sie war gedeckt, unter dem schwarzen Baldachin sass eng aneinander gepresst ein junges Paar.

»Hochzeitleute.« dachte er. »Ein Pärchen von den vielen Tausenden, die Jahr um Jahr durch die Lagunen schwimmen.« – War es nicht, als ob der Maden Brunst eine heissere würde in dieser Luft, die die Verwesung schwängerte?

Dann fühlte er ihre Hand. Sie war feucht und sehr kalt, aber diese Kälte brannte in sein Fleisch.

Sie sagte: »Frank Braun, ich will ein Kind haben.« Ihre Stimme zitterte; sie sah ihn an und ihre Augen glühten in seltsamer grüner Glut.

»Von dir!« sagte sie –

* * *


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