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Nun, denke ich, bin ich endlich fertig mit dieser Frau. Nie wird etwas sein zwischen ihr und mir, das weiß ich seit vielen Jahren nun. Nur: manchmal vergaß ich es, träumte herum, dachte: einmal wird sie dennoch kommen.
Nie wird sie kommen. Sie, Eileen Carter, aus Woonsocket, Rhode Island, Phil Carters einzige Tochter, die den ekelhaften Barett S. Rogers zum Manne nahm. Sich von ihm scheiden ließ, später Klaus Steckels aus Chikago heiratete mit all seinen Zuckermillionen. Eileen, die nach Steckels' Tode nicht lange Witwe blieb, sie, die heute Lady Brougham heißt, Marchioness von Atwood. Nie wird sie zu mir kommen – und wenn die Hölle zufriert, Eileen wird nicht kommen.
*
Ich spielte Poker gestern nacht und verlor. Warum spielte ich? Seit manchen Jahren habe ich keine Karte angerührt. Warum bin ich überhaupt in Cannes? Cannes ist mir zuwider wie die ganze Riviera mitsamt ihrem Publikum. Und was das Pokern anbetrifft, so mache ich mir nicht mehr viel draus. Dennoch bin ich in Cannes, dennoch saß ich am Pokertisch gestern nacht.
Das Spiel langweilte mich, ich spielte unaufmerksam und verlor natürlich. Blieb am Tisch nur der Gesellschaft wegen, konnte nicht recht aufbrechen, weil einer fehlte. Dann kam der lange Brockdorff ins Spielzimmer, stellte sich hinter mich.
»Gib deine Karten!« sagte er nach einer Weile. »Du machst doch nur Unsinn heute – die Dame da bringt dir Pech!«
»Welche Dame?« fragte ich, suchte in meinen Karten.
»Da wirst du sie nicht finden!« lachte Brockdorff. »Schau hinüber in den Spiegel – die Dame dort, die dich anstarrt.«
Unser Tisch stand in der Ecke, ich saß mit dem Rücken zum Zimmer; um in den Spiegel zu sehn, mußte ich mich zurückbiegen. Nur ein Tisch im Saal war noch besetzt, da saßen englische Herrschaften beim Bridge. Zwei Herren und zwei Damen; ein weiteres Paar stand daneben. Während der Herr mit den Spielern plauderte, starrte die Dame ganz offensichtlich zu unserm Tisch herüber.
»Na, kennst du sie?« fragte Brockdorff.
»Ich weiß nicht«, zauderte ich. »Vielleicht –«
Aber die Karte zitterte in meiner Hand. Ich stand auf, gab meinen Platz an Brockdorff. Während ich mich verabschiedete, ging auch das Paar aus dem Spielsaal, die Dame mit einem letzten langen Blick, der ganz augenscheinlich mir galt. Ich schritt ihnen nach. Völlig war ich meiner Sache nicht sicher, ob ich gleich darauf gewettet hätte, daß es Eileen war. Die beiden gingen durch die Halle zur Kleiderabgabe; dort erreichte ich sie, konnte sie in nächster Nähe betrachten.
Sie trug ein Stilkleid – mauve mit silber. Rotblond die gelockten Haare und die großen Augen wie Amethyste so blau. Solch irische Augen konnte nur eine haben: Eileen Carter. Ihr Begleiter legte ihr den Chinchillamantel um die Schultern; da wandte sie sich, sah mich voll an.
Ich hob den Arm, ihr die Hand zu geben; meine Lippen formten ihren Namen. Aber ich sprach nichts, und die Rechte fiel wieder zurück. Sie stand vor mir, unbeweglich, hielt meinen Blick, Auge in Auge. Eine halbe Minute wohl, während der Herr Stock und Hut in Empfang nahm und die Kleiderfrau bezahlte. Dann wandte sie sich, nahm seinen Arm, schritt an mir vorbei.
Ich stutzte – hatte ich mich doch geirrt? Ich hörte, wie sie zu ihrem Begleiter sprach: sie wolle doch nicht mehr in den Park gehn; fühle sich müde, wolle in ihr Zimmer. Ihr Englisch hatte ganz ausgesprochen einen amerikanischen, neuenglischen Akzent.
Der Hoteldirektor kam vorbei, begrüßte mich. Ich hielt ihn fest, fragte ihn, wer die Herrschaften seien.
»Die da?« antwortete er. »Earl Brougham ist es. Marquess of Atwood. Seit langen Jahren kommt er her mit seiner Mutter – diesmal hat er auch seine Frau mitgebracht. Kürzlich erst verheiratet. Haben acht Zimmer – Sekretär, Kammerzofen, Chauffeur. Bestes vom Besten!«
»Ist die Lady Amerikanerin?« forschte ich. »Kennen Sie ihren früheren Namen?« Nein, davon wußte er nichts. Aber er würde mir's bald genug sagen können, das sei nicht schwer zu erfahren.
Ich saß lange im Lesezimmer herum, lief dann durch die Gassen. Kam zurück, setzte mich wieder an den Pokertisch. Ich spielte genauso unaufmerksam wie zuvor und gewann doch. Eine erstaunliche Strähne hatte ich: Drei Asse, Fullhands, Straights und Flushes – stundenlang. Rein ausgemistet waren die Ratzen am Tisch.
*
Ich frühstückte auf der Terrasse heute morgen, spät genug. Der Direktor kam, brachte mir seine Weisheit: Gewiß sei Lady Brougham Amerikanerin. Witwe des steinreichen Klaus Steckels aus Chikago, des Zuckermagnaten, und seine einzige Erbin. Auch die Broughams seien gewiß sehr begütert – aber so viele Dollarmillionen ...
Dann tat er geheimnisvoll – irgendwas sei vorgefallen diese Nacht im Hotel. Die Broughams seien heute früh plötzlich abgefahren; Lord, Lady, Dienerschaft, Autos – alles. Nur die Lady-Mutter sei zurückgeblieben mit ihrer Jungfer. Dann auch – und das sei auffallend – die Zofe der jungen Lady.
»Warum auffallend?« fragte ich.
Der Direktor sah mich scharf an, liebenswürdig wie immer, aber sehr beobachtend.
»Sehn Sie«, sagte er mit leichter Betonung, »in meiner Stellung muß man ein wenig Detektiv sein, muß manchmal alle möglichen Dinge argwöhnen, die bisweilen auf den einen oder andern unsrer Gäste ein schiefes Licht werfen könnten. Natürlich kann man sich irren –«
»Sie werden deutlich genug!« unterbrach ich ihn. »Aber da Sie ganz offensichtlich auf mich anspielen, so haben Sie wohl die Güte, sich etwas näher zu erklären.«
Der Mann verbeugte sich, während er an seinem schwarzen Schnurrbärtchen zupfte. Ein unmerkliches Lächeln flog über seine Lippen.
»Sehn Sie, lieber Herr«, fuhr er fort – jeden Satz begann er mit diesem: ›Sehn Sie‹ –, »ich sagte Ihnen schon, daß die Broughams seit vielen Jahren zu uns kommen; genau: seit achtzehn Jahren. Sie bleiben sechs bis acht Wochen und sind gute, sehr gute Gäste in jeder Beziehung. Sie glauben gar nicht, wieviel Engländer unser Haus bevorzugen, nur weil die Broughams hier absteigen. Da muß man einige Rücksicht nehmen –«
»Gewiß muß man Rücksicht nehmen«, bestätigte ich.
»Sehn Sie«, begann er wieder, »die Broughams kamen gestern abend aus Paris an, nachdem sie, wie stets, ihre Zimmer wochenlang vorausbestellt hatten. Sie fahren heute morgen ab – Hals über Kopf. Die alte Dame bleibt zurück – sie hat also gewiß nichts auszusetzen. Die jungen Herrschaften lassen sagen, daß sie vermutlich in einer Woche zurück sein würden – vermutlich! Es hinge noch von einem Umstand ab. Und sie lassen die Kammerzofe der jungen Lady zurück – also liegt dieser Umstand nicht an ihnen, sondern an unserm Hause. Es ist eben ein Hindernis im Hause – wenn dieses weggeräumt ist, kehren die Herrschaften zurück. Das soll die Zofe, die wohl das persönliche Vertrauen der Lady hat, beobachten; sie soll Nachricht geben – darum mußte sie zurückbleiben.«
Ich lachte auf. »Sie sind außerordentlich scharfsinnig, Herr Direktor; keine Lücke in Ihrer Logik! Vermutlich haben Sie die Zofe auch schon zur Rede gestellt?«
»Das habe ich getan«, nickte er, sichtlich geschmeichelt. »Sie wollte erst nicht mit der Sprache heraus; aber sie gab bei, als ich ihr den Grund der Abreise ihrer Herrschaft auf den Kopf zusagte und mein Zureden noch mit einem Goldstückchen unterstützte. Übrigens überschätzen Sie meine Kombinationsgabe, lieber Herr; es war wirklich nicht allzu schwer. Die Broughams haben außer mit einigen alten Bekannten gestern abend mit niemand gesprochen. Der einzige Gast, der sich nach ihnen erkundigte, waren Sie – Sie wußten, daß die Lady Amerikanerin sei.«
»Ich hörte es an ihrem Akzent«, erklärte ich.
»Gewiß, gewiß«, bestätigte der Direktor. »Aber ich sah an der Garderobe, wie Sie die Lady anstarrten und die Lady Sie. Natürlich kann ich mich irren – ich betonte das schon. Aber ich muß annehmen, daß Sie und die Lady einander früher gekannt haben und daß die Lady diese Bekanntschaft nicht zu erneuern wünscht. Das ist nur so mein Gedanke, und den sagte ich der Kammerjungfer natürlich nicht. Es ist auch gleichgültig und geht mich gar nichts an. Aber, sehen Sie, die Tatsache steht fest, daß Sie es sind, mein Herr, der die Herrschaften zur Abreise nötigte: sie werden zurückkehren, sobald Sie abgereist sind.«
Ich besann mich nicht lange. »Ich werde abreisen, Herr Direktor!«
Der Mann verbeugte sich, ein wenig tiefer als gewöhnlich und sehr befriedigt.
»Danke«, sagte er, »das erspart uns manche Verdrießlichkeiten. Wann gedenken Sie zu reisen?«
»Morgen oder übermorgen«, antwortete ich. »Ich muß den Herrn noch Revanche geben im Poker.«
»O bitte, lieber Herr«, schmunzelte der Direktor, »es hat gar keine Eile. Die Herrschaften sind nach Nizza, werden so nicht vor Montag zurück sein. Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Entgegenkommen und bitte Sie vielmals um Verzeihung. Sie werden uns stets ein lieber und gerngesehener Gast sein; das Haus wird immer für Sie alles tun, was in seinen Kräften steht, wenn –«
»Nun, wenn?« unterbrach ich ihn.
»Wenn die Broughams nicht gerade bei uns sind«, schloß er.
*
Ich bin also regelrecht hinausgeworfen aus diesem Hotel: sehr liebenswürdig freilich – aber es ist gar keine Frage, daß dieser gerissene Hoteldirektor ganz andre Saiten aufgezogen hätte, wenn ich drauf bestanden hätte, zu bleiben. Nichts liegt an mir; ich bin ein gleichgültiger Gast, einer von vielen Tausenden, die nur nach Nummern zählen. Aber die Broughams – das ist ganz etwas andres!
Also Eileen Carter heißt Lady Brougham jetzt und ist Marchioness of Atwood. Und sie will mich so wenig kennen wie damals in Chikago in der Oper.
Das war vor drei Jahren; noch nicht lange war sie mit dem alten Klaus Steckels verheiratet. An dem Abend hatte Mary Garden die »Louise« gesungen; die Vorstellung war aus, und ich wartete unter dem Wetterdach mit ein paar Bekannten auf unser Auto. Plötzlich stand sie mit ihrem Gatten neben mir – sie wartete wie wir.
Wie gestern abend traf mich ihr Blick, wie gestern abend starrte sie mich an. Die englische, die amerikanische Dame grüßt zuerst – aber Eileen grüßte mich nicht. Ich senkte den Kopf ein wenig, machte den Versuch einer Verbeugung – sie grüßte nicht. Starrte mich an und grüßte nicht. Bis ihr Auto kam, bis sie mit dem breiten, stiernackigen Steckels in den Wagen stieg.
Wie dick sein Hals war und wie rot! Der Schlag mußte ihn treffen über kurz oder lang! Tat es auch.
*
Und wieder zwei Jahre früher, in New York. Das war, ehe der Zuckerkönig sich in Eileen so hoffnungslos verliebte. Sie war die schönste der Chordamen in »Ziegfelds Follies«; Elmer G. Warren hielt sie damals aus, einer der größten Gauner in Wallstreet. Ihr Tanzen war mäßig genug: Sie stand in der zweiten Reihe und verschwand hinter den Ponies, nur ihr herrlicher rotlockiger Kopf überragte die kleinen Mädel der vordem Reihe. Aber wenn sie, als letzte, bei der großen Pfauenschau die hohe Treppe herunterkam, dann hielten die Snobs den Atem an.
Acht Meter Schleppe rauschten hinter ihr, die die kleinsten Ponypagen trugen; aus der schwarzen Toilette mit Silberpailetten wuchs diese göttliche Brust hervor, dieser Hals und dieser stolze, hochmütige Kopf. Keine Dame konnte schreiten, wie Eileen schritt, keine Dame und keine Herzogin. Eine Königin war sie.
In »Ziegfelds Follies«.
Die Modehäuser trugen ihr die Pariser Modelle ins Haus, die Pelzhändler das herrlichste Rauchwerk. Was Eileen, einmal nur, trug, zwischen den Tischen herum beim Modetee im Ritz oder Plaza, das war das Doppelte wert am selben Abend. Aber sie wedelte nicht, drehte sich nicht wie die andern Mannequins, wiegte nichts und rollte nichts, stellte nichts zur Schau, weder Nacken noch Brüste, die Hüften nicht und nicht den Steiß. Keine kleine Einzelheit sah man bei ihr wie bei all den andern – nur das Ganze, nur diese blendende souveräne Erscheinung: Eileen.
Mannequin war sie damals, Showgirl bei Florenz Ziegfeld. War »Professional« dazu, eine, die aus einem Bett in das andre stieg und nun von Elmer G. Warren bezahlt wurde, der sie mit Brillanten behängte. Heute aber war sie Peeress von England: Weit offen standen ihr die Tore am Hofe des Heiligen Jakob, dem ersten der Welt.
Damals hatte Warren grade seinen großen Schwindel mit den Erie-Aktien gemacht, der Dutzende von Millionen aus den Taschen harmloser Narren heraus und in seine Tasche hineingeweht hatte. Sechs große alte Firmen waren dabei zugrunde gegangen, vierzehn Selbstmorde hatte es gegeben, Tausende von Sparern hatten ihren letzten Cent verloren. Die Zeitungen spien ihn an, Manhattan heulte von Bowling-Green bis hinauf zum Bronx. Vierzehn Tage lang durfte er sich in Wallstreet nicht sehen lassen – dann war alles wieder vergessen. Mittlerweile lachte Elmer und gab ein Fest in seinem Haus am Riverside-Drive.
Was er so ein Fest nannte. Zu Beginn gewählte Gesellschaft: kleine Schauspielerinnen, Tänzerinnen und Chormädel. Das fing an um Mitternacht: nach zwei Stunden war keiner mehr nüchtern. Am Morgen fuhr man hinaus nach Long Beach, trank weiter, kam wieder zurück – was müde war, legte sich zu Bett, aufs Sofa, oder lag einfach auf dem Boden in einer Ecke. Manche hatten genug, wankten nach Hause in der zweiten Nacht. Dafür kamen andre Gäste, die man irgendwo aufgetrieben hatte; statt der Herrn der Klubs sah man nun höchst zweifelhafte Gesellen, statt der Theaterdamen Ladenmädel, Kellnerinnen, Straßendirnen.
Drei Tage und vier Nächte dauerte der Zauber – Elmer G. Warren hielt durch.
In der ersten Nacht war ich da, kam aus dem Klub mit ein paar Bekannten gegen drei Uhr in Elmers Haus. Alles war betrunken, und es gab nur eins von beiden: entweder gleich gehn oder mitrasen, saufen und tüchtig nachholen.
Leb in Rom, wie die Römer leben!
Ich trank also, tanzte und brüllte. Erst nach einer Stunde bemerkte ich Eileen in dem wilden Trubel – sie war wüst wie all die Weiber. Sie kam auf mich zu, faßte meinen Arm. Wollte tanzen, besann sich dann, zog mich zur Bar, ließ sich schreiend eine Flasche Ayala geben, arbeitete an dem Korken, spritzte kreischend den Sekt ein paar Herren über den Frack. Warf sich in ein Sofa, schenkte die Gläser voll.
»Trink!« lallte sie.
Ich trank ihr zu: »Ihr Wohl, Eileen!«
Sie rührte mit dem Goldquirl in ihrer flachen Schale, schwatzte dazu albernes Zeug, von diesem Mädchen und jenem: Theaterklatsch, Dirnengeschwätz.
Dann hob sie ihr Glas, setzte es an die Lippen, mir zuzutrinken. Aber sie trank keinen Tropfen. Langsam sank die Schale zurück auf den Tisch; schlaff fiel ihr der Arm in den Schoß. Sie wollte lachen – aber ihr Lachen starb, ehe es noch geboren war.
Sie hob die Augen zu mir, ihre wundervollen Amethystaugen: Sie starrte mich an, wie sie das gestern tat und damals in Chikago in der Oper. Ein Zucken ging durch ihren Körper: Sie straffte sich, griff ein Kissen, grub beide Hände hinein. Ich hatte das Empfinden, als ob sie nüchtern würde, mit ungeheurer Willensanstrengung, plötzlich, ohne Übergang. Und das übertrug sich – mein rascher Rausch verflog im Augenblick.
Ich fühlte: sie will etwas von mir. Und: es ist Ernst.
Ich nahm ihre Hand. »Eileen«, begann ich.
Sofort zog sie ihre Hand weg. Wartete eine Weile, starrte mich an, schweigend.
Dann sagte sie, leise, trostlos fast: »Geh!«
Stand auf, wandte sich nicht, schritt aus dem Raum.
*
Ich sitze in Cannes in meinem Zimmer – in diesem Hotel, das mir widerlich ist. Ich denke an diese Frau, die – dreimal im Leben – mir deutlich genug zu verstehen gab, daß sie mir nicht mehr begegnen will.
Dreimal – und es war jedesmal auf ein Haar dasselbe. Sie starrte mich an, zog mich hin zu sich, ließ mich dann stehn wie einen Fremden, den sie nie gesehn. Gewiß, in Elmer G. Warrens Haus sprach sie zu mir – doch da war sie trunken. Und als sie nüchtern war, war kein Wort mehr für mich auf ihren Lippen. Nur die eine Silbe: »Geh!«
Still, leidenschaftslos klang dies: »Geh!« – In ihrer Haltung, alle dreimal, lag kein Haß, kein Zorn, keine Verachtung und sicherlich keine Furcht.
Ihr Blick – was sagte ihr Blick?
Eines gewiß – daß sie sich gut erinnerte an das, was geschehn war zwischen uns. All das, was ich tat für sie und mit ihr. Aber konnte diese Erinnerung ihr ein Recht geben – was Recht, nur die leiseste Veranlassung –, mich jetzt zu kennen und dennoch nicht zu kennen?
Ich begehrte diese Frau, träumte von ihr. Vom Augenblick an, als ich zuerst sie sah – und durch zehn lange Jahre bis heute. Gewiß nicht immer und gewiß nicht glühend und heiß – nie wurde mein Wunsch so stark, daß ich je auch nur den kleinsten Versuch machte, mich ihr wieder zu nähern. Aber ich vergaß sie nie; durch wache Träume leuchteten immer wieder ihre irischen Augen. Und ich dachte: einmal wird sie kommen; einmal muß sie kommen, Eileen Carter.
Mein Geheimnis war das; niemand wußte davon und am allerwenigsten sie. Mit keinem Wort, mit keiner kleinsten Bewegung hatte ich ihr jemals gezeigt, wie ich mich sehnte nach ihr.
Das also war es nicht, daß sie mich abwies wie einen Liebhaber, der ihr lästig war.
Was also wollte sie?
Ich hatte ihr einen großen Dienst erwiesen, ich bilde mir nichts drauf ein; ich kenne Dutzende, die ihr genauso geholfen hätten, und es gibt gewiß viele Tausende. Aber nicht zu viele drüben in Amerika und niemand in ihrem Heimatstaat, Rhode Island. Damals konnte sie keinen finden – keinen als mich, der närrisch genug war, diese abscheuliche Arbeit für sie zu tun.
*
So war es:
Ich kam von New York nach Woonsocket, Rhode Island, im Auftrag der Central-Trust-Bank. Es handelte sich um eine Anleihe der Vereinigten Baumwollwerke, über die schon seit Monaten verhandelt wurde. Insgeheim hatte ich den Auftrag, die Verhandlungen auf alle mögliche Weise in die Länge zu ziehen, so jedoch, daß die Leute dies nicht merkten.
Meine Aufgabe schien nicht leicht. Die Krisis in Woonsocket war brennend seit einem Jahre; schon waren mehrere Firmen unter Geschäftsaufsicht, darunter die Wollfabriken des alten Phil Carter.
Als ich in den Zug stieg, kaufte ich die Zeitungen – alle trugen auf der ersten Seite große Schlagzeilen: »Selbstmord Phil Carters.«
Aber grade dieser Selbstmord war es, der mir meine Arbeit außerordentlich erleichterte. Niemand war am Bahnhof, mich abzuholen; im Hotel fand ich die Nachricht vor, daß heute unmöglich eine Sitzung stattfinden könne.
Der Selbstmord des alten Fabrikanten hatte wie eine Bombe in Woonsocket eingeschlagen. Kein Mensch sprach von etwas anderm.
Am nächsten Abend kam dann Rogers, der Anwalt der Baumwolleute, ins Hotel. Der Mann war in außerordentlicher Aufregung, völlig überhetzt dazu; er war asthmatisch und japste nach Luft. Er warf sich in einen Sessel und trank gierig einen Whisky.
Ich muß sagen, daß selten jemand einen so widerlichen Eindruck auf mich machte, wie Barett S. Rogers. Er war ein Sechziger, klein und sehr dünn. Nicht ein Haar hatte er mehr auf dem Kopfe; dafür aber war an der rechten Seite des Schädels eine mächtige Balggeschwulst, die blau angelaufen war. Große, rote, abstehende Ohren, schwarze, verfaulte Zähne. Aber klug war er. Er blieb nur fünf Minuten; doch erzählte er mir in dieser Zeit alles, was ich wissen mußte.
Das also war's: Rogers war der Anwalt und langjährige Freund Phil Carters. Er hatte nach dem plötzlichen Selbstmord alle Hände voll zu tun, da er auch den Behörden gegenüber, die vorderhand die Leiche beschlagnahmt hatten, die Tochter und einzige Erbin vertrat: Eileen Carter. Die war Studentin in Vassar; auf Rogers' Depesche hin war sie sofort zurückgekommen.
Es schien, als ob da etwas nicht ganz in Ordnung war. Eins war sicher: daß sich die Behörden bisher geweigert hatten, die Leiche freizugeben und daß darum Rogers einen erbitterten Kampf kämpfte.
Die Herrn kamen vollzählig am nächsten Morgen ins Hotel: nur Barett S. Rogers fehlte. Man wußte, daß er am Abend zuvor mit Miss Carter im Auto fortgefahren war – aber man wußte nicht, wohin. Und die beiden waren noch nicht zurück. Wir saßen von neun Uhr an und warteten auf ihn; erst gegen halb drei erschien er. Wenn er gestern aufgeregt war, so war er's heute noch viel mehr; sein schmales Vogelgesicht zuckte unaufhörlich, seine Hände flogen auf und nieder. Man sah dem Manne an, daß er von einem sehr schwerem Kampfe kam und zu einem noch schwerern gehn würde.
Er eröffnete sofort die Sitzung; ich legte meine Generalvollmacht vor, die mich ermächtigte abzuschließen.
Wir saßen kaum zehn Minuten, als ein Sheriff erschien, der Rogers ein Schreiben brachte. Er öffnete es und las.
»Meine Herrn«, sagte er, »die Gerichtssitzung ist um fünf Uhr anberaumt. Ich weiß nicht, wie lange sie dauern wird; zwei Stunden wenigstens. Ich bitte, unsre Sitzung jetzt zu unterbrechen.«
Die Männer drängten sich um den Anwalt, schüttelten ihm die Hand. »Viel Glück!« sagte einer. Und der alte Lippincott klopfte ihm auf die Schulter: »Wir stehn bei dir, Rogers!« – Der Anwalt ging. Man verabredete, daß man um acht Uhr wieder zusammenkommen wollte.
*
Die Baumwollherrn saßen in der Halle, rauchten, tranken Whisky. Und sie sprachen von dem, wovon jedermann sprach in diesen Tagen: von Phil Carters Ende und von der Tragödie, die sich – mit ihm – nach seinem Tode abspielte.
Alles geschah streng nach dem Gesetz. Dem Gesetz des Staates Rhode Island.
Damals schien mir das alles unglaublich und wahnsinnig. Aber geschahen nicht, nach uraltem englischem Recht, immer wieder die undenkbarsten Dinge in diesem Lande?
Jeder Staat Nordamerikas machte seine eignen Gesetze. Der Staat New York bestraft den Selbstmord nicht: Jeder mag sich da umbringen nach Herzenslust. Aber – niemand darf einen verunglückten Versuch dazu machen: ganz oder gar nicht, heißt es in New York. Wer ins Wasser springt und dann herausgefischt wird, wer sich aufhängt und rechtzeitig abgeschnitten wird – der wird ins Gefängnis gesteckt. Wenigstens – wenn es herauskommt.
So kennt auch, neben ein paar anderen Staaten, Rhode Island noch das alte englische Selbstmordgesetz: Nicht nur der Versuch, auch die vollendete Handlung ist hier strafbar. Nun ist es richtig, daß dieses Gesetz in unseren Tagen kaum noch angewandt wird. Es hat nämlich ein hübsches Hinterpförtchen: Da ist es Krankheit – und dieses Pförtchen macht man stets weit auf. Wenn der Selbstmord in Geisteszerrüttung vorgenommen wurde, ist er nicht strafbar, und so geben der Coroner und seine Jury, die Leichenschaukommission, wieder und wieder ihr Urteil ab, daß der arme Selbstmörder plötzlich seinen Verstand verloren habe.
Doch kam diesmal etwas hinzu. In diesem Jahre der schlimmen Krise hatte der große Evangelist und Prophet Billy Sunday sein Tabernakel in Providence, der Hauptstadt des Staates, aufgeschlagen. War von dort aus auf die Dörfer gezogen. Gewaltig war des Erweckers Erfolg überall im Lande, nirgends so groß wie in Rhode Island. Hier kam ihm alles entgegen: die altererbte puritanische Gesinnung wie der schwere wirtschaftliche Druck. Hunderttausende hatten Bill Sundays Versammlungen besucht, wo der frühere Baseballspieler wie ein Besessener auf dem Podium herumtobte und mit Armen und Beinen den Teufel bekämpfte. Viele Tausende hatten vor ihm im Staub gekniet, öffentlich ihre Sünden bekannt und von Stund an ihre Seele Gott dem Herrn zugeschworen.
Wie überall hatte Bill Sunday die Augenblickstatsachen gründlich ausgenutzt. Für die zappelnde Logik des Propheten war ein Selbstmord ja nicht die Folge der wirtschaftlichen Not, für ihn war umgekehrt diese nur die Strafe des Himmels dafür, daß die Menschen Gottes heilige Gebote verletzten und daß insbesondere freche Gottesverächter sich das Recht anmaßten, über den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen, anstatt dies dem zu überlassen, dem es einzig zustand: Gott, dem Herrn. Bill Sunday tobte darüber; immer wieder hatte er gepredigt, welch Verbrechen es sei, daß bei allen Selbstmorden die Leichenschaukommission auf plötzliche Geistesstörung erkenne und auf diese Weise fluchwürdigen Übeltätern ein christliches Begräbnis ermögliche. Nicht um ein Haar besser sei der Selbstmörder als der Raubmörder und Lustmörder, brüllte der Prophet, es sei endlich an der Zeit, dem Gesetz Geltung zu verschaffen und ein Beispiel zu statuieren!
Darum ging es nun. Von der Grand-Jury sollte heute die Entscheidung fallen; vor ihr stritt heute Rogers für die letzten Ehren des Verstorbenen.
Gegen acht Uhr stürmte, völlig durchnäßt, ein junger Mann in die Halle. Ich erkannte ihn gleich; es war Ned Lippincott, der Sohn des alten Lippincott. Hier hatte ich ihn noch nicht gesehen, aber oft genug in New York. Er warf dem Kellner den nassen Hut und Rock zu, während die Herrn aufsprangen und ihn umdrängten.
»Rogers hat –«, rief er, »Rogers hat –«
»Was hat er denn?« fragte einer der Herrn. »Kommst du von der Grand-Jury? Wie haben sie entschieden?«
Ned Lippincott warf sich in einen Sessel.
»Sie haben noch nichts entschieden, aber Barett Rogers hat Eileen Carter geheiratet!« schrie er.
Das schlug ein. So verblüfft waren alle durch diese plötzliche Mitteilung, daß sie alles Fragen vergaßen.
»Unsinn!« rief endlich der kleine Raleigh.
»Kein Unsinn!« schrie Ned Lippincott. »Gottverdammt kein Unsinn! Gestern abend ist sie mit ihm nach Warwick gefahren. Reverend Chagnon hat sie getraut. Sie sind beide zur Nacht dort im Hotel geblieben – und in demselben Zimmer alle beide! Eileen Carter ist Mrs. Barett S. Rogers. Der Teufel soll's holen!«
Wieder ließ er sich in seinen Stuhl fallen, als ob die Wut und der Schmerz ihn umwürfen.
Raleigh trat zu ihm, gab ihm sein Glas.
»Trink, Ned«, beschwichtigte er. »Und woher weißt du's?«
Ned Lippincott schluchzte. »Woher ich's weiß? Eileen hat mir's selber gesagt! Sie sind erst heute mittag zurückgekommen; Eileen hat zu mir geschickt, sie zur Grand-Jury abzuholen. Ich war mit ihr dort; da hat sie's mir gesagt. Jetzt, in der Pause, spricht sie mit Rogers, spricht mit ihrem – Mann! Da konnte ich's nicht mehr ertragen, bin hergelaufen!«
Rechts und links klopften ihm die Herrn auf den Rücken, von allen Seiten hielten sie ihm Whiskygläser hin. »Trink, Ned! – Trink, mein Junge!«
Er trank, riß sich zusammen, rief nach Mantel und Hut. »Ich muß zurück«, sagte er; »ich hab's Eileen versprochen.« Und ganz leise fügte er hinzu: »Sie hat gesagt – sie hätte mich genommen, wenn ich ihr hätte helfen können. Aber keiner konnte ihr dabei helfen, sagte sie, nur er, Rogers! Und darum nahm sie ihn.«
Ich ging zu ihm hin, streckte ihm die Hand hin. »Du?« rief er. »Du hier? Ich dachte, Parker käme von der Central-Trust. Entschuldige jetzt – ich muß zurück –, werde dich später sehn!«
Und er stürmte hinaus.
*
Das begriff keiner, warum Eileen Carter den Rogers nahm. Alle schätzten ihn als besten Anwalt des Staates; alle erkannten rückhaltlos seine geistige Überlegenheit. Aber ihn heiraten? Dies alte, widerliche Ekel, das Tabak kaute und spie und auf drei Schritt weit aus dem Munde roch?
Den, den nahm Eileen Carter?
Eileen, frisch von Vassar, achtzehn Jahre alt, voll erblüht in süßer Mädchenschönheit. Sie, Miss Carter, aus bester und ältester Familie Neuenglands, die einzige Tochter Phil Carters, des reichen Wollmagnaten – Das Rätsel war nicht zu lösen, warum Eileen Carter den häßlichen alten Rogers nahm.
Ich ging in den Speisesaal, nachtmahlte mit Raleigh. Wir waren kaum fertig, als der Kellner uns zurief, daß eben Rogers komme; wir gingen also zurück in die Halle.
Der Anwalt schien völlig nieder gebrochen; er stützte sich mühsam auf den Arm des alten Lippincott. Alles drängte und fragte; aber Rogers gab keine Antwort.
»Was ist los, zum Teufel?« brüllte Raleigh. Lippincott zuckte die Achseln. »Er hat verspielt!« antwortete er. Aber es dauerte Minuten, bis man klare Auskunft von ihm bekommen konnte.
Die Grand-Jury hatte also gesprochen, und sie hatte zum ersten Male seit vielen Jahrzehnten im Lande das Hintertürchen nicht aufgemacht! Man hatte eine Menge Zeugen geladen; der Staatsanwalt auf der einen und Rogers auf der anderen Seite hatten regelrechte Kreuzverhöre mit ihnen angestellt, wie bei einem Kapitalverbrechen vor den Geschworenen.
Alle Zeugen bestätigten die volle Geistesfrische Carters bis zur letzten Stunde. Vom frühen Morgen bis spät in die Nacht war er tätig, leistete eine ungeheure Arbeit und traf seine Anordnungen mit völliger Klarheit und Sicherheit. Am Mittag des letzten Tages ging er durch alle Büros, verabschiedete sich persönlich von den Angestellten und Ingenieuren. Dann ging er ruhig nach Hause, bestellte ein Bad und ließ sich alles vorbereiten, was nötig ist zum Rasieren. Er kam nicht mehr zum Luncheon – als man die Tür aufbrach, fand man ihn mit durchschnittener Kehle und völlig verblutet in der Badewanne.
Der Staatsanwalt sprach nur kurz, stellte den Antrag, daß die Grand-Jury als Todesursache auf Selbstmord bei vollem Verstand erkennen möge.
Und der Spruch der Jury war einstimmig. Einstimmig auf klaren Verstand!
Da kam der junge Lippincott in die Halle. Grade auf Rogers zu.
»Miss Carter ist draußen«, sagte er; »Mrs. Rogers, meine ich. Sie will Sie sprechen – sofort. Wo soll ich sie hinführen?«
Der Anwalt sprang auf; seine Beine zitterten.
»Führ sie ins Lesezimmer, Ned«, sagte Raleigh, »es ist sicher leer um diese Zeit.«
Ned nickte, rannte zurück zur Tür und kam gleich darauf mit der Dame zurück. Sie war in schwarzen Trauerschleiern; nichts konnte man von ihr sehn. Keiner sprach; alle traten zur Seite, sie durchgehn zu lassen, verbeugten sich stumm. Sie griff Neds Arm, ging mit ihm durch die Glastür ins Lesezimmer.
Rogers stand noch immer unbeweglich. »So geh doch!« rief Raleigh. »Laß deine Frau nicht warten!«
Da ging er – aber es war mehr ein Fallen, ein Hinken und Stolpern. Er verschwand im Lesezimmer – ließ die Tür halb offenstehen.
Keiner der Herrn dachte daran, sie zu schließen. Jeder lauschte, irgendein Wort aufzuschnappen von dem, was da drinnen gesprochen wurde.
Man hörte, daß Ned Lippincott sprach; aber man verstand nicht, was er sagte.
Dann, ganz hell, Eileen Carters Stimme: »Nein, du bleibst, Ned! Ich will, daß du bleibst!«
Nur Eileens Stimme hörte man zuweilen, aufgeregt und schnell, sehr hoch und manchmal sich überschlagend. Es war klar, daß sie den Anwalt überschüttete mit Vorwürfen.
»Sie haben Ihr Wort gebrochen, Rogers!« rief sie. »Sie haben auf die Bibel geschworen, daß ich meinen Vater beerdigen könne – und Sie haben Ihren Schwur nicht gehalten. Sie haben Ihren Preis genannt, Rogers – und ich hab' ihn bezahlt: Hab' Sie geheiratet!«
Sie schwieg einen Augenblick – wieder hörte man dieses helle, harte, einsilbige Lachen.
»Sie haben mich betrogen, Rogers!« fuhr sie fort. »God damn you!«
Die Herrn in der Halle fuhren auf – was hatte sie da gesagt? Sie, Eileen Carter aus Woonsocket, Rhode Island, erzogen auf der strengen Ann-Hutchinson-Schule in Providence, Collegegirl von Vassar, sie, die Tochter des frommen Puritaners Phil Carter – sie sagte: »God damn you!«
Und wie sie es sagte! Schneidend, scharf – ein Peitschenhieb in Rogers Gesicht!
Wieder klang Eileens Stimme. Nicht mehr beherrscht jetzt – in ohnmächtiger Wut.
»Ich bin fertig mit Ihnen, Rogers! Nie mehr will ich Sie sehn, Rogers!«
Man hörte sie mit dem Fuß aufstampfen. Dann einen Schrei: »Gehn Sie doch, gehn Sie doch! Hören Sie denn nicht, daß Sie gehn sollen!«
Dann Rogers wankende Tritte. Er griff seinen Hut, ging zur Haustür, rief nach einem Auto.
*
Ich blickte dem Auto nach, das schnell um die Ecke bog. Der Regen hatte ein wenig aufgehört – ich überlegte, ob ich noch einen kleinen Spaziergang machen sollte. Es war elf Uhr vorbei – die frische Luft würde mir guttun vor dem Schlafen.
Ich bummelte durch die Gassen aufs Geratewohl. Ein letztes Kino schloß seine Pforten, nur wenige Menschen kamen heraus. Ein offener Leiterwagen klapperte über das Pflaster, von zwei trabenden Gäulen gezogen – ein halbes Dutzend Männer saß da auf einer großen Kiste. Hin und wieder jagte ein Auto vorbei; sehr selten nur kam ein Fußgänger.
Die Luft war erfrischend, ich sog sie mit vollen Zügen ein.
Ich kam durch einen Villenvorort; nur selten sah ich noch Licht hinter Scheiben. Bald war ich draußen, kam auf einen kleinen Hügel, von dem ich Woonsockets spärliche Lichter überblicken konnte. Es fing wieder an zu tropfen – so war es Zeit, umzukehren.
Ich ging auf einem andern Weg zurück, der mir näher schien, lief über einen schmalen Feldweg; bald war ich auf einer baumbestandenen Landstraße – wenn man das schon Straße nennen wollte. Sie wurde augenscheinlich kaum benutzt und seit Jahren nicht gepflegt; so watete ich in einem schlammigen Morast. Jetzt fing es stärker an zu regnen, und bald goß es wieder in Strömen. In fünf Minuten war ich bis auf die Haut durchnäßt.
Da sah ich, einige fünfzig Schritte vor mir, Laternen auf der Straße stehen. Ich beschleunigte meine Schritte, stand im nächsten Augenblick vor ein paar Männern.
»Geht's hier nach Woonsocket?« rief ich sie an.
»Ganz richtig!« antwortete der eine. »Was wollen Sie hier?«
Nun kam der andre Mann heran. »Wir dürfen ihn nicht abweisen, Pat«, sagte er. »Der Befehl lautet, daß wir jede Ansammlung verhindern sollen. Der Mann da ist doch keine Ansammlung! Zusehn darf er – alles soll in vollster Öffentlichkeit geschehn.«
»Schöne Öffentlichkeit!« brummte der erste. »Bei dem Sauwetter um Mitternacht!« Er wandte sich wieder zu mir. »Also gut, wenn Sie durchaus die Öffentlichkeit vorstellen wollen, bleiben Sie.«
Ich ging also auf die Laternen zu – ein breiter Weg kreuzte hier die Landstraße. Da hielt der Leiterwagen, den ich vorher durch die Stadt hatte fahren sehn. Die lange Kiste stand auf der Erde. Daneben schaufelten, hart am Wegrand, vier kräftige Kerle eine tiefe Grube.
Eine der Laternen hing an einem Baum, die andre an der Seite des Karrens; sie beleuchtete ein rotes Schild, das in weißen Lettern Namen und Gewerbe des Besitzers zeigte – ah, der Wagen gehörte dem Wasenmeister Woonsockets!
Im Augenblick war mir klar, was da vor sich ging: Hier am Kreuzweg sollte, mitten in der Nacht, die Leiche des unglücklichen Phil Carter in aller Stille verscharrt werden. Wie ein gefallenes Vieh, wie ein räudiger Hund, vom Schinder und seinen Gehilfen!
So verlangte es das alte Gesetz in Rhode Island.
Ich dachte an Eileen Carter – die Tochter des Mannes, der dort in der Kiste lag. Ich kannte sie nicht, wußte nichts von ihr, hatte sie nur in den schweren schwarzen Schleiern gesehn. Sicherlich hatte sie keine Kenntnis von dem, was hier vorging – noch nicht. Aber sie würde es erfahren, morgen am Tage.
Und sie hatte für diesen alten Vater alles hingegeben, was sie besaß. Hatte ihr Mädchentum diesem gierigen schmutzigen Rogers geschenkt – um das zu verhindern, was hier geschah.
Umsonst dazu – zwecklos und nutzlos!
Die Leute griffen die Kiste – aber sie warfen sie nicht in die Grube. Brachen vielmehr den Deckel auf, hoben die Leiche hinaus, legten sie auf die Landstraße nieder.
Unbekleidet war sie, nur in Lappen schmutziger Sackleinen gewickelt.
»Was tut ihr?« rief ich.
Ein Mann faßte sofort meinen Arm. »Herr«, mahnte er, »Sie haben versprochen, nicht zu stören. Hier geschieht nur, was das Gesetz verlangt.«
Ich nahm mich zusammen; jeder Versuch, einzuschreiten, wäre vollkommen zwecklos gewesen. Sie waren zu sieben – und sie waren im Recht, waren von der Behörde bezahlt für das, was sie taten.
Zwei griffen die Leiche auf; an den Schultern faßte der eine und an den Kniekehlen der andre. Packten sie, warfen sie im Schwunge in das Loch, in dem das Wasser schon fußhoch stand.
Es klatschte und planschte.
»Herrgott!« stöhnte ich. Unwillkürlich faltete ich die Hände.
Aber der Mann achtete auf jede kleinste meiner Bewegungen. »Ich bitte um Verzeihung, Herr«, sagte er; »Sie dürfen hier nicht beten! Ausdrückliche Anordnung: Kein Gebet darf gesprochen werden! Dies darf kein christliches Begräbnis sein – wenn man es schon ein Begräbnis nennen will.«
»So macht doch zu, zum Henker!« rief ich. »Füllt die Grube auf, daß ihr endlich fertig werdet mit eurer widerlichen Arbeit!«
Aber sie waren noch nicht zu Ende. Einer der Knechte nahm einen Pfahl von dem Karren, dessen unteres Ende zugespitzt war. Armdick war die Stange, über zwei Meter lang, so ein Richtpfahl wie man ihn beim Anpflanzen junger Bäume gebraucht. Was sollte das? Wollten sie einen Schandpfahl errichten am Kreuzweg?
Der Mann ging zu der Grube, stellte den Pfahl mitten hinein – etwa vier Fuß hoch ragte er nach oben heraus.
»Leuchte!« rief der Wachtmeister.
Da nahm ein andrer die Laterne, leuchtete in die Grube. Und ich sah in dem Lichtschein, daß er den Pfahl mitten auf die Leiche gestellt hatte.
Ich war außer mir. »Das werdet ihr nicht tun!« schrie ich. »Das nicht!« Ich sprang nach vorn, riß dem Manne die Stange aus der Hand, warf sie auf die Straße.
Im selben Augenblick faßte mich ein Kerl von hinten, riß mich zurück. Zwei andre der Leute packten zu, wie im Schraubstock stak ich in ihren Griffen.
»Ruhig Blut, Herr«, sagte der Mann. »Dachte ich mir's doch, daß es nicht gut abgehn würde.«
Ich ahnte gut, was nun geschehn sollte. Dennoch flüsterte ich die Frage: »Was wollt ihr tun?«
Der Mann, der mich noch immer von hinten umspannt hielt, antwortete: »Durch das Herz des Selbstmörders. So ist das Gesetz in Rhode Island. Begreifen Sie doch, lieber Herr: Wir müssen dem Gesetz gehorchen!«
Sie warfen nun Erde in die Grube. Klatsch, klatsch, schlug der Schlamm in das schmutzige Wasser. Ich hatte das Empfinden, als ob mich jemand von oben auf den Kopf schlage, wieder und wieder und noch einmal. Ich wußte, daß niemand daran dachte, mich zu schlagen, daß es nur das Geräusch der Erdmassen war, die die Schaufeln in das Wasserloch warfen. Immer mehr, immer neue auf die Leiche Phil Carters. »Lassen Sie los!« stöhnte ich. »Ich mag das nicht mit ansehn! Lassen Sie mich!«
»Gehn Sie, Herr!« sagte der Schinder. »Gehn Sie langsam vor, und warten Sie auf unsern Wagen. In wenigen Minuten werden wir Sie einholen.«
In diesem Augenblick fiel ein heller Schlag – Holz auf Holz. Ein zweiter dann, ein dritter – immer mehr und ganz regelmäßig. Ah – mit dem Holzhammer trieben sie den Pfahl ein –, durch das Herz des Toten!
Ich schrie auf, rannte über die Landstraße der Stadt zu – es war, als ob diese Schläge hinter mir herliefen. Dann stolperte ich, fiel der Länge lang in den Schmutz, sprang wieder auf, rannte weiter. Stolperte gegen einen Baum, fiel ein zweites Mal ...
Dann hörte ich das Knarren der Räder. Ich wandte mich – sah die Laterne, die hinten näher kam. Den Karren mit den Henkersknechten – den Abdeckern!
Eine wahnsinnige Angst ergriff mich; ich zitterte, die Zähne klapperten aufeinander. Jetzt holen sie dich, dachte ich. Holen dich, schleppen dich zurück, werfen dich in die Wassergrube, hinein zu Phil Carter. Nehmen den Pfahl – nageln dich auf die Leiche ...
Ich warf mich zu Boden, kroch auf allen vieren zum Straßenrand, duckte mich hinter einen Baum. Der Schinderkarren kam heran, ratterte vorbei – Gott sei gedankt, sie hatten mich nicht gesehn!
Mühsam stand ich auf, blieb stehn auf dem Fleck, minutenlang. Wie erstorben war mein Leib, nichts fühlte ich von der Kälte und Nässe.
Ich kam in die Stadt, lief durch die leeren Gassen, fand mich endlich zurecht zum Hotel. Schellte und klopfte; bis sich die Tür endlich auftat.
Am nächsten Tage war alles in bester Ordnung. Meine New Yorker Bank rief mich an, daß ich die Anleihe abschließen sollte – und ich schloß ab. So hätte ich am Abend wieder zurückfahren können, wenn nicht plötzlich Ned Lippincott im Hotel erschienen wäre.
»Komm mit«, sagte er, »sie will dich sprechen.«
»Wer?« fragte ich.
»Eileen Carter –«, sagte er leise.
»Was will sie von mir?« fragte ich.
»Sie wird es dir selber sagen«, antwortete er. »Komm mit!«
Draußen im Villenvorort, wo die Fabrikanten hausten. Eine Villa im Garten, wie all die andern. Ned führte mich ins Haus. – Wir legten ab. Kaum eine Minute wartete ich, dann ging die Tür: Eileen Carter stand vor mir.
In Schwarz natürlich, mit langen Ärmeln und hochgeschlossenem Kleid. Bleich war sie: dennoch war Farbe in ihrem Gesicht. Rotblond war ihr volles Haar, blau, veilchenblau ihre Augen. Nein, man konnte das nicht mehr blau nennen: tief violett waren sie, strahlend leuchtende Amethysten. Nie sah ich so große Augen nie so lange, dunkle, tiefschattende Wimpern.
Sie trat auf mich zu, blieb dicht vor mir stehn. »Ned sprach mir von Ihnen«, begann sie. »Sie waren dabei?«
Ich nickte – wollte sie, daß ich ihr meine Erlebnisse berichten sollte?
Sie verstand meinen Gedanken, schüttelte den Kopf.
»Nein, Sie brauchen nicht zu erzählen. Man hat mir genauen Bericht erstattet ...«
Sie stockte, aber nur eine Sekunde lang. Ihre Stimme zitterte nicht, als sie fortfuhr: »– einer der – Schinderknechte!«
Sie stützte sich leicht auf den Tisch, atmete schnell. Dann begann sie wieder: »Ned sagte, daß Sie es tun könnten.«
»Was soll ich tun?« fragte ich. Aber ich wußte im selben Augenblick, daß es nichts gab, was ich nicht tun würde für diese Frau.
»Das – was er nicht tun will«, sagte sie. »Nicht tun – kann. Wollen Sie es für mich tun?«
Stumm verbeugte ich mich.
Sie hielt meinen Blick – bewegte die Lippen.
Dann, plötzlich, zuckte es um ihren Mund. Schnell, von oben herunter: Ein Nerv nur versagte den Dienst für eine kleine Sekunde. Aber sofort gewann sie wieder ihre Fassung. »Ich zahle Ihnen meinen Preis, Herr!« sagte sie.
Ein dummes, stotterndes »Ja – a!« kam von meinen Lippen.
Wieder verbeugte ich mich.
Noch einmal ihr Blick, dann ging sie zur Tür. Wie im Traume hörte ich die Worte: »Ned wird gleich kommen.«
Das alles hatte kaum drei Minuten gedauert. Sie hatte mich nicht gegrüßt, beim Kommen nicht und nicht beim Gehn; nicht einmal »Danke« hatte sie gesagt. Ich dachte: Das wird eine verdammt ernste Geschichte.
Dann kam Ned. »Du wirst es tun?« fragte er.
Ich nickte. »Wenn ich nur wüßte, was!« sagte ich.
»Das ist doch ganz klar«, rief er; »verstehst du denn nicht? Ihres Vaters Leiche dort wegholen, wo sie jetzt liegt, und ihm ein ehrliches, christliches Begräbnis geben.«
Ich atmete auf; ich hatte, ich weiß nicht, warum, etwas ganz Wildes, Phantastisches erwartet. Dies aber schien mir, im ersten Augenblick wenigstens, nichts so gar Schwieriges und Absonderliches zu sein.
Der nächste Tag verging mit Vorbereitungen, die Ned traf. Ich saß im Hotel, ging nicht vor die Tür bei dem jämmerlichen Regenwetter. Alle paar Stunden kam er an und berichtete. Er war fieberhaft tätig; ich muß anerkennen, daß er sich beste Mühe gab, mir die Arbeit zu erleichtern. Abends war er fertig, sprach noch einmal alles mit mir durch.
Die Nachtwachen zogen am Kreuzweg gegen zehn Uhr auf. Lösten dann die früheren Wächter ab und mußten bis zum Morgen bleiben. Ned hatte nun den Gedanken, diese Leute so trunken zu machen, daß sie nicht zur Ablösung kommen konnten. Die andern Wachen, die schon viele Stunden in dem Schmutz und Regen da herumstanden, würden eine Stunde, zwei Stunden vielleicht warten, dann würden sie die Geduld verlieren und nach Hause gehn. Ned hatte ein Auto für mich bereit, einen alten Klapperkasten der Fabrik. Zwei Leute hatte er ausgewählt: Burton und Jimmie; die sollten mit mir kommen, die Leiche ausgraben, in eine Kiste packen und auf das Auto laden. Wir sollten dann nach Warwick fahren, dort den Frühzug abwarten, mit dem er und Eileen von Woonsocket kommen würden. Die inzwischen sorgfältig verpackte Kiste sollte aufgegeben werden; ich sollte mit Eileen nach New York fahren. Dort hatte er sich bereits mit einem Pfarrer in Verbindung gesetzt, der uns helfen würde – noch an demselbem Tage würde Phil Carter endlich christlich bestattet in geweihter Erde seine Ruhe finden.
Das klang sehr leicht und einfach.
Ich fand das Auto an der bestimmten Stelle. Es war ein sehr großer Wagen, aber offen, nur von einer durchlöcherten Leinenplane gedeckt. Die lange Kiste stand darunter, dabei lagen, fest zusammengebunden, Spaten, Schaufeln und Hacken.
Wir fuhren los, im Bogen um Woonsocket. Scheußlich war das Wetter, die Straßen so aufgeweicht, daß wir ein übers andre Mal im Morast steckenblieben. Es klatschte und triefte durch den schlechten Überzug; wir wurden naß, noch ehe wir ankamen. Wir hielten ein paar Kilometer vor dem Kreuzweg. Ganz fern konnten wir eine Laterne sehn; dort standen die Posten.
Wir warteten endlos lange. Schließlich kam Ned mit seinem Auto. Er berichtete, daß die zwei Männer, die zur Ablösung kommen sollten, mit seinen Leuten in der Kneipe säßen und wohl da klebenbleiben würden, und daß inzwischen die Wachen ihren Posten endlich verlassen hätten.
»Fahr zu, Ned«, rief ich, »wir treffen uns im Zug in Warwick!«
Ich wandte mich zu meinen Leuten. »So, nun bringt das Auto her!«
Aber da sah ich nur einen. »Wo ist Jimmie?« fragte ich.
Burton lachte auf. »Ausgerückt! Hat sich gleich gedrückt, als Sie ausstiegen, Herr! Querfeldein – und wie er rannte!«
Da war nichts zu machen, wir konnten ihm nicht nachlaufen. So fuhr ich denn das Auto selbst heran, lud mit Burtons Hilfe die Kiste aus. Dann nahmen wir Schaufel und Spaten.
Die Stelle war nicht zu verfehlen, die Stange stak hoch heraus. Außerdem hatten die Wächter Ziegelsteine in den Schlamm getreten.
»Also 'ran, Burton!« rief ich. »Je eher wir fertig sind, um so besser.«
Wir griffen jeder einen Spaten, und schaufelten los. Aber es zeigte sich, daß die Steine dort fester getreten waren, als wir vermuteten.
»Nimm die Hacke!« befahl ich. »Wir müssen erst die Steine wegheben.«
Mein Mantel hinderte mich, ich zog ihn aus und warf ihn in den Wagen. Burton schwang schon die Hacke, löste einen Stein nach dem andern ab. Da wir nur eine Hacke hatten, machte ich mich, um nicht müßig zu stehn, an die Kiste, löste die Stricke, hob den Deckel ab.
»Gottsverdammt!« schrie Burton plötzlich.
Ich wandte mich nach ihm um, sah, wie er kopfüber hinstürzte. Ich sprang gleich hin, ihm zu helfen.
»Was ist los, Mann?« fragte ich.
»Gottsverdammt, gottsverdammt!« fluchte er.
Ich nahm die Laterne und leuchtete, sah gleich, was geschehn war. Er war ausgeglitten auf den glitschigen Steinen. Hatte im Fallen sich das spitze Eisen ins Schienbein geschlagen.
Das Hosenbein war in Fetzen, ich riß es herunter – abscheulich sah die Wunde aus. Ich hob ihn hoch, schleppte ihn an den Schultern zum Auto, setzte ihn dort auf das Trittbrett. Die Wunde blutete wenig, aber ganz augenscheinlich war der Knochen angeschlagen. Ich zog die große Whiskyflasche unter dem Sitz hervor, entkorkte sie, wusch mit dem Taschentuch die arg verdreckte Wunde.
Burton stöhnte vor Schmerz. Dann sagte er: »Verbraucht nicht alles auswendig, Herr – drinnen tut's auch gut! Laßt mir noch 'nen Tropfen!«
Ich gab ihm die Flasche, die er sofort an die Lippen setzte.
»Jetzt geht's schon besser«, seufzte er. »Aber mit der Arbeit ist's aus, Herr; stehn kann ich nicht.«
»Macht nichts, Burton«, rief ich; »werd' schon allein fertig werden.«
»Bekümmern Sie sich nicht um mich, Herr«, antwortete er. »Ich werd's aushalten. Haben Sie nichts da, ums Bein zu wickeln?«
Ich besann mich – was sollte ich ihm geben? Schnell zog ich Rock und Weste aus, riß das Hemd herunter.
»Ist verdammt nett von Ihnen, Herr«, sagte Burton. »Kann ich's zerreißen?«
Ich nickte. »Ich werd' so schwitzen bei der Arbeit! Dann hab' ich nachher wenigstens trocknes Zeug.«
Burton schob Rock und Weste unter die Sitze, machte sich daran, sein Bein zu verbinden. Ich nahm die Hacke auf, löste die Ziegelsteine, die besonders dicht um den Pfahl staken.
Es war mühselig genug; jeden einzelnen mußte ich erst lockern, dann mit den Händen herausnehmen. Ich griff den Spaten, begann die Erde auszuwerfen. Nie im Leben hatte ich so ein Ding in der Hand gehabt, benahm mich ungeschickt genug.
»Tiefer fassen, Herr!« rief mir Burton zu.
Wie ein Strafgefangener im Steinbruch arbeitete ich. Der Schweiß rann mir vom nackten Leibe, der kalte Regen wusch ihn herunter. Bis ins Gesicht spritzte mir der Schlamm.
Das Schlimmste war, daß in dem Loch, nachdem ich die Steine entfernt hatte, mehr Wasser als Erde war. Eine Viertelstunde verrann nach der ändern; ich merkte kaum, daß ich weiterkam.
»Nehmen Sie die Schöpfkelle!« rief Burton.
Ich schöpfte nun Wasser und Schlamm. Aber es kam mir vor, als ob ich stets nur eine Handvoll heraushob. Und der Regen goß, goß immer neue Wassermassen in die Grube. Ich hatte ein Empfinden, als ob die Leiche Phil Carters bis zur Mitte der Erde gesunken sei.
Dann griff ich wieder zur Schaufel, grub wie ein Besessener. Dicke Blasen bekam ich an den Händen; ich achtete es nicht. Dann sprangen die Blasen – und das rohe Fleisch kam heraus. Wie Feuer brannten die Handflächen.
Ich riß an dem Pfahl, aber ich konnte ihn nicht lockern. Noch mehr Steine holte ich aus dem Loche – dann wieder Wasser und Schlamm. Glühheiß war ich im Augenblick und im nächsten wieder eisig kalt.
Ein Stich um den andern; immer höher häufte sich die Erde am Rande. Manchmal war ich so müde, daß ich glaubte, ich würde umsinken, in die Grube fallen.
Aber vor mir leuchteten im Dunkel die Amethystaugen Eileen Carters. Ich mußte es tun. Und von neuem ergriff ich mit blutwunden Händen die Schaufel.
Endlich – endlich etwas Festes. Ich fürchtete, die Leiche zu verletzen, warf den Spaten hinaus. Arbeitete weiter mit den Händen. Der nasse Schlamm kühlte das rohe, brennende Fleisch.
Etwas stak da hervor. Ich faßte es, zog daran – das schmutzige Sackleinen, in das Carter gehüllt war. Unendlich langsam legte ich den Körper bloß – ein Bein und dann das andre.
Ich ergriff einen Fuß, zog daran. Schrak auf – ich hatte das Empfinden, als würde ich dem Toten ein Bein ausreißen. Stärker dann zog ich, faßte beide Beine, riß sie hoch mit all meinen Kräften. Nun hatte ich den Leichnam losgelöst aus dem Morast. Ich zog die Beine hoch an den Rand der Grube, kletterte hinaus, griff wieder die Füße, zog und zog.
Neben dem Loch lag Phil Carters Leiche. Ich ließ die Beine fallen, verschnaufte einen Augenblick, völlig erschöpft.
»Herr!« jammerte Burton, »Herr!«
»Was gibt's?« fragte ich. Er zeigte stumm auf sein Bein. Ich rückte die Laterne heran, kniete nieder, löste den Verband: Zu einem unförmigen Klumpen war sein Bein aufgeschwollen.
»Hast du ein Messer, Burton?« fragte ich ihn. Er griff in die Tasche, suchte sein Messer, gab es mir. Mit unsäglicher Mühe zerschnitt ich das Leder, zog ihm schließlich den Stiefel vom Fuß. Verband ihm noch einmal den Unterschenkel.
Er sah meine Hände. »Schlimm«, brummte er, »schlimm. Geben Sie mir etwas Schlamm von dem Haufen!«
Ich tat es; er schmierte mir sorgfältig die feuchte Erde über die wunden Handflächen. »Eine Sauarbeit«, fluchte er, »verdammt nochmal! Die Nacht werde ich nie vergessen – mich kann sie das Bein kosten und Sie beide Hände!«
»Dummes Zeug, Burton!« rief ich. »Klapp mir jetzt nur nicht zusammen; die Hauptsache ist getan.«
Ich griff wieder die Füße der Leiche, zog sie an die Kiste heran. Ich sah, wie der Kopf halbgelöst vom Rumpfe, hinten nachschleppte.
»Der Pfahl!« rief Burton. »Sie müssen den Pfahl herausziehn! Sonst kriegen Sie ihn nicht in die Kiste.«
Die Stange war zur Seite gefallen, schleppte nebenher auf dem Boden. Ich machte mich sofort daran, sie herauszuziehn. Es ging nicht, sie saß fest, als ob sie in Eisen stäke.
Ich leuchtete, sah, daß sie ganz durch die Leiche getrieben war.
»Heben Sie die Stange herüber, zu mir her!« rief Burton.
Ich tat, wie er geheißen. Er stemmte den linken Fuß auf den Boden, faßte die Stange, während ich auf der andern Seite kniete und die Leiche festhielt. Wir zerrten und rissen, – es war, als ob der Tote seinen Schandpfahl nicht hergeben wollte.
Die Stange war heraus; Burton riß sie ins Auto. Nun konnte ich die Leiche zur Kiste schleppen. Ich faßte sie an den Schultern, hob sie hoch, warf sie hinein. Zog dann die Kiste heran, schob sie ans Auto.
Nun aber ging es nicht weiter. Es war unmöglich, daß ich allein die schwere Kiste aufs Auto heben konnte.
Ratlos stand ich da in der ersten Dämmerung.
»Herausnehmen!« bestimmte Burton, »nehmen Sie die Leiche heraus!«
Ich tat es, hob sie dann mit seiner Hilfe auf das Auto. Ich wickelte meinen Mantel herum, auch Rock und Weste, band alles fest mit den Stricken. Dann zog ich Burton hinauf.
Ich sprang auf den Fahrersitz, fuhr los, nach Westen zu.
Keinen Menschen trafen wir auf der Landstraße. Dämmrig war es, es schien, als ob es nie Tag werden wollte in diesem trostlosen Märzregen.
Viermal blieb ich stecken. Hinaus aus dem Kasten, und an den Spaten. Fußhoch Dreck wegschaufeln, ankurbeln und weiter.
Die Straße gabelte sich. »Wo hinaus, Burton?« rief ich zurück. Aber ich erhielt keine Antwort.
Ich fuhr aufs Geratewohl – nur die Richtung hatte ich: Westen. Wenn ich auch nicht nach Warwick kam, so mußte ich doch einmal herauskommen aus Rhode Island.
Ich hatte Glück. Ich kam wirklich nach Warwick. Ratterte durch die Stadt, hielt draußen vor dem Bahnhof.
*
Und diesmal wenigstens klappte es. Drei Leute, die Ned Lippincott bestellt hatte, erwarteten mich.
Jetzt erst ließ ich das Steuer los – wollte es loslassen. Doch das ging nicht: Meine Hände waren festgeklebt mit Schmutz und Blut. Ich mußte sie losreißen – scheußlich sahn sie aus.
Aber ich hatte keine Zeit für meine schmerzenden Hände. Ich sprang ab, hielt mich mühsam aufrecht; einer der Männer hing mir seinen Mantel über den nackten Leib. Dann ließ ich das Auto öffnen – da lag Burton, vom Sitz herabgefallen, völlig bewußtlos.
Ich gab sofort meine Befehle. Ließ Burton in Neds Auto hinüberschaffen. Es war nicht leicht, den schweren Mann aufzunehmen, sie nahmen den Pfahl zu Hilfe, der unter ihm lag. – Phil Carters Pfahl. Setzten ihn darauf, trugen ihn hinüber – ganz gut ging's. Einen der Männer schickte ich aus, eine Kiste zu kaufen, auch, nach bester Möglichkeit, neue Kleider zu besorgen. Den anderen ließ ich als Wache auf meinem Auto bei Carters Leiche; den letzten nahm ich als Fahrer auf Neds Wagen. Wir flößten Burton Whisky ein – er kam wieder zu sich, aber nur auf Augenblicke. Ich setzte mich neben ihn, hielt ihn fest auf seinem Sitz, während wir zum Hospital fuhren.
Warwick hat ein gutes Krankenhaus; Gott sei Dank war es nicht weit entfernt. Ich hinterlegte Geld für ihn – dann ging's zurück zum Bahnhof. Mein Mann stand schon da mit einem Packen Kleider; er führte: mich zu der Badegelegenheit des Bahnhofs. Drei Minuten später stand ich unter einer warmen Brause: nie im Leben hab' ich ein Bad so genossen. Der Mann bürstete mir den Schmutz vom Leib; es war unmöglich, daß ich selbst etwas anfassen konnte mit meinen Händen. Die freilich konnte er kaum rein machen; er schmierte mir Zinksalbe darauf, die er eingekauft hatte, umwickelte sie mir notdürftig mit Verbandmull. Dann zog er mich an; komisch genug sah ich in den Kleidern aus, die mir viel zu eng waren. Ich ging hinaus auf den Bahnsteig – da standen die andern mit der Kiste. Prächtig sah sie aus, fest in wasserdichtes Wachstuch eingenäht.
Dann brauste der Zug herein, Ned Lippincott sprang aus einer Tür. Und daneben aus dem Fenster lehnte, tief verschleiert, Eileen Carter.
»Hast du – hast du –?« fragte Ned.
Ich wies nach hinten zum Gepäckwagen; eben schoben seine Leute die Kiste hinein.
Ned ergriff meine Hand – ich schrie auf vor Schmerzen. »Laß los, zum Teufel!« heulte ich.
»Verzeihung«, sagte er; »was hast du denn an den Händen?«
»Fertig!« rief der Schaffner.
»Hilf mir, Ned!« sagte ich. Er schob mich von hinten in den Wagen.
Die Lokomotive zog an, wir fuhren. Auf dem Bahnhof stand Ned – blickte uns nach.
Eileen kam auf mich zu. »Was ist's mit Ihren Händen?« fragte sie.
»Oh, nichts Besonderes«, log ich. »Die Haut ein wenig zerplatzt von der ungewohnten Arbeit.«
Ned hatte für mich einen Platz im Pullmanwagen belegen lassen. Eileen Carter hatte ein kleines Abteil für sich; sie zog sich sofort dahin zurück, kam nicht mehr zum Vorschein, bis wir in New York einliefen. Ich saß in meinem Sessel, starrte in die Regenlandschaft: wie Feuer brannten meine Hände. Nicht einmal »Danke« sagte sie.
*
War in Warwick alles am Schnürchen gegangen, so versagten Neds Vorbereitungen in New York wieder vollständig. Ein Pfarrer sollte uns abholen, unser seltsames Gepäck sollte in Empfang genommen und sogleich besorgt werden. Aber niemand war am Bahnhof, außer meinem Diener, dem ich telegrafiert hatte. So blieb mir nichts andres übrig, als unsere Kiste einstweilen bei der Aufbewahrungsstelle abzugeben. Ich gab Eileen meine Adresse und versprach ihr, daß ich abends in ihrem Hotel, das nicht weit von meiner Wohnung lag, anrufen würde. Dann verabschiedete ich mich.
Ich fuhr zu einem befreundeten Arzt, der mit einer Krankenschwester fast zwei Stunden lang an meinen Händen herumdokterte. Es war kein Vergnügen; ich schwor, daß ich nie im Leben wieder einen Spaten anrühren würde. Übrigens dauerte es vier Wochen, bis ich wenigstens von der linken Hand den Verband abnehmen konnte; bei der rechten dauerte es noch viel länger. Die Andenken freilich trage ich heute noch – immer wieder fragen mich die Leute: »Was haben Sie denn eigentlich mit Ihren Handflächen gemacht?« Ich antwortete dann so von obenhin: »Ach, so ein bißchen Gartenarbeit!«
Am späten Nachmittag kam der Pfarrer zu mir, an den Ned Lippincott geschrieben hatte. Er war sehr freundlich; aber er erklärte rundheraus, daß er, so sehr er auch mit Ned und besonders mit dessen Vater befreundet wäre, doch unter keinen Umständen seinen Wunsch erfüllen könne. Er müsse auf seine strenggläubige Gemeinde Rücksicht nehmen, und es sei sicher, daß er die Bedenken, die einem solchen Begräbnis entgegenständen, bei seinen Gemeindeältesten nicht würde überwinden können. Er gab mir die Adresse einiger anderer Geistlichen, die mir vielleicht helfen könnten.
Früh am andern Morgen machte ich mich an die Arbeit. Aber ich fand bald heraus, daß ich mich geirrt hatte, wenn ich glaubte, daß in dieser Beziehung die Weltstadt New York freigesinnter wäre als das Provinznest Woonsocket. Ich sprach mit einem Pfarrer nach dem andern, lief auf immer neue Friedhöfe, um einen Platz zu bekommen. Tagelang dauerte das; manchmal bekam ich halbe Zusagen, zuweilen glaubte ich schon am Ziele zu sein – jedoch zerschlug sich alles letzten Endes. Ich erstattete stets Eileen Carter Bericht, telefonierte fünfmal am Tage mit ihr, sah sie oft in der Halle ihres Hotels. Immer tiefer verschleiert wie im Zuge.
Aus Woonsocket kamen keine neuen Schwierigkeiten; die Behörden hatten die Spuren meines Leichenraubes sofort beseitigen, die Kiste fortschaffen, die Grube zuschütten lassen. Jedenfalls waren sie froh, allen Weiterungen enthoben zu sein.
Durch Parker kam ich mit dem Direktor des Krematoriums, der mit ihm befreundet war, zusammen. Ich klagte ihm mein Leid und fand Verständnis – er versprach, die Leiche verbrennen zu lassen, sobald ich ihm die Kiste herbeischaffe. Er wies mich an den Geistlichen einer freireligiösen Gemeinde, der mir zusagte, bei der Aufstellung der Aschenurne einige Worte zu sprechen. Freudestrahlend rief ich Eileen an, um ihr die gute Nachricht mitzuteilen; doch bekam ich vom Hotel die Nachricht, daß sie früh nach Rhode Island gefahren sei und erst am nächsten Tage zurückkommen würde. So froh war ich, ihr endlich gute Nachricht bringen zu können, daß ich im Zuge ging, sie abzuholen. Sie traf pünktlich ein; kam gleich auf mich zu, als sie mich sah, schwarz verschleiert, wie immer.
»Wie geht's Ihren Händen?« fragte sie. Und ich glaubte zu hören, daß ihre Stimme zitterte.
»Recht gut!« sagte ich leichthin. »Es ist gar nichts von Bedeutung.«
»Ich weiß, was es ist«, erwiderte sie. »Ich war in Warwick, habe Burton im Krankenhaus besucht.«
»Burton?« fragte ich. »Wie geht's ihm?«
»Es geht ihm besser«, erwiderte sie. »Er wird sein Bein nicht verlieren, aber sicher noch zwei Monate liegen müssen.« Sie schwieg; dann, nach einer Weile fuhr sie fort: »Burton hat mir alles erzählt.« Diesmal war ich ganz sicher: ihre Stimme zitterte.
»Alles?« fragte ich – nur um etwas zu sagen.
»Alles!« betonte sie. »Ned hätte es nie tun können – und ich weiß nicht, wer's getan hätte für mich.«
Auch jetzt kein kleinstes Wörtchen des Dankes.
Wir kamen durch die Sperre; ich brachte sie zu meinem Auto, um sie nach ihrem Hotel zu fahren. Unterwegs erzählte ich, was ich gestern ausgerichtet hatte.
Aber sie lehnte es sofort ab. »Nein«, sagte sie fest, »das kann nicht sein. Mein Vater hätte sich nie verbrennen lassen, hätte auch nie einen freireligiösen Prediger geduldet.«
»Was soll ich denn machen?« entfuhr es mir.
»Sie müssen einen christlichen Geistlichen finden und einen christlichen Friedhof«, erklärte sie mir. »Sie haben Schwieriges für mich getan, und Sie müssen auch dies tun! Sie müssen Ihr Werk zu Ende führen.«
Sie rückte ihren Schleier zurecht – eine Sekunde lang traf mich ihr tiefblauer Blick.
»Ich werde es tun«, sagte ich.
Als ich mich am Hotel von ihr verabschiedete, rief sie mich zurück. »Oh – ich vergaß!« sagte sie, gab mir einen Gepäckschein. »Wollen Sie das besorgen für mich? Und gleich herbringen?«
Ich fuhr also zurück zum Bahnhof, ließ mir das Gepäck herausgeben. Eine Golftasche war es – nichts sonst. Ich ärgerte mich: Damit hätte sie, weiß Gott, einen Hoteljungen beauftragen können.
Sie saß in der Halle, wartete auf mich. Ich gab ihr die Tasche – jetzt erst fiel mir auf, daß keine Golfstöcke oben herausstaken. Sie nestelte die Schnur auf. »Burton gab mir das«, sagte sie.
»Burton?« fragte ich. Was konnte der ihr schenken? Sie öffnete die Golftasche, griff hinein. Da war, in drei Teile zersägt, die Stange!
»Mein – Erbteil!« sagte sie. »Ich will es aufbewahren. Burton meinte, daß es für mich Bedeutung habe und für sonst niemand in der Welt.«
Sie ging zum Fahrstuhl, still und ruhig, nahm die Tasche mit. Diese Tasche, die ihr einziges Erbe enthielt: den Pfahl aus ihres Vaters Herzen!
Welch eine Frau!
*
Noch an demselben Tage machte ich mich von neuem an die Arbeit. Ich glaube, daß es keinen Menschen in New York gibt, der so viel Ehrwürdige Herrn kennengelernt hat wie ich – und so viel über sie geflucht hat. Endlich fand ich doch einen, der mir half.
Es war der Pastor des Deutschen Seemannsheimes. Er kannte wie all die andern den Fall natürlich aus den Zeitungen; ich setzte ihm auseinander, daß ich schon beim vierten Dutzend angelangt sei, aber von jedem der Herrn Pfarrer nur Absagen bekommen hätte. Er lächelte, nahm aber seine Amtsbrüder in Schutz – sie müßten eben Rücksicht auf ihre Gemeinden und namentlich auf die Ältesten nehmen. Bei ihm sei das nicht so schlimm – seine Seeleute würden es nicht so genau nehmen.
Diesmal nahm ich mich in acht, hütete mich wohl, Eileen Carter zu sagen, daß der Mann ein Deutscher war. Ein Deutscher – vielleicht würde sie erklären, daß ein Deutscher kaum ein Christ zu nennen sei, würde mich von neuem auf die Pastorenjagd schicken.
Ein kleiner Friedhof, ärmlich genug. Aber es war ein richtiger Sarg da, in dem nun Phil Carter lag, und ein richtiges Grab und ein richtiger Geistlicher, der christlich sprach und christlich betete. Nur Eileen Carter war dabei und ich mit ihr; wir warfen Blumen auf den Sarg, als er hinabgelassen wurde.
Sie kniete nieder am Grabe und betete; ich wußte nicht recht, was ich machen sollte, kniete schließlich neben ihr hin. Dann stand sie auf, schüttelte dem braven Geistlichen die Hand und bedankte sich. Es war ihr ernst damit, ihr Herz quoll über – der bescheidene Pfarrer wußte kaum, was er antworten sollte.
Für mich noch immer kein Wort des Dankes.
Mir gab sie nicht die Hand – noch nicht einmal hatte sie mir die Hand gegeben.
Sie stieg in ihr Auto, fuhr allein nach Hause.
*
Zwei Wochen lang hörte ich nichts von ihr. Dann rief sie mich an, fragte, ob sie mich besuchen dürfte. Ich bat sie, zum Tee zu kommen.
Ich benahm mich an diesem Nachmittag wie ein junger Tolpatsch, der zum erstenmal seine Angebetete bei sich erwartet. Ich kaufte Blumen, stellte sie hierhin und dorthin. Ich rückte an den Möbeln herum, hängte Bilder grade – obwohl mir das alles mit den verbundenen, ständig schmerzenden Händen schwer genug fiel. Ich schickte den Diener weg, stand am Fenster, blickte auf die Straße – lauerte auf jedes Auto.
Sie kam, und ich öffnete ihr. Ich bat sie, abzulegen, half ihr, den Pelz abnehmen, Schleier und Hut. Beim Aufhängen machte ich eine ungeschickte Bewegung, die rechte Hand tat so weh, daß ich den Pelz fallen ließ und leise aufschrie. Sie bemerkte es sofort, nahm den Pelz auf.
»Noch nicht besser mit den Händen?« fragte sie.
»O doch, doch!« rief ich. »Das ist fast ganz in Ordnung!«
Ich führte sie ins Wohnzimmer, sie gab nun acht, daß ich nichts anrührte mit den Händen. Sie schloß die Tür, sie schob sich selbst den Sessel zurecht. Duldete nicht, daß ich die Teekanne nahm, füllte selbst die Tassen, gab Zucker hinein. Tat das alles so natürlich, so selbstverständlich, als ob sie seit Jahren daheim wäre in diesen Räumen.
Nichts sprach ich, nur ihre Augen starrte ich an.
Sie lehnte sich zurück in ihrem Sessel, trommelte mit der Hand auf der Lehne. Bog sich dann leicht vor, mir entgegen – voll sah sie mich an.
»Ich bin gekommen, meine Schuld zu bezahlen«, sagte sie still.
Ich begriff nicht, was das sollte. Den Pfarrer, den Begräbnisplatz hatte sie selbst bezahlt. Wollte sie mir die kleinen Auslagen zurückerstatten, sollte ich ihr aufschreiben, was ich für Autos und Trinkgelder ausgegeben hatte?
Aber sie ließ mich nicht im Zweifel. »Ich will meinen Preis bezahlen«, wiederholte sie. »Mein Vater hat bezahlt, was er schuldig war – im Leben und noch im Tode. Ich bin wie er; ich will nichts umsonst. Will keine – Wohltätigkeit. Ich habe Rogers bezahlt und Ned Lippincott ...«
Sie schwieg. Nur eine kleine Bewegung machte sie, die aber war bezeichnend genug – sie nahm ihre Halskette ab, diese armen schwarzen Jettperlen, legte sie vor sich auf den Tisch.
»Ned hat mich betrogen«, fuhr sie fort, »wie Rogers mich betrog. Sie haben mich nicht im Stich gelassen – Sie nicht. Und also – darum kam ich her.«
Ich begehrte diese Frau wie nie eine andre, nie zuvor und nie später. Ich sog den Trank ihrer Augen in mich hinein, wie die Lenzerde den Mairegen trinkt. Meine Fingerspitzen sehnten sich, ihre Haut zu berühren, leise über ihre roten Locken zu streicheln. Meine Blicke streiften das Kleid von ihr ab, dieses schlechte Trauerkleid einer kleinen Schneiderin aus Woonsocket; ich sah ihre jungen, vollen Brüste, ihre schlanken Hüften ...
Ein kleines Wort nur sollte ich sagen.
Und ich sagte das andre Wort. Sprach ein »Nein« und kein »Ja«. Still und tonlos, unhörbar fast: »Nein!«
Ganz unbewußt war das; nicht ein bißchen verstand ich in jenem Augenblick, warum ich das sagte. Es quälte mich maßlos – und sicher verstand sie, wie ich litt.
Sie sah mich an – ein schnelles Lächeln, als ob sie plötzlich begreife, was in mir vorgehe. Und, ganz langsam, sagte sie: »Die Hände, Herr? Ihre armen Hände! Ich will warten, bis sie gesund sind. Rufen Sie mich, Herr – wann immer Sie bereit sind.«
Sie stand auf, nahm ihre Kette, gab sie wieder um den Hals – es war, als ob sie, die Nackte, nun sich wieder ankleide von Kopf bis zu den Füßen.
Meine Hände, mein Gott, meine Hände! Ich hatte so wenig an sie gedacht wie an die große Schaukel von Coney Island! Hatte so völlig meine Wunden vergessen, daß ich Eileen hochgerissen hätte, fest gefaßt, aufgehoben und getragen dorthin zur Lagerstätte – auf meinen Händen.
Und diese Frau glaubte, daß ich darum das ablehne, was sie mir brachte! Daß ich diese Stunde verschieben wolle – um eine Woche, einen Monat vielleicht! Daß ich meinen Preis genau verlangte und ohne Abzug, den vollen Genuß ihres Leibes und nicht den halben!
Blut drang mir heiß ins Hirn. Ich sprang auf.
»Madame«, sagte ich, »Sie haben mich mißverstanden. Ich warte nicht darauf, daß die Hände heil sind. Ich pflege ...«
Das wollte ich sagen: »Ich pflege meine Frauen nicht zu kaufen! Für Geld nicht – und für nichts andres!« Ich sagte es nicht, stand stumm in dem Glanz ihrer Augen.
Nach einer Weile sprach sie: »Dann soll ich gehn?«
Ich dachte flehend: »Bleib, bitte, bitte, bleib! Fühlst du denn nicht, wie sehr ich mich nach dir sehne? Bleib, bleib – heute und immer!«
Kein armes Wörtchen sprach ich. Sie mußte das Wort finden – sie allein, Eileen.
Sie wiederholte: »Dann also muß ich gehen ...«
Und sie ging, Eileen Carter. Ging aus dem Zimmer, ließ die Tür weit auf.
Ich fühlte – du sollst ihr nachkommen, sollst sie zurückholen.
Aber ich blieb stehn, rührte mich nicht. Hörte ihre Schritte auf dem Flur, hörte, wie sie Hut nahm und Pelz. Hörte, wie sie die Flurtür aufmachte, hinter sich schloß.
Dann, dann erst schluchzte ich auf: »Eileen ...!«
*
Hundertmal hab' ich mir das durchdacht, alles hingewendet und her. Heute weiß ich genau, was ich hätte sagen sollen – damals.
Weiß auch, daß ich's nie hätte sagen können, damals nicht noch heute.
Ich begreife ja alles recht gut. Verstehe sie, verstehe mich – was soll das nun nützen?
Dumm und jung war sie, Puritanertochter aus Rhode Island. Ein Telegramm bekam sie: ihr Vater sei tot. Fuhr heim, hörte vom Selbstmord. Und Rogers, ihres Vaters alter Freund, machte ihr gründlich klar, was nun geschehn könne. Geschehn würde, wenn er nicht helfe. Doch er würde helfen – wenn sie ihn heirate. Ratlos, ohne Verwandte und Freunde, ohne jedes Vermögen, willigte sie ein. Brachte sich als Opfer dem Gedenken ihres Vaters, getreu ihrer Erziehung, getreu der Überlieferung der Familie, fest überzeugt, daß nur Rogers helfen könne und nur er allein.
Rogers versagte; das grausame Gesetz griff mit gierigen Klauen die Leiche des Vaters. Mag sein, daß der ihr herzlich gleichgültig war, solange er lebte – nun aber stand sie fest zu dem Toten. Was auch geschehn möge, sie mußte ihn haben. Sie suchte, suchte: Ned Lippincott fiel ihr ein; ihn ließ sie rufen. Sie erzählte ihm alles, fand ihn bereit. Sie gab sich ihm, wie sie sich Rogers gab, ratlos, hilflos, doch sofort entschlossen in rücksichtslosem Kampf um den toten Vater.
Zu mir kam sie, als Ned versagte – und mir gelang es. Was ich tat, erschien ihr in hellstrahlendem Lichte; dafür hatte Burton gewiß gesorgt! Fast ein Held schien ich ihr.
Sie versprach mir, was sie Rogers gab und Ned Lippincott. Das einzige, was sie hatte – sich selbst! Und sie glaubte, daß ich darum für sie arbeitete wie die beiden andern. Es war ein ehrlicher Vertrag – deshalb brauchte sie nicht »Danke« zu sagen noch obendrein.
Natürlich hatte sie recht, zehnmal recht! Nur begriff ich's nicht, verstand damals gar nicht, was sie wollte. Faßte es erst, als sie zu mir kam – ihre Schuld zu bezahlen.
Und da ließ ich sie von mir gehn. Wies sie ab, in kindischer Eitelkeit ...
Oh, ihr blauen, seligen Blicke! Und vermochten doch, damals, nicht die Hornhaut zu schmelzen, in der ich stak!
Erziehung, Tradition der Jahrhunderte –
Ich armseliger Narr! Der sich verletzt fühlte und beleidigt war! Und darum sie nun beleidigte und erniedrigte.
Erbärmliche Wochen folgten. Ich konnte sie nicht vergessen, glaubte immer, daß sie wiederkommen würde. Erwartete ihren Anruf oder ein Schreiben.
Nichts kam. Und ich ging nicht zu ihr, klingelte sie nicht an, schrieb ihr nicht.
Dann reiste ich für die Central-Trust nach Europa. Fünf Monate war ich drüben. Als ich wiederkam, hörte ich, daß sie in »Ziegfeld Follies« aufträte – in der zweiten Reihe, hinter den Ponies. Hörte ihres Leibes Preis singen von Richardson und von Parker, von Backhaus und Fairchilds und Joe Sellmann. Von denen und manchen andern in Wallstreet: Eileen Carter war große Mode geworden.
Sie wollte ihren Weg machen, und sie machte ihn. Mit dem einzigen Kapital, das sie hatte.
Ich traf sie wieder auf Elmer G. Warrens Fest, am Riverside-Drive. Traf sie dann, als sie Klaus Steckeis, des alten Zuckerkönigs, Frau war, unter dem Wetterdach der Oper in Chikago. Und nun, nach zehn langen Jahren – hier in Cannes.
Dreimal traf ich sie – und es war jedesmal dasselbe. Sie starrte mich an, zog mich hin zu sich, ließ mich dann stehn wie einen Fremden. Wann, wann wird sie kommen – Eileen Carter?
*
Ich fuhr auf – jemand klopfte an die Tür. Ich lauschte, ich hatte mich nicht geirrt: Es klopfte wieder, laut und energisch. Ich ging zur Tür, öffnete: Ein Stubenmädchen stand da, in schwarzem Kleid mit weißer Schürze und Haarschleife. Sie nannte meinen Namen, und ich ließ sie eintreten.
»Was wollen Sie?« fragte ich.
Ihr Gesicht blieb ruhig, doch war ein Lächeln in den verschmitzten Augen. »Ich bin Lady Broughams Kammerjungfer«, sagte sie. »Ich soll Ihnen das abgeben, ehe Sie abreisen.«
Sie legte, in braunes Papier gewickelt, ein kleines Paketchen auf den Tisch.
»Das ist alles?« fragte ich.
»Alles!« nickte sie. Knickste, ging hinaus.
Meine Hände zitterten, als ich das Papier abnahm. Was hatte sie mir zu sagen, Eileen – Lady Brougham?
Ein französisches Buch, wie all die andern mit dem häßlichen gelben Umschlag. Ich schlug es auf: ein Roman von Stendhal. Vielleicht hatte sie etwas hineingeschrieben! Ich wendete die Seiten um: nichts stand da.
Das Buch war aufgeschnitten. Stendhal also las sie, Stendhal, dem die Liebe nichts war als Mathematik. Algebra. Lehre von Gleichungen: a² + b² - 2 bc cos x = c²!
Wie ihr, wie Eileen Carter!
Ich legte das Buch auf den Tisch, sah hinten ein Zeichen stecken. Griff es wieder auf, schlug die Seite auf. Da las ich, an den Rand gekritzelt, die Worte: »Das weiß ich jetzt, daß Sie mich wollten – damals und immer und heute noch!«
Das war alles. Aber zwei Zeilen waren angestrichen am Rande: »Eh, mon dieu, pourquoi ne me l'avez vous pas dit? Vous m'auriez eue comme tous les autres!«
Wie all die andern! Wie Barett S. Rogers und Ned Lippincott, wie Elmer G. Warren und Klaus Steckeis und der Earl von Brougham! Wie die und – alle die andern!
Nie, niemals würde ich das unbekannte X finden, niemals die Gleichung lösen!
Meine Gleichung ...
*
Nun, denke ich, bin ich endlich fertig mit dieser Frau. Nie wird etwas sein zwischen ihr und mir. Nie wird sie kommen – und wenn die Hölle zufriert, wird Eileen nicht kommen.
Und dennoch träume ich von amethystenen Augen. Träume von Eileen Carter.