E. T. A. Hoffmann
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E. T. A. Hoffmann

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Die Genesung

Fragment aus einem noch ungedruckten Werke

Ich begab mich in den entlegenen, wildverwachsenen Teil des Waldes, wo ich den wunderlichen Baum mit seinen halb verdorrten, halb grünen Ästen und seinen malerischen Laubgruppen angetroffen hatte, um ihn so, wie er leibt und lebt, in mein Malerbuch einzutragen. Schon hatte ich meine Mappe zurechtgelegt, den Krayon gespitzt und mich in die gehörige Positur gesetzt, als durch das dicke Gebüsch ein herrschaftlicher Wagen rasselte. Mit Mühe bahnten sich die Pferde Schritt vor Schritt einen Weg durch das wilde Gestrüpp, und es schien in der Tat ein seltsamer Einfall der Fahrenden, gerade außer Weg und Steg den von hundert anmutigen Wegen durchschnittenen Wald aufs neue ohne Not durchbrechen zu wollen.

Endlich, als die Pferde weder vor- noch rückwärts kommen zu können schienen, hielt der Wagen, – der Schlag öffnete sich, und hinaus stieg ein junger, sauber in Schwarz gekleideter Mann, den ich, als er aus dem dicken Gestrüpp heraustrat, für den jungen Doktor O . . . erkannte.

Er sah aufmerksam umher und schien offenbar sich überzeugen zu wollen, daß niemand in der Nähe sei. Es wollte mich bedünken, als habe sein Wesen etwas besonders Ängstliches, als sei sein Blick seltsam, wirr und unstet. Ich schäme mich jetzt meiner Torheit; der unheimliche Schauer irgendeiner Untat, deren ich in dem Augenblick den guten, harmlosen Doktor O . . . für fähig hielt, durchdrang mich, und ich kam mir stolzerweise mitsamt meinem Malerbuch voll verfehlter Skizzen vor wie die rächende Nemesis, die im Finstern schleicht, gleich mir hier unter den dickbelaubten Bäumen.

Doktor O . . . ging zum Wagen zurück – der Schlag wurde aufs neue geöffnet, und hinaus schlüpfte eine junge Dame, so schön, so schlank, so anmutig, so malerisch in einen Shawl gewickelt, als nur jemals eine junge Dame in dem zierlichsten, rührendsten Roman in der Einsamkeit aus dem Wagen geschlüpft und die Lunte eines rasselnden, zischenden, knallenden Feuerwerks von hundert wunderbaren Abenteuern entzündet hat. Du kannst denken, wie ich in der höchsten Spannung durch das dicke Gebüsch schlich, um dem Paar näher zu kommen und mir von ihrem Beginnen nicht das mindeste entgehen zu lassen. Ich hatte mich hinter ihren Rücken manövriert und hörte jetzt den Doktor sagen: »Ich habe hier einen Platz ausgemittelt, der zu unsern Zwecken nicht günstiger sein kann. Es steht hier ein wunderbarer Baum, dessen Fuß Rasen umgeben; ich selbst habe schon gestern einige Rasenstücke ausgestochen und eine ganz stattliche Rasenbank zustande gebracht. Die ausgehöhlte Stelle ist einem Grabe gleich, und so ist schon symbolisch angedeutet, was wir hier beginnen wollen: Tod und Auferstehung.« –

»Ja«, wiederholte die Dame mit herzzerschneidender Wehmut, indem sie des Doktors Hand ergriff, der sie feurig an die Lippen drückte, »ja, Tod und Auferstehung!« –

Mir starrte das Blut in den Adern – unwillkürlich entfloh mir ein leises Ach! Der Satan hatte sein Spiel – die Dame drehte sich um – meine werte Figur stand dicht vor ihr! Vor Erstaunen hätte ich in die Erde sinken mögen. – Niemand anders war die Dame als das liebenswürdigste Mädchen in B . . ., das Fräulein Wilhelmine von S . . . Auch sie schien vor Schreck und Staunen sich kaum aufrecht halten zu können – sie schlug die Hände zusammen und rief ganz zerknirscht: »Um Gott, o mein Leben! Wie kommen Sie hierher, Theodor, an diesen ungelegenen Ort, zu dieser ungelegenen Stunde!«

Die rächende Nemesis mit der Malermappe fiel mir wieder ein, und ich sprach mit einem gewichtigen Ton, wie ungefähr Minos oder Rhadamanthus ihre Sprüche verkünden mögen: »Es kann sein, mein sehr wertes und bis zu dieser Minute hochgeachtetes Fräulein, daß ich Ihnen sehr ungelegen komme; doch vielleicht sind es die Schicksalsmächte selbst, die mich hierherbrachten, um irgendeine ruchlos –«

Der Doktor ließ mich nicht vollenden, sondern fiel mir zürnend in die Rede, indem seine Wangen sich entflammten: »Du bewährst dich wieder heute in deiner alten Rolle, nämlich als Eulenspiegel.«

Damit nahm er das Fräulein bei der Hand und führte sie zu dem Wagen zurück, an dessen geöffnetem Schlage sie stehenblieb.

Der Doktor kehrte zu mir, der ich ganz verblüfft dastand und nicht wußte, was ich sagen, was ich denken sollte, wieder zurück, indem er sprach: »Laß uns dort auf jenem abgehauenen Baumstamm Platz nehmen, denn es sind mehr als zwei Worte, die ich dir zu sagen habe.

Du bist ja in dem Hause des Geheimen Rats von S . . . bekannt. Du besuchst seine großen Tees, wo sich hundert Personen die Köpfe zerstoßen, hin und her rennend, ohne daß ein einziger weiß, was er eigentlich will, in denen ein langweiliges, insipides Gespräch, kaum genährt von den kärgsten Mitteln, durchhilft, bis es doch am Ende, nachdem die unglücklichen Bedienten, von allen Seiten gedrängt, mehrere honette Personen mit Wein begossen und diverse Torten dagegen unversehrt die Runde gemacht haben, dennoch eines schmählichen Todes stirbt.«

»Wart'«, unterbrach ich den Doktor, »wart', daß dich Lästerzunge nicht die Frau von H . . . hört und dich aus Rache, weil sie selbst an ihre Tees denken muß, bei der Frau von S . . . verklagt, die sofort den Bann über dich aussprechen und dich von ihren Tees gänzlich exkludieren würde. Und wer eilt denn, als hinge das Glück des Lebens davon ab, zu jedem dieser insipiden Tees? Wer benutzt sorglich jede Gelegenheit, das S . . . sche Haus zu besuchen? – Ei, ei, mein Freund, ich merke was, die schöne Wilhelmine –«

»Lassen wir das«, sprach der Doktor, »und merken wir, daß dort im Wagen sich Personen befinden, die auf das Ende unsers Gesprächs nur zu begierig warten. Mit zwei Worten, die Familie des Geheimen Rats von S . . . ist seit undenklicher Zeit eine durchaus hochadelige; kein einziges Glied, vorzüglich männlicherseits, war aus der Art geschlagen. Um so entsetzlicher mußte es dem Vater des Herrn Geheimen Rats von S . . . sein, als sein jüngster Sohn, Siegfried geheißen, wirklich der erste war, der aus der Art schlug. Alles künstliche Überbauen half nicht; ein tiefes, herrliches Gemüt machte sich Platz, selbst unter den hochadeligen Gemütern. Man spricht allerlei. Viele sagen, Siegfried habe wirklich an einer Geisteskrankheit gelitten; ich kann es nicht glauben. – Genug, der Vater hielt ihn eingesperrt, und nur des Tyrannen Tod gab ihm die Freiheit.

Dies ist nun der Onkel Siegfried, den du in der Gesellschaft bemerkt haben mußt, wie er mit diesem oder jenem Gelehrten, den er aufgesucht und gefunden, geistreiche Worte wechselt. Die vornehmen Herren behandeln ihn zuweilen sichtlich als bloß toleriert, welches er ihnen in solch reichlichem Maße erwidert, daß sie besser täten, davon abzustehen. Wahr ist es, daß er sich zuweilen, vorzüglich wenn sein Geist auf Dinge geriet, in denen man guttut, die alte Mönchsphilosophie zu befolgen, nach welcher es ratsam, die Welt gehen zu lassen, wie sie geht, und von dem Herrn Prior nichts zu reden als Gutes, viel zu sehr von dem Feuer wahrhaftiger Überzeugung hinreißen läßt, so daß die diplomatischen Herren nicht selten mit angekniffenen Ohren und zugedrückten Augen erschrocken in die entferntesten Winkel des Saales fliehen. Niemand als Fräulein Wilhelmine wußte ihn dann so geschickt zu umkreisen, daß er sich stets nur bei den vertrautesten Freunden befand und sehr bald den Saal verließ.

Vor einigen Monaten wurde der arme alte Onkel Siegfried von einer schweren Nervenkrankheit befallen, aus der ihm eine fixe Idee zurückblieb, die, da sie feststeht, nachdem der Körper gesund ist, in wirklichen Wahnsinn ausgeartet. Er bildete sich nämlich ein, die Natur, erzürnt über den Leichtsinn der Menschen, die ihre tiefere Erkenntnis verschmähten, die ihre wunderbaren, geheimnisvollen Arbeiten nur für ein reges Spiel zu kindischer Lust auf dem armseligen Tummelplatz ihrer Lüste hielten, habe ihnen zur Strafe das Grün genommen. In ewige schwarze Nacht sei nun der sanfte Schmuck des Frühlings, die sehnsüchtige Hoffnung der Liebe, das Vertrauen der wunden Brust, wenn der junge Sonnengott die zarten Keime aus ihren Wiegen lockt, daß sie als fröhliche Kinder emporsprossen und grünen – grüne Büsche und Bäume werden, im Flüstern und Rauschen die Liebe der Mutter, die sie selbst an ihrer Brust nährt und pflegt, mit süßer Stimme preisend.

Dahin ist das Grün, dahin die Hoffnung, dahin alle Seligkeit der Erde; denn verschmachtend, weinend verschwimmt das Blau, das alles mit liebenden Armen umschloß. Alle Mittel, dieser Idee zu widerstehen, blieben vergebens, und du kannst denken, daß der Alte der trostlosen, verderblichen Hypochondrie, welche natürlicherweise diese Idee mit sich bringt, zu erliegen drohte. Ich geriet auf den Gedanken, auf ganz eigene Weise, zur Heilung des Wahnsinnigen, den Magnetismus anzuwenden.

Fräulein Wilhelmine ist des Alten Herzblatt, und ihr allein gelang es, in schlaflosen Nächten dadurch einigen Trost in seine Seele zu bringen, daß sie, wenn er im halben Schlummer lag, leise – leise von grünen Bäumen und Büschen sprach und auch wohl sang. Es waren vorzüglich jene schönen Worte Calderons, womit in der ›Blume und Schärpe‹ Lisida das Grün preist, und welche ein kunstfertiger, fein empfindender Freund in Musik gesetzt hat. Du kennst das Lied:

In der grünen Farbe glänzen,
Ist die erste Wahl der Welt,
Und was lieblich dar sich stellt! –
Grün ist ja die Tracht des Lenzen,
Und man sieht, um ihn zu kränzen,
Keimend aus der Erde Grüften,
Ohne Stimmen, doch in Düften
Atmend, in den grünen Wiegen
Buntgefärbte Blumen liegen,
Welche Sterne sind den Lüften.

Die Methode, das dem Schlafe vorhergehende Delirium, das schon an und für sich selbst dem magnetischen Halbschlafe sehr nahe verwandt, dazu anzuwenden, in die Seele des beunruhigten Kranken beschwichtigende Ideen zu bringen, ist nicht neu. Irr' ich nicht, so bediente sich schon Puysegur ihrer. Du wirst aber nun gleich sehen, von welchem Hauptschlag meiner Kunst ich die völlige Genesung des Alten zu erlangen hoffe.« –

Der Doktor stand auf, schritt auf Fräulein Wilhelmine zu und sprach ein paar Worte. Dann folgte ich dem Doktor, und schwer mußte es mir in der Tat nicht fallen, mich mit der seltsamen Ungewöhnlichkeit des Auftrittes darüber zu entschuldigen, daß ich geblieben und in gewisser Art den Lauscher gemacht.

Wir gingen nun an den Kutschenschlag – ein junger Mann stieg aus, und bald trug dieser, mit Hilfe des Doktors und des mitgekommenen Jägers, den schlummernden Alten zu dem seltsamen Baum in der Mitte des Platzes und legte ihn sanft in bequemer Stellung auf die Rasenbank, die, wie der geneigte Leser es weiß, der Doktor mit eigner kunstgeübter Hand errichtet hatte.

Der Alte bot durchaus einen rührenden, herzerhebenden Anblick dar. Seine große, schöne Gestalt war in einen langen Überrock von silbergrauem, leichtem Sommerzeuge gekleidet, und er trug ein Mützchen von demselben Zeuge auf dem Haupte, unter dem nur sparsam ein paar weiße Löckchen hervorblickten. Sein Gesicht, unerachtet die Augen geschlossen, hatte einen unbeschreiblichen Ausdruck der tiefsten Wehmut, und doch war es, als sei er in seligen Hoffnungsträumen entschlummert.

Fräulein Wilhelmine setzte sich an das Hauptende der Rasenbank, so daß, wenn sie sich über das Antlitz des Alten beugte, ihr Atem seine Lippen berührte. Der Doktor nahm Platz auf einem mitgebrachten Feldstuhl vor dem Alten, so wie es die magnetische Operation zu erfordern schien. Während nun der Doktor sich mühte, den Alten auf die sanfteste Weise aus dem Schlafe zu bringen, sang das Fräulein Wilhelmine leise:

»In der grünen Farbe glänzen,
Ist die erste Wahl der Welt usw.«

Der Alte schien den Duft des Gesträuchs, der Bäume, der vorzüglich stark war, da die Linden in voller Blüte standen, mit unendlicher Wonne einzuatmen. Endlich schlug er mit einem tiefen Seufzer die Augen auf und starrte um sich, doch, wie es schien, ohne einen Gegenstand deutlich ins Auge fassen zu können. Der Doktor zog sich leise zur Seite. Das Fräulein schwieg. Der Alte lallte kaum verständlich: »Grün!«

Da ließ es die ewige Macht des Himmels geschehen, daß eine besondere anmutige Gunst des Schicksals die Liebe des Fräuleins lohnte und die Bemühungen des guten Doktors unterstützte. In dem Augenblick, als der Onkel das Wort: »Grün!« lallte, fuhr nämlich ein Vogel tirilierend durch die Äste des Baums, und von dem Flattern seines Gefieders brach ein blühender Zweig und fiel dem Alten auf die Brust.

Da erwachte die Röte des Lebens auf dem Antlitze des Alten. Er erhob sich und rief begeistert mit emporgerichteten Augen: »Himmelsbote, seliger Himmelsbote, bringst du mir den Ölzweig des Friedens, bringst du mir das Grün, bringst du mir die Hoffnung selbst? Sei gegrüßt, du Hoffnung; ströme über in sehnsüchtiger Lust, blutendes Herz!« –

Plötzlich schwächer werdend, lispelte er kaum hörbar: »Das ist der Tod« und sank auf die Rasenbank, von der er sich zur sitzenden Stellung kräftig erhoben, wieder zurück. Der junge Gehilfe des Doktors flößte ihm etwas Äther ein, und während Fräulein Wilhelmine aufs neue sang:

»In der grünen usw.«

schlug der Alte die Augen auf und schaute nun mit bestimmtem Blick in der Gegend umher. »Ha«, sprach er dann mit ungewisser Stimme, »in der Tat, dieser Traum neckt mich auf besondere Weise.«

Es lag etwas von bitterm Hohn in den Worten des Alten, der nach dem, was vorausgegangen, um so entsetzlicher erschien. Tief ergriffen, stürzte Fräulein Wilhelmine bei der Rasenbank nieder, faßte beide Hände des Alten, benetzte sie mit Tränen und rief mit der schmerzlichsten Wehmut: »O! mein teuerster, bester Onkel, nicht jetzt neckt Sie ein Traum, nein, ein böses – böses Gespenst hielt Sie in entsetzlichen Träumen wie in schweren Ketten gefangen. O Himmelsfreude! die Ketten sind gesprengt – Sie haben, bester, teuerster Vater, Ihre Freiheit wieder; o! glauben, glauben Sie daran, das heitere, rege Leben lacht Sie an mit aller süßen Hoffnung, im schönsten Schmelz des Grüns!«

»Grün!« rief der Alte mit dröhnender Stimme, indem er starrer um sich schaute. Nach und nach schien er die Gegenstände bestimmter zu unterscheiden und seinen Blick besonders auf gewisse Bäume und Büsche zu heften.

»Onkel Siegfried hat«, lispelte mir der Doktor ins Ohr, »Onkel Siegfried hat diesen Ort schon seit vielen Jahren besonders geliebt und in tiefer Einsamkeit besucht. Vorzüglich mag der wunderbare Baum auch seinen Hang zu wunderlichen Kombinationen naturhistorischer Erscheinungen geweckt und ihn dieser romantische Platz auch von der Seite besonders interessiert haben.«

Noch immer saß der Alte, um sich schauend; doch immer weicher und weicher und wehmütiger wurde sein Blick, bis ein Tränenstrom ihm aus den Augen stürzte. Er faßte mit der Rechten Wilhelminens, mit der Linken des Doktors Hand und zog sie heftig neben sich auf die Rasenbank nieder.

»Seid ihr es, Kinder!« rief er dann mit einer Stimme, deren Seltsamkeit, beinahe Schauer erregend, ein unheimlich verstörtes Gemüt zu verkünden schien, welches sich selbst bekämpft und zu sammeln versucht, »seid ihr es wirklich, meine Kinder?«

»O! mein bester gütigster Onkel«, sprach Wilhelmine beschwichtigend, »ich halte Sie ja in meinen Armen – Sie sind ja hier an einem Platz des Waldes, den Sie stets so liebten – Sie sitzen ja unter dem selt–«

Auf einen Wink des Doktors stockte Wilhelmine und fuhr dann nach beinahe unmerklicher Pause fort, den Lindenzweig erhebend: »und dieses Zeichen des Friedens, halten Sie es jetzt nicht in Händen, teuerster Onkel?«

Der Alte drückte den Zweig an seine Brust und schaute mit Blicken umher, die jetzt erst Lebenskraft und eine gewisse unnennbare, verklärte Heiterkeit zeigten. Der Kopf sank ihm auf die Brust, und er sprach viele leise Worte, die jedem der Umstehenden unverständlich blieben. Dann aber sprang er mit wilder Vehemenz von der Rasenbank auf, breitete beide Arme aus und rief, daß der Wald von dem Tone seiner Stimme widerhallte:

»Gerechte, ewige Macht des Himmels, bist du es selbst, die mich an ihre Brust ruft? Ja, es ist das herrliche, rege Leben, das mich umgibt, das meiner Brust zuströmt, so daß alle Poren sich öffnen und Raum geben dem seligsten Entzücken!

»O! Kinder, Kinder, welche Zunge singt das Lob, den Preis der Mutter würdig genug! O! Grün, Grün! mein mütterliches Grün! Nein, ich allein war es, der trostlos vor dem Throne des Höchsten lag – nie hast du der Menschheit gezürnt! Nimm mich auf in deine Arme!«

Es war, als wollte der Alte rasch vorwärts schreiten, doch knickte er im jähen Krampf zusammen und sank leblos nieder. Alle erschraken heftig; keiner aber wohl mehr als der Doktor, der befürchten mußte, daß seine gewagte Kur auf entsetzliche Weise mißlingen könne. Doch nur wenige Sekunden war der Alte mit Naphtha und Äther bedient worden, als er die Augen wieder aufschlug. Und nun begab sich das Merkwürdigste, was niemand, und am allerwenigsten der Doktor, hatte vermuten können.

Von Wilhelminen und dem Doktor umfaßt, ließ der Alte sich auf dem schönen Platze herumführen, und immer ruhiger, immer heiterer wurde sein Antlitz, sein ganzes Benehmen, und es war herrlich, wie eine klare Phantasie, ein heller Verstand immer mehr siegend hervorbrach.

Auch mich bemerkte der Baron und zog mich ins Gespräch. Endlich fand der Baron, daß für die erste Ausfahrt nach so langer Nervenkrankheit nun genug Zeit vergangen, und man begab sich auf den Rückweg.

»Es wird schwer halten«, sprach der Doktor leise zu mir, »den Schlaf von ihm abzuwehren; aber ich werde alles anwenden, zu verhüten, daß er um des Himmels willen nicht schlafe. Wie leicht könnte dieser Schlaf einen feindseligen Charakter annehmen und dem Alten alles, was er sah und empfand, wiederum als Traum verschwimmen lassen.«

 

Einige Zeit nachher hatte sich im Hause des Geheimen Rats von S . . . eine große Veränderung zugetragen. Onkel Siegfried war völlig von seiner Krankheit genesen, und seltsam genug schien es, daß er zu gleicher Zeit weicher und kräftiger geworden.

Er verließ die Residenz zur Freude des liebenden Bruders und bezog seine schönen Güter, deren Verwaltung der Doktor O . . ., seinen Doktorhut an den Nagel hängend, übernahm. Die dringende Fürsprache einer edlen Prinzessin bewirkte es, daß der stolze Geheime Rat von S . . . die Hand seiner Tochter Wilhelmine dem Doktor O . . . nicht länger verweigerte.

 


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