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Heckenrosen

»Wunderbar sind oft die Pfade –
Dornenvoll und viel verschlungen,
Drauf die süße Minne wandelt!«

(Katz und Maus.)

Traulich saßen die Getreuen beisammen. Heute war Stimmung in dem kleinen Kreis! Die echte, rechte Karnevalsstimmung! Sie saßen wie gewöhnlich in dem schmalen reservierten Zimmer des Pschorrbräu, nur die Zeit war etwas außergewöhnlich – die Uhr zeigte die dritte Morgenstunde –, und das Kostüm der jungen Herren war noch ungewohnter als diese Zeit! Mit hochgerötetem Gesicht, animierter, als man ihn je in seiner eleganten Leutnantsuniform gesehen, lag Herr von Waldau weit vorgebeugt mit beiden Armen auf dem Tisch. Die gepuderte Perrücke saß schief auf dem Kopf, so daß der fest umwickelte Zopf wie ein vergnüglichst geringeltes Schweineschwänzchen in die Luft strebte, und der weiß-rot-goldgestickte Rock à la Marquis war über der Brust geöffnet; das Spitzenjabot zeigte bedenkliche Spuren von Champagnerschaum, das dreieckige Hütchen und der zierliche Rokoko-Degen waren so nichtachtend auf die Erde geschleudert, als sollten sie die Illustration zu dem klassischen Werke bilden: »Der Mohr hat seine Arbeit getan, der Mohr kann gehen.«

Dem Herrn Marquis gegenüber saß ein fröhliches Mönchlein, verkehrt auf dem Stuhl reitend, den Muschelhut im Nacken hängend, den Steinkrug mit beiden Händen »marschbereit« zum Munde haltend. Assessor Langenscheidt, »das fidele Haus«, welches laut vereidigter Aussage glaubwürdiger Männer noch nie mit schlechter Laune, noch nie ohne Schulden, noch nie ohne seine tötliche Krankheit – er litt an unnatürlich großem Herzen – angetroffen war. Den Arm zärtlich in den des Letztgenannten geschoben, schmiegte sich der Rittmeister Nagel wie eine sturmgeneigte Lilie an den Intimus, gewaltsam die dickgeröteten Augen aufreißend, wenn eine Lachsalve erscholl und mit weinschwerer Zunge lallend: »Was hat der infame Kerl wieder gesagt, Mäxchen? – ein Schandmaul … der Waldau … aber zum Küssen … ich glaube fest und bestimmt … Mäxchen … heute hat er och einen Striemen … aber feste … nicht wahr, Mäxchen, mein Glücksschweinchen? … feste!!« – Und sein Haupt mit der falschen Glatze sank wieder an die Schulter des Freundes, sicheren Stützpunkt zu gewinnen. Er war auf dem soeben überstandenen Maskenfest ein von lustigen Weibern unbändig geneckter Fallstaff gewesen, und darum ruhte er nun auf seinen Lorbeeren aus, hatte den mächtigen Bauch von Krinolinreifen abgeschnallt und als überwundenen Standpunkt hinter sich in die Sofaecke gesetzt.

Als vierter Mann des stadtberühmten Skatklubs saß der noch nicht hochbetagte Fabrikbesitzer van Naal in der kleidsamen Tracht eines holländischen Vorfahren stillvergnügt in dem so weinfrohen Kreise, etwas erhitzter, etwas lebhafter blickend wie gewöhnlich, im großen ganzen aber am wenigsten von Witwe Cliquot zu ihrem Opfer gestempelt. Derjenige, welcher auch nicht die kleinste Spur eines soeben beendeten Maskenfestes an sich trug, weder am äußeren noch am inneren Menschen, war der Freund des Assessors Langenscheidt, ein soeben neu in die kleine Residenz versetzter Landrat von Iserloe. Er trug den einfachen schwarzen Ballanzug, tadellos, beinahe etwas zu penibel elegant. Die karnevalistischen Abzeichen, ein rotes Fez und goldenen Ordensstern, hatte er bereits in der Herrengarderobe, nach der Demaskierung, von sich geworfen.

Es war auch durchaus nicht seine Art, nach einem Feste noch die Bierbank zu drücken, das Skatkränzchen aber hatte ihn etwas gewaltsam in seine Mitte genommen und wunderte sich im stillen selbst, in diesem etwas benommenen Geisteszustand heute auf verhältnismäßig sehr schwachen Widerstand zu stoßen. Herr von Iserloe schloß sich den Herren an und saß nun als seltsam schweigender Kontrast der übermütigen Redseligkeit gegenüber.

»Na, sagen Sie mal, Landrat, haben Sie sich denn so büffelmäßig gelangweilt, daß Sie den Kranz dieser schönen Erinnerungsblüten durch kein einziges kleines Abenteuer Ihrerseits vervollkommnen können?« rief Waldau endlich mit einer graziösen kleinen Grimasse, und sein ernsthaftes Gegenüber lächelte nur wenig, daß kaum die Zähne durch den dunklen Schnurrbart leuchteten, und antwortete: »Gelangweilt? nein, dazu gab es zu viel Schönes zu sehen.«

»Aber weder gelangweilt noch amüsiert?!« lachte der Assessor.

»Das trifft schon eher zu –« Iserloe lehnte den schönen Kopf mit der ihm eigenen, etwas hochmütigen Bewegung zurück. »Obwohl es keinerlei Tadel oder keinerlei Mißvergnügen enthalten soll. Ich bin vollkommen fremd hier, sowohl der Gesellschaft wie den Verhältnissen, und darum war es ein törichtes Beginnen meinerseits, mich unter Menschen zu begeben, welche gekannt sein müssen, selbst unter der Maske gekannt sein müssen, will man ihnen und ihren Anforderungen an Amüsement gerecht werden!«

»Unsinn, Rolf! Ein Kerl wie du ist es nur gewohnt, daß ihm alle Herzen entgegenfliegen, daß er sich nur zu zeigen braucht, um zu siegen! Und ich begreife gar nicht, daß dies nicht auch heute abend der Fall war! Wenn man sich allerdings in eine Ecke stellt und sich erobern lassen will –«

»Und keinen Schritt tanzt –«

»Hähä – und nicht einmal die Cour macht –« »Und die Gelegenheit nicht beim Schopf ergreift, daß ich, der würdige Mönch, dich mit der schönen Doraline knall und fall traute –«

Iserloe fuhr mit leichtgefalteten Brauen empor –

»Was übrigens eine – zum mindesten gesagt – höchst peinliche Szene für die junge Dame und mich war.« Schallendes Gelächter. »Ein famoser Witz war es, Landrätchen! Ihr Gesicht war zum Malen, und die kühle Doraline ward zum erstenmal in ihrem Leben dunkelrot! Ihr eisglitzerndes Gletschergewand wäre beinahe von ihrem Herzen heruntergetaut!«

»›Kühle Doraline‹ ist gut! – hahaha – nennt sie doch lieber das stille Wässerchen, dessen Blicke zeitweise recht tief sein können!«

Iserloes Haupt zuckte empor, sein Blick verschleierte sich: »Was wollen Sie damit sagen, Herr Rittmeister? Haben Sie die Augen der Baronesse so scharf beobachtet?«

Nagel richtete sich schwerfällig auf und tastete nach dem Glase. Seine Hand griff unsicher, und seine Augen hatten etwas Vorquellendes. »Und ob ich beobachtet habe!« grunzte er in seliger Benommenheit, »Ich sage euch, Kinder – die Doraline … hähä … die ist gar nicht so kalt – nein – auch gar nicht so spröde! Aber sie ist arm und ein ganz schlauer kleiner Racker … mit einem Leutnant ohne Vermögen, da kokettiert sie nicht – – he, Waldau? und mit dir armen Schlucker auch nicht, Mäxchen, mein Glücksschweinchen … ihr habt beide keine Moneten – und der Naal … der hat ihr eine zu versoffene Nase – – na, schreit nicht so, Kinder, ihr wißt ja – – hähä – in vino veritas … hähähä! Aber wenn die Doraline denkt – es könnte vielleicht eine Partie sein – dann … na Pröstchen! das heiße Herzchen von dem niedlichen, kleinen Mäuschen soll leben!«

Mit lautem Juchhe wurden die Gläser gehoben, nur Rolf Iserloes Hand lag an dem seinem, ein unmerkliches Beben seiner Nasenflügel, ein schnelleres Aufatmen, dann flammte sein Blick zu dem Sprecher hinüber: »Sie sprechen in Rätseln, Herr Rittmeister, wir sind ganz unter uns und Diskretion Ehrensache, wollen Sie nicht deutlicher werden?«

»Ja, ja! Der Landrat hat recht! Farbe bekennen, Nagel!« Der Aufgeforderte nahm einen langen Zug und rieb sich die Stirn: »Wat Jewisses weeß man nich,« rezitierte er schwerfällig: »Aber ich habe eine Kusine – und die ist vor Jahren in Italien mit der schönen Doraline zusammengetroffen, – und da hat sie sich etwas – na – ich will mal sagen – emanzipiert benommen! Hat als junges Mädchen mutterseelenallein eine Spritztour nach Venedig bis Mailand mit einem jungen Herrn gemacht – worüber natürlich mancherlei faule Witze gerissen wurden, aber der Betreffende hatte kein Geld zum Heiraten – und da ist sie denn allein retourgegondelt, zerfallen mit sich und der Welt. Na, die Geschichte ist hier in Deutschland nicht bekannt geworden, meine Kusine war eine brave, kleine Frau, die nicht schwatzte – und ihr, Kinder? – habt ja gesagt, Diskretion Ehrensache, – also Mund halten! Verstanden? Was kann das Mädel dazu – daß sie damals nicht von Marmorstein war! – Jetzt – hier – o – man muß den Hut vor ihr ziehen, – sie ist jetzt wirklich kühl bis ans Herz hinan! Nicht wahr, Mäxchen, mein Glücksschweinchen – so ist es? Und nun einen frischen Troppen, Kinder, – ich habe einen Schwamm in der Kehle, sag ich euch – einen Schwamm –!«

Iserloe hatte sich hoch emporgerichtet. Sein Antlitz war farblos wie das Tischtuch, und seine Stimme klang heiser und fremd, als bedürfe er der größten Anstrengung, die Worte hervorzustoßen: »Meine Herren – allerdings liegt im Weine die Wahrheit, aber zu gleicher Zeit auch die drohende Gefahr, durch solche soit dit Wahrheit – einer höchst respektablen Dame Ehre und Ansehen zu untergraben! – Herr Rittmeister hat uns durch seine Mitteilung dieser verjährten, traurigen, kleinen Geschichte seines hohen Vertrauens gewürdigt, und ich hoffe, keiner von uns wird sich dessen unwert zeigen. Ein weiteres Kolportieren dieses Erlebnisses wird Herr Nagel für eine persönliche Nichtachtung – ich für eine Beleidigung der Baronesse Doraline ansehen, und wir beide werden für unsere Ansicht in die Schranken treten!« Seine Stimme klang beinah drohend: »Erheben Sie die Gläser, meine Herren, und stoßen Sie mit mir an auf Diskretion, welche für jeden Gentleman Pflicht und Ehrensache ist!«

Man sah den Sprecher momentan etwas ernüchtert an, kam aber seiner Aufforderung ernster, wie es die momentane Weinlaune hätte erwarten lassen, nach. Und das Thema wechselte, man hatte noch so viel der amüsanten Erlebnisse auszutauschen; nur Rolf Iserloe saß noch ernster und stiller wie zuvor in der kleinen Runde.

»Du hast ja schlechte Laune, alter Junge!« lachte der Assessor, »weil du sieggewohnter Cäsar in Gedanken an dem flotten Temperament unsrer hiesigen Schönen verzweifelst! Aber nur Mut! Es ist noch nicht aller Tage Abend, und wer weiß, wie viel interessante Abenteuer dich noch erwarten! Jeder Maskenball hat seine zarten, kleinen Nachspiele – ergo: ›Liebliche Peri, verzweifle nicht – Treu und Lieb hat noch niemals getrogen‹.« Er sang mit Pathos, großer Geste und sehr falscher Stimme, der Landrat erhob sich und lächelte zerstreut. »Du willst mich hier, wie es scheint, zum leibhaftigen Don Juan stempeln!« entgegnete er, nach Hut und Mantel greifend. »Ich bitte dich dringend, meine würdige Stellung und meine beinahe grauen Haare zu respektieren! – Habe die Ehre, mich zu empfehlen, meine Herren, – gute Nacht, Langenscheidt!«

Waldau und der Rittmeister wollten lebhaft gegen den frühen Aufbruch demonstrieren, der Assessor aber kniff und trat unter dem Tisch in so geheimnisvoller Weise, daß man dem Flüchtling endlich mit den besten Wünschen für alle Kater und Katzen jämmerlicher Gnade die Freiheit gab. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als sich alle Augen erwartungsvoll auf Langenscheidt richteten. Selbst der Rittmeister war etwas zu Bewußtsein gekommen und schimpfte: »Donnerwetter, Mäxchen – was haust du einem denn mit deiner verfluchten Sandale gegen das Schienbein, daß man alle Engel im Himmel pfeifen hört? Denkste, das tut gut?! – Donnerwetter ja!« und dabei rieb er sich heftig.

»Was kniffen Sie mir denn Druckflecke in die Watte?« hohnlächelte Waldau. »Es war nur persönliche Zuvorkommenheit von mir, daß ich's fühlte!«

Der Assessor aber fuchtelte zur Antwort mit beiden Armen so lebhaft durch die Luft, daß die weiten braunen Kuttenärmel ihm das Ansehen eines Enterichs gaben, welcher aufgerichtet mit den Flügeln schlägt. »Ein kapitaler Witz! Kinder, wir müssen einen Ulk loslassen! Ich will drei Jahre lang nichts, wie Milchsuppe essen, wenn ich mir diese famose Gelegenheit entgehen lasse!«

Großes Interesse. Das Skatkränzchen rückt eifrig näher und steckt die Köpfe mit wahrhaften Gaunerphysiognomien zusammen.

»Losschießen! Raus mit der wilden Katz!«

Langenscheidt machte eine Geste, als wolle er predigen. »Kinder, den Iserloe müssen wir reinlegen!« sprach er feierlich. »Seine Eitelkeit, seine Arroganz haben es verdient. Weil ihm nicht gleich die Herzen der versammelten Schönen dreifach geknickt als Teebrötchen serviert wurden, ist er nichtswürdiger Laune und findet unsre hochachtbare Residenz unter aller Kritik.«

»Sehr wahr!« – Beifall im Zentrum, zur Rechten und zur Linken.

»Wir wollen uns darum einen Scherz machen und ihm irgendein zartes Billettchen schreiben, welches ihn als den interessantesten, wenn auch völlig eisigen Helden des Maskenfestes feiert.«

»Juchhe! Bravo! Pendant zur kühlen Doraline!«

Der Rittmeister grinste wie ein Faun: »Aber wir müssen dabei sein, wenn er das Billettdoux empfängt, denn sein Gesicht zu beobachten, ist die Hauptsache!«

Der Assessor rückte seine falsche Glatze vom rechten Ohr auf das linke. »Das wird sehr schwierig sein, ohne die Sache auffällig zu machen. Wir müssen den Brief per Post schicken!«

»Ja, aber welch ein Gaudium ist dann für uns dabei? Reden tut der Duckmäuser nicht über seine Abenteuer – und ihn ausforschen, hieße, alles verraten.«

»Was tun?«

»Hurra, ich hab's!«

»Mäxchen! Glücksschweinchen! laß dich umarmen und dann äußere dich!«

»Bravo! Langenscheidt, wir bitten um Ihre unmaßgebliche Ansicht!«

»Hört, hört! Wir laden ihn zu einem Rendezvous ein, wir bestellen ihn in das Theater … für morgen abend, wo es während der Götterdämmerung so hübsch dunkel gemacht wird –«

»Im Namen einer unsrer Damen? – Geht nicht! – Unmöglich!«

»Kinder, wollt ihr mich Takt und Sitte lehren? Heda! Kell – –nähr! – Briefpapier und Tinte! – Meine Schrift kennt er, also muß einer der Herren schreiben. Sie, lieber Waldau, sind ja so ein Genie auf dem Federhalter, hier! Setzen Sie mit graziösem Schnörkel an!«

»Bon! – Diktieren Sie!«

»Eine Maske, auf welche Sie tiefen Eindruck gemacht« – »bon, was?« – »gemacht, und welche Ihr Bild nicht vergessen kann, bittet Sie um eine Unterredung.«

»Viel zu kühl! – mehr ins Zeug gehen, Mäxchen!«

»Bewahre! Dann verliert es an Glaubwürdigkeit. Der Stil muß ernsthaft, gemessen sein. Weiter: ›Rendezvous Donnerstag abend im Theater, Götterdämmerung. Die Dame, welche Sie zu sprechen wünscht, sitzt Loge Nr. 3. Erkennungszeichen –‹«

»Ja, zum Teufel, Kinder, was nennen wir nun? Toilette beschreiben? Blume? Fächer? absonderliche Handschuhe? Es muß etwas sein, was nicht im Theater vorhanden ist, denn der Hauptscherz bei der Sache ist, das gespannte, abenteuerlechzende Gesicht des Tugendspiegels Iserloe zu sehen!«

»Eine Blume wäre das poetischste!«

»Rote Rose!«

»Unmöglich – viel zu allgemein!«

»Aber die Rose ist das Symbol der Liebe und des Stelldicheins! Es braucht ja nicht die gewöhnliche rote oder gelbe zu sein!«

»Sehr gut! Nehmen wir Heckenrosen! Für Heckenrosen hat Rolf so wie so ein Tendre, ich habe sogar mal ein sehr lyrisches Gedicht ›Heckenrosen‹ bei ihm in einem Aquarellenheft gefunden! Wenn ich nicht irre, stand es unter einer Skizze aus Italien. Gut, schreiben Sie ›Heckenrosen‹, lieber Waldau. ›Erkennungszeichen: ein Strauß Heckenrosen an der Brust.‹«

»Nein, keine Ortsbestimmung! Er kann sich auch einbilden, die Dame trüge sie im Haar. Dann wird die Sache noch amüsanter, weil er sich bemühen wird, die Damen in Loge 3 von allen Seiten zu sehen!«

»Famos! Sie sind ein Schlaukopf, Mäxchen! Nun, Waldau, sind Sie fertig? ›Mein Herr Marquis, ein Mann wie Sie,‹ – vorlesen! Hahaha, brillanter Witz. Nun gebt dem Würfel einen Stoß, und laßt ihn rollen. Vorher aber an die Gläser! Es lebe der Karneval und die Narrenkappe, welche er uns und wir andern über die Ohren ziehen. Vivat hoch!«


Rolf von Iserloe saß vor seinem Schreibtisch und starrte wie ein Träumender auf einen Brief hernieder, welcher geöffnet vor ihm zwischen seinen bebenden Händen lag. Sein Antlitz war tief erbleicht, seine Augen blickten weitgeöffnet wie bei einem Menschen, der eine Vision schaut.

Eine Einladung zu einem Rendezvous von einer Dame, welche am gestrigen Tage das Maskenfest besucht hatte, eine Dame, welcher er nicht fremd zu sein schien, und welche Grund hatte, ihm unbeachtet ein Wort zu sagen. Eine Dame, welche Heckenrosen als liebliches Erkennungszeichen tragen wird.

Flammende Glut stieg in sein Angesicht. Mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit faßte er das Briefblatt und hob es an seine Lippen empor. »Doraline!« murmelte er, und seine ernsten Augen leuchteten auf in unaussprechlicher Glückseligkeit: nur du kannst es sein, und nur du bist es, und endlich, endlich hast du dich deines armen Sünders erbarmt –«

Wahrlich? Sollte es möglich sein? Ihre Schriftzüge waren es nicht, aber augenscheinlich war die Schrift verstellt, und wenn alles ihn im Zweifel ließe, das seltsame Geschäftsformat des Briefes, dieser Weg durch ein Stelldichein, welcher der Geliebten so durchaus unähnlich sah, die Heckenrosen, welche sie zum Erkennungszeichen gewählt, gaben ihm eine unumstößliche Gewißheit. Er sprang empor, schellte dem Diener und gab den beinah aufgeregten Befehl, sofort für den heutigen Abend ein Theaterbillett für Loge Nr. 12 zu bestellen. Dieselbe befand sich der Loge Nr. 3 direkt gegenüber.

»Sie werden das Billett unter allen Umständen beschaffen, ich muß es haben! Nur im äußersten Notfall nehmen Sie einen Platz in einer der Nachbarlogen.« Und der Galonierte stürmte davon.

Rolf aber warf sich in einen Sessel, entzündete mit unsicherer Hand die Zigarre und blickte träumend, in seliger Erinnerung versunken, den kräuselnden Rauchwölkchen nach, wie sie in duftendem Wirbel emporstiegen in die Wollfalten der Portiere. Heckenrosen! Wie sind die zarten, windgeschaukelten Blüten zu seinem Schicksal geworden.

Jahre sind seitdem vergangen, aber ihm ist's, als schaue er das lachende Gelände Italiens noch immer, als atme er noch jetzt die Luft, welche ihn damals umfing, so weich und lind wie Liebeswehen.

Empor am Bergeshang, allein unter dem tiefblauen, sonnengoldnen Himmel, allein zwischen den duftenden Blüten, den dämmernden Gebüschen, allein mit ihr. Sie hatten sich an der Table d'hôte kennen gelernt, und Baronesse Doraline, die Enkelin der kranken, gütigen Exzellenz, hatte es ihm angetan mit dem süßen Zauber ihres mädchenhaft stolzen und dabei doch so sinnig lieben Wesens. Ihm war's, als ob die blauen Augen, welche jedem andern Herrn kühl und abweisend begegneten, ihm gegenüber von Tag zu Tag milder und leuchtender wurden, als ob der freundschaftliche Verkehr mit ihm nicht gesellschaftliche Form, sondern das aufrichtige Bedürfnis ihres Herzens geworden. Sie entzückte ihn durch ein beinahe kindliches Vertrauen, sie zeichnete ihn aus durch manch kleine Anforderung an seine Ritterlichkeit, und während sie mit den anderen Hotelgenossen, mit welchen sie bereits seit Monaten zusammenwohnte, durchaus fremd geblieben, hatte ein dreiwöchentlicher Verkehr ihn bereits zu einem wohlgelittenen und befreundeten Gesellschafter der Damen gemacht.

Sowohl Doraline wie er führten den Zeichenstift, und es gehörte zu ihrer täglichen Freude, nach der Natur zu skizzieren.

Die alte Exzellenz fuhr mit ihrem Rollstuhl mit hinaus in die schöne Gotteswelt, und dieweil sie ihre Zeitungen las, führten Doraline und Rolf in fröhlichem Wetteifer den Stift. – Eines Tages aber lockte droben am Felsenhang ein gewiß herrlicher Fernblick zu einer Ausnahme, und Exzellenz antwortete auf die Bitte Iserloes: »Gewiß vertraue ich meine Enkelin Ihrem ritterlichen Schutze an, Herr Assessor, unternehmen Sie getrost die kleine Exkursion; ich erwarte Sie hier unter den Bäumen. Aber vergessen Sie mich, bitte, nicht, wir müssen Pünktlich zur Besuchstunde des Arztes im Hotel anwesend sein.«

So schritten sie empor in die blühende sonnige, wonnige Gotteswelt hinein. Sonst sprachen sie doch so mancherlei, heute wandelten sie schweigsam einander zur Seite. Aber wenn eins das andere mit kurzem Wort auf etwas ganz besonders Schönes aufmerksam machte, dann trafen sich die Blicke aufstrahlend in Entzücken, und ein jeder dieser Blicke sprach deutlicher als alle Zungen der Welt: »Ja, die Erde ist voll Pracht und Herrlichkeit, und dennoch – was wäre sie mir ohne dich!«

Und sie standen am Fels und schauten das blühende Land zu ihren Füßen.

»Das Panorama ist zu groß, wir können es heute bei der knappgemessenen Zeit kaum beginnen,« sagte Rolf und zog tief atmend den Hut von dem lockigen Scheitel.

Sie nickte, ihr Blick hing wie traumverloren in der Ferne: »Wir wollen morgen frühzeitiger aufbrechen, lassen Sie uns jetzt umkehren.«

»Doraline!« Das klang aus tiefstem, glückdurchzittertem Herzen empor.

Sie zuckte leicht zusammen und wandte sich, um seinem leidenschaftlichen Blick auszuweichen, zur Seite: »Ah, welch herrliche Heckenrosen droben am Abhang, welch eine liebe Erinnerung an die deutsche Heimat, und welch seltener Anblick in Italien!« rief sie hastig, kaum selber wissend, was sie sprach.

Da faßte er jählings ihre Hand und preßte sie an die Lippen: »Ich hole sie, Doraline!« jauchzte er: »Ich hole sie, um mit den Blüten der Heimat meine Liebe zu schmücken.«

Und Rolf stürmte dahin wie der Morgenwind, voll waghalsiger Hast emporklimmend im schlüpfrigen Gestein. Umsonst rief Doraline ihm nach, bat und beschwor ihn, schon stand er droben und schwenkte grüßend den Hut. Blüte um Blüte brach er zum lieblichen Strauß, und dann beugte er sich noch weiter vor, den schönsten und entferntesten Ast zu erreichen. Doraline schreit gellend auf, denn sie sieht ihn wanken und abgleiten, sieht, wie er in die Zweige faßt, sich zu halten, und mitsamt dem niederbrechenden Gesträuch über das Gestein herabstürzt.

Tief ist sein Fall nicht gewesen, aber er liegt regungslos drunten im Geröll.

Zitternd vor Entsetzen eilt Doraline zu ihm, wirft sich über ihn mit dem verzweifelten Aufschrei: »Rolf! Um Gottes Barmherzigkeit willen, sieh mich an!«

Da schlägt er die Augen auf und starrt in ihr liebliches Angesicht. Blitzschnell kommt die Erinnerung: »Doraline, Herzlieb!« jubelt er mit bleichen Lippen.

Tränen stürzen aus ihren Augen, sie neigt sich über ihn und richtet ihn in ihren Armen auf: »Du lebst, du lebst!« schluchzt sie außer sich.

Er will die Arme um ihren Hals legen, aber mit leisem Schmerzensschrei läßt er sie zurücksinken: »Beide Arme scheinen gebrochen, wenn nur die Füße gesund sind!«

Sie bebt am ganzen Körper. Langsam stützt sie ihn und richtet ihn auf. Er erhebt sich, er prüft Rücken und Füße; dem Himmel sei Dank, sie sind unverletzt.

Da blickt er ihr lachend in die Augen: »Sag, daß du mich lieb hast, Doraline, dann bin ich wieder gesund!« Sie faßt sein liebes, bleiches Haupt mit beiden Händen, blickt ihm tief, tief in die Augen und küßt unter Tränen seine Lippen.

»Nun bist du mein eigen!« sagt er feierlich.

Dann knüpfen sie aus den Taschentüchern Schlingen für die Arme, und von Doraline sorglich gestützt, geht es Schritt um Schritt bergab.


Beide Arme bandagiert, hilflos wie ein Kind, lag Rolf Iserloe in dem bequemen Krankenstuhl, kaum einen Schmerz empfindend in der übergroßen Seligkeit seines Herzens.

Auf dem Balkon verbrachte er die meisten seiner Stunden, zu Häupten den ewig blauen Himmel, welcher durch das Blatt- und Blütengewinde der Schlingpflanzen, der Orangen- und Myrtenbäume lugt, zu Füßen die flimmernde, weitgehende Pracht des Meeres und an seiner Seite Doraline, die heißgeliebte wonnige Braut.

Noch an demselben Tage, als ihn sein Mißgeschick ereilt, und die alte Exzellenz sich persönlich nach dem Befinden erkundigte, hatte er die Gelegenheit wahrgenommen, die Generalin um die Hand der Enkelin zu bitten, welche ihrerseits voll herzlicher Überzeugung den Bund der jungen Herzen segnete, die definitive Antwort auf seinen Antrag jedoch von dem Vater Doralines abhängig machte. Derselbe, ein höherer Marineoffizier, befand sich zur Zeit auf einer weiteren Reise, und seine Antwort war wohl frühstens in etlichen Wochen zu erwarten.

Bis dahin aber war es selbstverständlich, daß die Verlobung des jungen Paares ein Geheimnis blieb; der Umstand, daß die Damen täglich viele Stunden bei dem Kranken verlebten, und dadurch leicht ein Gerede entstehen könne, schien nicht ängstlich, da ja die Tatsache der Verlobung und ihre Veröffentlichung genügen mußte, jede falsche Annahme zu dementieren.

So waren fünf Wochen vergangen, und noch immer war keine Antwort von dem Vater Doralines eingetroffen, – statt dessen kam aber ein unendlich lieber Brief von Rolfs Mutter, welche als Schwerkranke in Nizza Aufenthalt genommen, mit der flehenden Bitte, Rolf möge sobald, als es sein Zustand erlaube, zu ihr zurückkehren und ihr, wenn irgendmöglich, seine Braut zuführen. Ihr Zustand habe sich in bedenklicher Weise verschlimmert, und es sei ihr sehnlichster Herzenswunsch, ihr Schwiegertöchterchen vor ihrem Tode noch einmal umarmen zu können. – Mit der nächsten Post folgte ein Brief des dortigen Arztes, welcher ein sofortiges Kommen des Herrn von Iserloe als dringend geboten erachtete. Eine Viertelstunde ernster Überlegung und Beratung folgte. – Obwohl Rolfs linker Arm, welcher nur in einer Röhre gebrochen war, bereits von dem Wasserglasverband befreit war, so fühlte sich der Kranke jedoch noch viel zu hilflos, um die umständliche Reise allein unternehmen zu können, und außerdem drängte es ihn mit allen Fiebern seines Herzens zu der Mutter, welcher er so unendlich gern die Tochter noch zuführen wollte.

Die alte Exzellenz war gerade durch einen neuen Anfall ihres Knieleidens reiseunfähig, da sie aber bei der Pflege ihrer treuergebenen Jungfer sehr wohl aufgehoben war, so billigte sie – wohl etwas bangen Herzens, – aber doch in Anbetracht der so ernsten Sachlage ohne Zaudern den Wunsch Rolfs, daß Doraline ihn begleite.

Die Reisevorbereitungen wurden in überstürzter Eile, so stillschweigend wie möglich getroffen, und mit dem nächsten Zuge bereits fuhr das junge Paar seinem fernen Ziele Nizza entgegen.

In Monako nötigte sie ein Bahndammrutsch zu unfreiwilliger Rast. Die lange Fahrt in dem überhitzten Kupee hatte nicht günstig auf die Nerven des Kranken gewirkt, und Rolf äußerte den Wunsch, die Wartezeit zu einer Ausfahrt durch das berühmte Bad zu benutzen. Doraline willfahrte gern seinem Wunsch, und das fieberhaft erregte Haupt des Geliebten an ihrer Schulter gebettet, fuhren sie in ernstem Schweigen, aber dennoch voll seligen Glückes durch die paradiesische Pracht dieser Erdenhülle. – Vor den Spielsälen hielt der Kutscher an. »Die Herrschaften dürfen nicht versäumen, einen Blick in die Säle zu werfen, gerade jetzt ist es sehr interessant und außerordentlich belebt.«

Doraline schüttelte mißbilligend das schöne Haupt. »Mich erfaßt ein Schauder, wenn ich nur daran denke!« – sagte sie. »Die Leidenschaft des Spieles hat etwas Entsetzliches für mich!«

Rolf lächelte. »Und dennoch ist sie eines der interessantesten Schauspiele, welche man erblicken kann. Sei kein Närrchen, Liebling, – ich würde mich gewiß während eines Viertelstündchens am Roulette gut amüsieren!«

»Wie du wünschest, Schatz!« – Und bereitwillig verließ die Baronesse den Wagen, um den Bräutigam beim Aussteigen unterstützen zu können.


Der Landrat hatte längst den Arm mit der erkalteten Zigarre sinken lassen, – sein Blick starrt geradeaus ins Leere, seine Brust keucht in der Qual der Rückerinnerungen.

O hätte sein Fuß niemals die fluchbeladene Schwelle jener Spielsäle betreten! Hunderttausende von Menschen sind als Unglückselige, Vernichtete über sie zurückgeschritten, – und auch er war nach einer Stunde zum Bettler geworden, an Geld, Gut, Ehre, Liebe und Glück.

Kalter Schweiß tritt auf die Stirn des Träumers. Er möchte loskommen von dieser entsetzlichen Erinnerung seines Lebens, – und dennoch hörte er immer – immer wieder die flehende, angstdurchbebte Stimme der Geliebten: »Rolf – bei unserer Liebe, bei unserem Glück beschwöre ich dich – spiele nicht.« Er lacht ihrer Sorge, er ist nervös und eigensinnig: »Nur einmal zum Scherze! Es ist ja lächerlich, in Monako gewesen zu sein, ohne einmal sein Glück versucht zu haben! Freue dich doch, Herzlieb, die Millionen, welche ich hier gewinne, lege ich in Brillanten für mein süßes Weibchen an!«

Sie schaudert zusammen: »Ich verzichte auf diesen grauenvollen Schmuck.«

Er sieht ihren flehenden, warnenden Blick, – und er spielt dennoch. – Er spielt und verliert, einmal, zweimal, wieder und wieder.

Doralines Arm umkrampft ihn. »Hör' auf!« murmelte sie, »du weißt, ich habe kein Vermögen, wenn du das deine verlierst, ist unsere Vermählung unmöglich; all unser Glück vernichtet.«

Seine Stirn glüht. »Eben darum, weil wir auf dieses verfluchte Geld angewiesen sind, muß ich erst meine Verluste wieder ersetzen!« knirschte er.

»Rolf!«

»Schweig, bring mich nicht zur Verzweiflung! – Bitte, öffne meine Geldtasche –«

Ein Herr ist hinter ihn getreten. »Herr von Iserloe?«

Er starrt in das Mephistogesicht des früheren Associés seines Bankiers.

»Herr Burkner? – Wo kommen Sie her?!«

Er zuckt mit undefinierbarem Lächeln die Achseln.

»Darüber später! Ich sehe, Fortuna will Sie ein wenig durch ihre Ungnade anreizen! Schnell zwingen Sie die wetterwendische Schönheit zum Gehorsam. Falls Sie nicht Geld genug mit sich führen, eröffne ich Ihnen jeden Kredit.« – Und er setzte sich neben ihn.

Da hatte der Teufel seine Krallen nach ihm ausgestreckt.

Zwei Arme legen sich auf seine Schultern, ein totenbleiches Antlitz schaut ihn an mit dem Blick der Verzweiflung. »Rolf, wenn du mich lieb hast, steh auf und folge mir!«

»Unmöglich, Schatz, – ich würde mich zum Gespötte machen!«

»Und wozu machst du mich?« klingt's ihm wie ein Aufschrei ins Ohr, – ihre Augen blitzen auf in tief verletztem Stolz.

»Doraline – menagiere dich; – keine Szene hier am Spieltisch!« – keucht er sinnlos vor Aufregung.

»Nein, keine Szene; nur noch ein letztes Wort. Ich heirate keinen Mann, den die Leidenschaft des Spieles zum sinnlosen und haltlosen Schwächling macht, heirate keinen Mann, der die Ehre seiner Braut auf das Spiel setzt und ihre Liebe geringer achtet, wie den gottverfluchten Reiz eines sündigen Hazards!«

»Setzen Sie!« flüstert Burkner, – »Sie werden gewinnen.«

»Rolf!«

»Doraline – sei nicht kleinlich«! – Und er schiebt seinem Nachbar die Banknoten hin: »Bitte, setzen Sie für mich.«

Die Spieler schauen mechanisch ringsum auf, sie sehen, wie ein junges Mädchen die Hände vor das Antlitz schlägt und leise schluchzend aus dem Saal wankt.

Er sah es nicht. – Er war blind und taub, er war trunken vor Leidenschaft. Da ging sein guter Engel von ihm – und eine Stunde später taumelte er selber als Bettler über die Schwelle zurück. – Er hatte alles verspielt, – alles.

Vor dem Portal stand er und rieb sich die Stirn wie einer, der aus schweren Träumen erwacht. »Doraline!« schrie er auf, »Doraline!«

Zu spät. – Einsam, grabesstill lag die dämmernde Welt vor seinen Blicken.

Der Kutscher trat zu ihm heran. »Darf ich Ihnen in den Wagen helfen, gnädiger Herr?«

Er beißt die Zähne zusammen. »Ich danke Ihnen, ich habe kein Geld mehr zum Fahren!«

»Die gnädige Frau hat den Wagen bezahlt und auch hier das Billett und den Gepäckschein bis Nizza für den Herrn hinterlassen. Ich soll Sie nachher behutsam in das Kupee heben. – Alles ist schon wohl besorgt, und die gnädige Frau läßt sagen, sie sei bereits nach Nizza vorausgefahren!«

»Nach Nizza vorausgefahren!« – Wie ein neuer Lebensstrom glühte es durch seine Adern. »Gott sei Lob und Dank, nun kann alles noch gut werden! Ich habe die Erbschaft meiner Großtante zu erwarten, ich werde bald zu Stellung und Brot gelangen, o Doraline, wenn du mir Elendem nur vergeben willst, so ist das Glück der Zukunft noch nicht verloren!« Wie neubelebt stieg er in den Wagen. Wo war seine dumpfe Verzweiflung hin? Die Hand, welche soeben noch voll Trostlosigkeit nach dem Revolver in der Brusttasche griff, hob voll ungestümer Zärtlichkeit das Billett und den Papierstreifen des Frachtscheines an die Lippen, demütig, bebend vor Reue, die Zeichen ihrer sorgenden Liebe prüfend, welche auch jetzt noch seiner gedacht und für ihn die Wege geebnet hat!

Der Denker stöhnt abermals schwer auf und schlägt die Hände vor das gramgefurchte Angesicht. O Tor, der er war, sich damals den seligsten Hoffnungen hinzugeben. Eine Liebe, selbst wenn sie unter die Füße getreten wird und stirbt, kann noch zum Erbarmen werden, und Doraline, die engelreine, schwer gekränkte, hatte in der Angst, der erbärmliche, haltlose Spieler könne nach Verlust seines Vermögens der gewissenlosesten aller Taten fähig sein, ein kleines Scheinmanöver ausgeführt, um den Sohn in die Arme der sterbenden Mutter zu führen. Dort angesichts der Schwerkranken konnte wohl der Böse keine Macht mehr über ihn haben.

Und Doraline hatte sich nicht verrechnet.

Vergeblich schaute er auf dem Bahnhof in Nizza voll fiebernder Qual nach ihr aus, vergeblich rief er ihren Namen in die Dunkelheit hinein, statt ihrer trat ein Bahnbeamter zu ihm mit der Meldung, daß er beauftragt sei, dem Kranken Hilfe und Unterstützung zu gewähren.

Mit fast irrem Blick starrte ihn Rolf an: »Wer hat Ihnen diese Weisung gegeben?«

»Eine junge Dame in grauem Reisekostüm.«

»Hier in Nizza?«

»Nein, gnädiger Herr, in Monako.«

»Und sie ist nicht hierhergefahren?«

»Doch nicht; sie bestieg den Schnellzug nach Genua.«

»Und hinterließ sie keinen weiteren Auftrag?« Die Stimme des Fragenden klang heiser, er lag schwer wie eine tote Last in dem umschlingenden Arm des Beamten. Dieser zögerte mit der Antwort.

»Zu dienen, gnädiger Herr; einen Brief. Darf ich den Herrn Baron aber nicht zuvor zum Wagen geleiten? Er steht bereit.«

Rolfs Zähne schlugen zusammen wie im Schüttelfrost. »Nein, nein,« keuchte er, »geben Sie sogleich.«

»Der Brief ist beschwert.«

»Öffnen Sie, ich bin hilflos.«

Der Briefumschlag wich, mit jähem Schrecken starrte der Fremde auf den goldnen Reif, welcher ihm entgegenglänzte. »Ein Ring!« murmelte er tonlos.

Er fühlte, wie die Gestalt in seinem Arm zusammenzuckte. Ein Aufstöhnen entrang sich Iserloes Brust. »Ihr Ring! – geben Sie. Und weiter nichts? Keine Zeile?«

»Doch wohl, hier ist der Briefbogen. Können Herr Baron lesen? Bitte, treten Sie näher unter die Gaslaterne.«

Rolf faßte das Blatt mit bebenden Fingern. Die Schrift tanzte wild vor seinen Augen. Endlich las er. »In dem Spielsaal von Monako wählten Sie zwischen dem Laster und mir und entschieden sich für das erstere. Empfangen Sie Ihren Ring zurück, mit ihm gebe ich Ihnen das Wort zurück, welches Sie band. Wie sich auch Glück oder Unglück am Spieltisch für Sie entschied, für mich entschied sich das Schicksal unwiderruflich, und nichts wird meinen Entschluß, mich für immer von Ihnen zu trennen, ändern. Einem Spieler kann kein Weib glauben und vertrauen, und ohne diese beiden unzertrennlichen Schwestern kann die Liebe nicht bestehen. – Eine Sterbende harret Ihrer, vergessen Sie auch ihr gegenüber nicht die heilige Pflicht, welche Sie zu erfüllen haben, wollen Sie kein Ehrloser sein. Entschuldigen Sie mich durch Krankheit bei der beklagenswerten alten Dame, falls ihr Zustand es nicht erlaubt, ihr die wahre Sachlage mitzuteilen. Möge Gottes Segen Sie geleiten, möge er Sie glückliche und sonnenhelle Wege führen, dies ist mein aufrichtiges Gebet.

Doraline.«

 

Der Lesende stand und starrte ohne Aufhören auf das weiße Blatt hernieder, dann wankte er wie ein Trunkener in den Arm des Beamten zurück. »Zu meiner Mutter!« flüsterte er leise, kaum verständlich zu ihm auf.

Und dann erinnerte er sich noch, in das Krankenzimmer getreten zu sein. Ein Priester kam ihm entgegen und flüsterte ihm etwas zu – er verstand ihn nicht. Er taumelte an das Totenbett und schrie leise auf: »Mutter!«

Eine kalte Hand umklammerte die seine. »Rolf, mein Herzenskind,« klang's wie ein dumpfer Hauch zu ihm nieder. Da schaute er auf in ihr Angesicht, zum letztenmal. Er küßte sie, er nannte sie mit zärtlichen Namen, aber es war ihm alles wie ein Traum.

Endlich saß er ganz still neben ihr und hielt ihre Hände. Er wußte nicht mehr, was um ihn her vorging, erst als der Arzt sich zu ihm neigte und flüsterte: »Gott der Herr empfange die Seele zur ewigen Ruhe, sie ist sanft entschlummert, Herr Baron.« Da fuhr er empor wie ein Irrsinniger. »Tot, sie ist tot?!« schrie er auf, und sein Blick traf die friedlich lächelnden Züge der Verklärten.

Ein wildes Tasten in die Luft. Ein dumpfes Röcheln, und dann brach er zusammen, es ward Nacht um ihn, dunkle Nacht.

Sie sagten nachher, er habe eine Gehirnentzündung gehabt. Wochenlang rang er zwischen Tod und Leben; wohl infolge des Sturzes war ein Bluterguß eingetreten, oder eine heftige Erschütterung der Fahrt hatte ihn nachträglich bewirkt.

Doraline hatte nichts davon erfahren. Wie sollte sie auch? Wäre sie offiziell als seine Braut bekannt gewesen, hätte man sie vielleicht benachrichtigt, aber man kannte weder ihren Namen noch das Verhältnis der beiden jungen Leute, welches sie wohl zur Teilnahme an seinem Schicksal verpflichtet hätte. – Wahrlich, auch jetzt noch? Jetzt, nachdem sie ihm den Ring zurückgesandt, sich für ewige Zeit von ihm losgesagt hatte, jetzt, nachdem dem Genesenden erst völlig klar ward, wie schwer gekränkt, wie namenlos er sie beleidigt hatte, wie er all ihre aufopfernde Güte belohnt hatte, dadurch, daß er sie rücksichtslos von sich stieß, um wie ein Irrsinniger sein und ihr Glück unter die Füße zu treten. Kalter Angstschweiß trat bei solchem Gedanken auf die Stirn des Einsamen, wenn er voll stumpfen Sinnes auf seinem Krankenbett lag und es selber nicht begriff, wie er, der solide, rechtlich denkende Mann, der nie im Leben ein hohes Spiel geliebt und sich daran beteiligt hatte, wie er das Opfer eines solch unfaßlichen Wahnsinns werden konnte. Seine äußere Notlage drängte ihn endlich, sich dem Arzt zu offenbaren. Er erzählte ihm sein Schicksal und bat, ein paar Zeilen an die Großtante zu senden mit der Bitte, ihm zu Hilfe zu kommen.

Mit außerordentlichem Interesse hörte der liebenswürdige alte Herr die Beichte an. »Sie haben früher nie leidenschaftlich gespielt?« fragte er hastig.

»Nein. Als ich damals meine Mutter hier in Nizza verließ, um eine Rundreise durch Italien zu unternehmen, machte ich nicht einmal Station in Monako, weil ich nie ein Freund der Spielhöllen gewesen, um so weniger, als mir eine Zigeunerin einst prophezeit, ich würde all mein Hab und Gut im Glücksspiel verlieren.«

»Gedachten Sie dieser Prophezeiung, als Sie die Spielsäle von Monako betraten?«

»Nein, nicht im mindesten, was mir selber unfaßlich ist. Ich erinnere mich überhaupt fast keiner Begebenheit mehr, und würden Sie mir jetzt sagen, Ihr Vermögen ward Ihnen gestohlen, Sie haben Monako nie betreten, so würde ich es Ihnen glauben und die dumpfe unklare Erinnerung an jene entsetzliche Stunde nur für einen bösen Traum halten!«

»Entsinnen Sie sich noch wörtlich Ihres Gespräches mit der jungen Dame Ihrer Begleitung, während des Spiels?«

Rolf rieb sich die Stirne. »Wörtlich? Nicht im entferntesten. Mir ist's, als habe sie mich sehr flehend angesehen und gebeten, nicht zu spielen, was sie aber wörtlich sprach, und was ich antwortete, ist mir vollkommen aus dem Gedächtnis entschwunden.«

»Legten Sie zuvor viel Wert auf die Wünsche der Dame?«

»Sie waren heilige Gesetze für mich. Ich liebe Baronesse Doraline unbeschreiblich und war überselig in dem Besitz meiner Braut.«

Der Arzt sah einen Augenblick nachdenklich vor sich hin. »Fühlten Sie sich schon auf der Reise nach Monako unwohl?«

»So viel ich mich entsinne, ja. Ich verzehrte mich vor Durst und litt Qualen unter der brennenden Hitze. Auch ward es mir oft so schwindlig, daß Doraline mich halten mußte. Ich weiß, daß ich mit aller Energie eine stets wiederkehrende Übelkeit bekämpfen wollte.«

Der Doktor richtete sich hochatmend auf. »Kein Zweifel, Sie waren bereits schwer krank, als Sie reisten, und Ihre Handlungsweise in Monako war das Resultat des hitzigen Fieberwahns. Was Sie taten, geschah unbewußt. – Nun legen Sie sich wieder zurück und ruhen Sie. Das Sprechen und Nachdenken strengt Sie noch über alle Kräfte an. Sorgen Sie sich nicht, ich werde sowohl an Ihre Frau Tante wie an Baronesse Doraline schreiben und hoffe, beide Damen bald persönlich hier zu sehen.«

Wie ein Wonneschauer durchrieselte es bei diesem Gedanken den Kranken. Er drückte dem freundlichen Sprecher voll beinahe leidenschaftlichen Dankes die Hand und atmete auf wie ein Gerichteter, welcher seine Begnadigung erhält. Er war im Fieberwahn, nur unter dem Einfluß seiner entsetzlichen Krankheit zum Verräter an Doraline und sich selber geworden! Er hatte dadurch die Hoffnung gewonnen, ihre Vergebung erlangen zu können, und was gerade jetzt eine unbeschreibliche Wohltat für seine gemarterte Seele war, er konnte sich wieder frei fühlen von dem Gedanken, als Erbärmlicher, Gewissenloser vor der Geliebten seines Herzens zu stehen. Ihm deuchte, als sei es wieder hell geworden in ihm und um ihn.

Voll verzehrender Sehnsucht harrte er auf die Antwort Doralines. Aber Tag um Tag verging, ohne sie zu bringen. Die Großtante war längst eingetroffen und hatte, tief erschüttert über den Tod der Nichte und das schreckliche Schicksal ihres armen Sohnes, Rolf voll mütterlicher Liebe in die Arme geschlossen. Sie blieb bei ihm und pflegte ihn gesund, wenngleich auch sie die beste und einzigste Arznei nicht beschaffen konnte, die Antwort Doralines.

Endlich, nach Wochen, kam der Brief des Doktors nach langer Irrfahrt als unbestellbar wieder zurück. Er hatte eine Zeitlang die Spur der Generalin und ihrer Enkelin verfolgt, bis er auf der österreichischen Hafenstation Fiume als »nicht weiter zu ermitteln« zurückkam.

Rolf verfiel in eine Art dumpfer Verzweiflung, und der Arzt, welcher für seinen Gemütszustand fürchtete, gab Frau von Iserloe, der Großtante, den Rat, unter dem Vorwand, Doraline selber aufsuchen zu wollen, die Reise nach Fiume mit dem Rekonvaleszenten zu unternehmen. Er bedürfe der Zerstreuung und neuer Eindrücke, wenn er nicht einer beängstigenden Schwermut zum Opfer fallen solle.

Die Abreise ward festgesetzt, und mit beinahe fieberhafter Erregung begaben sich die beiden Reisenden an die Danaidenarbeit, den Aufenthalt Doralines zu erforschen.

Ein Brief, an die Adresse der Baronesse in Deutschland gerichtet, kam ebenfalls an den Doktor mit der Bemerkung zurück: »Adressatin befindet sich im Ausland, nähere Adresse nicht hinterlassen.« Rolf befand sich in einem Zustand der Verzweiflung. Alle seine Bemühungen erwiesen sich als erfolglos, und so wagte er ein Letztes und schrieb an den Vater der Geliebten. Er legte den Brief in einen Extraumschlag und wandte sich an das Marineamt mit der Bitte, das Schreiben gütigst mit genauer Adresse versehen zu wollen.

Nach wenig Tagen schon erhielt er auch dieses Schreiben zurück mit der Mitteilung, daß der betreffende Offizier vor etlichen Tagen in Aden dem Sonnenstich erlegen sei.

Abermals eine niederschmetternde Hiobspost. Frau von Iserloe fühlte sich sehr erschöpft von dem Reisen und verlangte in ihre stille Häuslichkeit zurück, und vollständig hoffnungslos kehrte Rolf mit ihr zur Heimat.

Ein Brief an das deutsche Konsulat in Aden brachte auch die wenig trostreiche Antwort, daß infolge des Todesfalles allerdings Briefe mit der Tochter des Verstorbenen gewechselt seien. Die letzten Nachrichten der Baronesse seien aus dem südlichen Frankreich eingetroffen, doch sei man jetzt außerstande, eine genaue Adresse anzugeben.

Rolf, welcher mit allen Existenzmitteln von der Tante abhing, wagte es nicht, noch neue Geldopfer zu fordern, und so tröstete er sich in dem Gedanken, seine Nachforschungen von neuem anzustellen, wenn er erst selbständig und imstande sein werde, die endlich gefundene Geliebte auch für alle Ewigkeit zu eigen nehmen zu können. Die Zeit ist ein quälendes, aber doch nie versagendes Mittel, wenn es gilt, herbe Wunden vernarben zu lassen.

Rolf arbeitete voll unermüdlichen Fleißes; neue Menschen und Verhältnisse halfen ihm über die düstere Stimmung hinweg, welche ihn anfänglich zum menschenscheuen Pessimisten zu machen drohte. Stets aber erwartete er voll Sehnsucht eine Gelegenheit, reisen zu können, und da es seine mütterliche Beschützerin wußte, daß ihn nichts mehr erfreuen konnte als ein beschwerter Brief mit der Weisung: »Unternimm eine kleine Erholungsreise!«, so ließ sie ihn bei jeder nur möglichen Gelegenheit an seine Adresse gelangen.

Und Rolf benutzte jede Fahrt, um die Spur der Geliebten aufzufinden.

Endlich nach zwei Jahren glückte es Rolf. Er erfuhr in dem ehemaligen Wohnort der Generalin, daß die alte Dame in Madeira verstorben und ihre Enkelin bei einer verwandten Familie Aufnahme gefunden. Besagte Familie bewohnte einen Landsitz in der Nähe einer mitteldeutschen Residenz, und Rolf reiste unverzüglich dorthin ab, um die Heißgeliebte endlich wiederzusehen.

Von dem Fenster seines Hotels aus sah er sie vorüberfahren. Ihm war's, als müsse er mit lautem Jubelschrei hinabstürmen, um sein verlorenes und endlich wiedergefundenes Kleinod an sich zu reißen, um es in alle Welt hinauszujauchzen: »Mein eigen ist sie, und mir gehört sie zu!« Aber seine leidenschaftlich erhobenen Arme sanken schlaff hernieder, ein qualvoller Seufzer hob seine Brust. Hatte er noch ein Recht dazu? Er trug wohl noch ihren Ring unverändert am Finger, aber sie, Doraline, sie hatte ihm den seinigen zurückgesandt und sich von ihm losgesagt für Zeit und Ewigkeit.

Und wie wußte er, ob sie überhaupt noch mit einem einzigen Gedanken jenes ehr- und pflichtvergessenen Mannes gedachte, welchen sie für unverzeihlich schuldig halten mußte! Vielleicht hatte sie längst einen Würdigeren gefunden, dem sie Herz und Hand zu eigen gegeben! Schrieb sie ihm nicht selber, daß die Liebe ohne Glauben und Vertrauen nicht bestehen könne? Und wie wollte er vor sie treten? Noch hatte er nicht aus eigener Kraft den Verlust seines Vermögens ersetzt durch eine Stellung, welche ihm gestattete, einen eigenen Hausstand zu gründen. Aber es war bis dahin nur noch eine kurze Spanne Zeit; hatte er so lange die Folterqual der Sehnsucht und des Harrens ertragen, warum sollte er nicht noch die wenigen Monate in Geduld harren, bis er imstande war, nicht nur mit einer Rechtfertigung, sondern auch mit einer erneuten Werbung vor sie zu treten.

Er hatte Gönner und Freunde an maßgebender Stelle; er bewarb sich um die Landratstelle in jener kleinen Residenz, welche Doralines zweite Heimat geworden. Währenddessen aber beobachtete und bewachte sein geistiges Auge die Geliebte unausgesetzt, und das Herz zitterte ihm vor Glückseligkeit, als er in Erfahrung brachte, die Baronesse lebe sehr still und zurückgezogen, lege nicht den mindesten Wert auf die Verehrung und Liebe, welche ihr von verschiedenen Freiern gezollt werde und erscheine nur auf Wunsch ihrer Verwandten bei den einzelnen Hoffesten, Bällen und Diners der repräsentierenden Spitzen der Stadt.

Nach langen, düsteren Tagen voll Gram und Herzeleid brach endlich der erste Sonnenstrahl des Glücks wieder durch die schwarzen Schicksalswolken. Seine Beförderung zum Landrat in besagter Residenz, der heißeste Wunsch seines Herzens, war fürerst erfüllt. Ein Jubeltelegramm meldete der Großtante diese Freudenbotschaft, und dann reiste Iserloe unverzüglich ab.

Weder seine Ankunft noch seine Ernennung war in den weiteren Kreisen der Residenz bekannt geworden, nur in seinem alten Studiengenossen Langenscheidt fand er einen treuen und lebenslustigen Genossen, welcher den ernsten Mann, dessen philisterhaftes Wesen ihm unbegreiflich erschien, sofort mit vollen Segeln in die Hochflut der Geselligkeit lotsen wollte.

»Siehst du, Rolf, da ist zum Beispiel heute abend der vielbesprochene Maskenball beim Präsidenten. Der Mann hat das beneidenswerte Glück, mein Onkel zu sein, und da etwas Herrenmangel ist, verdiene ich mir eine Ovation von der gesamten Damenwelt, wenn ich dich heut abend als ›verdeckte Schüssel‹ aufs Büfett stelle. Ach was, keine Ausreden! Ich versichere dir, Onkel und Tante freuen sich über dich wie über ihre erste Gabe vom Klapperstorch. Sie nehmen dich auf wie ihren Sohn – Wort drauf! – Willst du? – Na, ist es denn eine Sünde, mal in ein lustiges Narrenkleid zu schlüpfen? Heiliger Gambrinus, du scheinst mir ja ein recht hübsch verknöcherter Pedant geworden zu sein! Wenn du absolut nichts vorstellen willst, dann hefte dir irgend so einen Kladderadatsch von Goldstern auf die Brust, Fez dazu, fertig, marsch. Junge, wenn du wüßtest, was für reizende Mädchen deiner harren, du würdest dich nicht so sperren!« Und nun zählte er die einzelnen Schönheiten auf, und Doralines Name klang zuerst.

»Siehst du, Baronesse Doraline würde zum Beispiel herrlich mit dir harmonieren. Für meine Begriffe ist sie rasend langweilig, die reine Marmorbraut, aber du scheinst durchaus keine Ansprüche an ein flottes Temperament zu machen, und ich sehe euch beide schon im Geist, kühl bis ans Herz hinan, Eisbaisers essen! Also vorwärts, setze den Hut auf und begleite mich, ich schreibe einige Zeilen an Onkel und bereite ihn auf dein Kommen vor, und dann erstehen wir deinen fürstlichen Maskenstaat.«

Und Rolf sträubte sich nicht länger. Der Gedanke, Doraline wiederzusehen, sie vielleicht zu sprechen und schon heute abend alles aufzuklären, und ihre Vergebung für einen Mann, welcher in halb bewußtlosem Fieberzustand gehandelt, zu erflehen, versetzte ihn in eine Art seligen Rausches.

Sein Herz klopfte zum Zerspringen, als er den Ballsaal betrat. Eine unaussprechliche Aufregung erfaßte ihn.

Doraline war dem Beispiel der älteren Damen gefolgt und trug nur einen Domino über der silberglitzernden Balltoilette; auch hatte sie, da sie wenig tanzte und mehr Gefallen am Zusehen des lustigen Karnevaltreibens als an seiner direkten Beteiligung fand, die Maske abgelegt, ein Beginnen, welches im Zuschauerpublikum viel Nachahmung fand.

Iserloe stand regungslos in einem fernen Eckchen und trank wie ein Verdurstender den Anblick der Geliebten, nach welchem er voll Qual und Herzeleid jahrelang geschmachtet. Und er stand und stand und wagte es nicht, sich ihr zu nähern, denn er fürchtete, nicht Beherrschung genug zu besitzen, ihr förmlich und fremd gegenübertreten zu können. Noch ahnte sie wohl seine Anwesenheit nicht. Ihre lieben, wunderlieben Augen blickten freundlich und dennoch so unendlich gleichgültig in das übermütige Getreibe, und die Herren, welche sich bemühten, sie zu unterhalten, schienen höfliche, aber sehr ernst und knapp bemessene Antwort zu bekommen. Auch an ihr waren die Jahre der Trennung nicht spurlos vorübergegangen. Ihr Antlitz war schmäler und etwas bleicher wie früher, und um die Augen senkten sich Schatten, als seien sie müde geworden.

Wie mit magischen Gewalten zog es ihn näher und näher zu der Geliebten hin. Schritt um Schritt wand er sich durch die Menge und stand endlich hinter ihr, so nah, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte, um ihre niederhängende Rechte zu erfassen. Da ertönt seitlich eine lautplärrende Stimme. Ein Mönch, von einer jubelnden Maskenschar umringt, hebt salbungsvoll die Arme: »Heran, heran, ihr Leutchen, die ihr euch liebt und nach Hymens Fesseln schmachtet. Ich traue jedes Pärchen, welches mir unter die Hände kommt! Ah, ah! da stehen zwei, wie füreinander geschaffen!« Und mit einem grotesken Sprung sich just zwischen Rolf und Doraline placierend, faßte er beider Hände und begann unter schallendem Gelächter seine Persiflage: »Ein Huhn und ein Hahn, die Trauung geht an, eine Kuh und ein Kalb, die Trauung ist halb –«

Doraline hatte harmlos lachend nach dem ihr so diktatorisch angetrauten Gatten ausgeschaut; als ihr Blick aber Rolfs Antlitz traf, war es, als ginge ein Erstarren durch ihren Körper. Mit weit aufgerissenen Augen, als schaue sie ein Gespenst, sah sie zu Iserloe empor. Jäh zusammenzuckend und so heiß erglühend, als sei ihr ganzes Haupt in Purpur getaucht, begegnete sie seinem leidenschaftlich aufglühenden Blick. Schwer atmend, voll fassungsloser Heftigkeit befreite sie ihre Hand und flüchtete unter schallendem Gelächter in die Menge. Rolf aber biß in qualvoller Verlegenheit die Lippen zusammen, entriß einem Harlekin die Pritsche und prügelte unter großer Heiterkeit den kecken Bruder in der Kutte, ein Beginnen, welches sämtliche Bajazzos zur Lynchjustiz anfeuerte.

Verfolgt von der übermütigen Schar, schlängelte sich der Mönch, den Kopf in die Schultern geduckt, durch die Tanzenden, und als Rolf sich wandte, Doraline zu folgen, erblickte er sie bereits jenseits des Saales. Ihr Antlitz war heiß erregt, aber zwischen ihren Augenbrauen lag eine tiefe Falte und um die Lippen zuckte es wie ein Gemisch von Schmerz und gekränktem Stolz.

Es war eine Unmöglichkeit, daß Iserloe sich ihr noch einmal nähern konnte. Wie ein flüchtig weißes Reh wich sie ihm aus, angstvoll suchte sie stets die ganze Länge des Saales und das größte Gewühl der Tanzenden zwischen ihn und sich zu legen. Eine geraume Zeit war sie ihm völlig verschwunden, so sehnsuchtsvoll er auch alle angrenzenden Salons durchstreifte, und das Souper entzog sie ihm abermals für die Dauer einer Stunde. Gleich nach dem Abendessen hatte die junge Dame jedoch das gastliche Haus des Präsidenten verlassen. Als Rolf die Pflegemutter Doralines mit gepreßtem Herzen diesbezüglich fragte, erhielt er die Antwort: das junge Mädchen habe sich einer heftig auftretenden Migräne halber zurückgezogen. Doraline liebe die geräuschvollen Feste überhaupt nicht, wie sie seltsamerweise für nichts Interesse habe, was sonst die Jugend entzückt und fesselt.

Den einzigen Trost, welchen Iserloe mit sich nahm, war der, die Pflegeeltern der Geliebten kennengelernt zu haben und von ihnen mit viel Liebenswürdigkeit aufgenommen zu sein! Als er seine Visite für die nächsten Tage in Aussicht gestellt, ward er voll aufrichtiger Freude und Zuvorkommenheit willkommen geheißen.

Als er der Aufforderung des Skatkränzchens folgte, um noch in Gemeinschaft des übermütigen Kleeblatts ein Glas Bier zu trinken, so geschah es lediglich aus dem Grunde, noch etwas über das Leben und den Verkehr Doralines zu hören.

Was er in Erfahrung brachte, war dazu angetan, ihn in höchster Weise zu erregen. Unter den qualvollsten Gewissensbissen verbrachte er die Nacht. Doralines aufopfernde Liebe, ihre Reise mit ihm, welche sie unternahm, um seiner Mutter den letzten Wunsch zu erfüllen, all ihre selbstlose Güte hatten ihr keinen weiteren Lohn eingetragen, als das Bewußtsein, edel gehandelt zu haben. Die Welt aber drehte daraus den Strick, um ihre Ehre zu erdrosseln, die Welt entstellte das Werk der treuesten Barmherzigkeit zu einem Zerrbild, zog es herab in den Kot und ließ es die Unschuld büßen, daß sie von einem Fieberkranken in dem Zustand halber Bewußtlosigkeit verraten und verlassen ward!

Ebensogut wie Nagel in der Weinlaune des gestrigen Abends die zweifelhafte Liebesgeschichte der Baronesse zum besten gab, ebensogut erzählte er sie an jedem andern Abend jedem, der sie nur hören wollte.

Eine qualvolle Unruhe bemächtigte sich seiner. Sogleich beim ersten Morgengrauen setzte er sich nieder, packte die Briefe, welche als unbestellbar zurückgekommen, in einen großen Umschlag und legte eine Karte bei, auf welcher er die Geliebte bei seinem und ihrem ganzen Lebensheil beschwor, den Inhalt der beifolgenden Schreiben zu lesen. Ein reitender Bote besorgte den Brief, kam aber nach einer Stunde bereits schon mit der Antwort Doralines zurück. Uneröffnet fielen ihm die Briefe entgegen.

Einen Augenblick erfaßte ihn wilde, unbändige Heftigkeit. Sein leidenschaftliches Blut schäumte auf und empörte sich gegen eine Unversöhnlichkeit, welche das ideale, so schwärmerisch verehrte Bild der Braut zu verwischen drohte.

Gut, mochte sie in ihrem Starrsinn jede Aufklärung unmöglich machen! Er hatte getan, was in seinen Kräften stand, sein Gewissen war nunmehr beruhigt. Mit heftiger Bewegung schleuderte er die Briefe auf seinen Schreibtisch und warf sich in einen Sessel, Zerstreuung in der Zeitung zu suchen. Er hörte beinahe mit Genugtuung, als der Diener beim Auftragen des Frühstücks erzählte: Der Kutscher in Paulinenhöh' habe ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt, das gnädige Fräulein Doraline wollte morgen abend für längere Zeit abreisen. Es werde nur noch eine Depesche erwartet. Heute abend beabsichtige sie noch einmal ganz heimlich ins Theater zu fahren, da sie sich schon seit Monaten auf das Wagnerstück gefreut habe. Er, der Kutscher habe die kleine Loge Nr. 3 bestellen müssen, da aber die gnädige Frau sich heute nach dem Maskenball zu angegriffen fühlte, werde die Baronesse allein fahren.

Rolf nahm die Nachricht sehr gleichgültig auf. Als sich aber die Tür hinter dem Berichterstatter geschlossen, da drückte er die Hände vor das Gesicht und biß die Zahne zusammen, um nicht wild aufzuschreien voll zornigen Schmerzes. Er liebte Doraline über alle Maßen und Begriffe, aber es widerstrebte seinem Männerstolz, ihr noch einmal die Hand zur Versöhnung zu bieten, nachdem sie ihn in so kränkender Weise von sich stieß.

»Fahr hin, ich kann nicht zweimal knien!« – Nein, er konnte es nicht, mochte Gott im Himmel sich seiner erbarmen.

Die Morgenpost kam und brachte jenes geheimnisvolle, unbegreiflich beseligende Briefchen der ungenannten »Maske«, welches Iserloe in einen wahren Rausch des Entzückens und der seligsten Überraschung versetzte. Kein Zweifel, Doraline hatte ihm durch die zurückgesandten Briefe nur die Weisung geben wollen, daß in den hiesigen kleinlichen Verhältnissen ein offizieller Briefwechsel unmöglich sei – und darum entschloß sie sich zu dem für sie sonst so unbegreiflichen Schritt, ihm in dem Theater ein Rendezvous zu bewilligen.

Es konnte absolut kein Irrtum hier herrschen, »Loge 3 und Heckenrosen« sprach deutlich genug, und außerdem gab es wohl keine andere Dame der Gesellschaft, welche ihm auf diesem Wege etwas Dringliches mitzuteilen hätte.

In unbegreiflicher Erregung harrte Rolf des Abends.


Der Besuch des Assessors Langenscheidt unterbrach die Dampfringel, welche Iserloe traumversunken in die Luft blies.

»Grüß dich Gott, altes Haus! Na, bedarf wohl keiner Nachfrage, daß dir der gestrige Abend vorzüglich bekommen ist.«

»Doch nicht, ich leide erheblich unter seinen Nachwehen.« Das klang eigentlich etwas ironisch.

»Was der tausend! Mensch hast du etwa auch einen Kater, einen so kannibalisch ausgewachsenen wie ich?«

»Höchstens einen moralischen. Wenn man vor aller Welt mit einer Dame getraut wird und muß zu einer solch blamierenden Farce stille halten, dann leidet man noch wochenlang an versetzter Wut darüber.«

»Stille halten, daß Gott erbarm', braun und blau hast du mich geprügelt! Zu komisch! Ihr schwerblütigen Norddeutschen habt so absolut keinen Sinn für Fastnachtshumor und Narrenfreiheit. Statt, daß du hölzerner Gesell nun deine Marmorbraut kühn entschlossen umarmt und aus dem kindlichen Spiele Ernst gemacht hättest, was eigentlich die verdammte Pflicht und Schuldigkeit eines galanten jungen Mannes gewesen wäre –«

»Ach, so fassest du diesen Scherz auf.«

»Natürlich. Ich brauche noch eine intim befreundete Familie hier, wo ich ein paar Abende in der Woche totschlagen kann. Verstanden? Richte dich danach mit deinem Herzen und einem baldigen Hausstand ein. Zum Beispiel heute abend. Was soll man heute abend anfangen; ich komme in der Ratlosigkeit meines Brummschädels zu dir, um zu fragen, ob wir in Bellevue eine kleine Kateressenz brauen wollen –«

»Heute abend? Bedaure sehr, ich bin verhindert.«

»Verhindert? Nun schlag Gott einen Türken tot! Hier in der wildfremden Stadt verhindert? Was hast du denn vor?«

Iserloe stand auf und holte einen anderen Zigarrenkasten, obgleich der soeben geöffnete noch mindestens ein Dutzend Stück gegürtelten Tabaks enthielt.

»Ich gehe in das Theater heute abend, ich versäume nie eine Oper von Wagner, bin Enthusiast.«

Langenscheidt saß da wie ein wachsames Spitzel, das auf eine Fliege spannt. »So, du bist Enthusiast!« wiederholte er mit einer wahrhaften Gaunerphysiognomie. »Wo sitzest du denn? Kann ich nicht einen Platz neben dir bekommen?«

Rolf ward ungeduldig: »Keine Ahnung, wo für mich bestellt ist. Sag' mal, ehe ich's vergesse, wie heißt die charmante kleine Rokokodame, mit welcher du gestern soupiertest?«

Der Assessor erhob sich. Sein feistes Angesicht grinste vor Vergnügen: »Die heißt Fräulein Noli me tangere!« spottete er voll bester Laune und drückte den Freund ans Herz. »Sei so gut und grase nicht in anderer Leute Herzensgärtlein, alter Junge, es wäre eine verteufelte Konkurrenz für mich. Na, denn will ich mal sehen, ob ich mich auch ein bißchen in die Götterdämmerung versenken kann; wenn du keine Nachbarschaft brauchst, klexe ich mich wo anders an! Serviteur, mein Alterchen, amüsiere dich gut heut abend!«

Rolf war nicht im mindesten argwöhnisch, sonst hätte ihn dieser letzte fromme Wunsch und das holdselig grinsende Galgengesicht Mäxchens irritieren müssen.

Mit Riesenschritten stürmte der Assessor in das nahegelegene Café, woselbst das Skatkränzchen, brennend vor Neugierde, seinen Bericht erwartete.

Langenscheidt taumelte dem Rittmeister schier wonnetrunken in die Arme. »Kinder, der hölzerne Ritter steht lichterloh in Flammen! Heut abend erleben wir einen Götterscherz!«


Und der Abend kam. Das Opernhaus begann in gastlichem Lichterglanz zu erstrahlen, und das edle Skatkleeblatt schlich im nächtlich dunklen Mantel dem Ziel seiner geplanten Missetat entgegen.

Langenscheidt trug in Seidenpapier gehüllt ein unheimliches Etwas so sorglich in der Hand, als fürchtete er, es könne explodieren, und nach schnellem Umblick in dem noch ziemlich menschenleeren Foyer, eilte das Vierblatt auf leisen Sohlen nach dem Korridor, welcher die linksseitigen Logen begrenzte. Hier war Nr. 3.

Der Logendiener sprang herzu und öffnete; anscheinend nicht auf die Nummer achtend, trat der Assessor schnell ein. Das Seidenpapier knisterte, ein Strauß künstlicher Heckenrosen tauchte aus der schützenden Hülle empor, und mit diabolischer Freude ließ ihn der Attentäter mitten in der Loge auf die Erde fallen, just in das helle Gaslicht hinein.

Er trat harmlos wie ein Engel wieder auf den Korridor hinaus, wechselte mit den Verschworenen einen Blick des Einverständnisses – und ›hurra, hurra, hopp, hopp, hopp, – ging's fort in sausendem Galopp‹, hinab in das Parkett, wo die vier Bösewichter ihren Beobachtungsposten in der ersten Reihe bezogen. Mit riesigen Ferngläsern bewaffnet, wachsamer wie jemals der verdienstvollste Vorposten, beluxten sie das entfernteste Winkelchen des Opernhauses, ob sich Iserloe vielleicht hinter irgendeiner Portiere oder Säule zu verbergen suche.

Die Loge Nr. 3 aber war der Brennpunkt ihres Interesses. Und sie hatten gar bald ein unerwartetes Schauspiel, über welches das Quartett beinah in Krämpfe der Entzückung verfiel.

Lange noch, bevor das Theater sich halb mit Zuschauern gefüllt, erschien eine schwarzgekleidete Dame in der Loge Nr. 3. Ein elektrisierender Ellenbogenstoß ging durch die Reihe des Skatkränzchens. »Himmel Donnerwetter! Die kühle Doraline!« entfuhr es dem Rittmeister, und Langenscheidt sank auf seinen Sessel zurück, als wolle er im höchsten Jubel die Beine gen Himmel strecken. »Doraline! Das gibt einen Kapitalscherz!« schluchzte er beinah vor Wonne. »Nun Attention, wer noch weiter erscheint!«

»Die Heckenrosen, die Heckenrosen!« flüstert Waldau und wird dunkelrot vor atemlosem Interesse.

»Ist ja patent!« lachte Naal.

»Kinder, Gottstrambach, sie legt den Strauß auf die Logenbrüstung!«

Die jungen Leute waren in höchster Spannung.

»Pst! pst! … Iserloe!«

»Teufel ja, wo denn?«

»Gerade gegenüber in der Loge!«

»Ich komme um vor Lachen – seht doch – seht doch, wie er auf die Heckenrosen starrt!«

»Still, die Ouvertüre.«

Eine kurze Zeit herrschte feierliche Stille auf der ersten Parkettreihe, dann rauschte der Vorhang langsam empor. Die Köpfe der vier Verschworenen sausten herum. Wahrlich! Doraline ist allein in der Loge, und sie neigt sich mechanisch vor, die Bühne zu übersehen. Man kann deutlich ihr schönes Antlitz erkennen. Und Iserloe? Er steht regungslos im Hintergrunde seiner Loge und starrt zu ihr hinüber.

»Die Würfel sind gefallen,« spricht Langenscheidt feierlich, aber das übermütige Lachen verstummt, eine bleierne, gedrückte Stimmung bemächtigt sich des Skatkränzchens.

Doraline hatte ihre Loge sehr frühzeitig betreten. Sie warf den Pelz hastig ab und löste den Schleier von ihrem Haupt. Als sie sich nach ihrem Platz wandte, stutzte sie plötzlich und blieb stehen.

Ein Blumensträußchen lag inmitten der Loge. Gewiß hatte eine Dame dieselbe schon vor ihr irrtümlicherweise betreten und diesen Schmuck verloren. Sie neigte sich und nahm die Blüten empor. – Heckenrosen! – Sie zuckt zusammen, ein Beben geht durch ihre schlanke Gestalt. Warum muß ihr das Schicksal gerade heute diese Blüten auf den Weg streuen? Mit zuckenden Lippen starrt sie darauf nieder. Das Herz tut ihr weh zum Zerbrechen; es ist, als ob dieser Anblick die alte Wunde mächtig wieder aufrisse, die Wunde, welche nie vernarbt ist, sondern nur mit gewaltsamer Energie vor der Welt verborgen ward. Eine Wunde, an welcher sie sich heimlich zu Tode blutet. Heute morgen noch war sie voll Trotz und Bitterkeit, als der Brief von ihm in ihre Hände gelangte, da empörte sich ihr Stolz dagegen, Notiz von einem Mann zu nehmen, welcher mit ihrer Liebe und ihrem Vertrauen ein so gewissenloses Spiel getrieben. Und jetzt? – Beim Anblick dieser Blüten erwacht er wieder mit all seiner zärtlichen Gewalt, der schmerzlich süße Traum ihrer ersten, einzigen Liebe.

Sie sinnt einen Augenblick, ob sie die Blumen an den Logenschließer abgeben soll – dann erscheint es ihr sicherer, dieselben möglichst sichtbar auf den Rand ihrer Logenbrüstung zu legen; so wird die Dame, welche sie verlor und sucht, sie am sichersten finden.

Und dann setzt sie sich wieder auf den verborgenen Platz hinter der vorgebauten Säule, faltet die Hände im Schoß und starrt regungslos auf die Heckenrosen; drunten verklingt die Ouvertüre, und gleichsam, als ob die süßen Zauberklänge erlösend auf all das herbe, jahrelang schweigsam ertragene Weh einwirken, so schlägt Doraline die Hände vor das Antlitz und weint bitterlich. Sein Bild ist ihr wieder erschienen, und es lebt unauslöschlich wieder in ihrem Herzen, nicht mehr in seiner quälenden Häßlichkeit, wie sie es in Monako zuletzt geschaut, sondern in all der strahlenden, liebenden Glückseligkeit und sonnigen Schöne jenes Tages, wo er die Heckenrosen für sie pflückte, wo er um ihretwillen mit gebrochenen Gliedern im Felsgeröll lag. – Sie empfindet noch immer den Todesschreck, das lähmende Entsetzen, welches sie bei dem Anblick erfaßte, sie sieht noch immer seine Augen, wie er sie zuerst wieder aufschlug, hört seine liebedurchzitterte Stimme – ach – und fühlt noch den ersten, heißen Kuß auf ihren Lippen brennen!

Leise schluchzt sie auf. – Musik und Gesang übertönen jedes andre Geräusch, übertönen auch das Offnen der Logentür. Nur eins kann kein Gesang und kein Orchester ungehört machen – seine Stimme.

»Doraline! – O Doraline!«

Sie schrickt zitternd empor – sie starrt mit angstvoll erhobenen Händen auf das Bild ihrer Träume, welches urplötzlich verkörpert vor ihr steht.

Da umfaßte er ihre zitternden Hände. »Du hast mich gerufen, Herzlieb, und ich bin gekommen! O, ich weiß, daß du mich nicht ungehört verdammen kannst!«

Sie versucht sich loszuringen. »Herr von Iserloe –« schluchzte sie, »verlassen Sie mich! Wie wagen Sie zu behaupten, daß ich Sie gerufen habe!«

Er gibt ihre Hände nicht frei, aber er blickt ihr überrascht in das Antlitz. »Doraline, du hast mir doch das Billett geschrieben?«

»Welch ein Billett?« stammelte sie entsetzt.

Er zieht es aus der Brusttasche und reicht es ihr. Sie blickt darauf nieder, glühende Röte bedeckt ihr tränenfeuchtes Angesicht. »Gott im Himmel – wer hat es gewagt, mich zum Opfer dieses Bubenstreichs zu machen!« stöhnt sie auf.

»Aber die Heckenrosen?« ruft er betroffen.

»Ich fand sie hier in der Loge und legte sie auf die Brüstung, damit die Dame, welche sie verloren, dieselben wiederfinden solle.« Und abermals die Hände vor ihr Antlitz schlagend, sank sie auf den Sessel zurück. »Was habe ich getan, daß man mich mein Leben lang voll Schmach und Frivolität in den Staub tritt!«

»Doraline – die Angelegenheit wird sich aufklären. Um Himmelswillen, beruhige dich, Herzlieb!« Und an ihrer Seite auf die Knie sinkend, das Antlitz in die duftigen Falten ihres Kleides pressend, stöhnt er auf: »Und was tat ich, daß du mich Jahre hindurch erbarmungslos in meinem Schmerz verzweifeln ließest? Wie es sich auch mit dieser unerklärlichen Intrigue verhalten möge – ich danke Gott aus heißem Herzen dafür, und ich möchte den frommen Glauben hegen, daß der barmherzige Vater im Himmel seine guten Engel gesandt hat, endlich meine Qualen zu enden! – O, Doraline, wie hast du mich so schuldlos verdammt!«

Sie zuckt empor. »Schuldlos?« ruft sie schmerzlich. »O Rolf, du hast in unverzeihlichem Leichtsinn unser Glück vernichtet – du hast fünf Wochen lang keine Zeile an mich gelangen lassen, kein Wort der Reue, keinen letzten Gruß – du hast mich von dir gestoßen, wie man ein überflüssiges Spielzeug beiseite wirft! Und du willst mir Vorwürfe machen, daß ich, verzweifelnd an Lieb und Treu, hinausgeflohen bin in die weite Welt, in die tiefste Einsamkeit, wo kein mitleidiger oder verächtlicher Blick die verlassene Braut, das ehrlose Mädchen, welches bei Nacht und Nebel heimlich und allein mit einem jungen Manne abreiste, bis in die tiefste Seele mehr kränken konnte?«

Sich überstürzend in jäh hervorbrechender Leidenschaft, hatte sie die Worte hervorgestoßen, jetzt starrte sie erstaunt in das milde, ruhige Angesicht des Geliebten, welcher ihre Hände voll treuer Innigkeit an die Brust zog.

»Und wie nun, Doraline, wenn mir all diese Anklagen unrecht täten? Wenn ich nicht so strafbar, so ehr- und pflichtvergessen gewesen wäre, als wie es den Anschein hatte?«

Sie wich seinem Blick aus; der Ausdruck düsterer Schwermut trat noch schärfer in ihrem bleichen Antlitz hervor. »Und wenn Sie Ihr Vermögen auch nicht in Monako verloren, sondern es durch das Glücksspiel vielleicht verdoppelten, so ändert dies an Ihrer Handlungsweise durchaus nichts, denn Sie setzten ohne jede Garantie Ihr Vermögen aufs Spiel und mit ihm die ehrliche Existenz, welche Sie verpflichtet waren, einem Mädchen zu geben, welches gleich mir einen so gewagten Schritt getan hatte, Ihnen und der Sterbenden zuliebe!«

»Nein, Doraline, ich habe mein Vermögen nicht in Monako verdoppelt, sondern im Gegenteil, all mein Hab und Gut verspielt!«

Sie starrte ihn betroffen an. »Dann verstehe ich erst recht nicht –« murmelte sie. »Wie wäre ein solches Beginnen, ein so sündlicher Leichtsinn zu entschuldigen?!«

»Durch die wunderbaren Fügungen Gottes, welcher uns arme, schwache Menschen oftmals einer fremden Gewalt untertan macht, um uns Wege zu führen, welche unsere armselige Vernunft nicht begreifen kann!« Rolf zog die schlanken Mädchenhände voll ernster Erregung an die Lippen. »O, Doraline – es war ein schwerer, saurer Weg, welchen er unserer Liebe beschieden hatte, aber ich glaube dennoch, daß keine Stunde unserer Qual und unseres Herzeleids eine nutzlose gewesen! – Nur die Wolken, welche sie uns entziehen, lehren uns die Sonne würdigen, und je mehr die Liebe mit Tränen genetzt ist, desto tiefere und unvergänglichere Wurzeln schlägt sie. Das Finale des ersten Aktes! – Ich muß meinen Platz wieder aufsuchen, um dich nicht abermals der herzlosen Kritik der Menge auszusetzen. Aber eine heiße flehende Bitte zuvor, Herzlieb. Hier sind die Briefe, welche du mir heute morgen uneröffnet zurücksandtest; lies sie jetzt. Sie enthalten nicht meine Rechtfertigung, wohl aber eine Entschuldigung für mich! Die ersten beiden Schreiben stammen von der Hand des Arztes, welcher mich während meiner Krankheit in Nizza behandelte –«

»Rolf, du warst krank?!«

Er preßte ihre Hände leidenschaftlich in den seinen. »Lies Doraline! Und wenn du die Briefe wieder aus der Hand legst und dein edles, goldnes Herz kann mir vergeben, und wenn Glauben und Vertrauen wieder aufleben können in ihm, dann, o dann gib mir ein Zeichen, hebe mir jene Blüten dort zum Gruß entgegen, und in dem nächsten Akt bin ich wieder bei dir! Morgen früh aber laß mich im Hause deiner Verwandten abermals um dich werben, du mein einziges Glück in der alten, unverändert heißen Liebe!«

Donnernder Applaus durchtobte das Theater. Rolf aber riß sich gewaltsam los und trat hastig in die Nebenloge, sich nach dem Befinden der Frau Präsidentin zu erkundigen.

Das Skatkränzchen aber wandte sich voll etwas sorgenvollen Interesses wieder dem Publikum zu.

Doraline hatte sich völlig hinter ihre Säule zurückgezogen, und Iserloe? Wo steckt er? Heilige Kümmernis, wenn er sie womöglich aufsucht, wenn er womöglich der armen Baronesse ungebührlich begegnet?

Der Assessor sprang auf: »Wir müssen unter allen Umständen zu vereiteln suchen, daß sich die beiden heute abend sprechen. Nachher kläre ich ihn dann auf!«

»Bon! Zwei von uns blockieren Iserloe, zwei heften sich bei Schluß des Theaters an die Sohlen der ahnungslosen Doraline und geben sie nicht eher wieder frei, als bis sie geborgen in ihrem Wagen sitzt! – Vorwärts! Gleich hinauf in den Korridor! Wir müssen Iserloe schon in der Präsidentenloge knebeln! – Klebt wie Pech, Kinder! Nicht locker lassen!«

Und nicht rechts und links blickend, stürmten die vier Herren die Treppe empor zum Foyer des ersten Ranges. Max und der Rittmeister betraten atemlos die Loge des Präsidenten, Waldau und Naal promenierten wie zwei Löwen im Käfig vor der Logentür Doralinens auf und ab.

Ahnungslos dieses Doppelpostens saß diese und las mit tieferschüttertem Herzen die Zeilen, welche sie noch nachträglich um das Leben des Geliebten zittern ließen.

Die Zwischenpause war zu Ende. Und Rolf verabschiedete sich von den Gastgebern des gestrigen Abends. Er wollte sehr eilig seinen Logenplatz aufsuchen und nickte dem Assessor und dem Rittmeister nur flüchtigen Abschiedsgruß zu. Wie die Blutvergießer stürzten beide auf ihn los. Max hing sich mit großer Zärtlichkeit sofort an den Arm des Jugendfreundes, und der kleine Rittmeister stiefelte mit Riesenschritten an der andern Seite des großen, so sehr eilig ausschreitenden Landrats. – Beide waren von geradezu beängstigender Liebenswürdigkeit, und je einsilbiger der Gefangene war, desto witzigere und schönere Geschichten hatten sie auf Lager.

Vor seiner Logentür schüttelte Rolf den zärtlichen Freund ab. »Gute Nacht meine Herren,« sagte er kurz. »Sie müssen eilen, – die Musik beginnt bereits.«

»Alle Wetter, ja!« Der Assessor war sehr erschrocken, »da können wir uns unmöglich noch in unsere erste Bank hineinklemmen. Es sind ja noch zwei Stehplätze in deiner Loge frei. Wir bleiben bei dir, Rolfchen.«

Der Landrat fieberte vor Ungeduld. »Undenkbar! es ist so wie so schon so eng. Man muß doch Rücksicht auf die Damen nehmen!«

»Tun wir ja, süßer Landrat!« schmeichelte der Rittmeister und hielt den Atem an, um sich möglichst schlank zu machen. »Sehen Sie doch, wir zwei Heringe! – Und den Damen machen wir tüchtig die Cour! – Um alles! der Vorhang geht schon hoch! – flink herein!«

Langenscheidt schob den Freund voll ungestümer Hast vor sich durch die Tür, und an allen Gliedern bebend vor Nervosität, ließ sich Rolf auf seinen Sessel niederfallen. Sein Blick schweifte verstohlen wieder und immer wieder zu Doralines Loge hinüber. Endlich! – Eine weiße Hand wird sichtbar, – dieselbe faßt den Heckenrosenstrauß und scheint sich mit demselben Kühlung zuzufächeln, – und jetzt – Rolfs Atem steht still – jetzt eine deutlich winkende Bewegung zu ihm hinüber. – Sein Herz klopft zum Zerspringen.

Seine beiden Trabanten haben nichts gemerkt; sie stehen auf den Fußspitzen und äugen auf die Bühne herab wie zwei Dohlen von dem Dachfirst.

Rolf erhebt sich leise und greift nach der Tür. Wie elektrisiert fahren die beiden wohlfrisierten Häupter herum; der Assessor schnellt vor und faßt den Arm des Flüchtlings. »Wo willst du denn hin, mein Junge?« flötet er so zärtlich wie noch nie im Leben. Rolf möchte aus der Haut fahren. »Ich habe Kopfweh und will einen Augenblick im Foyer frische Luft schöpfen,« sagte er beinah unhöflich, kurz und abweisend.

»Du sprichst mir aus der Seele!« – flüstert Langenscheidt zutraulich, – »eine Siedehitze hier … und der Radau da unten – gräßlich!«

»Ich begleite Sie ebenfalls,« zirpt der Rittmeister und sieht den Landrat so erwartungsvoll an, als erhoffe er eine gerührte Umarmung für so viel Liebenswürdigkeit.

Rolf befreite sich von den umklammernden Armen wie ein gereizter Löwe. »Unsinn! gibt viel zu viel Aufsehen!« knirschte er und wirft sich wieder in seinen Sessel.

Seine beiden Peiniger wechselten einen bedeutsamen Blick. Sie ermutigten sich durch eine geheimnisvolle Geste, sehr wachsam auf dem Posten zu bleiben.

Der Akt vergeht, und kaum rauscht der Vorhang herab, als Rolf mit fiebernden Schläfen an den Freunden vorüberstürzen will. Er gewinnt auch durch seine verblüffende Hast die Tür und stürmt das Foyer entlang. Hinter ihm keuchen die beiden dicken kleinen Herren. Endlich fassen sie ihn. Langenscheidt hängt sich ihm geradezu an die Rockschöße. »Aber Rolfchen … Herzchen,« keucht er, »rase doch nicht so! Wir können ja gar nicht mit.«

Der Landrat fährt herum, als wolle er die zärtliche kleine Klette erwürgen. »Ich hatte faktisch nicht auf deine Begleitung gerechnet!« pfaucht er.

»Aber Bruderherz! – als ob wir dich Fremdling hier so allein herumlaufen lassen würden! Was denkst du von unsrer Galanterie!«

Rolf verwünscht sie in diesem Augenblick bis in die siebente Hölle; aber der Kleine hängt sich so voll inniger Zuneigung an seinen Arm und seine Stimme vibriert in solch sanftem Vorwurf, daß Rolf ihn nicht beleidigen kann. – Der Rittmeister trabt atemlos auf der anderen Seite, denn der Bewachte macht in seiner Aufregung Riesenschritte.

»Aber Max, mach doch keine Geschichten und inkommodiere dich nicht um meinetwillen.«

»Durchaus nicht! Ist uns ja außerordentliches Vergnügen!« pustet der Rittmeister und trocknet sich den perlenden Schweiß von der Stirne.

»Meine Herren – ganz ehrlich gesagt, ich fühle mich etwas unwohl, und da würde es mir angenehm sein, ein wenig für mich allein auf dem Divan auszuruhen!«

»Natürlich! Komm sofort und setz dich!« – nötigt der Assessor, kirschrot vor Anstrengung. »Soll dir einer von uns eine Erfrischung holen? kleinen Kognak, oder Limonade –«

»Ich bitte nur, mich allein zu lassen, das ist mir momentan die beste Arzenei!«

Max sieht den Rittmeister an, als wolle er sagen: »So ein Erzkomödiant! Wie er lügen kann!« Und dann legte er den Arm um den Freund, als wolle er ihn gegen ein ganzes Weltall verteidigen. »Rolf – du kannst nicht im Ernste verlangen, daß ich dich verlasse, wo du dich elend fühlst, – ich kenne deine Bescheidenheit – und ich bringe mich lieber um, ehe ich dich in diesem Zustand heute abend allein lasse.«

Das ist zu viel. Der Landrat springt auf, als müsse er ersticken. »Gut,« – donnert er den aufopfernden Freund an, »so begleite mich nach Haus, – ich kann es hier nicht länger ertragen!«

»Von Herzen gern, – ich opfere mich mit Leib und Blut, wenn du es verlangst,« versicherte Langenscheidt mit wahrer Engelsmiene.

»Darf ich mir vielleicht auch erlauben?« – fleht der Rittmeister mit holdseligem Gesicht.

»Das fehlte auch noch!« möchte Rolf herausplatzen. Aber er beißt die Zähne zusammen und sagt: »Bitte, wenn es Ihnen Vergnügen macht!«

Gott sei Dank, die Kletten haben unten im Korridor abgelegt. Ein teuflischer Plan reift in dem Haupt des Bedrängten. Geduldig läßt er sich von den besorgten Freunden ankleiden und einhüllen, – der Assessor möchte ihm vor lauter Liebe noch sein Schnupftüchel um den Hals binden. Dann geht's die Treppe hinab. Der neue Akt beginnt, alles eilt in den Zuschauerraum zurück, ein großes Gedränge entsteht.

Die Herren quetschten sich durch, und der Assessor setzt flink den Zylinder auf. Da erhält derselbe plötzlich einen kleinen Stoß von rückwärts, und mit lautem Wehschrei stürzt Max dem vornüberfliegenden nach. – Alles stiebt auseinander – bückt sich – schaut – und der Landrat macht kehrt und fliegt wie ein Wahnsinniger davon. Zum Portal hinaus, in die nächste Haustür hinein und die Treppe empor. – Er ist gerettet. Hochatmend steht er und lacht – lacht so unsagbar triumphierend, als habe er den größten Sieg seines Lebens erkämpft. – Er wartet eine kleine Weile, – dann pürscht er sich langsam wieder zurück. Flur und Foyer sind menschenleer, Rolf schreitet lautlos nach dem Korridor, welcher zu Loge 3 führt. Vorsichtig lugt er um die Ecke und prallt entsetzt zurück. Mit dem Rücken gegen die Logentür gelehnt, sehr lebhaft und heftig gestikulierend, sieht er seine Verfolger und nicht sie allein, sondern das gesamte Skatkränzchen. Nun bewachen sie Doraline! Da kommt ihm blitzschnell ein Verstehen, nun weiß er, wer in toller Faschingslaune den anonymen Brief geschrieben! Doch ist keine Zeit zum Grübeln über solch rätselhaftes Wissen wildfremder Menschen.

Er flieht auf lautlosen Sohlen zurück und begibt sich in die Reihen der harrenden Equipagen. »Wo ist der Wagen von Paulinenhöh?« ruft er.

»Hier!«

Er tritt zum Kutscher heran. »Der Herr Baron ist noch zum Arzt in die Stadt geritten, – Sie möchten nachher an der Ecke der Margaretenstraße auf ihn warten und Baronesse Doraline die Meldung machen.«

»Befehl, gnädiger Herr.«

An der Margaretenstraßenecke stand Rolf und harrte mit stürmenden Pulsen der Geliebten. Endlich fuhr die Equipage heran und hielt. Er sprang herzu und riß den Schlag auf. »Doraline!«

»Rolf, um Gottes Willen – was ist geschehen?«

»Ich konnte bei dem besten Willen nicht kommen, Herzlieb, eine verzweifelt zudringliche Begleitung machte es mir unmöglich! Ich bin aber dadurch dem Geheimnis auf die Spur gekommen, wer den anonymen Brief verfaßt hat!«

»O Rolf, ich weiß es bereits!«

»Du weißt es? Wie ist das möglich?«

»Ich hatte mich, deines Kommens harrend, dicht an die Logentür gesetzt. Leises, sehr erregtes Geflüster – der Klang deines Namens ließ mich auflauschen. Ich vernahm in abgerissenen Sätzen das ganze Attentat. Ich kenne auch die Herren; sie geleiteten mich sicher zum Wagen. Morgen sollst du das Nähere erfahren, es war ein übermütiger, aber nicht bös gemeinter Karnevalsscherz.«

Leises, zärtliches, glückseliges Flüstern. »Morgen – morgen, auf Wiedersehen!« Und der Wagen rollte davon. Als aber am nächsten Tage die Sonne auf Eis und Schnee funkelt, da hält Iserloe die Braut im Arm, und er küßt ihr die Tränen von den Wimpern und spricht feierlich: »Nun aber lasse ich dich nie wieder, nicht im Leben und nicht im Tod.«


Das Skatkränzchen sitzt melancholisch zusammen. Iserloe ist schon seit zwei Tagen verschwunden, und der Assessor trägt sich voll Verzweiflung mit Selbstmordgedanken. Da plötzlich stürmt er atemlos in das Lokal, wirft einen Brief auf den Tisch und sinkt selber keuchend auf den nächsten Stuhl. Der Brief aber war eine gedruckte Anzeige. Die Verlobung von Rolf und Doraline! Unter den Namen aber steht: »bedanken sich beim Skatkränzchen herzlichst für die gütige Vermittlung.« – – –

 


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