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Scherben

Wohl lenkt ich still nach andern Zielen
Und rang mich fort durch Freud und Pein
Doch, wie des Lebens Würfel fielen
Vergessen konnt' ich nimmer dein!

Emanuel Geibel.

Tantchen, – es ist Alles bereit! – Wir sind gerüstet, das neue Jahr würdig zu empfangen!«

Sie blickte empor, die schlanke vornehme Frau, mit den kalten Grauaugen und dem herbe gefalteten Mund.

»Wahrlich, Margot? bereit wie alle Jahre zuvor? – Mir deucht, es fehlt noch die Hauptsache auf dem Tisch!« –

Wunderlich! – lag's am Ohr des jungen Mädchens, daß die Stimme der Sprecherin so fremd klang? Wäre es denkbar gewesen, so hätte Margot geglaubt, es gehe ein leises Zittern durch die Worte, ein Hauch unendlicher Wehmut, welchen sie nie vorher gekannt. Betroffen starrte sie auf den Teetisch, auf die bläulich züngelnde Flamme unter dem silbernen Kessel, auf das elegante Service, auf das Krystall, welches farbige Strahlen schoß, – auf die appetitlich garnierten Platten, welche mit dem kalten Inhalt des Menüs bereits den weißen Damast schmückten. Was hatte sie vergessen? – Sie war so zerstreut heute, so froh zerstreut! – Durch alle ihre Gedanken klangen und sangen noch die seligen Weisen, nach welchen sie gestern abend im Tanze dahin geschwebt war, – mit ihm. – Und durch das Locken und Jubeln des Walzers klang seine Stimme, die flüsterte: »Darf ich morgen abend kommen, Margot, endlich kommen, um von deiner Tante mein höchstes Lebensglück zu erbitten, – dich, du mein einzig Lieb?« – Sprechen konnte sie nicht; sie sah ihm nur in die Augen, erwiderte den Druck seiner Hand und nickte ihm lächelnd zu, – und die Lichter wogten zusammen zu einem Flammenmeer, und von dem Orchester jauchzte es ihr wie ein Liebeslied entgegen.

Sie hört's immer noch, sie hat den ganzen Tag über nichts anderes gesehen und gehört wie das eine Bild und das eine Wort, welches ihr Herz und ihre Seele erfüllt. Was hat sie vergessen? Sie vergißt sogar darüber nachzudenken, – sie schlingt die Hände ineinander, blickt wie geistesabwesend auf den Tisch hernieder und lächelt wie im Traum.

Sie ist anders, ganz anders wie sonst. Das strenge Wort der strengen Tante hätte sie an einem andern Tage wohl in höchste Bestürzung versetzt, denn Margot zittert vor den kalten Augen der Geheimrätin – aber heute ist sie wundersam verwandelt, – sie wähnt sogar, die Stimme der empfindungslosesten aller Frauen habe gezittert.

Seltsam, ist's nur der feierliche, wehmütige Hauch der Versöhnung und Milde, welcher das scheidende Jahr umschwebt, oder ist's eine andre Ursache, welche auch das Haupt der noch so jugendfrischen Matrone in tiefen Gedanken zur Brust neigt? – Wo bleibt heute der Tadel, die strenge Rüge über den unaufmerksam gedeckten Tisch? Nicht einmal in dem Blick drückt sich ein Verweis aus, im Gegenteil, so weich und sinnend hat er noch niemals auf dem rosigen Gesichtchen gehaftet, wie just heute. Und dennoch ahnt sie nichts, sie kann nichts ahnen, und täte sie es auch, würde ihr Angesicht wohl gerade entgegengesetzt mit solcher Milde dreinschauen. Tante Cäcilie hatte ihren verstorbenen, bedeutend älteren Gatten nicht aus Liebe geheiratet. Sie kennt überhaupt nicht die Bedeutung des Wortes Liebe, ihr Herz ist starr und hart wie Stein, ihre Ansicht über die Männer eine unbegreiflich niedere. Einen Mann, der Treue schwört, verachtet sie, denn sie weiß, daß er sie niemals halten wird, daß sein Gelübde ein Meineid ist. – Jedem Heiratsgedanken ist sie durchaus feindlich, und Margot hat wohl oftmals die bebenden Händchen gegen das Herz gepreßt mit dem Seufzer der Todesangst: »Ach, was wird die Tante dazu sagen! Lieber Gott, hilf mir, ihr starres Herz zu erweichen!«

Und darum waren Margots Lippen wie mit sieben Siegeln verschlossen gewesen. Wie hätte sie es auch wagen können, jener Pessimistin von dem süßen, idealen Liebestraum zu erzählen, welcher ihre junge Seele mit dornenlosen Rosen kränzte, welchen sie wie ein heilig Altarfeuer in ihrem Herzen nährte, ganz voll Glauben, ganz voll Liebe, aufgehend in seinem reinen Glück!

Und dennoch mußte die Stunde kommen, wo sie ihren herzliebsten Schatz vor die erbarmungslosen Richteraugen der Tante führen mußte. Wolfgang war ein wackerer Soldat, ein flotter Student gewesen, dem wohl kein Mensch nachsagen konnte, daß er vor irgend einem Wagnis zurückschrecke, aber vor seiner Werbung bei der Geheimrätin graute es selbst ihm, und es hatte wohl ein gut Teil Ernst durch seine scherzende Äußerung geklungen: »Bei Frau Cäcilie um dich anhalten, Margot, ist gleichbedeutend wie ein Feldzug!«

Und dennoch mußte das junge Paar in dieser Campagne Sieger bleiben, sonst war nicht nur viel, sondern alles verloren. – Die Liebe frägt nicht danach, ob sich auch das Portemonnaie zum Geldbeutel findet, wo sie zwei Herzen eint. Sowohl Wolfgang wie Margot waren völlig mittellos, und wenn auch das junge Mädchen von der sehr reichen Tante adoptiert war, so hing es dennoch lediglich von dem guten Willen derselben ab, die Nichte in die Lage zu setzen, einen armen Offizier zu heiraten, dem königliches Gebot und die unerbittliche Notwendigkeit die ausreichende Mitgift zum Gesetz macht. Dennoch vertraute das junge Paar jenem guten Stern, welcher so oft für Liebende aus den finstern Wolken der Hoffnungslosigkeit auftaucht, – und Wolfgang sah es bereits als ein ganz besonderes Glückszeichen an, daß Frau Cäcilie am Schluß des gestrigen Balles endlich von den herzbewegenden Klagen Notiz nahm, und den armen, einsamen jungen Mann, welcher so ungern ernste Stunden im Wirtshaus verlebt, zum Neujahrsabend in ihr stilles Heim einlud. Das hatte auch Margot in einen wahren Rausch von Wonne versetzt, um so mehr, als gerade der Neujahrstag eine ganz besonders weiche Stimmung bei der Tante zu verursachen pflegte, und darum den Wünschen des jungen Pärchens als Verbündeter zu Hilfe kam.

Und nun stand sie vor dem Teetisch und legte die Hand gegen die Stirn und konnte sich um die Welt nicht besinnen, was sie vergessen hatte!

Da wandte sie das Köpfchen und blickte ratlos in das Antlitz der Geheimrätin, und wie sie die dunkeln Augen auf sich gerichtet sah – gar nicht so kalt und grau wie sonst, sondern feucht glänzend durch Tränen, – da sank sie jählings vor der hohen Gestalt nieder und umschloß die weißen Hände, welche zum erstenmal ohne Arbeit, gefaltet im Schoß der ernsten Frau ruhten.

»Tante, liebe Tante, – ich finde es nicht heraus, was noch auf dem Tische fehlt!«

Wie in tiefen Gedanken strich Cäcilie über das seidenweiche Goldgelock der Nichte. »Du bist schon acht Jahre lang meine liebe Genossin, Margot, – hast du es an den acht Neujahrstagen jemals erlebt, daß ich meinen Tee aus einer solchen Tasse getrunken?«

Dunkle Glut flammte über das geneigte Antlitz des jungen Mädchens. Mit einem Laut des Schreckens sprang sie empor: »Die chinesischen Tassen! o, um alles in der Welt, wie konnte ich diese Hauptsache vergessen!«

»Die chinesischen Tassen!« – auch die Geheimrätin erhob sich, aber nicht wie gewöhnlich, frisch und jung, sondern langsam wie eine Greisin: »So lange in meinem Leben die Neujahrsglocken läuten, sollen diese Tassen vor mir stehen, – ein Denkmal dafür, daß selbst solch ein elend Stücklein Porzellan dauerhafter ist, als Männerlieb und Männertreu!«

Margot schrak leicht zusammen, ihr Blick huschte angstvoll zu der Sprecherin empor, welche mechanisch den Arm um ihren Nacken legte, die Nichte mit sich nach dem Nebenzimmer zu führen. Wieder solch bittere Worte, aber … Gott sei Lob und Dank, sie verscheuchen nicht den Zug der Wehmut, welcher heute um die stolzgeschweiften Lippen liegt, sie klingen auch anders wie sonst, nicht wie ein Richterspruch, sondern wie eine schmerzdurchbebte Klage.

Zu dem kleinen, uralten Eckschrank führte Frau von Kreutzer ihre Nichte. Sie trägt an jedem Neujahrstag tiefe Trauer, und auch heute schmiegen sich die schwarzen Wollfalten um ihre mädchenhaft schlanke Figur, auch heute umrahmt der dunkle Spitzenschleier das stolze bleiche Angesicht, dessen Schönheit die vierzig Lebensjahre eher gereift wie beeinträchtigt haben. Mit sammetweichen, ringgeschmückten Händen hebt sie einen Ebenholz-Kasten aus dem Schrank hervor und stellt ihn behutsam, als gälte es, das Glück von Edenhall sicher zu tragen, auf einem Nebentisch nieder.

»Hol' ein Staubtuch, Margot!« sagte sie leise, und als ihrem Wunsche eifrig Folge geleistet wird, und sie allein im verschleierten Lampenlicht vor ihrem wunderlichen Kleinod steht, da zieht sie mit bebenden Händen einen kleinen Schlüssel an seinem Goldkettchen, welchen sie auf der Brust getragen, hervor und öffnet den Kasten.

Mit leisem Knax springt der Deckel zurück, in gelbseidenem Polster gebettet liegen drei kleine chinesische Täßchen und eine Zuckerschale. Frau von Kreutzer aber sinkt auf den Sessel nieder, beißt die Zähne zusammen, als müsse sie einem leidenschaftlichen Aufschrei wehren, und neigt das Antlitz auf das kühle, kleine Service nieder. Wie ein Schluchzen durchschüttert es ihre ganze Gestalt; die Hände falten sich um das Kästchen, und ihre Lippen flüstern leise, ganz leise, als hielten sie Zwiegespräch mit den Geistern der Erinnerung.

Margots Schritte weckten sie aus ihrem Sinnen.

Sie schrickt empor, streicht tiefatmend über die Stirn und schaut der Nahenden entgegen. Ruhig, ernst, ohne die mindeste Spur einer Erregung. Ihre Hände nur greifen etwas unsicher, als sie die Täßchen empor nimmt, sie sehr sorgsam, beinahe feierlich mit dem Staubtuch abzureiben, obwohl kein Stäubchen auf dem goldglänzenden Muster zu entdecken ist.

»Darf ich dir diese Arbeit nicht abnehmen, Tantchen?«

Sie schüttelt mit seltsamem Lächeln das Haupt. »Nein, kleine Margot, solch eine Kostbarkeit vertraue ich keiner fremden Hand, selbst der deinen nicht an. Kennst du die Sage vom ›Glück von Edenhall‹? Jener Krystallkelch und dieses kleine Service tragen dieselbe Bedeutung. Kein Verlust würde mich im Leben schmerzlicher treffen können, als der eines dieser kleinen Porzellanstücke, welche mir mit Herz und Seele verwachsen sind. Ich habe dich lieb, Margot, – wenn du aber eine dieser Tassen zerschlügest, würde ich dich hassen,« und mit einer tiefen Falte in der Stirn, die dem schönen Antlitz einen schier grausamen Ausdruck verlieh, faßte Frau von Kreutzer die Kassette aus Ebenholz und trug sie in das Nebenzimmer auf den Teetisch.

Ein Gefühl banger Angst preßte Margots Herz zusammen.

»Wenn die Tassen so unersetzlich wertvoll sind, bestes Tantchen, – warum sie einer Gefahr aussetzen und sie in Gebrauch nehmen?«

Die Gefragte neigte das Haupt tief zur Brust. »Sie liegen das Jahr über sorgsamer verwahrt als mein ganzes Hab und Gut, – am Neujahrstag jedoch muß ich sie vor mir sehen, muß sie benutzen und aus ihnen trinken, so oft wie ich noch im Leben die Glocken hören werde, welche eine Jahreswende einläuten!« Wieder schlich der herbe Zug um ihre Lippen: »So ist's ein Gelöbnis, welches ich seit zwanzig Jahren unverbrüchlich gehalten habe, denn ich, die schwache Frau, erfülle, was ich einst zugesagt, während er …« Sie unterbrach sich kurz, die kleinen Teeschalen klirrten seltsam auf unter ihren bebenden Fingern. Margot wußte es selber nicht, woher sie den Mut nahm, aber sie schlang einem jähen Impuls zufolge ihre Arme um den Nacken der einsamen Frau und blickte ihr voll und zärtlich in die Augen.

»Tantchen – mit diesen Täßchen hat es gewiß eine ganz besondere Bewandtnis! – ein Geheimnis knüpft sich daran, an welchem du, gleich wie an einer schweren Bürde trägst, und dennoch Leid und Schmerz mit keiner treuen Seele teilen magst! Liebe, liebe Tante Cäcilie, erzähle mir, woher stammen diese fremdartigen kleinen Schalen, wie ich sie weder in Form noch Farbe je zuvor gesehen?«

Wie im Traum starrte die Geheimrätin in das treuherzige Gesichtchen, welches sich so nahe dem ihren an ihre Brust schmiegte. Regungslos stand sie, schweratmend, als gelte es, einen Kampf mit sich selber und ihrem verschlossenen, widerstrebenden Herzen zu kämpfen! – Und dann neigte sie plötzlich ihr Antlitz gegen die Wange des jungen Mädchens und sprach wie unter einem Aufatmen der Erlösung: »Ja, Margot, ich trug 20 Jahre lang daran, wie an einer schweren Bürde! Ich habe mir niemals Kinder gewünscht und diese Gottesgabe voll trotzigen Sinnes verschmäht, und dennoch hat mir der barmherzige Vater im Himmel in diesem Augenblick eine Tochter an das Herz gelegt. ›Wer weiß, wie nahe mir mein Ende‹ haben wir heute Morgen in der Kirche gesungen, und dieser Klang tönt mir im Herzen nach, wie eine ernste Mahnung. Du bist einst meine Erbin, Margot, auch jene kleinen Tassen werden einst in deine Hände übergehen, wenn mich ein jäher Tod verhindert, sie zuvor zu vernichten. Du wirst sie in Ehren halten, wenn du weißt, wie eng verknüpft diese kleinen Porzellanscherben mit meinem Schicksal waren, wie sie das einzige, kleine Scherflein gewesen, welches mir die Stiefmutter Glück jemals in den Schoß gelegt. Erzählen? nein, Margot, ich kann es nicht, meine Lippen sind ebenso störrisch wie mein Herz, sie haben nie im Leben das rechte Wort gefunden, welches sie erschließen konnte. Aber hier, vor Jahren, als ich mir einbildete, an unheilbarem Lungenleiden erkrankt zu sein, habe ich diese Blätter geschrieben!« Frau von Kreutzer hob das Atlaspolster der Kassette empor und entnahm dem sichtbar werdenden kleinen Holzfach einen dicken, versiegelten Brief. »Da wollte ich dieses Service in die Hände dessen zurücklegen, welcher es mir einst, in der seligsten Stunde meines Lebens zu eigen gab. Gott im Himmel hat es anders gefügt. Damals konnte ich die Spur jenes Gebers noch finden, heute ist sie verloren, und der weite Ozean, welcher ihn einst von meinem Herzen gerissen, ist wohl sein Grab geworden. So gebe ich dir denn diese Blätter, du meine liebe, kleine Tochter, mögest du schon vor meinem Tode ihren Inhalt kennen lernen, vielleicht entnimmst du ihnen eine Lehre, welche dein junges Herz noch rechtzeitig vor gleichem Leid behütet!« Die Sprecherin richtete sich in ihrer alten, entschlossenen Weise auf und blickte nach der Pendüle. »Du hast noch eine Stunde Zeit bis zu der Ankunft unseres Gastes, setz' dich und lies.«

Ein leiser, schneller Kuß auf die Stirne des jungen Mädchens, Frau Cäcilie neigte sich mit seltsam forschendem Blick: »Die Männer schwören und geloben viel, Margot, aber sie vergessen und verlassen noch mehr! Eine Närrin ist jeglich Mädchen, die ihr Herz an solch einen treulosen Schmetterling hängt!«

Heiß erglühend senkte die Kleine das Köpfchen, die Geheimrätin aber schritt lautlos auf dem schwellenden Teppich davon.

Margot war allein.

Neben dem Teetisch, gegenüber dem geheimnisvollen Kästchen, setzte sie sich nieder und erbrach klopfenden Herzens das Schreiben der Tante.

Folgendermaßen lautete sein Inhalt:

»Wenn eine Frau liebt, liebt sie in einem fort, der Mann hat dazwischen zu tun!« Wie hatte ich so oft über dieses Zitat gelacht und den Dichter verspottet, welcher den Frauen so viel müßige Zeit anfabelt, und dennoch … seit der Stunde, da ich ihn, den Liebsten und Herrlichsten von allen, geschaut, überzeugte ich mich, daß Jean Paul ein größerer Weiberkenner gewesen, als ich ihm zugestehen wollte.

Auch ich liebte in einem fort! Gleichviel ob meine Hände sich in mechanischer Arbeit regten, oder ob sie tatenlos im Schoße ruhten, – ich liebte, – und das füllte jeden Gedanken, jedes Wachen und Träumen, all mein Sein und Wesen aus!

Ich war seit Jugend auf ein Glückskind genannt, ein freundliches Geschick hatte mir alles in die Wiege gelegt, was nach menschlichen Begriffen das Glück eines jungen Mädchens ausmacht.

Die einzige Tochter eines sehr vermögenden Rittergutsbesitzers, hübsch, talentvoll, elegant und weltgewandt, ausgestattet mit der seltenen Gabe, die Männer in der Unterhaltung nicht zu langweilen, was Wunder, wenn ich viel umworbenes Prinzeßchen im Grunde meines Herzens ein eingebildetes Fräulein war, so selbstbewußt und selbstzufrieden, daß es wohl den guten Engel der Liebe verdrießen mußte, so sehr verdrießen, daß er mir den Rücken kehrte, mich zeitlebens einsam und freudlos in all meinem großen Glück allein zu lassen.

Von all den Männern, welche um mich freiten, war mir keiner zum Heiraten gut genug. Mit dem kühlen Blut einer Spielerin, welche sich überlegt, auf welche Nummer sie am vorteilhaftesten setzt, beratschlagte ich mit mir – eine Mutter besaß ich, Gott sei es geklagt, nicht mehr –, welcher von diesen Bewerbern mir das Meiste bieten könne an Geld, Namen und Stellung. Und niemals kam ich zum Resultat, und die Antworten, welche ich auf die Anfragen zu geben hatte, lauteten immer abweisender.

Aber auch für mich sollte die Stunde schlagen, über welcher für die meisten Mitschwestern das glückjauchzende Motto schwebt: »Nun, armes Herze, sei nicht bang, nun muß sich alles wenden!«

Ja, es ward alles, alles anders, seit ich in seine dunkelblitzenden Augen geschaut!

In unserer kleinen Nachbarstadt weilte er zum Besuch seines Bruders, eines Premierleutnants, welcher mir sympathisch war, weil er nicht mir, sondern meiner unbemittelten Freundin gleich einem getreuen Toggenburg die Cour machte. Er hatte mir schon viel von dem in Aussicht stehenden Besuch des Bruders erzählt, und wenn er von seinem wackeren Hellmuth sprach, strahlten seine Augen vor Stolz und Genugtuung.

Er hatte auch alle Ursache dazu. Gab es doch wohl kaum einen zweiten Marineoffizier, welcher sich so heldenhaft ausgezeichnet, welcher sich durch so viel schwere Schicksale geschlagen, wie ein Odysseus, den treue Liebe dennoch zur Heimat zurücktrieb, gleichviel ob manches Glück im Ausland gewinkt. Und so oft wir von dem Fernen gesprochen, malte ich mir sein Bild und schmückte es aus mit all den Vorzügen einer reichen Phantasie, welche sich noch für Ideale und heldenhafte Männergestalten begeistern kann.

Seit einem Jahr hatte ich im Geist mit dem Premierleutnant die Reise des Bruders verfolgt, hatte mit gejubelt, wenn endlich ein langersehnter Brief eintraf, und es ganz selbstverständlich gefunden, daß Leutnant Laarsen mir diese Briefe seines vergötterten Hellmuth vorlas, als sei ich keine Fremde, sondern eine Schwester, welcher das Wohl und Weh des kühnen Seefahrers ebenso am Herzen liegen mußte, wie ihm selbst.

Und der Tag kam, an welchem Laarsen mir das Bild meiner Träume in Fleisch und Blut entgegenführte. Kein Trugbild war es, sondern die wahrhaftige Verkörperung dessen, was ich zu schauen gehofft. – Ja, – just so hatte ich ihn mir stets nach seiner Photographie vorgestellt.

So reckenhaft groß und imposant, mit dem Haupt eines Lohengrin, unter dessen blonden Locken kühne, dunkelblitzende Augen jedem Mitmenschen bis auf den Grund der Seele zu schauen scheinen. Und nichts in seinem Wesen, was an den rauhen Seesturm erinnert, der jede Blüte zarten Empfindens über Bord bläst! Nein, eine erstaunliche Idealität, eine kindliche Frömmigkeit und wärmstes Empfinden spiegelten sich in jeder Ansicht und Erzählung, und dabei frisch und fröhlich, wahr und offen, wie ein echtes, rechtes Seemannsblut, das nicht gewohnt ist zu diplomatisieren, sondern Brust an Brust und Aug' in Aug' mit den Gegnern kämpft, welche sich ihm in Sturm und Flut, Hitze und Kälte, Hunger und Entbehren, Fieber und Untiefe entgegenstellen! Nicht allein ich hatte das Gefühl, als seien wir jahrelange Bekannte!

Wie er mir entgegentrat und mich ansah, lachte er über das ganze Gesicht, und seine Augen strahlten wie in dankbarem Entzücken, als er mir, ganz gegen die Etikette, wohl aber im Sinne einer warmen Offenherzigkeit, die Hand bot mit den Worten: »Also Sie – Sie, mein gnädigstes Fräulein, waren der gute Schutzgeist, welcher in der Heimat über das Wohl und Weh eines seefahrenden Mannes wachte! Mein Bruder schrieb mir so viel von Ihnen, daß ich in diesem Augenblick wahrlich keiner Fremden gegenüberstehe!«

Und dann tanzten wir zusammen, und während des Soupers saß er an meiner Seite, und es war keine andere Menschenseele mehr auf Gottes weiter Welt, welche für mich noch existierte, außer ihm!

Wie oft schon war ich von Bällen heimgefahren, durch das nächtlich stille Gelände, durch rauschenden Wald und schneebedeckte Heide. Dann hatte ich an Vaters Seite müde in den Polstern gelegen, mit dem apathischen Gefühl einer verwöhnten Dame, welche sich so amüsiert hatte, wie es ihr eitler Sinn verlangt und erwartet. – Die Augen bereits im Halbschlaf geschlossen, gähnend beim Nachdenken über all das Viele, Schöne, was man dem reichen Mädchen in Worten, Blicken und Kotillonsträußen serviert hatte.

Und heute? Nie im Leben war ich so wach gewesen wie auf dieser Heimfahrt. – Und nie so wunderlich. Sonst waren die Sterne für mich nur Dinge gewesen, welche die weise Weltordnung einzig erschaffen, damit die Astronomen etwas zu rechnen hatten, – heute waren es lauter Christbaumlichter, unter denen das köstlichste Geschenk lag, welches je ein gütiger Gott einem Menschenkind verleihen kann, – ein glückseliges, liebejauchzendes Herz! Und so oft, wie ich empor zum Himmel schaute, dachte ich an Hellmuth Laarsen, und ich wußte nicht mehr, wie viele Kotillonsträuße ich erhalten, nur ein einziger lag noch in meiner Hand, auf den drückte ich die Lippen und die Augen! Das Rauschen des Waldes aber klang in mein Ohr wie ferne Meeresbrandung, und durch meine Seele tönte es wie hochzeitliche Glocken!

Wir sahen uns viel, täglich fast, und auch zum Christfest lud mein Vater die beiden Brüder in unser Haus, denn sie hatten keine Eltern und keine Heimat mehr, sie standen allein auf der Welt.

Mit größerem Eifer und seligerem Herzen ist wohl nie ein Weihnachtstisch geschmückt worden wie an diesem Tag der unsere durch meine Hand. – Mein guter Vater hatte stets alle Anordnungen seines verzogenen Töchterleins recht und schön geheißen, darum fand er es auch für richtig, daß ich für die beiden Gäste eine kleine Christbescherung aufbaute, nützliche und ideale Dinge in buntem Durcheinander, und er lächelte nur in seiner humoristischen Weise mit der Uhr in der Hand, als ich sehr spät abends erst, beladen wie der Knecht Ruprecht, mit meinen Einkäufen aus der Stadt heimkehrte. Auch stand er nachher breitspurig, beide Hände in den Taschen, vor dem Platz der Brüder und kniff neckend das eine Auge zu: »Du, Cilchen … wer soll denn die wunderschönen roten Rosen bekommen? Der Mann zu Wasser oder zu Land?« – Ich nahm ihn übermütig beim Kopf. »Rate mal!« »Dein Mann!« – lachte er und nahm eiligst Reißaus.

Seltsam! Hatten mir ehemals die Sterne wie Christlichter gedäucht, so war es mir nun zu Sinnen, als seien all die leuchtenden Weihnachtskerzen Sternlein, und mein Herz war auch ein schwebender Stern, noch viel heller, noch viel strahlender wie jene am Baum und jene am Himmel!

So stand ich vor dem schwarzen Ebenholzkasten, welchen Hellmuth mit der bescheidenen Bitte, ihn als kleines Andenken überreichen zu dürfen, auf meinen Platz niedergestellt hatte. – Ich öffnete hastig und jubelte wie ein Kind bei dem Anblick der reizenden chinesischen Täßchen, welche mir daraus entgegenblinkten! »Darf ich Ihnen nachher die Geschichte dieses kleinen Services erzählen?« fragte er leise mit bewegter Stimme, und ich gab freudig die Erlaubnis.

Papa und der alte Pfarrherr sprachen gar eifrig über die neuesten Zeitungsereignisse, Leutnant Laarsen und meine Gesellschaftsdame spielten vierhändig Klavier, und Hellmuth und ich saßen unter dem Christbaum. Da erzählte er mir, durch welch seltsamen Zufall er zu dem Service, welches ein äußerst seltenes und schwer zu erlangendes Muster aus der kaiserlich chinesischen Tafelausstattung sei, gekommen.

»Wir feierten Weihnachten auf See und liefen just am einunddreißigsten Dezember im Hafen von Shanghai ein. – Eine Einladung zu einem deutschen Kaufherrn erwartete uns für den Neujahrstag, und als wir derselben sehr freudig nachkamen, trafen wir eine große, internationale, sehr heitere Gesellschaft an, Herren und Damen, welchen es besondern Scherz bereitete, alle nur denkbaren Neujahrs- und Sylvesterbräuche in Szene zu setzen. So wurde unter anderem auch eine Glückslotterie arrangiert, und da die jungen Mädchen sehr heiratslustig schienen, so nahm dieselbe einen etwas kühnen, nur den dortigen Sitten begreiflichen Charakter an. Gegenstände wurden geteilt, die eine Hälfte unter den Herren, die andere unter den Damen verlost. Das Zusammengehörige fand sich zusammen und das, durch solch launiges Schicksal bestimmte Pärchen galt für diesen Abend als Brautpaar. – Da die Küsse durchaus nicht nur markiert zu werden brauchten, so mag wohl aus diesem Spiel bei gar manchem später Ernst geworden sein. –

Der Hauptgewinn sollte aus einem chinesischen Teeservice bestehen.

Ich hielt meine zusammengerollte Nummer in der Hand, und als der erste Aufruf just dieses Services erfolgte, öffnete ich den Glückszettel und fand auf ihm die große Glücksnummer »Eins« verzeichnet.

»Bitte, meine Damen, – welche von Ihnen ist die glückliche Partnerin, – Los Numero 2?« – erklang die Stimme des Gastgebers durch den Jubel. – Allgemeine Stille. Alle Köpfchen neigten sich wohl auf ihre Zettel, aber es meldete sich keine Besitzerin. Da fiel mir ein zweites Losröllchen aus dem meinen entgegen. Als ich erstaunt öffnete, hielt ich auch Nr. 2 in der Hand. –

Großer Tumult! »Das ist des Schicksals Stimme!« lachte der joviale Wirt, »also unter unsern Schönen ist keine zu Ihrer Herzenskönigin bestimmt. Je nun, – so heben Sie die Hälfte Ihres Gewinnes für diejenige deutsche Landsmännin auf, welche Sie einst selber, nach dem Los Ihres Herzens, wählen.« – Hellmuth machte eine kleine Pause und sah mir mit solch innigem Ausdruck in die Augen, daß ich das Haupt, tief erglühend, neigte, und fuhr langsam fort: »Damit überreichte er mir zwei schwarze Ebenholzkästchen. Ein jedes enthielt drei Täßchen, das eine die Kanne, das andere den Gießer dazu. – Eine der »bräutlichen« Teeschalen wurde mir sehr süß gefüllt, und ich trank coram publico aus ihr das Wohl jenes unbekannten deutschen Mädchens, in dessen Hand ich dereinst dieses verheißungsvolle Symbol legen würde!«

Wieder neigte er sich tief zu mir, und da ich keiner Antwort fähig war, fuhr er innig fort: »Wollen Sie mir ein Versprechen geben, Fräulein Cäcilie?« bat er weich. –

Ich nickte, – und er zog meine Hand an die Lippen. »Als ich nach jenem Fest einsam in meiner Schiffskajüte lag, sangen mir die Meereswellen gar wunderselige Lieder der Zukunft, und ich träumte mit offenen Augen, und ich sah ein Bild, welches mir wie eine liebliche Verheißung aus dem Dunkel der Nacht leuchtete. – Ich war daheim in meinem geliebten deutschen Vaterland, ich saß in traulichem Stübchen beim warmen Kachelofen, der Schnee fiel draußen leis und dicht, und das Kaminfeuer knisterte; Neujahrsglocken läuteten feierlich vom Turm, und ich schlang den Arm um mein Weib, mein süßes, heißgeliebtes, deutsches Weib, hob die chinesische kleine Tasse und bat: kredenze mir! – –

Sie führte sie lächelnd an die Lippen und sprach: ›So wollen wir's halten Jahr für Jahr, zur Erinnerung an die Stunde, wo du zum erstenmal mein Wohl im fernen Süden getrunken!‹

›Das walte Gott!‹ – und das kleine Service stand vor uns, nicht mehr geteilt, sondern eins geworden wie unsere Herzen!

Und ich gelobte mir in der glücklichen Vorahnung solcher Neujahrsabende, daß dieses Zukunftsbild Wahrheit werden solle. Fräulein Cäcilie, ich habe heute abend das Symbol all meines Glückes in Ihre liebe Hand gelegt! Wollen Sie mir versprechen, an jedem Neujahrsabend – möge das Schicksal uns bringen, was es immerhin wolle – dieses kleine Service in Gebrauch zu nehmen, und dabei des Mannes zu gedenken, welcher in Ihnen und in Ihnen allein die Verkörperung seines Ideals fand?« Sein Auge blickte so ernst und feierlich, beinahe angstvoll fragend in das meine. Mein Antlitz glühte wohl, aber ich erwiderte fest und innig seinen Blick, schlug ein in seine Hand und sprach: »Ich gelobe es!«

»Und ich schwöre ein Gleiches, Cäcilie, – so wahr, wie ich Sie liebe, treu und unaussprechlich liebe,« flüsterte er mit strahlenden Augen und verstummte jählings. Neben uns war der alte Pfarrer getreten, um sich zu verabschieden.

Das Klavierspiel brach ab, die stille, unbelauschte Aussprache unter dem Christbaum war gestört, und am ganzen Abend bot sich keine Gelegenheit mehr, ein unbemerktes Wort zu tauschen. Die Blicke sprachen dafür desto beredter, und als Hellmuth mir zum Abschied die Hand küßte, flüsterte er: »Ich muß morgen, wie Sie wissen, in dienstlicher Angelegenheit für etliche Tage nach Berlin reisen, erst am Sylvesterball kann ich Sie wiedersehen und all das Wenige – und doch so unendlich Viele sagen, was mir vorhin unter dem Christbaum nicht mehr vergönnt war, auszusprechen! Werden Sie meiner gedenken, Fräulein Cäcilie? Wird es nicht bei Ihnen heißen: aus den Augen – aus dem Sinn?«

»Das ist eine Soldatendevise!« scherzte ich mit zitternden Lippen, »so gewiß, wie ich mein Leben lang jeden Neujahrsabend beim Anblick der Teetassen Ihrer gedenken werde, so gewiß werden auch jetzt meine Gedanken Sie begleiten!«

Ein fast leidenschaftliches Entzücken strahlte aus seinem Blick. Seine Lippen brannten auf meiner Hand, dann schlug er den Paletot fester um die Schultern und sprang in den Schlitten.

Ich aber dachte an ihn und liebte ihn, liebte ihn in einem fort, – er mochte vielleicht dazwischen zu tun haben, nach Jean Pauls Ansicht.

Wie langsam die Tage einherzogen, – ich hatte früher nie die Stunden bis zu einem Ball gezählt, jetzt ertappte ich mich gar oftmals dabei, wie ich mit lässig verschlungenen Händen in das Schneegestöber hinaus träumte und mich jedes Uhrschlages freute. Mein Traum aber glich dem meines herzlieben Schatzes ganz genau, – auch durch ihn zog der Klang der Neujahrsglocken, auch in ihm kredenzte ein glückselig Weib dem Geliebten die kleine chinesische Teetasse und flüsterte: »So will ich's halten bis an mein Lebensende!« Endlich, – endlich legte mir die Jungfer den Pelz um die Schultern und sprach: »Gnädiges Fräulein haben noch nie so reizend ausgesehen wie in diesem Ballkleid, die Schilflilien und Korallen machen einen einzig schönen und aparten Effekt in dem grünen Seidenflor! Wie eine Nixe sehen Sie aus, welche aus der Flut steigt, den jungen Seemann in die Arme zu ziehen!« – und dabei blinzelte mich Lisette so verständnisinnig an, daß mir das Blut in die Wangen schoß.

Ja, mein zärtliches Geheimnis wußte bereits alle Welt, und die spitzen Zungen in der Stadt ließen dieses neueste und interessanteste aller Themas nicht wenig Spießruten laufen, davon zeugten verschiedene anonyme Briefe, welche, von Neid und Bosheit strotzend, sowohl an meine wie meines Vaters Adresse gelangten. Ich legte keinen Wert darauf, denn Leute, welche fähig sind, anonyme Briefe zu schreiben, rechne ich nicht zur Gesellschaft, und was nicht der gebildeten Welt angehört, ist mir vollständig wesenlos. Meinen guten Vater hingegen verdroß es um so mehr, und das mochte wohl in seiner krankhaft gereizten Stimmung liegen. Schon seit Tagen fühlte er sich unwohl und hatte auf des Arztes Wunsch auch darauf verzichtet, den heutigen Ball zu besuchen.

Da seine Erkältung jedoch keineswegs besorgniserregend war, so fuhr ich in Begleitung meiner Gesellschaftsdame mit hochklopfendem Herzen zum Ball. Zum erstenmal im Leben fieberten all meine Pulse, und mein ganzes Sein und Wesen atmete die unbeschreibliche Aufregung, welche jeder geahnten Entscheidung voranzugehen pflegt.

Als ich den Ballsaal betrat, suchte mein Blick nur einen einzigen. Vergeblich. Sein Bruder allein trat mir entgegen. Er reichte mir hastig die Tanzkarte und flüsterte: »Darf ich gleich um die Polonäse bitten? Ich habe Ihnen Wichtiges mitzuteilen!«

»Ist Ihr Herr Bruder nicht hier?« stieß ich mit zitternden Lippen hervor.

Er verneigte sich lächelnd, und da verschiedene andere Herren näherdrängten, einen Tanz zu erbitten, antwortete er laut und unbefangen:

»Mein Bruder hat leider viel Unerwartetes in Berlin erlebt und war dienstlich verhindert, heute Mittag abzureisen. Möglicherweise kommt er noch mit dem Schnellzug um zwölf Uhr dreißig!«

Die Worte sausten und brausten vor meinen Ohren, ich weiß nicht mehr, was ich sprach und tat, ich hörte nur, wie mir bei der Begrüßung der alten Damen die Frau Landrätin mit katzenfreundlichstem Lächeln mit dem Fächer drohte: »Ei, ei, Fräulein Cäcilie! Wer wird Schilflilien tragen! Die bringen ja Unglück!«

Unglück! – Wie ein Schauder ging es mir durch Mark und Bein. Meine Wangen glühten, und doch fror ich bis in das Herz hinein. Eine verzweifelte Unruhe quälte mich, bis die Polonäse begann. Endlich stand Laarsen vor mir und bot mir den Arm. Trog mich die eigene Erregung? Mir schien es, als sei er befangen und ganz anders wie sonst.

Die Musik schmetterte, und meine Augen hingen in stummer Frage an seinen Lippen.

»Mein armer Bruder ist untröstlich, gnädiges Fräulein, er hat ganz überraschenderweise ein neues Kommando auf einem der Schiffe erhalten, welche zum Schutz der deutschen Untertanen und Wahrung unserer Interessen nach Süd-Amerika in See gehen sollen. Bereits in drei Tagen muß Hellmuth an Bord sein und abermals für ein, – ja es können auch wieder zwei Jahre werden – seiner geliebten Heimat Lebewohl sagen! Wie unbeschreiblich schwer ihn gerade jetzt dieses sonst so ehrenvolle Kommando trifft, können Sie, Fräulein Cäcilie, hoffentlich am besten begreifen. Möglicherweise kommt mein Bruder heute nacht noch auf drei Stunden her, um Sie zu sehen und zu sprechen, sollte aber die Sache unmöglich und allzu anstrengend sein, so will er brieflich alles das aussprechen, was er heute abend von Ihnen und Ihrem Herrn Vater erbitten wollte. Sein Brief wird das wichtigste Schreiben seines Lebens sein, und Ihre Antwort entscheidet über sein ganzes Glück; ich bitte Sie mit der vollen Liebe und Treue, welche ich stets für meinen Bruder im Herzen gehegt, lassen Sie diese Antwort zu seinem Segen werden!«

Was konnte ich wohl Lieberes und Beglückenderes hören? Und dennoch … es lag auf mir wie ein Alp, meine Kehle war wie zusammengeschnürt, ich wollte antworten und konnte es nicht. Die Polonäsentour trennte uns, und es fehlte fortan jede Gelegenheit, diese Antwort schon jetzt dem Bruder anzudeuten. Seine Betroffenheit über mein Schweigen fiel mir an jenem Abend nicht auf, später erst, als sich mein gequältes Herz an jeden Strohhalm klammerte, der vielleicht eine Errettung bringen könne, überdachte ich alles Geschehene und knüpfte eine Zeitlang vage Hoffnungen an ein Mißverständnis, welches möglicherweise durch mein Schweigen entstanden.

Wie ein Traum ging alles an mir vorüber, ich gab mir auch keine Mühe, meine Stimmung zu verbergen, und meine Gesellschaftsdame kam einmal unter dem Vorwand, mir eine Schleife auf der Schulter zu ordnen, und flüsterte mir zu: »Um alles in der Welt, Fräulein Cäcilie! geben Sie Ihrer Stimmung nicht allzusehr nach. Man ist bereits im ganzen Saale aufmerksam und raunt sich ironische Bemerkungen ins Ohr!« – Ich zuckte empor. Mein Stolz, meine Eitelkeit bäumten sich auf gegen die lächerliche Rolle einer bespöttelten und bemitleideten Vernachlässigten. Ich ward lustig, – ich lachte und scherzte wie im Fieber.

Laarsen bat um eine Extratour, und als wir tanzten, flüsterte er mir zu: »Der Schnellzug ist da, aber mein armer Bruder ist leider nicht mitgekommen!« –

Ich biß die Zähne zusammen. »Sie sind hoffentlich nicht erzürnt, gnädiges Fräulein? Ich schwöre es Ihnen, daß Hellmuth sein halbes Leben dafür geben würde, könnte er heute bei uns sein!«

Ich atmete schwer auf: »Warum hat er dieses unselige neue Kommando angenommen?« grollte ich mit der Miene eines sehr verwöhnten Fräuleins. Er senkte traurig den Kopf: »Ein Soldat wird nicht gefragt, ob er will, und dieses Kommando ist eine große Auszeichnung für meinen Bruder!« –

»Auszeichnung! Die Liebe fragt nicht viel nach Ehr' und Rang! Wenn ihm diese Reise wirklich lästig war, hätte er den Abschied nehmen können!« –

Laarsen sah beinah entsetzt zu mir nieder. Er preßte einen Augenblick die Lippen zusammen, dann flüsterte er mit schwerem Seufzer: »Ich weiß nicht, ob Ihnen die Verhältnisse meines Bruders bekannt sind? Wir haben leider kein Vermögen und sind darauf angewiesen, uns unser Brot mit dem Degen zu verdienen.« –

»Er ist so arm – wirklich so arm?« entfuhr es mir voll tiefsten Mitleids, und ich begriff nicht recht, warum der junge Offizier emporschrak bei meinen Worten und voll unendlicher Betroffenheit murmelte: »Wir dachten, – diese Tatsache sei Ihnen bekannt?« –

Da stand wieder ein Tänzer vor mir, und als ich auf meinen Platz zurückkam, war Laarsen verschwunden. Ich sah ihn nicht wieder.

Als ich mit fieberheißer Stirn nach Hause kam, erwartete mich der Vater noch und ließ mich für einen Augenblick in sein Zimmer bitten.

Als ich mich über sein Bett neigte, faßte er meinen Kopf mit beiden Händen und blickte mir lang und angstvoll forschend in die Augen. Dann biß er jählings die Zähne zusammen und murmelte: »Armer, armer Liebling!« –

»Was ist dir, Papachen? Warum bedauerst du mich?« versuchte ich zu lachen, und doch stürzten mir die Tränen aus den Augen. –

»Weil du nicht als glückselige Braut heimgekommen, und weil es dem Natterngezüchte der bösen Zungen geglückt ist, deine Myrte zu zerpflücken, noch ehe sie dir ihre Blüten erschlossen!« – Es klang ein fast zorniger Ingrimm durch seine Stimme, und ich schrak schluchzend empor und starrte ihn an: »Vater! du glaubst … du meinst? – o nein! nein!«

»Ach, daß ich die Menschen so recht beurteilt und das Elend vorausgesehen habe! Die Briefe! Die anonymen Briefe, die haben mich auf alles vorbereitet! Neid und Mißgunst sind die mächtigsten der Teufel, und die Leute haben es nicht ertragen können, dich glücklich zu sehen!«

»Unmöglich! Du glaubst, daß man intrigiert, daß Hellmuth auf böswillige Einflüsterungen gehört haben könne? – Undenkbar!« –

Wir sind alle Menschen, Kind, und ein Mann, der dem gesellschaftlichen Leben so fremd geworden wie dein Seefahrer, ist dem Einfluß eines anonymen Briefes vielleicht zugänglicher wie jeder andere. Man kann ja nicht wissen, was man ihm mitgeteilt hat!« –

Ich schüttelte heftig den Kopf. »Niemals! es ist ja noch alles beim alten, – er wird dieser Tage an dich schreiben und anhalten!«

Mein Vater richtete sich mit glückstrahlendem Gesicht empor. »Und das sagst du mir jetzt erst – und machst trotz dieses Wissens ein so jammervolles Gesichtchen? Also hat er sich heute abend erklärt?«

Ich schüttelte kleinlaut den Kopf. »Nein, – er war persönlich gar nicht anwesend, – sein Bruder teilte es mir nur mit!« und gleichsam, als fürchtete mein armes, schwaches Herz abermals ein herbes Wort des Vaters, preßte ich mein Gesicht fest gegen das seine und fuhr hastig fort, alles zu erzählen, was mir Laarsen über das neue Kommando seines Bruders mitgeteilt.

»Unsinn!« grollte der Kranke, meinen Kopf zärtlich streichelnd und dennoch nicht Herr seiner Mißstimmung, »ehrenvolles Kommando! Wäre er in der Tat so verliebt, daß er an ein Verloben denkt, würde er auf solche Auszeichnung pfeifen, die ihn aufs neue für zwei Jahre von der Geliebten trennt! Ich verstehe zwar nicht viel von der Marine, aber so viel weiß ich doch, daß kein Offizier vier Jahre hintereinander auf See zu sein braucht, wenn es nicht sein eigener Wunsch ist!«

»Väterchen, er ist so arm … er will gern auf eigenen sichern Füßen stehen, ehe er sich das eigene Heim gründet!«

»Erst recht Unsinn! – Jedes Straßenkind in der Provinz weiß, daß ich ein reicher Mann bin, – daß ich nur dich auf der Welt habe und mein einzig Kind wohl ausstatten kann, daß sie nur nach dem Herzen und nicht nach dem Verstand zu wählen braucht!«

»Würde er dich kennen und genau wissen, wie herzensgut du bist, mein Väterchen, hätte er daraufhin wohl andere Dispositionen treffen können, aber du weißt ja selber, daß nirgends so viel Geldheiraten geschlossen werden wie in reichen Familien, und daß es leider eine bekannte Tatsache ist, daß reiche Väter stets noch reichere Schwiegersöhne verlangen!« –

Der alte Herr knurrte etwas Unverständliches in den Bart. Dann zwang er sich zu einem heiteren Ton. »Nun, und du glaubst, Cilchen, daß dein moderner Odysseus noch von sich hören läßt, bevor er sich aufs neue einschifft?«

Ich lachte unter Tränen. »Ganz gewiß, Väterchen! Er wird in den nächsten Tagen sicher schreiben!«

»Gott geb's, und nun gute Nacht, mein Liebling! Wein dir nicht die Äuglein rot, sondern vertrau dem lieben Herrgott, der die Ehen im Himmel schließt! Schlaf wohl, Herzblättchen!« –

– – Ach hätte ich schlafen können! – Der Schneesturm brauste um die Fenster, und meine Gedanken fieberten hinter der Stirn. So hatte ich noch nie eine schlaflose Nacht verbracht, Hoffen und Bangen, Jubeln und Traurigsein wechselten wie Licht und Schatten in meinem Herzen, himmelhoch jauchzend in dem Gedanken an das Glück, welches schon der kommende Tag im Glanz bräutlicher Myrte für mich bringen konnte, und zu Tode betrübt in dem verzweifelten Gedanken, daß dieses Glück nur ein Traum gewesen, meines Lebens Wende gekommen sei, wo all der strahlende Sonnenschein sich in ewige Nacht verwandelt.

Neujahrsmorgen! Mit trüben Augen und bleichen Wangen schaute ich in das junge Jahr hinaus. Nie war ich so zerstreut, so gleichgültig gegen alle Beweise von Teilnahme und Interesse gewesen wie in diesen Frühstunden, wo ich nur einen Gedanken, nur eine bebende Sehnsucht hatte – die Posttasche und ihren Inhalt bald, – bald in Händen zu haben! Und obwohl ich regungslos am Fenster stand und dem reitenden Boten entgegenschaute, hatte ich ihn dennoch versäumt. Zu meiner größten Überraschung ward ich zum Vater gerufen, die angenommenen Postsachen in Empfang zu nehmen.

Er saß an seinem Schreibtisch und wandte sich nicht um, als ich eintrat. Mit leis bebender Hand schob er mir einen hohen Stoß von Briefen zu.

Sein Schweigen war beredter wie alle Worte. Mein Herz krampfte sich zusammen, mechanisch faßte ich die Schreiben.

»Väterchen,« sagte ich leise, »bitte, gib Befehl, daß heute keinerlei Besuch empfangen werde, nur eine Ausnahme … im Fall … ach, du weißt's wohl schon!« Er nickte mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich werde mich wieder zu Bett legen … ist mir auch wohl besser …« Der Husten unterbrach ihn, erst jetzt fiel es mir auf, wie elend er aussah. Das rüttelte mich empor und verlieh mir Kraft. »Ei gewiß! Wie bist du überhaupt ein so unfolgsamer Patient gewesen und hast das Bett verlassen!« scherzte ich. »Soll ich's dem Doktor melden, daß er dich exemplarisch bestraft?« Und damit hatte ich die beste Arznei gefunden, die mir not tat, Sorge und Pflege und den moralischen Zwang, meinen eigenen Schmerz zu vergessen, um den des guten Vaters zu mildern; denn daß er das Herzeleid seines Lieblings ebenso tief und bitter empfand wie ich selber, war wohl fraglos.

Ich las ihm meine Briefe vor, erzählte vom gestrigen Fest alles, was ihn sonst wohl interessiert hätte, forschte in der Zeitung nach Neuigkeiten und holte das Schachbrett, den Kranken zu zerstreuen. Und der gute Vater war auch so heiter und gesprächig wie selten, und wir unterhielten uns über alles, nur nicht davon, was unsere Herzen so einzig erfüllte und bewegte!

Heimlich aber sandten wir einen Boten um den andern zur Post, und ein jeder kam aus der Stadt zurück, ohne den Brief zu bringen, auf welchen wir mit fiebernden Pulsen warteten. Tag um Tag verging, – und Tag um Tag hofften wir vergeblich auf Nachricht.

Nach Verlauf einer Woche aber fanden wir die Zeitungsnotiz, daß das Schulgeschwader seine Fahrt nach dem südlichen Amerika angetreten. Unter den Namen der dazu kommandierten Offiziere stand auch der seine!

Da war es zu Ende mit meiner Beherrschung und mit Vaters schweigender Resignation. Wie ein knirschender Zorn kam es über den alten Herrn, und die Ausbrüche seiner Erregung gipfelten stets in der leidenschaftlichen Anklage, daß ich durch die unverhohlene Courmacherei des jungen Offiziers kompromittiert und nun dem Gespötte der ganzen Umgegend ausgesetzt sei! – Die anonymen Briefe! – ich merkte es wohl, sie hatten dem stolzen und eitlen Mann tiefer ins Fleisch geschnitten, als ich vermutet hatte.

Wie der Schneesturm tobte! Wie es klagte und schluchzte in den Lüften! Wie die Bäume vor dem Fenster ächzten, gleich Sterbenden!

Geschah ihnen wohl ein gleiches Leid wie mir? Vor dem kleinen schwarzen Ebenholzkasten stand ich, und da ich ihn ansah, schauderte es mich. Wie ein Sarg deuchte er mir plötzlich, wie ein dunkler Totenschrein, in welchem all mein Glück, meine Jugend und meine Liebe hineingesenkt war. Da stieg zum erstenmal der leidenschaftliche Haß gegen die Männer, gegen ihre Untreue und ihren Wankelmut in meinem Herzen auf. Ein leichtsinnig Spiel hatte ich Närrin für Ernst genommen, hatte zu einem kecken Scherz mein heilig Gelöbnis gegeben und jene kleinen Tassen zu einem Erinnerungszeichen geweiht, welches mich jedes neue Jahr an die alte Qual und herbste Enttäuschung meines Lebens erinnern sollte! Und hatte ich meinen Schwur nicht schon gehalten? Hatte ich nicht schon an diesem ersten, unseligen Neujahrsabend, an welchem ich vergebens auf die Erfüllung seines Wortes gewartet, diese Tasse an die Lippen geführt, meine eigenen, bitteren Tränen unaussprechlichen Herzeleids wie ätzend Gift daraus zu trinken?

In einer Aufwallung meines heftigen und hitzigen Sinnes faßte ich den kleinen Kasten, ihn samt seines gehaßten Inhalts zu Boden zu schmettern, aber meine Hände zuckten jählings zurück. Wie Geisterspuk rüttelte der Wind an dem Fenster, und durch meine Gedanken wirbelten irre, wirre Verse, die ich einst als Kind gelernt:

Drein schrieb sie:

»Kommt dies Glas zu Fall,
Fahr' wohl dann, o Glück von Edenhall!«

Das Glück von Edenhall! – Auch ich hielt solch ein zerbrechlich, kostbar Kleinod, an welches sich mein ganzes Lebensglück knüpfte. Törichte und verliebte Menschen sind immer abergläubisch. Langsam, mit bebenden Fingern setzte ich den Kasten auf den Tisch zurück, und mein Herz zitterte vor Angst, daß seinen so ernst symbolischen Inhalt ein Unheil treffen könne. Ja, ich liebte ihn! und ich fühlte es in dieser Stunde, daß ich ihn auch lieben würde, so lang' wie meine Hand noch Leben und Kraft verspürte, diese Tasse an meine Lippen zu heben.

Das Glück von Edenhall! Mein schmerzlich süßes Glück. Ich faltete die Hände über dem schwarzen, kleinen Schrein und tat noch einmal ein heilig Gelöbnis, den Schwur der Treue zu halten über Ort und Zeit, die kleinen Tassen zu hüten und zu schützen als mein größtes Kleinod. Mag er, der Geliebte, auch in flatterhaftem Sinn nie mehr der Stunde gedenken, da er frevlen Spott mit einem Mädchenherzen getrieben, ich gedenke daran und vergesse sie nicht, – mag auch der Mann, der sonst für sein Ehrenwort Blut und Leben einsetzt, glauben, einem Weibe gegenüber könne er wortbrüchig und ehrlos handeln, ohne sein Gewissen zu belasten, – ich, das schwache Weib, will auch dem Treulosen gegenüber stark in der Treue sein und will das Gelöbnis halten, welches ich getan. Dazu helfe mir Gott!

Und ich habe mein Wort gehalten. So oft die Neujahrsglocken mein einsames, wehes Herz daran gemahnten, daß es einst heißer geschlagen in Liebe und seligster Lebenslust, habe ich den Leidenskelch getreulich an die Lippen gehoben und ihn geleert in treuem Gedenken an die einzige Stunde in meinem Leben, wo die Liebe zu einem Mann mein ganzes Sein und Wesen in strahlenden Glanz des Glückes getaucht.

Und wie's weiter kam? Es sind wenig Worte nur nötig, um ein inhaltloses Frauenleben wiederzugeben.

Die Erkältung meines Vaters nahm einen ernsteren Charakter an und gab dem Arzt Besorgnis, es könne sich bei dem ausnahmsweise harten Winter ein Lungenkatarrh entwickeln. Er riet eine sofortige Reise nach einem milderen Klima an.

Mit beinahe ungestümer Freudigkeit nahm Vater diesen Vorschlag auf. Er krankte an der fixen Idee, daß die ganze Land- und Stadtbekanntschaft mich als verschmähtes Spielzeug bespötteln und schadenfroh bemäkeln, und daß solchem Klatsch am besten gesteuert werde, wenn man ihm den fruchtbaren Boden stets neuer Anregung entziehe.

Meinem damals sehr erregten und ruhelosen Gemütszustand schien es ebenfalls wie eine Erlösung, mich von einer Umgebung losreißen zu können, wo mich jeder Schritt und Tritt an einen Mann gemahnte, den ich nicht lieben wollte und doch nicht hassen konnte. So vernahm ich denn auch mit dem Aufatmen hoher Erleichterung den Entschluß meines Vaters, eine Reise nach Italien anzutreten.

Mit fieberhafter Eile wurden die Vorbereitungen getroffen, und die letzten Tage des Januars fanden uns bereits nach dem Süden unterwegs.

Wie Balsam berührte die schmeichelnde Frühlingsluft Venedigs meine tränenmüden Augen. Neue Eindrücke, die verschiedenartigsten Zerstreuungen stäubten den feinen Aschenregen der Vergessenheit über das Herzeleid der letzten Zeit, und wenn auch mein Wesen und Charakter nie wieder zu der alten Fröhlichkeit genesen konnte, so war ich doch eine stille und resignierte Reisebegleiterin, die sich voll warmer Aufrichtigkeit an jeder landschaftlichen und künstlerischen Schönheit erfreuen, nie aber dem Verkehr mit jungen Herren mehr Geschmack abgewinnen konnte. Auch meinem Vater behagte der Aufenthalt in Italien über die Maßen, und so dehnten wir unsere Reisen immer länger hinaus, so daß bald ein Jahr wie im Traum verflogen war. Da saßen wir eines Abends in Mailand auf der Terrasse des Hotels und freuten uns der köstlichen Frühlingsnacht, welche ihren Märchenhimmel über uns ausspannte, so klar und sternenhell, wie er einst im nordischen Winter über meinem Haupt gestrahlt, in jener Nacht, da mein Herz zum erstenmal das Bild des Geliebten für Zeit und Ewigkeit in sich aufgenommen.

Und wie ich hinaufschaute in die funkelnde Pracht, wie die Blüten um mich her dufteten, gleich wie einst die rote Rose aus seinem Kotillonstrauß ihren balsamischen Atem zu mir emporhauchte, da ward alles wieder lebendig, was monatelang in starrer Betäubung geschlafen, und mir war's, als zögen Geisterhände mich unwiderstehlich zurück zur Heimat.

Eine jähe Bewegung meines Vaters ließ mich den Kopf wenden. Er legte die deutsche Zeitung brüsk aus der Hand und sah mich mit jenem hilflos erschrockenen Gesicht an, wie er stets tat, wenn etwas Unerwartetes ihn in die Verlegenheit setzte, es mir verbergen zu müssen.

Einem jähen Impuls zufolge griff ich nach dem Blatt, Vaters Hand aber legte sich wie beschwörend auf die meine: »Ach, Cilchen, ich glaube nicht, daß es etwas an der Sachlage ändert!«

Das Blut schoß mir schwindelnd vor die Augen.

»Was hast du gelesen, Väterchen? Ich beschwöre dich, verheimliche mir nichts!«

Der alte Herr seufzte tief auf. »Sie sind zurück!« antwortete er leise.

»Das Schulgeschwader?!« Wie ein Aufschrei des Entzückens rang es sich von meinen Lippen; mit zitternden Fingern entfaltete ich das Papier und las die glückseligste aller Posten mit stockendem Pulsschlag. Und die Sterne über mir flammten, und die Rosen dufteten berauschend schwül … und drüben in dem Musiksalon erklang eine wundervolle Frauenstimme:

»... es redet wie trunken die Ferne
von großem, unendlichem Glück!«

Mit gefalteten Händen saß ich regungslos wie im Traum.

Da legte Vater den Arm um meine Schulter und zog meinen Kopf an sich: »Willst du heim, Herzblättchen?« fragte er, und doch klang seine Stimme, als spräche er voll Ungeduld: »Schnell – schnell, wir wollen zurück!«

Voll unendlicher Dankbarkeit blickte ich in seine Augen: »Ach ja – laß uns heim!«

Er nickte eifrig: »Wenn er uns jetzt vielleicht noch suchen sollte, – nun, so ist's besser, er findet uns. Ich trage keinem Menschen etwas nach, Cilchen, und wenn noch alles gut wird, so soll dieses schwere Jahr gern vergessen und vergeben sein.«

Wir kehrten zurück. Alles lag und stand unverändert, wie wir es verlassen, ein schmerzlich süßes Entzücken für mein armes Herz, welches, noch an der Erinnerung krankend, doch schon wieder von den Silberschwingen der Hoffnung zum Himmel getragen ward.

Als ersten herben Schmerz der Enttäuschung vernahm ich die Kunde, daß Premierleutnant Laarsen die Garnison unseres kleinen Städtchens mit einem sehr entfernten süddeutschen Regiment vertauscht hatte.

Das war der erste Reif, welcher auf das junge Hoffnungsgrün fiel, und jeder kommende Tag brachte mit seinem vergeblichen Hoffen und Harren neuen Frost mit sich. Als drei Monate vergangen, ohne irgendeine Kunde von dem ungetreuen Geliebten zu bringen, floß das Maß der Geduld bei meinem Vater über. Sein rechtlicher und braver Charakter empörte sich gegen ein derart frevles Spiel, welches nur Leichtsinn und Gewissenlosigkeit in Szene gesetzt haben konnte.

Die Heimat war ihm verleidet, ebenso verleidet wie mir, die es kaum noch ertrug, durch jeden Schritt und Tritt an die Vergangenheit erinnert zu werden. Der Entschluß meines Vaters, unsere Güter dauernd zu verpachten und stehenden Aufenthalt im Süden zu nehmen, deuchte mir die einzige Rettung vor meinen mehr wie verzweifelten Gedanken, und so nahmen wir abermals Abschied von allem, was uns ein halbes Leben lang das Liebste und Teuerste gewesen, und zogen wieder hinaus in die Welt, – für lange, lange Zeit.

Jahre um Jahre zogen dahin. Nie suchte mein Blick die Zeitungsspalte, welche die Schiffsnachrichten und Veränderungen in der Marine brachte. Nur am Neujahrstag legte ich ein schwarzes Gewand an und trauerte in Gram und Erbitterung an dem kleinen Totenschrein, welcher mein »Glück von Edenhall« barg.

Da entsinne ich mich eines seltsamen Traumes, den ich in solch einer Neujahrsnacht hatte. Wir wohnten auf Capri, und die stürmisch brandende See war mein Schlummerlied gewesen. So sah ich sie auch im Traum und stand an ihrem Strande. Da kam ein Schiff über die Wogen gezogen, leuchtend im Sonnenglanz, schimmernd wie aus eitel Gold. An seinem Bord stand Hellmuth, der breitete die Arme nach mir aus und sprach: »Du nennst mein Vermächtnis: das ›Glück von Edenhall‹! Und obwohl du es vor Sturz und Fall gehütet, kettete es doch nur das Unheil an dich! Weißt du nicht, daß man einer Braut nur Scherben vor die Tür wirft? Wohlan! – Auch dein ›Glück von Edenhall‹ muß erst in Splitter und Scherben geschlagen werden, ehe die Brautkrone deine Locken schmückt!«

Was mochte der Traum bedeuten? Ich sann hin und her. Endlich war mir seine Deutung klar. Die Scherben waren sinnbildlich gemeint. Ich sollte mich losreißen von einer hoffnungslosen Liebe, ich sollte die Vergangenheit in Scherben brechen, – nur dann konnte mir noch eine Brautkrone winken. Ein Auflachen der Erbitterung erleichterte mein Herz.

Zu einer wunderbaren Zeit hatte dieser Traum mir seinen Fingerzeig gegeben.

Schon seit einem halben Jahr wohnten wir mit einem Deutschen zusammen im Hotel, den mörderische Kugeln im soeben beendeten Kriegsjahr von 1871 zum Krüppel geschossen hatten. Ganz allein, nur auf fremde Hilfe angewiesen, hilflos und durch sein qualvolles Leiden doppelt verlassen, stand Herr von Kreutzer in der Welt, und das aufrichtigste Mitgefühl und Erbarmen führte mich ihm näher. Seine unaussprechliche Dankbarkeit, die Woltat, welche meine sorgende Pflege ihm gewährte, kettete ihn mit immer festeren Banden an uns, und ich empfand es bald, wie seine ganze Seele sich an die Hoffnung klammerte, in mir eine treue, opfermutige Gefährtin fürs Leben zu finden.

Geheimrat von Kreutzer war ein geistvoller und bedeutender Mann, der in jungen Jahren bereits zu Amt und Würde gelangt war, und den sein eigener, glühender Patriotismus in die Reihen der Kämpfenden getrieben. Sein vornehm edler Sinn, seine Herzensgüte und Geist machten ihn mir sympathisch, seine Hilflosigkeit und sein Leiden erbarmten mich. Dazu kam, daß Vater eine beinahe zärtliche Vorliebe für den Kranken gefaßt hatte und zu mir sprach: »Cilchen, überleg' dir's! – Kreutzer ist ein Mann, der die aufopfernde Pflege eines treuen Weibes verdient hat. Ich bin alt, meine Tage sind gezählt, und dann stehst auch du allein in der Welt. Ein Mädchen hat stets eine schwierige und abhängige Stellung, – eine Frau steht auf eigenen Füßen. Da du wohl nie aus Liebe heiraten wirst, so heirate aus Vernunft und Edelsinn. Kein Mann ist für dich so passend wie Kreutzer, keine Tat würde so edel sein wie dein Entschluß, seine Gattin zu werden. Sein Leben ist nur noch kurz bemessen, sei du der gute Engel, welcher einem braven Streiter fürs Vaterland den Dank der deutschen Frauen abzahlt.«

Mag sein, daß mein Mitleid wahrlich groß und aufrichtig war; mag es ein gut Teil Eitelkeit gewesen sein, welche sich in bewunderter Aufopferung wohlgefiel, mag das Bewußtsein, ein wahrhaft gutes Werk zu tun, mich fanatisiert haben, ich willigte in den Wunsch der beiden Herren ein, und die Trauung fand als stille, wehmütige Feier am Krankenlager Leopolds statt.

Vier Jahre lang war es mir noch vergönnt, den Kranken mit Aufopferung und Treue zu pflegen. Sein letzter Atemzug war ein heißer Segenswunsch für mich, die er in zärtlicher Dankbarkeit seinen guten Engel genannt. Meine Ehe war eine Kette von schweren, sorgenvollen Tagen, – ein Dornenreis ohne Blüte, und dennoch habe ich nie das Jawort bereut, welches ich einst dem Entschlafenen gegeben. Waren doch die Jahre an seinem Schmerzenslager der einzige Inhalt meines Lebens, über welchen ich einst dem Vater im Himmel abrechnen kann. Die chinesischen Tassen haben jeden Neujahrstag vor Leopold und mir gestanden, und ihr trauriger, kleiner Roman war die erste Beichte, welche ich meinem Mann abgelegt; er hat ihn und meine Pietät stets respektiert.

Dasselbe Jahr, in welchem ich Witwe ward, nahm mir auch das letzte geliebte Herz, welches ich auf dieser Welt mein eigen genannt. Ein Schlaganfall machte dem Leben meines teuern Vaters ein Ende. Sechs Wochen noch lag er gelähmt und teilweise bewußtlos in demselben Gemach, in welchem soeben erst das Sterbebett meines Mannes gestanden.

Die ununterbrochene, rastlose Pflege hat meine eigene Gesundheit untergraben, – ich fühle mich selber elend und sterbensmatt und ahne es, daß auch meine Stunden gezählt sind. Das Meer liegt vor mir im Abendgold, – meine kranke Lunge trinkt letzten Lebensodem aus seinem frischen Hauch, – ist's mir doch, als bringe er Grüße aus weiter, weiter Ferne. Mir ist's, als sei alles, was zwischen heute und jener nordischen Winternacht unter dem Christbaum gelegen, nur ein schwerer, unheilvoller Traum gewesen. Meine ganze Seele lebt in der Vergangenheit, und wie der Todesengel neben mir steht und mich leise auf die Stirn küßt, tragen mich Geisterschwingen unaussprechlicher Sehnsucht zaubermächtig über Land und See, – zu ihm, dem ewig Unvergeßlichen.

Es ist mir gelungen, Hellmuths Adresse zu erfahren. Er lebt als Invalide in Wiesbaden. Was ihm zugestoßen, weiß ich nicht, aber ich weine um ihn heiße Tränen tiefsten Mitleids. Diese Zeilen sind an ihn gerichtet, sie sollen ihm sein Vermächtnis, die kleinen chinesischen Tassen zurückbringen und ihm sagen, daß er sie damals nicht in die Hand einer Unwürdigen gelegt. Ich habe meinen Schwur gehalten bis zum Tod. Mein letzter Atemzug wird ein Seufzer sein, welcher meinem verfehlten Leben, meinem verlorenen Glücke gilt. Aber ich segne dennoch den, welcher mein Herz mit tausendfacher Qual gefoltert, und dennoch der einzige war, welcher es je beglückte. – – Lebe wohl!« –


Mit einem tiefen Aufatmen ließ Margot die schwarzgeränderten Briefbogen sinken. In ihren Augen glänzten Tränen zärtlichsten Mitgefühls und rollten langsam wie leuchtender Tau über die frischen Wangen.

Die gefalteten Hände lagen auf dem Brief, welchen sie wieder zusammengelegt und in den Umschlag zurückgeschoben hatte; in regungslosem, beinahe andächtigem Schauen ruhte der Blick der großen Kinderaugen auf dem Service, welches, wie umsponnen von dem geheimnisvollen Glorienschein eines Martyriums, vor ihr auf dem Teetisch stand.

Rosige Schleier verhüllten die Lampen, ein weiches, träumerisches Dämmerlicht spann seine Zauberfäden um den Mädchenkopf, dessen Gedanken den ganzen Tag über nur einer sonnengoldenen Zukunft gehört und nun plötzlich zurücktauchten in die dunklen Trauerschleier einer Vergangenheit, welche sich mit der Zentnerlast schmerzlichen Mitgefühls lähmend auf das glückjauchzende Herzchen senkt.

Die Teppiche deckten in weicher Pracht das Parkett, kein Laut im lauschigen Boudoir, nur die goldige Standuhr tickt silberhell auf dem Gesims, und die mächtigen Buchenscheite knallen und prasseln auf, wenn die Kaminflammen sie aufrauschend hernieder in die Asche reißen.

Margot hört es nicht, wie sich die Tür des Nebensalons geöffnet, sie hört nicht, wie langsame Schritte sich nähern, wie eine schlanke Männergestalt mit schnellem Umschau zwischen die Portieren tritt.

Wolfgang streicht mit aufblitzenden Augen das blonde Schnurrbärtchen empor und umkrampft den Degengriff. Da sitzt Margot! – Margot ganz allein! Welch ein ungeahntes Glück, sie noch einen Augenblick ungestört zu sehen, zu sprechen! Er muß aus ihrem Blick, von ihren Lippen den Mut trinken, muß sich gleich mohamedanischem Krieger berauschen und fanatisieren, einen Kampf auf Tod und Leben zu wagen!

Mit dem glückseligen Ungestüm sehnender Liebe stürmt er lautlos auf den Teppich, schlingt die Arme um die süße Träumerin und jubelt leise auf: »Margot, – Herzlieb, ich bin zur Stelle!« – Ein unterdrückter Schreckenslaut, – das junge Mädchen springt empor und schmiegt sich an ihn, – mit Tränen in den Augen lacht sie ihm zu.

Gleicherzeit prasselt das Feuer im Kamin, ein Knattern, just als ob eine Tür sich öffnete – und Wolfgang schrickt empor, – tritt jählings zurück und stößt mit dem Arm an den Teetisch. Hell klirrt's auf. Eine Obertasse des chinesischen Services kippt um, rollt über den weißen Damast und schlägt auf den Teppich.

»Donnerwetter!«

Bestürzt neigte Wolfgang sich ihr nach, Margot aber stößt einen gellenden Schrei aus und starrt leichenblaß auf die Scherben, welche der junge Offizier mit leis bebender Hand wortlos emporhebt.

»Zerbrochen! Gott im Himmel, sie ist zerbrochen!« stößt Margot schluchzend hervor, und ihre Zähnchen schlagen zusammen wie im Schüttelfrost, und dann faßt sie beinahe keuchend den Arm des Geliebten und drängt ihn zur Tür: »Fort, Unglückseliger – fort, ehe die Tante kommt! Wenn sie erfährt, daß du die Tasse zerbrochen, ist unser Glück für ewige Zeit vernichtet!«

»Aber Liebchen! Scherben bringen ja doch Glück! Ich bitte dich, rege dich nicht wegen dieser Lapalie auf! Solch eine Tasse wird schon zu besorgen sein!« Margot schüttelt mit einem fast irren Blick des Entsetzens das Köpfchen. »Niemals, – du ahnst nicht, was es für eine Bewandtnis mit den Tassen hat, – sie sind ein Andenken, – ein unersetzliches Andenken, du kannst sie niemals,« – und die Sprecherin verstummt plötzlich und schlägt aufstöhnend die Hände vor das Antlitz: »Tante, ach da ist die Tante!«

Wolfgang schnellt herum. In der Tür steht die Geheimrätin, hoch und düster wie eine Schicksalsnorne, einen Ausdruck in dem bleichen Antlitz, welcher den jungen Mann durch Mark und Bein erschaudern läßt. »Gnädigste Frau, eine kleine Ungeschicklichkeit … ich bin außer mir, ich bitte inständigst um Vergebung – ich will alles aufbieten, die kleine Schale zu beschaffen –«

Der Blick Cäciliens läßt ihn verstummen. Unnahbar kalt wie Eis. »Wie kommt es, Herr von Soltau, daß meine Nichte Sie mit Vornamen, – mit ›Du‹ anredet?«

Da springt Margot auf und eilt schluchzend zu der Sprecherin, die Hände wie beschwörend um die ihren klammernd: »Ach, Tantchen, wir haben uns ja so lieb, – und Wolfgang wollte heute abend bei dir anhalten; nun aber ist alles, alles aus!«

Die Legationsrätin legte den Arm um den zitternden jungen Körper. »Ja, nun ist alles aus!« wiederholte sie mit ihrer harten, tonlosen Stimme.

Da steht auch Wolfgang vor ihr, und seine treuen, ehrlichen Augen schauen sie an wie ein Kind, das voll naiver Zuversicht bittet: »Gnädigste Frau, – weil eine kleine Tasse in Scherben schlug, soll auch das Glück von zwei Menschenherzen in Splitter brechen? Das verhüte Gott! Ich liebe ihr Fräulein Nichte treu und innig und werde nie von der Hoffnung lassen, ihre Hand einst von Ihnen, gnädigste Frau, als meines Lebens Heiligtum zu empfangen!« Er trat einen Schritt näher und faßte die Rechte Cäciliens, sie mit flehendem Blick an die Lippen zu heben: »Scherben bedeuten Glück, Frau Geheimrätin! Und so wenig wie ich ruhen werde, Ihnen diese kleine Tasse zu ersetzen, so wenig wird mein Herz aufhören, in Treue und Liebe zu schlagen, und bis zu dem Tage, wo ich Ihnen diese Schale neu überreichen kann, und wo Ihr Auge, so Gott will, gnädiger auf mir ruht, bitte ich, mir die Hoffnung zu belassen, die Geliebte dereinst dennoch erwerben zu dürfen!«

Ein wundersamer Ausdruck lag auf dem Antlitz der jugendfrischen Witwe. Ihr Auge glänzte plötzlich in Milde und Wehmut, aber ihre Lippen waren herber wie je geschürzt, und sie antwortete kalt: »Liebe und Treue! Sie wissen es vielleicht, Herr von Soltau, was just für mich diese Worte in einem Männermunde für hohlen Klang haben. Sie wollen sich bemühen, diese Tasse zu ersetzen und meiner Nichte so lange die Treue halten?« – ein scharfes, kurzes Lachen: »Das würde mir allerdings eine Bürgschaft für Ihre Gesinnung sein. Wohlan, Herr von Soltau, – suchen Sie mir eine neue Tasse zu schaffen, – heil und unversehrt; wenn es geschieht, wird Margot die Ihre sein. Dies mein letztes Wort. Leben Sie wohl. Meine Nichte wird mit mir die Stadt verlassen, und ich werde es zu verhüten wissen, daß Briefe getauscht werden können; übers Jahr jedoch, zu dieser selben Stunde, lade ich Sie wieder zum Tee ein, – lassen Sie uns sehen, ob Sie die Tasse bringen!«

Mit einem glückseligen Jubellaut preßte Wolfgang die Finger der Sprecherin an die Lippen, und dann reichte er in übermächtigem Gefühl Margot beide Hände dar. »Behalt' mich lieb, Herzensschatz, und bleib mir treu! Übers Jahr, so Gott es will, auf glückseliges Wiedersehn!«

Die Scherben der Tasse sorgsam bergend, mit noch einem Blick strahlender Zuversicht in die tränengebadeten Augen der Geliebten, – klappte der junge Offizier in respektvollem Gruß die Hacken zusammen und war im nächsten Augenblick hinter der Tür verschwunden.

Margot aber sank mit leiser, herzzerreißender Klage an der hohen Frauengestalt nieder auf die Knie und barg bitterlich weinend das Antlitz in den dunklen Wollfalten: »Ach, Tante, wie kann eine Frau, die einst selber geliebt, so unaussprechlich grausam sein!«

»Margot!« – weich und zärtlich klang die Stimme. Die Geheimrätin legte die Hand auf das Köpfchen der Nichte und bog es sanft zurück. Da starrten die blauen Augen staunend zu ihr auf, und sie blickten in ein Antlitz, darin glänzten Liebe, Wehmut und Zärtlichkeit. »Hast du jene Blätter gelesen?« Die Kleine nickte.

»Auch Hellmuth war ein Mann, der die Worte Liebe und Treue im Munde führte und sie dennoch unter die Füße trat. Ich habe dich lieb, Kind. Du bist die einzige Seele, die mir auf der Welt geblieben, du sollst glücklich sein. Unterbrich mich nicht, – unsere Begriffe vom Glück sind verschieden. Ja, du sollst lieben und heiraten, aber nur einen Mann, der dein lauteres, goldenes Herz wahrhaft verdient. Sieh Wolfgang ohne Tränen scheiden, – er geht den Weg der Prüfung, und geht er ihn wahrlich in Treuen, so soll er dich, sein liebes Ziel, auch erreichen. Weicht er aber in leichtsinnigem und wankelmütigem Vergessen ab von diesem Pfad, so danke Gott auf den Knien, daß er dich rechtzeitig bewahrte, dein Geschick an einen treulosen Mann geknüpft zu haben!«

»Ach, Tantchen, wie soll ich dich verstehen?!«

»Jene Tasse zu verschaffen wird ein mühseliges und vergebliches Bemühen sein« – lächelte Cäcilie wehmütig: »da sie günstigsten Falles nur durch besondern Glückszufall in der einzig derartigen Fabrik in China, welche nicht für das Ausland liefert, zu erlangen sein dürfte. Wolfgang wird einer endlosen Kette von Enttäuschungen und Entmutigungen ausgesetzt sein; – behält er dich trotzdem lieb, ohne daß ihm die Sache langweilig wird, wo er doch bei einer anderen Dame müheloser und bequemer zum Ziel gelangen könnte, so ist's ein Zeichen, daß er wahrhaft treu ist und dich und deine Liebe verdient!«

»Ach, Tantchen!« jauchzte Margot durch Tränen: »er bleibt mir treu!«

»Gott gebe es.«

»Was aber dann, wenn er die Tasse nicht beschaffen kann und es nicht wagt, wiederzukommen?« Cäcilie neigte sich und küßte die bang zitternden Lippen: »Daß dein Glücksschifflein nicht an den Klippen scheitere, soll meine erste Pflicht und Sorge sein. Und nun Kopf hoch, mein Liebling! Geh in dein Zimmer und pack die Koffer – morgen mit dem frühesten reisen wir.«

Cäcilie war allein. Sie trat an das Fenster und schlug den Vorhang zurück. Über ihr am klaren Winterhimmel funkelten die Sterne wie die hellen Augen treuen Glaubens. Ein tiefer Seufzer hob die Brust der einsamen Frau. Sie faltete die Hände, die leise zitternden, und schaute empor, feierlich ernst und dennoch voll unaussprechlichen Wehes. – Sie gedachte ihres Traumes und hörte Hellmuths Stimme: »Auch dein Glück von Edenhall muß erst in Scherben brechen, ehe die Brautkrone deine Locken schmücken darf.«

»Ja, mein Herr und Gott, das Glück von Edenhall zersplitterte! – Meine Locken sind ergraut, darum walte du es in deiner Gnade, Allmächtiger, daß es die Myrte um Margots Stirne flechte, – nicht mehr mein eigenes Glück, sondern das ihre erflehe ich von dir!« – Da sprühte es hell auf am Himmel. Ein Stern fiel hernieder und gab selige Antwort.


Wolfgang von Soltau stürmte wie das böse Wetter durch die Straßen der Residenz, und dennoch waren es lauter gute, ja die besten Mächte, welche seinen Schritt derart beflügelten.

Die Schneeflocken wirbelten um sein Haupt und schmolzen auf dem heißen Angesicht, wie Tränen rannen sie über seine Wangen. Und dennoch war dem jungen Offizier nicht nach Tränen und Klagen zu Sinne, obwohl er ohne Ring am Finger, ohne das Jawort der gestrengen Tante aus dem Hause der Geheimrätin geschieden war. Das wäre im Grunde genommen auch gar zu viel des Glückes gewesen, das hatte er in seinen kühnen Phantasien gehofft, aber geglaubt hatte er eigentlich niemals an die Erfüllung dieser unbescheidenen Wünsche!

Er war beinahe überzeugt gewesen, mit einem entschiedenen fürchterlichen Korb in höchster Ungnade von Frau Cäcilie entlassen zu werden, und statt dessen erhielt er nur einen Abschied mit den beseligenden Worten: »Auf Wiedersehen!« – Schaffte er eine neue Tasse für die kleine zerschlagene, war Margot sein eigen, dieses Gelöbnis hatte die Tante gegeben, und sie war wohl eine hartherzige, – aber sehr gerechte Frau, auf deren Worte man Häuser bauen konnte!

Wolfgang hatte das Gefühl, als müsse er vor Glückseligkeit die Mütze in die tanzenden Schneesternchen emporwerfen. Eine neue Tasse. Eigentlich war die Prüfung der Geheimrätin etwas naiv! Was will es bei unseren heutigen Industrieverhältnissen wohl besagen, eine Tasse, sei dieselbe welcher Art sie sei, täuschend ähnlich nachzuarbeiten? Das war wohl Kinderspiel. –

Bravo! Da ist ja unser erstes Porzellan- und Kristallgeschäft, – auch noch erleuchtet und dem Publikum zugänglich, – avanti! Und die Tasse aus dem himmlischen Reiche nachbestellt!

Leutnant von Soltau trat hastig ein. Seine Mütze saß etwas weit im Nacken, die blauen Augen leuchteten in dem heiß geröteten Antlitz. »'n Abend, Fräulein! Habe da ein kleines Malheur gehabt und eine Tasse zerschlagen, wollte mal anfragen, ob Sie mir genau ebensolche nacharbeiten lassen können!«

»Selbstverständlich, Herr Leutnant.«

»Famos. Na … wo steckt denn das corpus delicti … aha … hier!« Wolfgang wühlte die Tasse und das fehlende dreieckige Stück, welches aus der Oberschale herausgeschlagen war, aus der Tiefe seiner Paletottasche: »Die Fasson ist ein wenig närrisch … aber das macht wohl nichts, – hm?«

Das Fräulein machte eine jähe Geste. »Chinesisch? hm … das ist allerdings schwieriger, … auf die Fasson kommt es weniger an … aber …« und sie besah die Tasse sehr aufmerksam – »Merkwürdig! solch eine Art habe ich noch nie gesehen! Das ist wohl gar kein Porzellan, Herr Leutnant?«

»Ja du lieber Himmel, das müssen Sie wohl besser wissen! Was soll's denn sonst sein?«

Die junge Dame hielt die Tasse gegen das Licht: »Das sieht beinahe aus wie Glas … oder ein Mittelding zwischen Milchglas und Porzellan … und dieses seltsame Muster … das ist ja ganz erhaben? wie bei ungarischer Majolika?!! –« Sie schüttelte sinnend den Kopf: »Wo stammt die Tasse her, Herr Leutnant?« – Wolfgang schob die Mütze etwas nervös in die Stirn. »Das weiß der Teufel! So ein altes Erbstück … na, kommt ja auch wohl nicht darauf an! Bis wann kann die neue Tasse fertig sein?«

Das Fräulein wandte den Kopf und rief den Namen des Geschäftsinhabers. Ein älterer Herr trat aus dem Nebenzimmer, verbeugte sich und sah seine Verkäuferin fragend an.

»Ach, Herr Prinzipal. Hier ist eine Bestellung, von welcher ich nicht genau weiß, ob wir sie annehmen können. Der Herr Leutnant wünscht diese Tasse genau nach dem zerbrochenen Modell nachgearbeitet!«

»Sehr wohl.« Der alte Her rieb die Brille ab, – nahm die Tasse, stutzte, besah sie gegen das Licht – wog sie in der Hand, rieb mit dem Finger daran herum und atmete tief auf: »Das ist ja ein äußerst seltenes Stück, habe ich noch nie verkauft … hm … diese Art Porzellan und Malerei …« Er starrte die Scherben wie geistesabwesend an. »Muß es denn ganz genau dieselbe Art und Malerei sein, Herr Leutnant?«

»Allerdings, – ganz genau, – muß zum andern Service passen. Na losgeschossen! Wann kann ich die neue Tasse abholen?«

Der alte Herr lächelte und zuckte verlegen die Achseln, tauschte einen Blick mit dem Fräulein und wickelte die Teeschale sorgsam wieder in Seidenpapier. »Ehrlich gesagt, es ist unmöglich, eine Kopie zu liefern, Herr Leutnant. Ich möchte Sie nicht mit leeren Versprechungen hinhalten. In ganz Europa bekommen Sie die Tasse nicht, wenigstens nicht von demselben Porzellan und der Malerei. Sie aus China zu beschaffen, würde ein Vermögen kosten und viel wahrscheinlicher auch ohne Erfolg sein. Muster und Art der Tasse ist mir völlig unbekannt, obwohl ich mich sonst rühmen kann, gerade in chinesischer Fabrikation genau orientiert zu sein. Diese Sorte Service scheint zu dem spezifisch kaiserlichen Eigentum zu gehören, welches nicht exportiert werden darf!«

»Das ist ja eine nette Geschichte!« Wolfgang sah plötzlich sehr bleich aus und biß die Zähne zusammen: »ich muß aber die Tasse haben, ich muß es!«

»Gekittet darf sie nicht werden?«

»Nein – unmöglich.«

Das Fräulein blickte mitleidig in das jäh verwandelte Antlitz des jungen Herrn. »Vielleicht fragen der Herr Leutnant mal in dem großen chinesischen Geschäft von Mi-Tschang in der Friedrichstraße nach? Am Ende kann es dort beschafft werden?« Wolfgang hob jählings den Kopf. Sein Auge leuchtete auf. »Das ist eine famose Idee! Werde sofort einmal mein Heil versuchen! Besten Dank, Fräulein – und pardon, daß ich vergeblich belästigte!« Die Hacken klappten zusammen, der Ladeninhaber hastete mit verbindlichstem Gruß zur Tür, um dieselbe zu öffnen.

Soltaus Schritte verklangen im Straßenlärm, – der Schnee tanzte abermals vor seinem Antlitz, und die weißen Flocken wunderten sich, daß er plötzlich so nachdenklich aussah.

Die meisten Geschäfte waren bereits geschlossen, Mi-Tschang, der Chinese aber, welcher wenig Interesse an der deutschen Neujahrsfeier nehmen mochte, saß noch auf seiner mächtigen, buntbemalten Teekiste und baumelte schläfrig mit den Beinen, dieweil er sich mit seinem Genossen in kurz abgerissenen, recht langweiligen Lauten unterhielt. Der andere saß mit eingezogenem Kopfe gegenüber auf einem Bambusstühlchen, kaute etwas zwischen den Zähnen und nickte so permanente Antwort mit dem Kopf, daß er seinem Porzellan-Landsmann im Schaufenster zum Verwechseln ähnlich sah.

Als der junge Offizier eintrat, schauten beide auf, als ob sie mit den Augen gähnen wollten, – der auf der Kiste erhob sich phlegmatisch, setzte durch eine wackelnde Kopfneigung den Zopf in Bewegung und fragte höflich wie ein eingedrilltes Theaterkind: »Der Herr wünscht?«

Wolfgang erklärte langsam, klar und deutlich, er wolle anfragen, ob er eine zerbrochene chinesische Teetasse ganz genau nach dem Muster neu angefertigt bekommen könne? Und der Chinese hörte zu, ohne eine Miene zu verziehen, und antwortete ebenso pagodenhaft wie zuvor: »Wir liefern alles nach.«

Das Antlitz des Käufers leuchtete auf. »Brillant, sehr schön … na, wo steckt denn das Ding?« Und die Blicke Mi-Tschangs richteten sich gläsern auf die Finger des Sprechers, welche voll etwas bebender Hast die Scherben aus dem Seidenpapier entwickelten. Auch der kauende Sohn des himmlischen Reiches stellte sein Nicken ein und richtete mechanisch die halboffenen Augen nach dem raschelnden Papier.

»So, hier ist das Modell. – Wann kann ich die Tasse abholen?«

Mi-Tschang hatte mit der Bewegung einer Marionette zugegriffen. Plötzlich schnellte er empor, als habe ihn ein Faustschlag getroffen. Zwei laut ausgestoßene chinesische Worte, welche den Mann auf dem Bambusstühlchen wie elektrisiert emporspringen ließen. Er riß die Augen auf und starrte erst auf die Tasse und dann auf Wolfgang, als erblicke er plötzlich zwei Gespenster. – »Tiesser Taß' gehörit Sie?!« rief der Kau-Chinese, die Hände zusammenschlagend, als wolle er beten.

»Allerdings, leider habe ich damit Malheur gehabt.« Die beiden himmlischen Söhne starrten sich momentan sprachlos an, dann huben sie ein Gestikulieren an, als seien sie jetzt erst zum Leben erwacht, tuschelten hin und her, besahen und prüften die Teeschale, schüttelten die Köpfe und blickten beinahe scheu nach dem jungen Offizier hinüber.

»Wo habb Sie tiessen Taß gekaufen, Herr?« fragte schließlich der vom Bambusstuhl mit krummem Rücken. »Die Tasse ist mir direkt aus China zum Geschenk gemacht!« log Soltau ungeduldig, das rätselhafte Benehmen der Zopfmänner begann ihn besorgt zu machen.

»Also nixen von Teusland, iz Präsente auz China!« Und Mi-Tschang flüsterte abermals sehr eifrig mit dem Genossen, und beide nahmen eine geradezu ehrfürchtige Haltung an, ob dieselbe der Tasse oder dem jungen Offizier galt, war nicht genau zu erkennen. »Nun, meine Herren, wie steht's, wie lange wird es dauern, bis ich die Tasse bekomme?« unterbrach Wolfgang mit gesteigerter Nervosität.

Beide Söhne des himmlischen Reiches verneigten sich sehr tief. »Tiesser Taß is nixen bei uns zu bestell', – is tiesser Taß Präsent von Kaiser von China, musszen libber, hoher Herr selbzen sreiben nak Peking an Kaiser, dazz er solk erlauben neues Taß!«

»Was, Donnerwetter? Ich an den Kaiser von China schreiben?«

Der Sprecher verneigte sich mit verschmitztem Lächeln.

»Worum kannen Prinz nixen sreiben an Kaiser?!«

Wolfgang überhörte diese Worte, er legte jählings die Hand auf Mi-Tschangs Schulter und rief erregt: »Alter Freund, ich bitte, ich beschwöre Sie, verschaffen Sie mir eine ebensolche neue Tasse!«

»Kann ick nixen, – iz unmegglich!«

»Warum?«

Der Chinese trat geheimnisvoll näher. »Mussen Sie wizzen, hoher Herr, daz tiesser Porzellan mit tiesse gemalene Muzter is Geheumeniz von kaiserliches Fabrik. – Tarf nixen geh'n auzer Land. Kaiser gibt solcher Taß mit Zervis an Prinz odder ganz hohes Leut für Präsent.«

»Gott im Himmel, so kann ich selbst in China diese Tasse nicht nachgeliefert bekommen?«

»Nur wann Kaiser erlaubt, sunst nixen.«

Wolfgang warf mit blitzendem Auge das Haupt in den Nacken zurück. »Bon!« trotzte er, »und sollte ich selbst einen Liebesbrief an den Kaiser von China vom Stapel lassen, ich will und ich muß diese Tasse haben!« Er wickelte hastig die kostbaren Scherben wieder ein und versenkte sie voll grimmigen Nachdrucks in die Paletottasche. »Guten Abend, meine Herren, bedaure, Sie unnötigerweise bemüht zu haben!«

Der junge Chinese klappte respektvoll die Tür vor dem hohen Gast auf, beide dienerten bis auf die Erde, und Herr von Soltau stand abermals in dem wirbelnden Schnee.

Diesmal fielen die Flocken auf ein starres, kaltes Angesicht, und jede einzelne trug die spöttisch verzerrten Züge der Geheimrätin. Hörte er nicht ihr scharfes, höhnisches Lachen? Ein Lachen, das ihm, dem armen Narren, galt, welcher so hoffnungsfroh mit seinem Korbe davonging und nicht ahnte, wie perfide er geflochten war. –

Ein jäher Zorn erfaßte ihn, da ihm klar wurde, daß Cäcilie wohl das Unmögliche ihres Verlangens gewußt und ihm dennoch eine Aufgabe gestellt, welche nicht zu lösen war, lediglich, um ihn in seinem Schmerz auch noch zu verspotten. Wahrlich nicht zu lösen war?! Er lachte kurz und erbittert auf. »Noch ist nicht aller Tage Abend, Frau Cäcilie, und nun will ich erst recht Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um über deine Sorglosigkeit zu triumphieren. Ein Brief an den Kaiser von China! Bah, warum sollte ich nicht einmal an den Kaiser von China schreiben? Dieses Skriptum erfordert etwas Kopfzerbrechen, aber es wird geschrieben werden!«

Er entsann sich, anläßlich eines Diplomatendiners den chinesischen Gesandten kennen gelernt zu haben, und er beschloß, diesem liebenswürdigen Herrn einen Besuch abzustatten, ihm rückhaltlos die Sachlage mitzuteilen und um seine Hilfe und Vermittlung zu bitten. Nun aber andere Gedanken!

Das neue Jahr hatte er als glückseliger Bräutigam beginnen wollen, als ein niedergeschmetterter, mißgestimmter und erbitterter Mann stand er statt dessen auf seiner Schwelle. Daheim lag seine angefangene Winterarbeit, – er will sich hinsetzen und im Gedanken an die Siege des Werderschen Korps seine eigene Niederlage vergessen.

Eine Hand trifft in kameradschaftlichem Schlage seine Schulter. »Seh' ich recht im Mondscheine, dort ein schmächtig, blasses Kind?« rezitiert lachend die bekannte Stimme des Leutnants von Senften hinter ihm. »Was um alles in der Welt suchen Sie heute auf der Straße, Soltau? Sind Sie ebenso unbeurlaubt wie ich? Ebenso uneingeladen wie ich? Famos, dann folgen Sie, wenn ein böser Bube lockt, und trinken Sie die Neujahrsbowle in unserem fidelen, kleinen Kreise!«

Soltau möchte sich weigern, aber er fragt: »Welch ein Kreis? Wo sind Sie, Senften?«

Dieser schiebt den Arm in den seinen.

»Wir feiern das letzte Neujahr meines Bruders als Kapitänleutnant auf deutschem, beziehungsweise europäischem Boden!« antwortete Senften. »Sie wissen doch, daß S. M. Panzerkorvette ›Prinz Ferdinand‹ in vier Tagen nach China in See geht, eh bien, wenn sie in Jahresfrist zurückkehrt, ist Werner eine Staffel höher auf der Leiter strategischen Ruhmes geklettert!«

Das ist Wolfgang sehr gleichgültig, aber der Klang »China« elektrisiert ihn. Sehr hastig willigt er ein und betritt an Senftens Seite die strahlend erleuchteten Räume eines renommierten Restaurants. Nicht allein in einer Sektflasche wohnen hunderttausend lustige Teufel, auch im dampfenden Neujahrspunsch schlummern Geister, welche man nicht wieder los wird, wenn man sie einmal rief!

Wolfgang neigte sich dicht zu dem jungen Marineoffizier und fragte mit glänzenden Augen: »Also Sie gondeln wirklich und wahrhaftig nach China?«

»Wirklich und wahrhaftig, wenn uns nicht unterwegs die Haifische mit Appetit und guter Gesundheit verspeisen.«

»Was Donner! Und nach Peking kommen Sie auch?«

»Wir hoffen, eine kleine Spritztour zu dem Beherrscher aller Zöpfe unternehmen zu können.«

Wolfgang schmiegte sich inniger an. »Waren Sie schon einmal da? Haben Sie bereits Beziehungen in diesem Lande der Sonne?«

»Das versteht sich! Ich laufe zum drittenmal im Hafen von Shanghai ein und bin infolgedessen mit allem, was Konsulat oder hervorragende deutsche Kaufmannschaft heißt, durch Herz und Magen verbrüdert!«

Wolfgangs Arm legte sich schier zärtlich um den Nacken des marinierten Kameraden. »Hören Sie mal, Senften, Sie sind ein reizender Kerl!« Der Seemann war auch bereits animiert. » Allright, bin ich auch, Kleiner! Wollen Se'n Kuß?!«

Obwohl Senften den schönsten Schnurrbart hatte, welchen man sich denken konnte, hätte Soltau in seinem ersten Schreck doch beinah »Pfui Deiwel« gesagt. Aber er war Diplomat. Seine Hand klopfte stürmisch den breiten Rücken des Nachbars. »Zum Dessert, wenn's beliebt!« lachte er, »vorerst hätte ich ein anderes Anliegen!« Und plötzlich tief aufseufzend, blickte er den jungen Offizier ernsthaft, beinahe melancholisch in die weinseligen Augen. »Senften, darf ich Ihnen einmal rückhaltlos als Zeichen meines vollsten Vertrauens mein Herz ausschütten?«

Dem Marineoffizier tat es wohl, daß sich der kleine Infanterist so prima vista an ihn attachierte. Er schmunzelte, griff zum Glas und kniff das rechte Auge verschmitzt zusammen. »Schütten Sie!« nickte er voll väterlichen Wohlwollens.

Da gab Wolfgang seinem Sessel und seinem Herzen noch einen Stoß, legte den Arm auf die Stuhllehne des Sprechers und erzählte die furchtbar tragische Geschichte von der chinesischen Tasse, welche nicht allein sich selber, sondern auch sein ganzes Lebensglück in Scherben schlug.

Senften hatte aufmerksam zugehört. Sein frisches, gerötetes Gesicht leuchtete wie eitel Wohlbehagen. Er blies ein paar blaue Dampfwolken empor, schob die Zigarre vom rechten Mundwinkel in den linken und sagten »Zeigen Sie das Wrack einmal her!«

Hei, wie das Papier so eilig auseinanderknisterte!

»Hm! solche Tasse? genau so? Das sollte doch mit dem Deiwel zugehen, wenn wir das Ding nicht nachbekämen! Wort drauf, ich besorge es Ihnen.«

»Senften .. Mensch … Engelchen ..!«

»Is schon gut, machen Sie keine Turnübungen, Kleiner! Geben Sie mir diese beaux restes mit, ich will die Sache schon fingerieren!«

»Bis wann! Bis wann?!« keuchte Soltau atemlos vor Seligkeit.

»Na, so schnell, wie sich das Ding machen läßt. Aber heute übers Jahr haben Sie die Tasse und die Braut. Potz Anker und Pumpstock! Und ich werde erste Altardroschke bei der Hochzeit!«

Wolfgang schlug mit glührotem Kopf in die dargebotene Hand ein. »Soll ein Wort sein! Senften .. ich sage Ihnen, .. wenn Sie mir die Tasse schafften … Senften, ich … ich … aber hören Sie mal, Sie schreiben mir sofort von Peking, ob der Kaiser .. ich wollte sagen der Tsching-Fu oder sonst ein Porzellanonkel die Bestellung angenommen hat! Hören Sie, Senften, sofort .. umgehend.«

»Ich schwöre! Prost.«


Monate vergingen. Voll fiebernder Spannung wartete Wolfgang auf den Brief von China, von welchem sein ganzes Lebensglück abhing. Bange Zweifel quälten ihn, und je länger die verheißene Nachricht auf sich warten ließ, desto mutloser senkte der junge Offizier das ehedem so zuversichtlich hochgetragene Haupt auf die Brust.

Auch von Margot sah und hörte er nichts. Das einzige, was er von ihr erfuhr, war die Nachricht, daß Tante Cäcilie mit ihrem Pflegetöchterchen zur Zeit in Oberitalien weilte und mit der steigenden Sommerhitze nach der Schweiz übersiedeln wolle. Ein Kamerad Soltaus hatte die Damen zufällig im Hotel getroffen und besagte Reisepläne durch die Geheimrätin selber mitgeteilt bekommen. Seiner Beschreibung nach habe Margot rosig und liebreizend wie stets ausgesehen, doch habe sich in ihrem Wesen eine auffallende Veränderung bemerkbar gemacht. Das sonst so lustige, beinahe übermütige Mädchen sei sehr ernst, beinahe teilnahmlos gleichgültig gegen alles, was sie umgab, gewesen. Ob es nur etwas blasiert – oder tatsächlich eine Charakterwandlung gewesen, habe sich in der kurzen Zeit nicht konstatieren lassen.

Wolfgang war beseligt über diese Nachricht. Daß die Geliebte ihm wankellos treu bleiben werde, das hatte er nie bezweifelt, – aber die Tasse! die Tasse! Ein Königreich für diese Tasse!

Endlich, im Laufe des August, traf der so heiß ersehnte Brief aus China ein. – Soltau hielt ihn in der Hand und atmete schwer auf vor Aufregung. Es kostete ihm einen schier gewaltsamen Entschluß, den Umschlag zu öffnen. Ihm war's, als handle es sich um ein Urteil über Tod und Leben.

Endlich fiel das Papier knisternd auf den Tisch nieder. Wolfgang entfaltete den gelben Bogen und verschlang die wenigen Zeilen mit den Blicken: »Mein lieber Soltau! – Endlich ist's so weit! Die Sache war doch bedeutend verschmitzter, als wie ich gedacht habe, – aber unser charmanter Gesandter hat das Unmögliche möglich gemacht. Können ihn als zweite Altardroschke laden, – er ist Junggeselle und amüsiert sich riesig, Tante Cäcilie etwas zu überraschen! – also kurz und gut, die Tasse wird angefertigt, genau nach dem Modell. Es soll etwas lange gedauert haben, bis der biedere Ten-Futschum, der Fabrikdirektor, die Sache kapiert hatte. Genau vorrätig war keine Tasse, soll aber schleunigst angefertigt werden. Der Konsul Falkner, welcher zum Weihnachtsfest nach Deutschland reist, bringt die Tasse wohlverpackt persönlich mit. – Gratuliere, alter Freund! Am Neujahrsabend trinken wir auf das Wohl des Brautpaars! For ever Ihr Senften.«

Da stand es, schwarz auf weiß. Um Wolfgang drehte sich die Welt im Kreise. Er küßte alles, was er erfassen konnte, er war wie berauscht. Am Nachmittag war Liebesmahl im Kasino. Soltau hat dem Sekt mit viel, sehr viel Liebe zugesprochen, und die Kameraden behaupteten, er hätte nie zuvor einen derartigen Spitz gehabt als wie an diesem Tag! – – –


Endlich schneite es wieder! Viele Leute freuen sich auf den ersten Schnee, aber Soltau erwartete ihn geradezu voll brennender Sehnsucht. Und als die Flocken so fröhlich durch die Luft tanzten, da kam es über ihn wie eine Karnevalsstimmung, welche nur lacht und jubiliert und sich des rosigen Lebens freut, – gleichviel, ob die Wolken während des ganzen Sommers noch so schwarz vor der Sonne gehangen. –

Je näher aber Weihnachten heran kam, desto erregter inspizierte er die Zeitung, ob Schiffe aus China eingetroffen. Und just am 20. Dezember war ein Schnelldampfer direkt aus Shanghai in Bremerhaven eingelaufen. Hat er den Konsul mitgebracht?

Richtig! Zwei Tage danach lief eine Postkarte bei Soltau ein. »Sehr geehrter Herr von Soltau! Gestern habe ich deutschen Boden betreten und muß sofort nach Königsberg weiterreisen. Die von Ihnen bestellte chinesische Tasse nebst Modell führe ich in Originalverpackung der Fabrik mit mir, da aber meine Effekten per Eilfracht nachfolgen, so wird es mir erst in etlichen Tagen möglich sein, Ihnen das Kistchen zu übersenden. Da die Tasse erst am Neujahrstag gebraucht wird, hoffe ich, Ihnen keine Ungelegenheit durch diese Verzögerung zu bereiten; am 31. Dezember ist die Sendung ganz bestimmt in Ihren Händen. Mit den aufrichtigsten Wünschen Ihr sehr ergebener Falkner, Kaiserlich deutscher Konsul.«

Wolfgang war selig. Seine Tasse befand sich bereits auf deutschem Boden und war zum bestimmten Termin in seinem Besitz, – »Herzliebchen, was willst du noch mehr?!«

Das Ziel seiner täglichen Promenaden bildete fortan die Straße, in welcher Frau von Kreutzer wohnte. Mit frohlockendem Herzen beobachtete er, wie sich die Villa zum Empfang ihrer Besitzerin rüstete, und am Sylvesternachmittag, als es bereits dunkelte, strahlte in den Salons Licht auf, und er erkannte deutlich in dem eilig hin und her wandelnden Schatten das zierliche Figürchen Margots und die imposante Gestalt der Geheimrätin.

Zum erstenmal sah er die Geliebte wieder! Getreu dem Befehl der gestrengen Tante, hatte er es in keiner Weise versucht, durch irgendwelche briefliche oder mündliche Mitteilungen mit Margot zu verkehren, stolz wie ein Sieger stand er nun im kalten Schneesturm und blickte zu der heiß Erkämpften empor; sie war sein eigen; daheim, wohl verschlossen und verwahrt, stand das kleine Kistchen, welches die kostbarste aller Tassen barg. Die weißen Fingerchen der Braut sollten sie selber öffnen, ihm sein Glück zu enthüllen.

Wolfgang schritt hochklopfenden Herzens weiter, sprang in eine Droschke und fuhr nach dem Hotel, in welchem Falkner abgestiegen, um ihm, dem liebenswürdigen Überbringer, persönlich zu danken.


Es ist Neujahrsabend.

Cäcilie sitzt vor dem alten Schreibtisch ihres verstorbenen Vaters und stützt das Haupt sinnend in die Hand. Viel des Unangenehmen und Unerwarteten ist in den letzten Tagen auf sie eingestürmt.

Damals, vor langer Zeit, als der Vater so Hals über Kopf sein Gut verpachtete, um der verhaßt gewordenen Gegend für viele Jahre den Rücken zu kehren, hatte er den Pachtkontrakt für ein Dezenium unterzeichnet.

Da er während dieser Dauer sehr zufrieden mit seinem Pächter gewesen, so beschloß er während seiner Krankheit im Gedanken an sein Ableben, den Kontrakt für weitere dreißig Jahre zu verlängern, damit seine Tochter dereinst sich nicht mit Neuerungen abzumühen habe. Auch deuchte ihm Cäciliens Eigentum durch diesen als treu und ehrlich erprobten Mann am sichersten verwaltet.

Aber der Mensch denkt und Gott lenkt.

Vor kurzer Zeit meldete ein Telegramm den ganz plötzlichen und unvorhergesehenen Tod des rüstigen alten Herrn, welcher an einem Herzschlag inmitten seiner Tätigkeit auf dem Felde verschieden war.

Nun stand Cäcilie dennoch vor der schweren, für eine Frau stets sorgenvollen Zeit der Neuwahl und der ungezählten Konflikte, welche es nach so langer Zeit auf großen Besitzungen zu lösen gibt.

Die Zeit drängte, und so setzte sich Frau von Kreutzer selbst am späten Nachmittag des Neujahrstages an die Arbeit, den Kontrakt und den ganzen darauf bezüglichen Briefwechsel ihres Vaters mit dem Verstorbenen aus den hinterlassenen Schriftstücken herauszusuchen, um eventuell durch denselben über den Stand verschiedener Dinge orientiert zu werden.

Ihre Hand bebte, als sie den Schlüssel in dem verrosteten Schloß drehte. Es war seit ihrer Abreise von der Heimat das erstemal, daß sie dieses Schubfach öffnete. Sie wußte, daß der Vater in diesem kleinen Nebenteil die wichtigeren Dokumente verwahrte und nahm mit einem Gefühl unaussprechlicher Wehmut und Rührung die einzelnen Papiere heraus, sie durchzusehen.

Ein paar lose Briefe lagen, sichtlich in großer Hast in dieses Fach geschoben, gleich obenauf. Die Handschriften waren fremde, feine Damenfederzüge.

Die Hand der Leserin zuckte, sie biß mit leisem Ausruf des Staunens die Zähne zusammen! Das waren jene unglückseligen Briefe, die anonymen Bosheiten, welche die »Abgeblitzte Cäcilie« verspotteten. Wie? man höhnt, daß Hellmuth nicht zum Sylvesterball erschienen? Von wann ist dieser Brief gestempelt? Ach! Er kam an jenem unglückseligen Neujahrstag, an welchem Cäcilie voll Verzweiflung auf einen Brief des Geliebten harrte. Dieses anonyme Schreiben ist nicht frankiert und strotzt von den gemeinsten Beleidigungen. Das Herz der einsamen Frau krampft sich in heißem Weh zusammen. Sie greift zu dem andern Schriftstück. Es ist ebenfalls unfrankiert und übertrifft das erste noch an gehässiger Schadenfreude. Und das dritte? Es trägt ebenfalls keine Marke und liegt uneröffnet, wie es gekommen. Richtig, jetzt entsinnt sich Cäcilie, daß ihr Vater an jenem Morgen, als sie so unerwartet bei ihm eintrat, sehr hastig etliche Briefe zusammenraffte, sie in ein Schubfach warf und dasselbe zuschnappte.

Dieses hier! Guter, rührend guter Vater, der sein Kind in allem Herzeleid nicht noch durch diese schamlosen Angriffe des Neids und der Mißgunst kränken wollte. Gewiß hatte er keine Zeit oder Lust gehabt, auch das dritte Kuvert noch zu öffnen.

Die Geheimrätin sah gedankenvoll auf die Adresse nieder, dieselbe war auch an ihren Vater gerichtet, trug aber völlig andere Schriftzüge. Seltsam, eine originelle und sehr sympathische Schrift, eine ausgesprochene Männerhand.

Cäcilie kann sich gar nicht vorstellen, daß mit solch schönen Federzügen so viel Häßliches niedergeschrieben sein kann. Mechanisch erbricht sie den Brief, schiebt das offene Licht noch etwas näher und beugt das schöne Haupt tief über den feinen, großen, weißen Bogen. Plötzlich schrickt sie leichenblaß empor, schlägt mit vor Schreck zitternden Händen das Blatt um, nach der Unterschrift zu sehen, und stößt einen gellenden Schrei aus.

»Gott! – allbarmherziger Gott!« – Und dann sinkt ihr Antlitz auf das Papier nieder, die Arme fallen schlaff am Körper herab, – sie liegt regungslos.

Niemand hat den Aufschrei gehört. Margot arrangiert voll fiebernder Aufregung den Teetisch, fern ab im Speisezimmer, und die Dienstboten sind in Küche und Souterrain beschäftigt.

Das Licht flackert und brennt tiefer, endlich regt Cäcilie sich wie in tiefem Schlaf. Ihre Hand streicht über die Stirn, als gälte es, einen Traum zu verscheuchen; langsam, ruckweise richtet sie sich empor und starrt wie geistesabwesend auf den Brief. Mit zitternder Hand greift sie abermals danach und blickt auf die Zeilen. Ein Schluchzen ringt sich aus ihrer Brust, immer krampfhafter, immer verzweifelter, und dann sinkt sie nieder auf die Knie, hebt den Brief in krampfhaft gefalteten Händen empor zum Himmel und murmelt: »Ich danke dir, Herr, mein Gott! Du hast mir ein grausames Geschick beschieden, aber du gabst mir noch für den Rest dieses elenden Lebens den Glauben an die Liebe und die Treue wieder!«

Sein Brief! Hellmuths Brief, in welchem er bei dem Vater um Cäciliens Hand anhielt! Welch eine wunderbare, entsetzliche Verkettung der Schicksale! Warum kam ein solch wichtiger Brief unfrankiert? Der Poststempel nennt den kleinen Knotenpunkt einer nordischen Eisenbahn, und deren Name ist auch dem Brief obenangestellt. Hellmuth schreibt selber, daß er mitternächtlich im Wartesaal sitzt und diese Zeilen in großer Eile und Erregung zu Papier bringe. Sein persönliches Wiedersehen mit der Geliebten ist momentan unmöglich, aber er will nicht scheiden, ohne ihr zu sagen, daß sein Herz ihr für ewige Zeit zu eigen, daß er sie anfleht um ein verheißungsvolles Trostwort, welches ihn in dem Gedanken reisen läßt, daß er wiederkehren darf, um sie zu eigen zu nehmen.

Noch einmal starrt Cäcilie mit umflortem Blick auf die Adresse nieder. Richtig – hier steht: »Eingeschrieben«, aber das Wort ist mit Rotstift ausgestrichen, und das Schreiben ist sogar völlig unfrankiert gesandt. Wie kann das zusammenhängen?

Die Gedanken wirbeln und stürmen in dem Haupt der Weinenden. Und wenn dieser Brief wahrlich aus Versehen von ihrem Vater uneröffnet beiseite geworfen ward, warum ließ Hellmuth nie wieder etwas von sich hören? – Warum? – Sie preßt voll Qual die Hände gegen die Brust, weil er hier in dem Brief schreibt: »Sollte keine Antwort vor meiner Abreise auf diesen Brief erfolgen, so muß ich zu meinem unbeschreiblichen Schmerz annehmen, daß ich mich in den freundlichen Gefühlen Ihrer Fräulein Tochter getäuscht habe, daß ich nicht der Mann bin, welchem sie ihr edles Herz geschenkt, und ich werde nie wieder die Wege der jungen Dame kreuzen. Meine Liebe aber wird ihr unentwegt gehören, meine treue, wankellose Liebe, und ein ständig Gebet für ihr Glück.«

Nein, die Antwort war nicht gekommen, – und er schied mit der Qual einer hoffnungslosen Liebe im Herzen, mit dem entsetzlichen Bewußtsein, daß eine Unwürdige ihr kokettes Spiel mit ihm getrieben! –

Ein Aufstöhnen unaussprechlichen Wehs entrang sich der Brust der gequälten Frau; sie preßte die Hände gegen die Schläfen und starrte mit irrem Blick in die Lichtflamme. – Aber sein Bruder! – Warum kam er nicht – warum ließ er kein Wort verlauten, diesen unseligen Irrtum aufzuklären?

Jenes Gespräch auf dem Sylvesterball steht noch klar in ihrer Erinnerung. Allmächtiger Gott! Sollte er ihre Äußerungen, – ihr mitleidiges Betroffensein über Hellmuths Armut falsch aufgefaßt und den Bruder dadurch womöglich noch entmutigt, anstatt ihn ermutigt zu haben? –

Tränen verzweifelter Hilflosigkeit brechen aus Cäciliens Augen, – in sich zusammensinkend, gibt sie sich haltlos dem Schmerz hin, und die Tränen, welche seit langen Jahren zum erstenmal wieder ihre Wimpern netzen, haben etwas Erlösendes. – Sie sieht nicht, wie der Zeiger der Uhr weiter und weiter rückt, sie bemerkt es nicht, wie die Kerzen tiefer brennen, – ruhelos wie ein dunkler Schatten, schreitet sie lautlos auf weichem Teppich hin und her. – Die Tränen versiegen, ihre Gestalt wächst wieder höher und höher, – es liegt plötzlich ein fremder, strahlender Ausdruck in ihrem Auge, als blicke sie in weite, glückliche Fernen.

Fieberhaft kreisen die Gedanken hinter ihrer glühenden Stirn. – Lebt Hellmuth noch? Es muß Mittel und Wege geben, seine Spur zu finden; noch hatte sie sich ja nie darum bemüht. – Sie will ihn wiedersehn, – und findet sie ihn auch an der Seite einer geliebten Gattin, im Kreise blühender Kinder, so will sie sein Glück neidlos segnen. Aber sagen will sie ihm, wie grausam, wie hart das Schicksal seine Felsen zwischen sie geworfen, wie sie unschuldig war an allem Herzeleid, wie sie ihm treu gewesen bis zum Tod! – Ja, bis zum Tod!

Cäcilie legt die gefalteten Hände still über die Brust; denn lebt er nicht mehr, ist er im unseligen Wahn aus dieser Welt geschieden, so ist auch ihres Bleibens nicht länger darin, – sie gehört zu ihm, sie muß ihn suchen und finden im Leben oder im Tod.

Leise tickt die Uhr, und die Schneeflocken tanzen durch die stille Winternacht. Frau von Kreutzer aber hat vergessen, daß angstvoll bebende Herzen sie im Salon erwarten, sie hat vergessen, daß sie die Vorderzimmer abgeriegelt, um hier ungestört zu sein, daß kein Ruf sie erreichen kann. Sie hat die Welt vergessen.


Und wie angstvoll hatte Margot nach der Tante gerufen, als die Glocke im Korridor den nahenden Gast meldete! Aber die Geheimrätin war nirgends zu finden, und Wolfgang stand auf der Schwelle, vor ihm im rosigen Lampenlicht die Heißgeliebte, allein, ganz allein!

Da war alles vergessen, was dazwischen lag. Mit einem Jubelschrei stürmte er ihr entgegen, preßte sie an die Brust und bedeckte ihr Antlitz mit heißen, durstigen Küssen.

Erschrocken wehrte sie ihm ab. »Ach, Wolfgang, die Tante ist unerbittlich!« flüsterte sie mit totunglücklichem Gesichtchen.

»So? – Ich auch! Ich bin erst recht unerbittlich, und ich habe ihr Wort, das gilt gleich einem Schwur, den sie halten muß! Margot – Liebling! ich habe sie ja!«

»Die Tante?«

»Nein, die Tasse, dort auf dem Stuhl! In dem geflochtenen Kästchen, da steckt sie drinnen, frisch aus China verschrieben, und du – du Herzlieb, sollst sie selber auspacken!«

Sein Jubel klingt laut durch das stille Gemach, und Margots helles Jauchzen mischt sich dazwischen. Aber selbst das lockt die Tante nicht herbei.

»Schnell! schnell, laß uns auspacken!« Und sich dem Arm des Geliebten entwindend, stürmt das junge Mädchen zum Stuhl: »Ehe ich mein Glück nicht mit Augen schaue, kann ich ja nicht daran glauben, denn es ist gar – gar zu groß!«

Am Tisch stehen beide und packen aus. Die Papierhüllen fliegen ab und die Augen strahlen in glückseliger Ungeduld.

»So! hier – ach!«

Margot hält eine zerbrochene Teeschale empor und sieht sehr betroffen aus.

Wolfgang lacht. »Nur weiter, Schatz! Das ist das zerbrochene Modell! Hier die Untertasse. So, hier, hier kommt die neue!«

Und wieder raschelt das Papier, und wieder ertönt Margots erschrockenes »Ach!«, als sich die Tasse zeigt. Auch der junge Offizier beugt sich jählings herzu: »Donnerwetter … was ist denn das?«

Eine zweite Tasse, ebenfalls zerschlagen, taucht aus dem Seidenpapier.

»Das ist ja dieselbe Tasse noch einmal!« stöhnt Margot entsetzt.

Wolfgang reibt sich die Augen, heiße Glut steigt in sein Antlitz. »Das ist eine Persiflage, eine Infamie!« stöhnt er auf. »Was steht auf dem Zettel hier? Französisch? Ach … laß sehen, Schatz. Man hat sich die erdenklichste Mühe gegeben, die Tasse genau nach dem Modell, wie verlangt, nachzuarbeiten, das ausgeschlagene Dreieck aus der Obertasse war besonders schwierig im Bruch nachzubilden, aber wir freuen uns, daß es so meisterlich glückte!«

Ja, es war meisterlich geglückt – eine Tasse stand neben der andern, an einer fehlte das Ohr und das ausgebrochene Stück genau wie an der andern!

Eine namenlose Aufregung, ein schier verzweifelter Zorn überkam den jungen Mann. Er hatte keinen ruhigen Gedanken, er hörte nicht, daß Margot flüsterte: »Für den Irrtum bist du nicht verantwortlich, die Tante muß den guten Willen doch anerkennen!« Er griff wie trunken nach seiner Mütze:

»Ich komme gleich wieder, Schatz, ich will nur zu Falkner, ich will ihn zum Zeugen haben, daß alles ein Mißverständnis ist, ich will – –«

»Wolfgang!«

»Gleich bin ich zurück, hier in der Nebenstraße ist er zum Besuch, in zehn Minuten bringe ich ihn her!« Und sich leidenschaftlich losreißend, stürmte Herr von Soltau wie ein Unsinniger durch Tür und Korridor, die Treppe hinab.

Im Eilschritt ging's durch Schnee und Kälte, keuchend in die Nebenstraße, zwei Treppen hoch hinauf. Auf dem Türschild steht: »Laarsen, Korvettenkapitän a. D.« Er reißt an der Klingel und läutet Sturm. Der Diener öffnet und starrt den ungestümen Gast ganz entsetzt an.

»Ist Konsul Falkner hier?«

»Jawohl, Herr Leutnant, die Herren spielen noch Skat.«

»Melden Sie mich, Leutnant von Soltau – sehr eilige Angelegenheit!«

Das hat der alte Bursch schon gemerkt. Er öffnet höflich eine Tür, und Wolfgang tritt ein. Der Diener humpelt langsam weiter.

Der Blick des jungen Offiziers überfliegt das Zimmer. Der Teetisch ist inmitten gedeckt, und da stehen .. ja .. träumt er? sieht er recht? seine so verzweifelt gesuchten Teetassen, ganz und heil! Der zerbrochenen bei Margot ähnlich wie ein Ei dem andern.

»Aha, Herr Konsul! Der Witz ist nicht schlecht! Jetzt will ich Sie aber mal wieder anführen und dem Schelmenduett Senften-Falkner ein Schnippchen schlagen!«

Lachend, übermütig, schnell wie der Blitz versenkt er eine Tasse in die Paletottasche, winkt dem zurückkehrenden Diener hastig mit der Hand ab, stürmt zur Tür und klirrt mit seinem Raub die Treppe hinab.

Das laute Rufen und Schreien des Alten verhallt hinter ihm, er rast durch Schnee und Sturm zu Margot zurück.

Das junge Mädchen weilt noch immer allein im Salon. Das rosige Gesichtchen sieht blaß aus, und die Augen blitzten durch Tränen zu dem jungen Offizier empor, welcher atemlos, glühend vor Erregung die Portiere zurückschlägt und triumphierend eine kleine Tasse über dem Haupte schwenkt.

Sie läuft ihm entgegen, ein glückseliges Aufstrahlen verklärt ihr sorgenvolles Antlitz.

»Wolfgang, ist's möglich?! Woher hast du diese zweite unversehrte Schale?«

Er prüft mit leicht bebenden Fingern die Echtheit des Raubes. »Dieselbe, ganz genau dieselbe!« jubelt er, »sieh her, Schatz, jetzt haben wir den ›echten Waldemar‹ erobert!«

»Woher? sag mir's, Wolfgang, woher!« Und Margot klatscht in die Händchen und staunt die drei nebeneinanderstehenden Tassen an.

»Na, es war natürlich ein schlechter Witz von Senften und dem Konsul!« lacht Soltau. Die Arme um das mühselig erworbene Bräutchen schlingend: »Sie haben mir dieses zweite zerbrochene Ding einpacken lassen, um mir einen Schabernack zu spielen! Sicher hat Falkner nachher die richtigen Tassen persönlich bringen wollen, denn sie standen schon auf dem Teetisch bereit!«

»Auf seinem eigenen Teetisch?«

»Nein, hier dicht bei wohnt ein invalider alter Seebär, bei dem ist er heut abend geladen, und bei dem entdeckte ich sie! So, nun ist alles bereit, wenn doch endlich die Tante kommen wollte! Ich fiebere vor Ungeduld, ihr diesen Reichtum an chinesischem Porzellan zu zeigen!«

»Es klingelt so energisch … schon zum zweitenmal, das wird sie wohl sein!«

»Nein, ich höre fremde Stimmen …«

»Mein Gott, was mag da los sein, das ist ja eine furchtbar heftige Unterredung?«

Beide horchten hoch auf. Wolfgang aber brach in ein schallendes Gelächter aus: »Aha! Falkner! Es wird Falkner sein, welcher den verlorenen Sohn sucht!«

Er trat in die Tür und öffnete die Arme: »Sei mir gegrüßt, Gesegneter des Herrn! Hurra, Falkner! Lieber Konsul, diesmal sind Sie aber fürchterlich hereingefallen!«

»Hier? – also hier steckt der Einbrecher!« antwortete ebenfalls lachend eine Männerstimme, »nun ruhig Blut, lieber Kapitän, – nun wird ja die Sache gleich geordnet sein.«

Die schlanke Gestalt des Konsuls trat mit lauten Scherzworten über die Schwelle, – sehr erregt und mit schier zornigem Angesicht folgte die hohe, trotz etwas gebeugter Haltung noch jugendlich markige Gestalt eines älteren Herrn.

»Erlauben Sie, bester Herr von Soltau, daß ich Ihnen in diesem entrüsteten Verfolger den rechtmäßigen Besitzer der Teetasse vorstelle, – welche Sie soeben – pardon für den harten Ausdruck – entführten!«

»Jawohl, mein Herr Leutnant! die Tasse ist mein Eigentum, und ich lasse eher mein Leben als wie sie!« wetterte der Korvettenkapitän.

»Ihr Eigentum, Herr Kapitän? Aber … aber, mein Gott – –«

»Na, natürlich!« rief der Konsul dazwischen, »wie ich ganz richtig kalkuliert hatte, – hier steht die neue Tasse – auch wieder zerbrochen Das nenne ich Pech! Da wollten Sie gewiß Ersatz holen, lieber Soltau! Na, bester Kapitän, sehen Sie diese beiden entsetzten jungen Leutchen an, sie sind sprachlos im Schreck über diese Enthüllung! Sie wissen schon durch mich, wie die Sachen hier stehen, seien Sie für Herrn von Soltau Brautbitter und überlassen Sie ihm vorerst diese kleine Schale, welche sein ganzes Lebensglück erkaufen wird.«

»Glück? An diese Tassen knüpft sich kein Glück! Ich kenne die Dame nicht, welche sie zu besitzen wünscht, und das ermächtigt mich, ungalant zu sein! Ich habe auf der Welt kein größeres Kleinod als wie diese Tassen, ich kann und darf sie nicht fortgeben.«

»Hellmuth!«

Ein Aufschrei, halb Jauchzen, halb Schluchzen unterbrach den Sprecher, in der Seitentür stand die Geheimrätin, breitete die Arme nach ihm aus und wiederholte mit halberstickter Stimme: »Hellmuth!«

Der Marineoffizier taumelte der hohen Frauengestalt entgegen, starrte wie betäubt in ihr Antlitz und faßte die weißen Hände, als gälte es, eine Spukgestalt festzuhalten, ehe sie wieder entschwinden kann. »Cäcilie,« murmelte er – »ja, es ist Cäcilie!«

Sie sahen einander in die Augen wie zwei Menschen, die ein großes, unfaßliches Wunder anstaunen! Und ihre Hände verschlangen sich krampfhafter und immer fester, auf den zitternden Lippen schwebten tausend unausgesprochene Worte.

Wolfgang und Falkner starrten sprachlos auf diese unerklärliche und unerwartete Szene. Margot aber winkte in jäher Erregung den beiden Herren und dirigierte sie mit stummem Blick in das Nebenzimmer.

Dort faltete sie tief aufatmend die Händchen über der Brust und flüsterte unter Tränen des Glückes: »Gott sei Lob und Dank – er hat ihr die Treue gehalten, nun dürfen auch wir glücklich sein!«


Auf dem Teetisch stehen fünf unversehrte und zwei zerbrochene chinesische Teetassen um ein vollständiges kleines Service vereinigt.

Duftende Blütensträuße liegen auf den Tellern, und inmitten des Tafelaufsatzes erhebt sich ein schlankes, weißblühendes Myrtenbäumchen als reizendes Glückssymbol für ein neues Jahr.

Margot und Wolfgang haben den Tisch so festlich geschmückt, und da sie schon zweimal in das Nebenzimmer den Tee gemeldet haben und dennoch niemand dem Rufe folgt, so sind sie nicht sonderlich in Verlegenheit, wie solch eine Wartezeit am besten ausgenutzt werden kann. Arm in Arm wandeln sie im Zimmer auf und ab, haben sich hunderttausenderlei zu erzählen und kommen vor Herzen und Küssen gar nicht zu Worte! Wie Maiensonne und Lenzeswonne strahlen die jugendfrischen Wangen; der Lebensbaum über ihnen singt und klingt im Blütenschmuck des Frühlings, und der zarte Lufthauch, welcher die Knospen bricht, ist lind und weich wie Liebeswehen.

Anders das Paar im Nebenzimmer. – Die Knospen und Blüten seines Lebens hat der Sturm entblättert und geknickt, ehe sie sich im Sonnenlicht des Glückes entfalten konnten. Herzeleid und bös Wetter sind die Nornen gewesen, welche das Kränzlein der Liebe gewunden. Herbst ist geworden, die ersten Schneeflocken sind bereits aufs Haupt gefallen; aber das Herz hat noch kein Reif und Frost getroffen; klar und ruhig, aber nicht minder heiß und hell wie vor langen Jahren brennt die heilige Fackel der erprobten Liebe und Treue darein.

Cäciliens Haupt lehnt an der Brust des Geliebten, ihr Blick ruht auf dem Briefe Hellmuths, welchen sie vor wenig Stunden gefunden, und welchen der Korvettenkapitän sehr erregt auf die fehlenden Marken hin geprüft. – Er entsinnt sich noch ganz genau, wie er in höchster Eile und Aufregung diese Zeilen spät in der Nacht auf dem Bahnhofe schrieb und einem Kellner bei hohem Trinkgeld heilig auf die Seele band, den Brief »eingeschrieben« zu expedieren. Seine Zahlung und sein Vertrauen waren mißbraucht worden, und jetzt, nach zwanzig Jahren, sah er ein, daß er sehr leichtsinnig gewesen! Vielleicht wäre noch alles anders gekommen, wenn der Bruder nicht voll hoher Bestürzung den Wortlaut seiner Unterhaltung mit Cäcilie an jenem Sylvesterball dem verzweifelt Harrenden mitgeteilt hätte. Beide erblickten darin eine Ablehnung seines Antrages, und beide waren zu stolz, denselben auch nur andeutungsweise zu wiederholen.

Es ist überstanden. – Die Sanduhr des Leidens und der herben Mißverständnisse ist abgelaufen. Sie haben sich endlich gefunden, die sich immer geliebt und dennoch als ewig verloren umeinander getrauert haben. Und ist's auch nur für den Rest des Lebens, so wird dennoch jede Stunde eine Stunde seligen Besitzes, eine Stunde im Paradiese sein.

Hellmuth ist ein ergrauter Invalide, das Weib in seinem Arm wohl eine Witwe in dunklem Schleier, aber keine gebeugte Trauerweide, sondern ein kraftvoll blühend Reis, dessen Johannistrieb noch glutrote Rosen der Liebe sind.

Draußen wirbeln die Schneeflocken, und der Sturm saust um den Erker wie vor langen Jahren, da sie zum erstenmal zusammen unter einem Christbaum saßen. Auch heute duftet das Tannengrün über ihnen, – die Lichter schweben wie selige Weihnachtssterne über ihrem Haupt, und nebenan auf dem Teetisch klingen leise und melodisch die chinesischen Täßchen unter Margots graziöser Hand.

»Siehst du, Wolfgang, du hast doch recht gehabt!« lacht sie. »Die Tante nannte diese kleinen Schalen immer ihr Glück von Edenhall, – aber ich bestritt es, denn es brachte ihr kein Glück, solange sie es heil und ganz besaß! – Als du aber heute vor einem Jahre die Tasse zerbrachst, versichertest du: ›Scherben bringen Glück‹, und deine Prophezeiung ist eingetroffen!«

Hellmuth zog das Haupt der Geliebten noch inniger an sich und blickte ihr tief in die Augen: »Ja, Cäcilie, hat es dir wirklich Glück gebracht?«

Sie antwortete nicht, aber sie schlang die Arme fest um seinen Nacken und küßte ihn auf den Mund. Durch ihre Seele ging's wie ein Rückerinnern an jenen Traum auf Capri. »Weißt du nicht, daß man einer Braut Scherben vor die Tür wirft?«

Horch, draußen auf dem Flur klirrt's und schmettert's hell wie Glas und Scherben. Die Dienstboten poltern in ausgelassener Freude dem Doppelbrautpaar!


Cäcilie aber schloß selig lächelnd die Augen, als vermöchten die tränenmüden den jähen Strahlenglanz des Glücks noch nicht zu ertragen. –

In dem Nippschrank der Frau Korvettenkapitän Laarsen stehen zwei kleine chinesische Tassen. Sie sehen sich zum verwechseln ähnlich. An jeder ist das goldene Ohr abgeschlagen und ein ganz genial gezacktes Dreieck aus dem Rande gebrochen. Jede, selbst die kleinste Schramme, jedes Tüpfelchen abgesprungener Glasur ist an beiden Tassen vollständig gleich. Frau Laarsen erzählt die Geschichte derselben mit Vorliebe und viel Heiterkeit als einen Beleg für die außerordentliche Geschicklichkeit, Nachahmungstreue und … Naivität der Chinesen. Man arbeitete die neubestellte Tasse tatsächlich so getreulich nach dem Modell, daß man sie auch genau mit denselben Mängeln und Schäden nachbildete wie die eingesandte.

Auch mir erzählte es die glückstrahlende Frau und fügte lachend hinzu: »Dies Ergebnis ist zwar eine Tatsache, aber zu einer Novelle können Sie dasselbe doch nicht gebrauchen, – man wird es Ihnen nicht glauben!«

»Probieren wir's. – Es geschehen viele Dinge zwischen Berlin und Peking, welche wir uns noch nicht träumen ließen, oder … bezweifeln es meine lieben Leserinnen vielleicht doch?«


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