Bruno Ertler
Venus im Morgen
Bruno Ertler

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Das war ein bewegter Tag für Mala. Am Morgen war der Trabakel hereingekommen und hatte uns das Mädchen Mare dagelassen, und als er abends über ein Meer von tiefgelbem Wein in die untergehende Sonne hineinfuhr und wir noch immer die winzige Silhouette des Tonin am Steuer auf dem flammgelben Himmel gezeichnet sahen, da fingen sich zugleich die tiefen Sonnenstrahlen in den Segeln der heimkehrenden Fischerbarken, die auf der andern Seite unserer weiten Bucht eben vor der Punta Pelova standen.

Da kam Leben in den Hafen und sprang von da ins Dorf in jedes Haus. Alle Ruderboote waren plötzlich im Meere draußen und schossen um die Wette den Fischern entgegen, Weiber und junge Mädchen standen am Ufer und winkten, kleine Kinder schrien lachend und streckten die Ärmchen aus, und der Dorfwirt rollte ein Bierfaß aus dem Keller hervor.

Langsam kam das Geschwader näher. Mit heller Freude wurden die einzelnen Segel erkannt: es fehlte keines, alle hatten den Sturm bestanden. Es wurde lauter, je näher die Schiffe kamen, und als sie heran waren, da gab es ein Fragen und Rufen, wie ich es noch nie bei den stillen Inselleuten gehört hatte. Es war eben ein besonderer Tag; ich fühlte es wie alle andern.

Einige Stunden später erreichte die Lust ihre Höhe. Wir hatten »Ball« im »Frankopan«, so hieß unsere Dorfschenke, die der brave »Ivan mit der Nelke«, Wirt, Kaufmann, Postmeister und Fleischhauer zugleich, bewirtschaftete. Er war der einzige rundliche Mensch in ganz Mala, ungemein beweglich an Augen, Zunge und Gliedern, und hatte fortwährend eine rote Nelke im Mund. Diese Nelke war das Barometer seines Innenlebens. War der Ivan ruhig, so hing die Nelke an ihrem fingerlangen Stengel schräg im Mundwinkel. Waren seine Nerven irgendwie gespannt, so stand die Nelke senkrecht zu den festgeschlossenen Lippen mitten im Mund. Bei gewöhnlicher Konversation rutschte sie je nach innerer Anteilnahme mehr oder minder schnell hin und her, und nur in den seltenen Augenblicken allergrößten Staunens nahm der Ivan die Nelke aus dem Mund, denn da stand dieser offen.

»Ivan mit der Nelke« hatte festliche Vorbereitungen größeren Stiles getroffen. Der Platz vor dem »Frankopan«, an der Gegenseite vom Meer begrenzt, war reingefegt, das Bierfäßchen lag auf einem Stuhl neben der Haustür, und in gleichmäßiger Verteilung über den ganzen Platz waren drei Lampions aufgehängt, mehrfach angebrannt und wachsbetropft. Auf dem einen war das Bildnis des Kaisers von Österreich zu sehen, auf dem andern ein Sokol in rotem Hemd, der dritte war neutral in den Farben blau und gelb gehalten. Alles war darin einig, daß die Dekoration hervorragend wäre. Der Ivan war stolz darauf; seine Nelke spazierte von einem Mundwinkel in den andern.

Das Meer lag dunkel, wenig Sterne flimmerten, die Erde strahlte lebende Wärme aus; das war keine Nacht zum Schlafen. Das fühlten auch alle, und alle waren da. Der starke, schweigsame Danko, der nur im Sturm am Steuer lebendig wurde, und Memi, der Sänger; die braune Danica und mein Freund, die es am besten verstanden, was es heißt: jung sein und einander lieben ohne Frage. Da war der dunkle Ive, der ein Bauer war und kein Fischer und drinnen auf der Insel so viele Mädchen hatte, daß es keine recht wußte. Einen alten Bauern hatten wir gefunden, der die Ziehharmonika beherrschte, Vinko brachte seine Tamburitza mit und ich die Mandoline; auch war einer da, der die Holzpfeife blies: noch nie war ein solches Quartett auf der Insel gehört worden.

Es tat denn auch seine Wirkung.

Der Sand knirschte auf den Steinfliesen unter den harten Schuhen der Inselmänner, die Mädchen bekamen heiße Augen. Danko und Memi warfen sich gegenseitig ihre Mädchen zu und tauschten mit andern, so daß das Bild stets neu war.

Ich sah Mare neben dem Tisch stehen, wo die Alten saßen und tranken. Hie und da blickte wohl einer nach ihr hin, doch hatte sich bisher noch keiner herangewagt. Jetzt wankte der Ive an den Tisch und sah mit gläsernen, rotunterlaufenen Augen schätzend nach einer neuen Tänzerin. Da bemerkte er Mare. Sie stand neben ihrem »Pflegevater« Niko, dem Bruder des Tonin, und schaute mit ruhigen Blicken dem Tanze zu. Der Ive nahm noch einen tüchtigen Schluck, prüfte mit den Augen ihre Gestalt, machte ein paar unbeholfene Schritte, nahm Mare in seine starken Arme und riß sie hinein in das Stampfen, Schleifen, Drehen und Drücken, wo heißer Atem und lodernde Blicke die schwüle Meernacht zu empfinden und zu verstehen begannen.

Ich sah ihr lichtblaues Kleid schimmern, ich merkte, wie sie der wilde Bursche, andern ausweichend, an sich drückte, und eben als sie an mir vorbeikamen, versuchte er sie zu küssen. Da bekam er einen Schlag ins Gesicht, Mare wand sich blitzschnell aus seinen Armen, und der Ive, sehr gewandt in solchen Dingen, hatte ebenso schnell ein anderes Mädchen ergriffen, mit dem er weiterraste. Niemand hatte seine Schmach bemerkt, er selbst am wenigsten.

Ich sah nach Mare. Sie saß in meiner Nähe auf einem gerollten Tau, und ihre Augen waren so ruhig wie früher; nur ein leichtes Zucken der festgeschlossenen Lippen ließ mich ihre zornige Erregung erkennen. Der Memi wollte sie zum Tanze haben; sie wies ihn glatt ab. Erst sah er sie erstaunt an, dann lachte er. Sie blieb ruhig.

Die Nacht war völlig schwarz geworden, das Meer streichelte die Steine, der Reigen wurde wilder. Niemand hörte noch darauf, wie jämmerlich die Harmonika quiekte, wie die Pfeife schrie, wie die Stahlsaiten schrillten; niemand hörte auf das. Lust war aus der heißen Erde gesprungen, hielt die jungen Menschen umspannt und drängte sie aneinander, so daß diese Menschen aus Stein und Meer, die immer schwiegen und träumten, sich hinwarfen an die brünstige Nacht, tausend flammende Wünsche in den Augen, stammelnde Worte auf den durstig geöffneten Lippen.

Aber eine war, glühender als die andern, wilder, begehrender. Es war, als wäre in ihr die Luft von allen, als wäre die Erde in ihr, die heißatmende Erde, die Mutter der schillernden Sünde, die samtweiche Königin der Lüfte. Eine war wie der schwärmende Geist dieser Nacht: Das war das junge Weib des alten Rac.

Sie tanzte mit dem Paolo, sie tanzte nur mit ihm. Es war ein seltsames Paar. Kaum zwanzigjährig mochte sie sein, gedrungener und breiter als die meisten Frauen und Mädchen der Insel, schwarzhaarig, mit dunklen, heißen Augen, sinnlicher Stirn und starken Jochbögen. Die weichen, roten Lippen leicht geöffnet, hatte sie den Kopf zurückgelegt, so daß ihre volle Brust dem Paolo entgegensprang. Er war größer als sie und jünger, in allem ihr Gegensatz. Hellgelbe Haare und ein blonder Bartflaum umrahmten sein dunkelgebranntes Gesicht, aus dem zwei strahlende Blauaugen leicht lächelnd wie in eine weite Ferne über alles wegsahen.

Bald sah ich nur noch den schlanken, blonden Paolo allein in den Armen seiner heißäugigen Tänzerin, und immer mehr fiel es mir auf, wie fremd er ihr war und allen anderen. Auch ihn hatte die wilde, unbezähmbare Sucht nach dem weichen Meer aus der deutschen Heimat gerissen, wie schon ganze Völker von blauäugigen, blonden Menschen. Und wie die Tausende in der schmeichelnden Glut zergingen und verbluteten, unfähig, in dem schillernden, heißen Element eine Heimat zu finden, so sah ich diesen ewigen Kampf, dieses ewige Werben in den beiden Tanzenden verkörpert: Sinnraubendes Drängen zueinander, ewige Gegensätze und lauernde Feindschaft tief drinnen.

*

Aber noch einer sah nach den beiden mit einem scharfen, bösen Auge: Der alte Rac. Er stürzte ein Glas nach dem andern hinunter, hastig, immer schneller nacheinander.

Jetzt erhoben sich die Alten nach und nach und gingen, ohne erst den Versuch zu machen, die wild gewordene Jugend zum Heimgehen zu bringen. Vielleicht sprach mancher ein Stoßgebet zum heiligen Antonius, Aloisius, zur Santa Barbara und andern Patronen; die sollten zusehen und ihres Amtes walten! Dazu sind ja die Heiligen da, um einzutreten, wo Menschen nichts vermögen.

Sie gingen in die Nacht hinein, die Alten.

Nur der Rac blieb stehen und sah nach seinem Weibe. Erst nachdem er sie mehrmals laut angerufen hatte, blieb sie im Arm ihres Tänzers einen Augenblick stehen.

Sie solle mitkommen.

»Jetzt schon? Es tanzen ja noch alle.«

Sie solle nur kommen.

»Noch einmal herum.«

Und schon war sie wieder fort.

Der Alte knurrte, wankte zum Tisch und trank noch einen Schnaps.

Da nahmen ihn zwei Bauern in die Mitte und führten ihn langsam weg. Auch sein Weib und der Paolo waren plötzlich verschwunden.

Im Schatten der Weinlaube, die gegen das Meer hin stand, fielen sie einander in die Arme, wild und durstig, voll gegensätzlicher Leidenschaft, wie zwei schöne Tiere feindseliger Rassen.

Er bog ihren Körper weit zurück, sie schlug die braunen, nackten Arme um seinen Hals und biß ihm die Lippen blutig.

Endlich rang er sich los und sprang einen Schritt zurück. Vorgebeugt, mit halb erhobenen Händen und zuckenden Fingern standen sie einander gegenüber. Die blonden Haare des Paolo hingen zerwirrt in seine Stirne, die blauen Augen hatten ein wildes, fremdes Feuer gefangen.

»Laß mich du –,« sagte er heiser und drohend, »hörst du – laß mich –.«

»So geh doch«, höhnte sie.

»Geh du zuerst –!«

»Ich will nicht!« trotzte sie, und stampfte auf den harten Boden.

Und wieder warfen sie sich gegeneinander, wieder beugte er sie tief zurück, wieder zog sie ihn zu sich hinab.

»Du – du! Erwürgen will ich dich –!«

»Austrinken will ich dich –!«

Das Meer leckte weich die Ufersteine, ein fremdes Gleißen und Blinken war im dunklen Wasser. Nichts vom heiligen Gleichklang still beglückter Herzen war in dieser Liebe.

*

Der Paolo saß mit mir und Mare auf dem gerollten Tau; ich hatte das Spielen längst aufgegeben, nur die Harmonika quiekte noch hie und da auf. »Ivan mit der Nelke« räumte den Tisch ab, zwei von den Lampions waren schon dunkel, jetzt fing der letzte Feuer und verbrannte schnell in einer hochlodernden Flamme. Wenige tanzten noch. Da und dort verschwanden im Dunkel flüsternde Paare. Der Memi lag auf der Erde und sang.

Mare lehnte leicht an mir und zupfte leise in den Saiten der Mandoline. Der Paolo hatte den blonden Kopf in beide Hände gestützt und schwieg. In seinem Schoß lag das Seidentuch, für das er sein Leben gewagt hatte.

»Wo ist deine Tänzerin?« fragte ich.

»Daheim«, sagte er, ohne sich zu rühren.

Mare sah ihn verwundert an. Ich stand auf.

»Gehen wir!«

Es waren noch einige, die jenseits des Hafens wohnten; die kamen mit. So waren wir bald ein ganzes Rudel, mein Freund, Danica, Danko, Ive und Vinko waren darunter. Memi schwankte laut singend hinten nach; er brachte ein Kriegslied zu Gehör, wo's drauf und dran ging, da war er mitten im Schlachtgewühl, fluchte mächtig, hieb um sich, stolperte über einen Stein und fiel lang hin, worauf er, am Boden liegend, weiterkämpfte. Allmählich verklang sein Heldenlied.

Wir kamen am Hause des alten Rac vorbei, welches zum Teil in das seichte Uferwasser des Hafens hineingebaut war; wenige Schritte neben der Haustür war die Bootstiege. Es war noch Licht im Hause, und als wir näher kamen, hörten wir Lärm. Der Alte fluchte und schrie da drinnen; wir blieben stehen.

Der Paolo war neben mir. Wir hörten, wie der Rac sein Weib mit den schmutzigsten Worten beschimpfte, ein Stuhl fiel polternd um, er schlug nach ihr.

Da sprang der Paolo mit einem Satz in das Haus, riß den Alten aus seiner Kammer und stieß ihn so wuchtig aus der Haustür, daß der Rac rückwärtstaumelte und ins Meer plantschte. Wie ein riesiger Krebs kroch er auf allen Vieren aus dem Uferschlamm ans Land, zum johlenden Gaudium der betrunkenen Burschen, und verschwand im Dunkel gegen das Dorf hinauf. Der kriegführende Memi, dem er zuletzt noch begegnete, hielt ihn für den Feind und versetzte ihm einen klatschenden Hieb, dessen Wucht ihn selbst fast niedergerissen hätte. Die Burschen lachten; nur der Danko schwieg, und seine finsteren Blicke sagten deutlich, daß er allein die tiefe Schande des alten Einäugigen empfand.

Mare ging neben mir und schwieg. Ich hatte sie den ganzen Abend noch kein Wort sprechen hören. Plötzlich fragte sie mich, indem sie ihre Stimme zu einem Flüstern dämpfte:

»Warum schlägt der Alte sein Weib?«

»Er ist eifersüchtig«, sagte ich.

Das verstand sie nicht, und ich suchte es ihr zu erklären:

»Weil er sie liebt und nicht will, daß ein anderer die Hand nach ihr ausstreckt.«

Mare antwortete nicht. Nach einer Weile fragte sie wieder ganz leise:

»Warum reißt der Paolo den Alten von seinem Weibe weg?«

»Weil er sie liebt und nicht will, daß einer sie schlägt.«

Wieder schwieg das Mädchen und ging nachdenklich neben mir her.

Die andern hatten sich nach und nach verlaufen. Danica, mein Freund, Mare und ich standen vor dem Hause des Niko, welches neben dem unsern gleichfalls am Meere lag.

Aus der Ferne hörten wir Memi singen, eine Stimme antwortete von der Insel herab.

Der Mond war heraufgekommen, und das Meer leuchtete; weit draußen auf der blausilbernen Fläche stand ein Boot. Die Ruder hingen im Wasser, der einsame Schiffer rührte sich nicht. Es war der Paolo.

Und Mare flüsterte:

»Warum ist er da draußen?«

»Weil er sie liebt, Mare, weil er sie liebt –.«

*

Es kamen wieder die stillen Tage, in denen nur Sonne und Meer war – aber anders sah ich die Tage, anders Sonne und Meer. Ein Schimmer lag über allem, und alles sang. Liebe war vom Himmel gefallen wie ein Blütenregen, und alles lebte: Die Steine am Ufer, die schattigen Zisternen, die Häuser am Strand und die Schiffe im Hafen.

Ich machte mein Fenster auf und rief: »Guten Morgen!«, und jedes antwortete mir in seiner Art.

Da waren spitze Klippen und breite Platten, feindliche Steine und gutmütige, solche, die nach den Schiffen stachen und andere, die einem einladend entgegenblinkten. Hie und da reckten Meergreise die Köpfe aus dem Wasser, würdevoll, mit langen Bärten und halbgeschlossenen Augen, aber andere verhöhnten die Könige mit frechen Grimassen. Diese Plebejer zogen die Mäuler schief, zwinkerten bösartig oder listig und hatten schrecklich verbogene Nasen.

Ich kannte sie alle; es waren witzige Köpfe darunter.

Ich nickte auch vertraulich in den Hafen hinüber zu meinen lieben Bekannten. Da waren die Trabakel des alten Rac, breit und fest und selbstbewußt. Sie drängten die Boote einfach beiseite, die sich gekränkt in einer Ecke versammelten und schmollten. Da war auch die lange, schmale, schwarze Gondel, die ich nicht leiden konnte. Sie glitt wie auf Öl durch den Hafen und schob sich zwischen die breiten, gemächlichen Boote, wie ein streitbarer Jesuit in ein Konventikel wohlgenährter Klosterbrüder.

*

Ich ging die Bootstiege hinunter und rief meinen Kajic heran; ich rief ihn, wie man einen treuen Haushund ruft, und sprach mit ihm, während ich losband und die Ruder einhängte.

.,Wie hast du geschlafen, Alter?« oder »Wohin soll es nun gehen? Zur Punta Pelova? Das werden wir nicht machen können, lieber Alter.«

Hundert Jahre schwamm mein Kajic schon auf diesem Meer, er war der älteste in Mala; alle sagten es, und es schien auch so, denn er knarrte bei jeder Wendung und hatte beständig eine Hand breit Wasser.

»Wir werden also nach der Punta Chiaz fahren, Alter, das ist nicht so weit.«

Er war zufrieden damit.

*

Das Mädchen im blauen Kleide saß auf der Steuerbank und sang. Das war immer so. Es gehörte einfach zum Schiff, und ich wäre nicht ohne sie gefahren. Ich erinnerte mich auch gar nicht, daß es jemals anders gewesen wäre. Tausend Lieder sang sie mit weicher, dunkler Stimme über das Meer hin, immer in gleicher Stärke mit den Wellen; schwieg das Meer, so war auch das Mädchen still, und wenn die Brandung am wildesten tobte, so sang sie ebenso laut und schrie und jauchzte.

Es waren Kinderlieder und Regenmelodien, zuweilen auch ein schwermütiges Abschiednehmen zweier Liebender. Darüber lachte sie stets. Kraus und bunt waren die Geschichten, die sie mir halblaut erzählte, wenn wir abends an der Zisterne saßen; wer könnte sich das alles merken!

Da war die unheimliche Geschichte von dem Weib, das sein Heimatsdorf an die Pest verriet, damit diese sein einziges Kind verschone. Aber die Pest hat den Sohn der Verräterin zuerst umgebracht.

Mare freute sich sehr darüber.

Oder die seltsame Geschichte von dem lustigen Schuster. Der war stets betrunken, wenn er heim kam, und befahl seinem Weibe zu tanzen. Tanzte sie nicht, so schlug er sie so lange, bis sie sich drehte. In der Küche liefen die Töpfe über, die Katze stahl das Fleisch und die Kinder schrien nach Brot. Aber der Schuster klatschte vor Vergnügen in die Hände und sein Weib mußte tanzen, immer tanzen.

*

Einmal wollte ich ihr zeigen, daß auch ich erzählen könne, und gab die Geschichte von der armen Prinzessin Zora zum besten. Aber Mare lachte mich nur aus und schlug mich sofort mit einer wunderbaren Erzählung von einem schwarzen Schaf, das kleine Kinder fraß.

»Schafe fressen keine Kinder,« wandte ich ein, »deine Geschichte ist nicht wahr.«

»Sie ist wahr!« rief Mare, »ich habe das Schaf selbst gesehen; es war groß und hatte schreckliche Zähne und Augen!«

Ich lachte. Aber sie schrie:

»Du hast deine Prinzessin nie gesehen! Also lügst du, wenn du sagst, wie sie ausgesehen hat!«

An diesem Abend erzählte sie mir nichts mehr.

*

Es gab Abende, an denen ich meinen Freund nicht sah in dieser Zeit, in diesem Sommer, der voll Liebe war.

Die Terrasse lag im Silberreif des Mondes, aber niemand tanzte dort. Jeder ging leise Wege im Schatten der Häuser; der Ive schlich ins Dorf hinauf, der Memi in den dunklen Hafen hinab, und der schweigsame Danko ruderte ein stilles Boot die träumenden Klippen entlang. Jeder kam erst mit der Sonne wieder und brachte Freude und Leben wie sie.

Nur einen segnete der Sommer nicht, nur einem folgte die lispelnde Schande, wo er vorüberging, nur einer litt und rang den schwersten Kampf – bis er in einer Nacht, seine Habe unterm Arm, über die Insel wanderte hinüber in die Stadt, wo der Eingang in die Welt war: Der blonde Paolo war auf ein Kriegsschiff gegangen. In allen Fischerhütten und Hafenwinkeln erzählten sie seine Geschichte mit halbverstehender, scheuer Achtung. Er hatte gesiegt.

Den alten Rac und sein junges Weib sahen wir nur selten. Und Mare fragte mich:

»Warum geht der Paolo auf ein Kriegsschiff, warum geht er von ihr fort, wenn er sie liebt?«

»Man nennt es entsagen –«, sagte ich.

»Was ist das?« fragte sie.

Ich streichelte ihr übers Haar.

»Eine Tugend, Mare, die harte Tugend der Menschen mit blauen Augen und blondem Haar –.«

Sie schüttelte den Kopf und schwieg.

*

Wie rote Karfunkel waren die Tage, aneinandergereiht an der Silberkette der Nächte.

Am Morgen rief ich nach dem Hause des Niko hinüber:

»Heiho! Die Sonne ist da!«

Und es antwortete mir ein Trällerlied, wie wenn die kleinen Wellen über den Sand hüpfen.

Ich stand auf dem Molo und rief:

»Weißt du schon? Heute ist Jahrmarkt drüben in der Stadt.«

Sie kam aus dem Hause im meerblauen Kleid, dessen Stoff ein chinesischer Weber mit spitzen Fingern gefertigt hatte, irgendwo in Shanghai drüben.

»Ich brauche es nur zu sagen, und sie bringen mir alles, was auf dem Meer erreichbar ist.«

Die Korallen, die sie am Hals trug, hatte ein brauner Kerl aus dem Roten Meer geholt, und ihre Schuhe waren aus weichem, roten Leder, wie es die arabischen Schuster in Alexandrien haben.

»Kommst du mit? Wir gehen gleich mit den andern.«

*

Das ganze Dorf war schon frühzeitig über die Insel gegangen. Die kleine alte Stadt mit den vielen Kirchen, in denen Bilder altitalienischer Meister hingen, war ein einziger großer Markt. Aus allen Dörfern waren die Bauern und Fischer gekommen, und jeder brauchte was. Auch die Franziskaner aus dem stillen Kloster waren da.

Ich verlor mich in der Menge, kam immer mehr vom Markte fort und endlich in einen stillen, höher gelegenen Stadtteil, wo es prächtige alte Häuser gab, die fast alle noch den Löwen des heiligen Markus über dem Tore trugen.

Im innersten Winkel der Altstadt ist eine enge Gasse und ein kleiner Platz, wo nur Goldarbeiter sind. Es flimmert und gleißt in allen Fenstern: Lange Ketten, Reifen, Spangen, Ringe –.

Ich kaufte eine feingedrehte Goldkette, steckte sie in die Tasche und ging. Es kam mir selbst unvermutet, und ich wunderte mich ein wenig darüber.

Es gab noch Straßen, wo keine Menschen gingen; sie führten zur Kirche hinauf, die an der alten Festungsmauer stand. Der Vorplatz, von einem säulengetragenen Dach überdeckt, war gegen das Meer hin von einer niederen, breiten Steinmauer umsäumt.

Darauf sah ich Mare sitzen. Sie schälte eine Orange und warf die Schalen über die Festung ins Meer hinab.

»Was machst du allein hier oben?« fragte ich.

»Nichts.«

»Was hast du dir drunten gekauft?«

Ich deutete gegen den Markt, dessen Lärm schwach heraufdrang. Mare hatte sich eben den Mund vollgestopft und wies als Antwort eine zweite Orange vor.

»Sonst nichts?«

Sie schüttelte den Kopf. Ich holte meine Goldkette hervor.

»Sieh her,« sagte ich, »ich habe dir was mitgebracht.«

Mare sah die Kette aufmerksam an.

»Sie ist schön«, sagte sie.

»Komm, ich will sie dir umhängen.«

Mare beugte den Kopf, und ich warf ihr die Kette über. Sie zitterte ein wenig. Ich bemerkte die Korallenschnur und sagte:

»Willst du mir nicht ein paar Korallen geben – zum Andenken.«

Sie lachte kurz und sah aufs Meer hinaus.

»Wenn du willst –.«

Als ich den Faden lösen wollte, schob sie meine Hand weg und nestelte und zerrte an der Schließe herum; plötzlich riß die Schnur, die Korallen rannen flink an ihr herab und sprangen die Festungsmauer hinunter ins Meer. Nicht eine blieb zurück. Wir waren beide so erschrocken, daß wir kein Wort sagen konnten; mit einem Mal aber barg Mare ihr Gesicht in beiden Händen und weinte bitterlich.

Mare, Mare, warum hast du geweint –?

*

Wir gingen hinaus in die weiten Steinfelder, wir hielten einander an der Hand und schwiegen. Alles war wunderbar tief und still, die Sonne, die Steine und das Meer.

Die Sonne will untergehen – siehst du?

Noch einmal sendet sie ihr schönstes Licht der Erde zu. Sie muß die Erde sehr lieb haben. Es ist, als strahlte Liebe aus einem leidenschaftlichen Herzen, als weinte ein bohrender Schmerz tief drinnen, während der Mund lachende Abschiedsworte spricht.

Es ist, als stürbe eine junge Mutter.

Die weiten, glühenden Steinfelder atmen, wie eine Menschenbrust am Abend einer heißen Leidenschaft. Ein spitzer Kirchturm weist zum Throne Gottes. Die Steinwüste sinkt ins Dämmerlicht, grau, violett, wie der Rauch einer weiten Brandstätte. Die verstreuten Bäume und Strauchgruppen sehen aus wie weidende Schafe. Sie ducken sich zusammen; der große Baum dort ist der Hund, der Kirchturm ist der Hirte.

Die Sonne ist hinunter. Noch glüht der Himmel im ersten Scheideschmerz. Die Heide ist dunkel. Zwei Holzpfeifen locken, die Landleute tanzen im Schein der Papierlaternen. Der Reigen wird wilder, je tiefer die Nacht sich senkt.

*

Ein Eselsfuhrwerk kam uns vor; auf dem Wägelchen schlief »Ivan mit der Nelke«. Wir setzten uns zu ihm, der kaum erwachte, und kamen so lange vor den andern nach Mala zurück. Der Esel brachte den schwerbetrunkenen Ivan sicher und gut in sein Haus. Das Dorf war still und dunkel; die Leute von Mala kamen wohl erst morgen heim.

Wir setzten uns auf die Terrasse; es war finster und schwül, kein Stern und kein Hauch. Nur selten schrillte eine Zikade, das Meer glitt über die Steine und gurgelte leise zurück.

Mare stand vor mir, streckte den herben Körper und breitete die Arme aus.

»Ich möchte tanzen«, sagte sie.

Da holte ich die Mandoline und spielte ganz leise unsern Tanz.

Zurückgebeugt, mit weit ausgestreckten Armen, begann sich das Mädchen zu drehen, feierlich, als trete sie in ein Heiligtum, waren ihre ersten Schritte. Plötzlich aber schoß eine Welle durch ihre Gestalt, sie schwang sich in wilder Lust um die Terrasse, streifte die Kleider ab, warf sie alle von sich und löste mit einem Griff das schwere, braune Haar.

Ich hatte zu spielen aufgehört.

Mare bewegte sich jetzt in ruhigen, wunderbar schönen Rhythmen. Sie tanzte mit dieser Nacht, mit dem Meer, frei und allverwandt, völlig eins mit der heißen, halberwachten Sehnsucht in Land und Volk und Lied am träumenden Strand.

Ein Wunder nennt dich der alte Tonin, ein Wunder? Du jubelst im Sturm, du lachst, wenn die Sonne scheint, du singst mit den Wellen und schweigst mit ihnen. Und wenn die Nacht sich senkt und Farbe und Klang sich verbergen, dann flüsterst du selten eine scheues Wort. Wenn du es aber nicht sagen mehr kannst, nicht mehr singen und jauchzen das Leben und Drängen in deiner Brust, dann wirfst du die Arme hoch und schwingst dich im Tanze.

Du bist wie das Meer vor dem Sturm, das tote, lebende, das unberührte, das sehnsuchtsvolle. Du bist kein Wunder, Sturmschwalbe, Braunkind, du mit den ruhigen Augen, du mit der klaren Stirn, du bist kein Wunder . . .

*

Mare blieb stehen.

Von der weißen Terrasse hob sich ihr dunkler, feingliedriger Leib, die Haare flossen über die Schultern, die dünne Goldkette schimmerte an ihrem Halse. Plötzlich griff sie mit beiden Händen in die Kette, riß sie mit einem Ruck auseinander und schleuderte sie mit pfeifendem Schwung ins Meer hinaus, das sie glucksend verschluckte. Im selben Augenblick war das Mädchen vor mir auf die Knie gefallen und barg den Kopf auf ihren Armen in meinem Schoß. Meine Hand lag auf ihrem Haar, ich fühlte ihr kleines, wildes Herz pochen. Schweigen war überall. Lange blieben wir so, bis mir ihr tiefer, ruhiger Atem sagte, daß Mare fest eingeschlafen war. Da hüllte ich sie leise in das weiche, blaue Kleid, nahm sie auf meine Arme und trug das schlafende Kind hinüber ins Haus des Niko, wo ich sie sanft in ihre Kammer bettete. Halb im Traume hatte sie die Arme fest um meinen Hals geschlungen. Als ich sie löste, wachte Mare ein wenig auf, sah um sich und sagte leise, indem sie die Augen wieder schloß:

»Ich danke dir –.«

»Gute Nacht, Mare –.«

*

Fern von der Insel herab kam der trunkene Sang heimkehrender Fischer. Vor der Punta Chiaz weit draußen auf dem schlafenden Meer glühten zwei Lichter: grün und rot.

Zwei Pfeile schossen in meine Brust; der eine war grün, der andere rot. Eine Schlange biß nach meinem Herzen; sie hatte zwei Augen – grün und rot.

*

Am Morgen war der Trabakel herinnen. Der alte Tonin ruderte ans Ufer. Er gab mir die Hand und fragte nach Mare.

»Ich glaube, sie schläft noch; wir kamen gestern spät vom Jahrmarkt heim –.«

Er sah mich fragend an. Ich gab ihm die Hand und sagte:

»Sie schläft noch, Tonin.«

Er ging zu seinem Bruder Niko, ich wanderte hinüber nach der Draga Haludova und weiter, immer weiter, die Klippen entlang.

Hinter den Bergen des Festlandes stand ein Gewitter. Ich kletterte die Klippe hinab zum Meer, sprang von Stein zu Stein, bis ich den letzten erreicht hatte, der, rings vom Wasser umgeben, sich wenig über dieses erhob und kaum für mich Platz genug hatte. Kein Schiff, kein Mensch weitumher, nur Stein und Meer und Sonne. Ich schöpfte Wasser mit beiden Händen und ließ es über meine Brust rieseln. Ich sah in das Meer, ich sah auf das Meer, ich sah über das Meer weg zu den Bergen.

Ich bin ein Berg, du bist das Meer – Mare!

*

Als ich ins Dorf zurückkam, stand die Sonne tief. Ich war über die Steine gegangen, durch harte Dornsträucher, durch tote Dörfer, deren Bewohner vor vielen, vielen Jahren vor dem Fieber geflohen und ausgewandert waren.

Ich saß lange Zeit auf der steinernen Treppe eines halbzerfallenen Hauses und dachte an die, die vor dem Fieber hatten fliehen können. Der Paolo fiel mir ein, der auf ein Kriegsschiff gegangen war –.

Ich kam von der Insel herab ins Dorf.

Der Ive kauerte auf dem Feld und riß Steine aus dem Boden. Er fluchte zornig bei seiner Arbeit.

Der alte Rac kam mir entgegen; er wich aus, als er mich sah.

Es war ein schwerer Tag.

Aus der Ferne sah ich Mare schnell in das Haus des Niko gehen.

Hatte sie mich gesehen?

Die Küche war leer, niemand war im Hause zu finden. Ich ging auf den Molo hinaus und Mare kam mir entgegen. Sie erschrak, als sie mich sah, aber ich ging auf sie zu und nahm ihre Hand.

»Lebe wohl, Mare –«, sagte ich.

Sie sah mich nicht an.

»Lebe wohl«, sagte ich noch einmal.

Da bemerkte ich, daß sie geweint hatte; wieder zuckte es um ihren festen Mund, ihre Augen blinkten.

»Weine nicht, Mare –.«

Da hatte sie sich zornig losgerissen und sprang in ein Boot hinab. Sie ruderte nach dem Trabakel hinüber, wo die Söhne des Tonin eben die langen Ruder einhängten.

Der Alte kam aus dem Hause seines Bruders.

»Wir müssen in den Wind hinausfahren«, sagte er, und gab mir die Hand. Wir sahen uns in die Augen und schüttelten einander fest die Hände. Dann fuhr auch er hinüber.

*

Sie hatten alle Leinwand aufgezogen, ruderten langsam ins offene Meer hinaus und sangen ein altes Lied.

Der Niko und seine Leute standen am Ufer und winkten, ich saß auf dem runden Steinblock und rührte mich nicht.

Mitten auf dem Verdeck stand das Mädchen im blauen Kleid, das die Korallenschnur verloren hatte und die Goldkette nicht tragen wollte –, das immer lachte, so oft es ein Lied sang vom Abschiednehmen zweier, die sich liebten.

Sie sang nicht und lachte nicht, sie lehnte – die Hände im Rücken – am Mastbaum, als wäre sie dort angebunden, und sah zu uns herüber, regungslos und still.

Das Lied der Schiffer verklang –, weiter und weiter glitt der Trabakel.

Jetzt stand er vor der Punta Haludova, dort, wo wir ihn vor einer Woche eingeholt hatten.

Nun fing ihn der Wind.

Das gelbe Großsegel mit dem rostbraunen Fleck blähte sich, schnell ging es die hohen, weißen Klippen entlang.

Noch sah ich das blaue Kleid flimmern – noch –.

An der Punta Chiaz verschwand das Schiff.

*

Das Gewitter, welches den ganzen Tag hinter den Bergen gelauert hatte, stieg nun empor und lag drohend über uns. Es kam nicht.

Es zog hinab in das Land Dalmatien.


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