Bruno Ertler
Venus im Morgen
Bruno Ertler

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Eine mächtige Woge hob uns.

Wir sahen den Trabakel einen Augenblick dicht unter uns, dann schossen wir auf ihn zu. Da setzten wir die Ruder quer, ich drehte das Steuer, und dann ließen wir los und streckten die Hände dem Schiffe entgegen, um den Stoß abzufangen.

Die oben hatten uns schon kommen sehen; sie riefen uns was zu, und einer schleuderte ein gerolltes Tau nach unserm Kajic herüber, das darüber hinaus ins Meer schlug. Da hingen wir nun in gefahrvoller Nachbarschaft der Schiffsplanke, an der wir jeden Augenblick zerschellen konnten. Wir zogen uns an den Trabakel heran, soweit es ging, und streckten die Ruder aus.

Der Mann, der das Seil geworfen hatte, beugte sich über die Bordwand und schrie zu uns herunter, wir sollten das Kind des Kapitäns retten. Er und seine Söhne wollten bleiben, – aber das Kind des Kapitano – –

Der Sturm riß ihm die Worte vom Munde weg. Er verschwand und kam mit einem jungen Mädchen wieder, welches völlig in Tücher gehüllt war, an denen der Wind zerrte. Er streifte ihr mit der Hand über den Kopf, machte ein Kreuz auf ihre Stirn und schlang das Seil um ihren Körper. So sandte er sie zu uns herunter, und wir fingen sie auf. Unser Kajic war voll Wasser; wir konnten zu viert nicht zurück. Da nahm der Paolo beide Ruder, mein Freund kletterte am Seil empor auf den Trabakel und wir stießen uns in die Wellen zurück.

Der Paolo war völlig matt; ich hielt mit einer Hand das Steuer und half ihm mit der andern rudern. Da stieß das Mädchen plötzlich meine Hand vom Steuer und sagte:

»Das will ich.«

»Kannst du das auch?« fragte ich.

»Ja.«

Sie drängte mich vom Steuer weg, und ich nahm das zweite Ruder.

Das Mädchen sah ins Meer, nahm jede Welle fest ins Auge und parierte sie so ruhig und sicher, daß wir beide staunten.

»Du steuerst ja wie ein Pilot«, rief der Paolo. Sie verzog keine Miene und sah in die Wogen. Der Sturm schien abzuflauen, die Stöße waren nicht mehr so wild. Auf dem Molo schrien und winkten die Leute von Mala, der Wind zauste dem Mädchen am Steuer das Tuch vom Kopfe und wühlte in ihren dunkelbraunen Haaren. Sie schaute unverwandt ins Wasser. Wir schwiegen.

*

Als wir auf dem Damm mitten unter den Leuten standen, da gab es ein Staunen, Schreien und Fragen von allen Seiten, wer auf dem Trabakel sei.

Der Tonin und seine zwei Söhne.

Und ob sie sich halten könnten über Nacht.

»O ja«, sagte der Paolo.

Der Sturm sei ja schon vorüber, schrien einige.

»Der Tonin ist ein Feigling«, sagte das Mädchen.

Und da erfuhren wir's: Sie hatten gestritten. Die Tochter des Kapitäns hatte bleiben wollen, der Tonin aber hatte Angst um das Kind seines Herrn.

»Es sind viel Klippen hier unten – und die Nacht kommt – der Sturm muß nicht aufhören – du darfst nicht bleiben –, nein, du darfst nicht, Mare.«

So hatte der Tonin gesprochen.

»Und deshalb ist er ein Feigling!«

Und dann, als der Kajic heran war, da nahm er sie einfach und warf sie über die Bordwand diesen fremden Menschen in die Arme.

»Oh – er ist ein Feigling –!«

Zornige Tränen standen ihr in den dunklen Augen, und der harte Mund zuckte. Die Leute redeten auf sie ein; er habe recht, der Tonin, daß er das Kind seines Herrn, des Kapitäns, gerettet habe. Sein Bruder –? Wie? der sei nicht hier. Heute früh fuhr er mit den andern nach Smergo fischen.

Da trat die braune Danica auf das Mädchen zu und sagte:

»Du sollst die Nacht bei uns sein.«

Das fremde Mädchen sah sie kurz an, und es fiel mir auf, wie ähnlich die beiden einander waren. Die gleiche Gestalt, den gleichen feinen Kopf, die braune Haut, die dunklen Haare und Augen, ja auch die starke Nase und der stolze Mund – es war bei einer wie bei der andern.

So seid ihr, Töchter des südlichen Meeres.

*

Die Wellen schlugen noch lange nach den Steinen, als die Leute von Mala schon längst in ihre Häuser zurückgegangen waren. Die Lichter kamen wieder hervor, wo sie jeden Abend aufgingen, und auch eine Holzpfeife sang von der Insel herab.

Wir waren am Feuer gesessen, so wenige wie noch nie; auch mein Freund fehlte, denn der Trabakel war noch nicht herein. Danica hatte die Fische gebraten für uns fünf: Sie selbst, die beiden Kleinen, ich und das Mädchen, das wir aus dem Meer geholt hatten.

Wir waren stumm und müde. Auch Peric und Marica schwiegen und sahen das braune Mädchen an, welches Mare hieß.

Danica schob den schweren Eisenriegel vor die Haustür, zwei Fischer gingen in harten Schuhen vorbei und wünschten ihr eine gute Nacht. Einen Augenblick dachte ich daran, daß ich sonst immer um diese Zeit Mandoline spielte; ich sah auch wohl nach dem Kasten, die Mandoline lag oben, und in ihren Saiten schillerte das Herdfeuer.

Ich stieg die Treppe hinauf, ging durch die leere Kammer, wo sonst mein Freund schlief, und stand an meinem Fenster, das aufs Meer hinausging.

Es war finster und feucht; das rote Licht der Dammlaterne, das sonst immer ruhig im glatten Wasser schwamm, tanzte hoch auf und ab mit den schwarzen Wellen, die schwer heranrollten und an der Mauer zerplatzten. Wolken jagten einander den Platz vor dem Monde ab, und die Boote und Schiffe rissen an den Tauen, ächzten, knarrten und schlugen aneinander.

Weit draußen flimmerten zwei Lichter: grün und rot; das war der Trabakel.

Unten im Hause ging eine Tür, Schritte wurden hörbar und kamen herauf in das Zimmer neben mir. Ein Lichtstreifen schlich durch die Türspalte in meine Kammer, irrte auf Wand und Boden umher und blieb endlich stehen. Ich hörte, wie Danica mit dem fremden Mädchen sprach, wie sie ein Lager bereitete und schließlich gute Nacht wünschte und die Treppe hinunterging. Da verschwand auch der Lichtstrahl. Es war still, nur das Meer ging auf und nieder. Weit drüben im Festland donnerte es ganz kurz.

*

Der Morgen kam aus dem Meer und stieg die Insel hinan, ein kalter Wind strich über die glatte Fläche, der Himmel war lichtblau und das Meer fast weiß. Ein feines Zittern huschte über das Wasser, der Mond stand wie ein kleines Lichtwölkchen über den Bergen des Festlandes. Feierliche Stille war überall.

Der Trabakel draußen hatte alle Leinwand aufgezogen; das gelbe Großsegel war mit einem rostroten Fleck ausgebessert. Es schien mir, als käme das Schiff langsam näher.

Da überkam mich das Verlangen nach diesem Meer, ich mußte ihm nahe sein, es fühlen, das unberührte, das morgenherbe, das klare, ruhige, kalte.

Ich machte die Tür auf, um hinunterzugehen, und blieb im Nebenzimmer stehen, als ich das fremde Mädchen ruhig schlafend vor mir sah. Die große, braunrote Decke, in die sie der sorgsame Tonin gestern eingewickelt hatte, war über das Bett gebreitet und hing an einem Ende bis zum Boden herab. Und darauf hingestreckt lag das Mädchen, halb ein Kind noch, weich umhüllt von dem lichtblauen Kleid, wie es kein Mädchen auf der ganzen Insel trug. Die feinen, langen Glieder waren aufgelöst, ein Arm unter das wirre Braunhaar geschoben, und zwischen den dunkelroten, leise geöffneten Lippen, die sich in scharfen Linien von der lichtbraunen Haut abhoben, schimmerten kleine, schneeweiße Zähne.

Und als ich so regungslos an der Tür stand und alles vergessen hatte, das Meer da drunten und meinen Freund auf dem Schiff – als ich einen Augenblick völlig wunschlos war, da schlug das Mädchen die Augen auf, die gerade auf mich gerichtet waren.

Ich fühlte wie ein Lebensfunke aus dem Unendlichen hieher auf die Erde sprang. Aber alles blieb wie früher. Nicht die leiseste Bewegung war in der engen Kammer, kein Muskel zuckte in dem braunen Gesicht, darin die großen, dunklen Augen erwacht waren.

Nie habe ich wieder so tiefe, sichere Ruhe gesehen in zwei Augen.

Eine Tür knarrte unten im Hafen, harte Schuhe klapperten über die Steine. Das war der alte Rac; ich kannte seinen Schritt und den Ton seiner Haustüre. Der Eisenring schlug an die Mauer, Ruder wurden eingehängt und plantschten ins Wasser. Als ich auf den Molo kam, ruderte der Rac schon an der Boje vorbei dem Trabakel entgegen, um ihn hereinzulotsen. Eben kam die Sonne hinter der Insel herauf und ihre ersten Strahlen sprangen in das Meer hinaus wie flache Steine, die man über die Wellen hüpfen läßt. Jetzt schlug alles die Augen auf, und alles freute sich am Licht. Alle Farben wurden tiefer, Meer und Himmel strahlten blau, dunkelgrün erwachten Bäume und Sträucher auf den kalkweißen Klippen, und weit, weit drüben flimmerten die Städte des Festlandes am Fuße der ewig träumenden, schweigenden Berge. Feierlich langsam kam der Trabakel heran. Das blondgelbe Segel mit dem rostbraunen Fleck ragte hoch und ruhig in den tiefblauen Himmel, und der breite, dunkelrote Schiffskörper mit den zwei weißblauen, geschweiften Fischaugen am Bug sah aus wie ein sagenaltes Meertier eines heidnischen Dichters. Am Steuer stand der alte Rac neben dem Tonin; zwei Boote schaukelten hinter dem Trabakel her über die leise plätschernden Wellen.

*

Sie waren vom Festland herübergekommen, von weit drunten irgendwo, und hatten hinüber wollen, wo der große Berg war an der Küste und die weißen Städte an seinem Fuß. Hundertmal waren sie diesen Weg schon gefahren, der Tonin und seine zwei Söhne, aber sie waren immer im Kanal geblieben, nahe der Küste: da kannte er jeden Stein über und unter dem Wasser.

Diesmal aber! O, heiliger Gott! Was wird der Kapitano sagen! Sie waren kaum ein paar Stunden im Meer draußen, da fand es sich, daß die Tochter des Herrn auf dem Schiffe war. Plötzlich kroch sie aus der Luke hervor; da drunten hatte sie sich versteckt gehalten hinter Säcken und Fässern.

O, heilige Cecilia!

Der alte Tonin hatte sie zurückschicken wollen mit dem Kajic, er hatte sogar umkehren wollen. Aber auch wenn es gegangen wäre, sie hätte es nicht zugelassen. Sie fiel dem Alten um den Hals und drückte und streichelte ihn, daß er sich ihrer kaum erwehren konnte. Seinen Söhnen stopfte sie die Hände und Taschen mit Zigaretten voll, und am Ende befahl sie lachend, wie ihr Vater, der Kapitano, es immer tat: Volldampf voraus!!

Da gab es keine Widerrede. Aber es war nicht gut! O, Santa Maria! Es war nicht gut. Sie lief auf dem ganzen Schiffe umher und lachte und sang, stand neben dem Tonin am Steuer und erzählte ihm tolle Geschichten von ihrem Vater, dem wilden Kapitän; der war mit zwölf Jahren auf einem großen Dampfschiff nach Amerika durchgegangen. Wochenlang wußten sie nichts von ihm und beweinten ihn schon als einen Ertrunkenen. Aber als sie es erfuhren und der erste Schreck und Zorn vorüber war, da habe sein Vater gesagt: »Ich hab's auch so gemacht!«

Und alle machen es so, alle! Das Meer schwemmt sie einfach weg vom Strande. Und der Vater ist doch Kapitän geworden auf dem großen Schiff, das jetzt in China ist oder in Indien!

»Ich will es auch so machen!«

»Aber du bist doch ein Mädchen, Mare«, hatte der Tonin gesagt.

Da hatte Mare, das Mädchen, trotzig die Lippen geschlossen:

»Was ihr könnt, kann ich auch!«

Und sie drängte den Tonin vom Steuer fort und rief seinen Söhnen zu, sie sollten alle Leinwand aufziehen.

O, San Pietro! Warum haben sie es getan! Aber man konnte nicht anders, man konnte nicht. Lächeln mußte man, und es war eine Freude die Taue zu ziehen, wenn sie es befahl. Sie stand am Steuer, den Kopf stolz hochgeworfen, der leichte Wind spielte mit ihren Haaren und streichelte ihr meerblaues Kleid.

Und langsam, daß es keiner merkte, drückte sie den Balken immer weiter herum. Es war zu spät, als der Tonin sah, daß sie aus dem Kanal ins Meer hinausgekommen waren. Und Mare lachte und hüpfte vor Freude; denn hier gab es Wellen! Frische, große, lustige Wellen! Es war nicht das fade, eingesperrte Wasser zwischen Insel und Strand. Und sie packte den alten Tonin und tanzte mit ihm über das enge, schwankende Verdeck, daß seine Söhne in ein wüstes Gelächter ausbrachen. Nun war sie Herrin auf dem Schiff, und lachend gab sie ihre Befehle.

Oh! Alle lieben Heiligen! Was für Befehle!

Sie mußten die Segel in den Wind hineindrehen, daß es krachte und donnerte und der Trabakel schief durch das gischtende Meer sauste. Sie schrie und lachte, wenn ihr das Wasser ins Gesicht sprühte und der Wind ihr die Haare aus der Stirne riß.

O, Santa Madonna!

Der alte Tonin wischte sich über Schläfe und Scheitel, als er von dieser Fahrt sprach.

»Herr, so ging es fast zwei Tage, solange die Sonne oben stand; in der Nacht war Mare still und schaute ins Meer oder zum Himmel hinauf. Geschlafen hat sie nicht, und wenn sie ein Wort sprach, so flüsterte sie. Und heute fing uns der Sturm draußen vor der Insel. Herr, ich habe noch nie eine solche Stunde erlebt. Niemand wußte, wo wir eigentlich waren, und der Sturm trieb uns schneller, als eine Möve fliegen kann. Und das Mädchen sang und schrie und lachte. Ich habe Gott um Verzeihung gebeten für sie, denn sie wußte nicht, wie bald wir alle sterben konnten. Als der Sturm einen Augenblick die festen Nebelwolken zerriß, da sah ich eure Klippen vor uns. Wir haben die Leinwand heruntergerissen und das Steuer gedreht. Herr, alles hing an einer Sekunde –.«

Der Tonin schwieg. Seine zwei Söhne, mein Freund und ich standen vor ihm. Die Morgensonne leuchtete von der glatten, endlosen Fläche; weit drüben vor der Küste blitzte ein einziges, schneeweißes Segel. Ich wandte mich gegen die Insel zurück. Da sah ich auf dem niederen Steinpfeiler am Strande das Mädchen sitzen. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah regungslos auf das Meer hinaus. Auch der Tonin hatte sie bemerkt und sah nach ihr hinüber. Es schien, als bete sie. Nach einer Weile sagte er mit gedämpfter Stimme, als spreche er in einer Kirche:

»Wir wären alle da drunten im Meer, wenn wir sie nicht auf dem Schiff gehabt hätten. Sie hat uns in die Todesnähe getrieben, es ist wahr, aber sie hat uns auch darübergetragen.«

Und er senkte die Stimme noch mehr:

»Denn sie ist rein, wie die Madonna –.«

Wir schwiegen wieder. Die beiden Söhne des Tonin waren wortlos ins Boot hinuntergestiegen und ruderten langsam zum Ufer hinüber. Der Tonin fragte:

»Wo hat sie geschlafen?«

»Sie war gut aufgehoben«, sagte ich.

Er sah mich an und gab mir langsam die Hand, die ich fest drückte.

»Ihr habt brav gerudert gestern«, sagte er.

Ich wehrte lächelnd ab. Dann kletterten auch mein Freund und ich in unsern Kajic. Ganz unvermittelt sagte mein Freund, als wir schon dem Ufer nahe waren:

»Der Alte meint, das Mädchen wäre ein Wunder –.«

*

Als ein paar Stunden später der Tonin das Mädchen bat, wieder auf das Schiff zu kommen, da sagte sie:

»Ich will nicht.«

Der Tonin machte ihr Vorstellungen; sie sei doch selbst auf den Trabakel gekommen –.

Er habe sie auch selbst hinuntergeworfen gestern, trotzte Mare.

»Ich muß dich doch nach Hause bringen!« jammerte der Alte.

»Du fährst noch nicht nach Hause.«

Das war richtig. Der Tonin mußte erst noch an die Küste hinüberfahren.

»Was willst du tun?« fragte er ratlos.

»Ich bleibe hier.«

»Und wenn ich wiederkomme, fährst du mit mir? Ich muß dich doch zurückbringen. O, Santa Madonna! Was wird der Kapitano sagen! Mare –,« bettelte er, »du kommst mit, wenn ich dich abhole!«

»Vielleicht.«

Er stand hilflos, tiefbetrübt, ehrlichen Kummer in den Augen, und ließ den Kopf hängen. Da brach das Mädchen in ein unbändiges Lachen aus und rief:

»Du siehst aus, wie ein Schaf in der Sonne! Komm, wir müssen wieder tanzen!«

Und sie packte ihn und riß ihn in der weiten Küche umher, daß seine alten, steifen Seemannsbeine seltsame Figuren machten. Das wirkte wie eine Erlösung. Mein Freund nahm die braune Danica um die Mitte und ich holte die Mandoline vom Kasten herunter und begann einen unserer »Inseltänze« zu spielen, die ich alle in diesem Sommer erfand, und die sich von dem dreitönigen auf und ab der Holzpfeifen sehr wenig unterschieden. Dem Tonin wurde schwindlig; das Mädchen lachte und ließ ihn los. Er torkelte zur Tür hinaus.

Mein Freund und Danica drehten sich, Aug in Aug und weltvergessen, ein verstehendes Lächeln auf den Lippen. Ich kannte das. Jeden Abend drehten sie sich so draußen auf der Steinterrasse, und ich durfte spielen und zusehen, wie sich die Sterne im Meer spiegelten; müde wurden die zwei nie; aber ich schlief meistens zuletzt ein.

Das Mädchen stand neben mir und sah mit sonderbar erstaunten Augen auf die beiden. Ich beugte mich zu ihr und sagte, während ich weiter spielte:

»Ich muß leider Musik machen und kann nicht tanzen.«

Sie sah mich rasch an; dann sagte sie:

»Du hast mich aufgeweckt.«

»Hast du denn geschlafen?«, lachte ich.

»Heute früh –, ja.«

Sie sah mich wieder so ruhig an, wie am Morgen, als ich in ihrer Kammer stand. Die Szene lebte so stark in mir auf, daß ich zu spielen aufhörte und die beiden Tanzenden überrascht innehielten und fragend herüberschauten. Aber Mare klatschte plötzlich in die Hände und rief: »Spiel weiter!«

Sie warf die Arme hoch, legte den Kopf zurück und tanzte. Anfangs bewegte sie sich langsam, etwas unsicher, zurückhaltend, nach und nach aber kam es mir vor, als entschwände sie uns. Ihre Drehungen wurden schneller, der schlanke Körper verlor jede Schwere, sie sah über alles weg, und ein seliges Kinderlächeln spielte um den leicht geöffneten Mund. Ich riß in den Saiten und das tanzende Mädchen trieb meine Finger. Das meerblaue Kleidchen flatterte um die feinen, schlanken Glieder, die dicken, dunklen Flechten lösten sich, schimmernde Röte war unter die lichtbraune Haut gestiegen. Mein Freund stand neben Danica und beide schauten ganz versunken zu. Durch die offene Tür herein hörte man das Meer rauschen. Mare warf den Kopf zurück, streckte beide Arme mit fangenden Händen weit von sich, drehte sich noch einmal und war plötzlich mit einem Satz durch die Tür gesprungen und verschwunden. Die letzte Dissonanz, mit der ich abgebrochen hatte, summte noch in der Mandoline; das Meer rauschte laut. In der weiten, schattigen Küche rührte sich nichts.

*

Der alte Tonin kam und hinter ihm der dunkle Ive, der eben von der Campagna hereingeritten war; draußen hörten wir die Kinder schreien, irgendwer lachte laut: Wir waren wieder in Mala, im Haus am Strande. Mein Freund suchte sein Fischzeug, Danica klapperte mit den Kochtöpfen, und der Ive erzählte vom Sturm in der Campagna draußen, der ihn die Nacht über aufgehalten habe. Es fiel mir ein, daß der Ive da draußen wo eine seiner »Bräute« hatte, gegenwärtig sein Hauptbraut – sozusagen.

Ich wollte gerade nach meinem Fischzeug greifen, als der Tonin mit wichtiger Miene auf mich zukam; er hielt eine leere Postkarte in der Hand: Darauf sollte ich etwas schreiben; eine Nachricht an den Kapitano oder seine Familie. Wir gingen in meine Kammer hinauf, wo ich das Schreibzeug des Hauses verwahrte. Der Tonin machte ein feierliches Gesicht, und als er von dem Kapitano zu sprechen begann, nahm er seine zerknitterte Mütze ab. Ich lachte.

»Wer ist mehr, Tonin: San Pietro oder der Kapitano?«

Er blieb ernst. San Pietro ist allwissend, wie alle Heiligen; das war der Kapitano freilich nicht. Aber der Kapitano hatte dem Tonin einmal eine mächtige Ohrfeige gegeben – schon lange, schon sehr lange –, und das konnte wieder San Pietro nicht. Darum also –, ich sah ein, es war nicht so einfach.

Nach einer wunderbaren Überschrift mußte ich an den Kapitano berichten, daß seine Tochter Mare (sie hieß eigentlich Marica) mit dem Tonin gefahren sei, sich gegenwärtig in Mala ganz wohl befinde und nicht nach der Küste hinüberwolle. Er werde sie bei seinem Bruder, für den er die Hand ins Feuer lege, zurücklassen und auf der Rückfahrt abholen. Er schwöre bei der Madonna, daß er dem Kapitano sein Kind unversehrt zurückbringen werde. Nachdem ich noch in den schwungvollsten Superlativen seine Ergebenheit ausgedrückt hatte, malte er selbst seinen Namen darunter, alles, was er auf dem Gebiete der Schreibekunst erreicht hatte. Er brachte auch selbst die Karte zur Post, von wo sie durch unsern getreuen Briefesel zur nächsten Dampferstation befördert wurde.

*

Ich war ärgerlich, denn mein Freund hatte nicht auf mich gewartet und war mit unserem Kajic davongefahren. Auch sonst fand ich kein Ruderboot; alle Ringe hingen leer, auch das Boot des alten Rac war fort, obgleich er selbst da war und ganz allein ein riesiges, am Ufer in der Sonne ausgebreitetes Fischnetz flickte.

So fischte ich denn die zahnigen, hohen Klippen entlang über die Draga hinaus gegen das einsame Kloster zu, in welchem einige Franziskaner ein beschauliches Dasein in Sonnenschein und Meeresfrieden führten. Im Garten grub ein Pater tief gebückt zwischen den Steinen; ich fühlte, wie ihm die Sonne auf die schwarze Kutte brannte. Stille und Meeressonne – das war alles.

Auf der blauseidenen Fläche blitzte es bald da bald dort, als wären Spiegelscherben darauf verstreut. Das Festland drüben bedeckte ein feiner Dunst. Dort lag die große, lebendige Stadt, dort liefen tausend und tausend Menschen kreuz und quer durch die Gassen wie auf einem Ameisenhaufen, dort war der Marktplatz mitten im Häusergewürfel, und da gab es Fleisch, Gemüse und Früchte, ganze Berge in der Sonnenglut, daß man es weitumher riechen konnte. Und Weiber schrien, kreischten, feilschten, zankten und lachten. Da gab es enge, winkelige Gäßchen, in denen schmutzige, schwarze Matrosenkneipen waren. Drinnen saßen braune Kerle mit offenen, farbig gewesenen Hemden, voll Ruß und Maschinenöl. Und sie tranken einen fürchterlichen Schnaps, hatten derbe, halbnackte Dirnen auf den Knien, fluchten, gröhlten und sprachen von Ost- und Westindien, von China und den Südseeinseln. Ein Musikautomat spielte unaufhörlich, und die wildäugigen Matrosen schlugen mit den Fäusten auf den Tisch, zeigten ihre tätowierten Muskeln und rissen die aufkreischenden Weiber an sich.

Im Hafen brodelt und brüllt es aus tausend Schlünden. Sirenen heulen, Signalpfeifen schrillen, Dampf zischt. Eine gellende Glocke, ein Kommando in einer fremden Sprache, die Schiffsschraube beginnt zu stampfen, das Meer schäumt zornig. Ein Losreißen, ein Händedruck – Tücher wehen –. Haltung! Haltung! Drinnen kann es ja sterben. Hafenarbeiter schreien und lachen roh und laut, ein türkischer Straußfedernhändler bummelt am Ufer.

»Wie? Fünfzig Franken für diesen Fächer –?«

Beteuerungen – große Gesten.

Ein Boot gleitet zur Stiege, ein zerlumpter Mensch sitzt darin.

Da kommt eine elegante, verschleierte Dame und steckt ihm einige Banknoten in die Hand.

»Es ist zu wenig, Herrin«, sagt er hart.

Sie seufzt. »Ist es jetzt genug?«

Er steckt das Geld ein. »Ihr sollt mich loben, Herrin«, brummt er.

Sie verschwindet, das Boot gleitet flink zwischen Barken und Schiffen davon.

An der Landungsbrücke fallen einander zwei um den Hals.

»Weil du nur wieder da bist! Du! Jetzt ist ja alles, alles wieder gut!«

Singende Burschen, betrunken und geschmückt, ziehen nach der Kaserne: In einer Woche in den Krieg!

Auf dem Auswandererschiff hocken verhärmte Männer und Weiber auf ihren Habseligkeiten. Die Schnapsflasche macht die Runde.

»Hallo! In einem Monat in Amerika!«

Einer singt ein kroatisches Lied.

*

Zwei Ruder rauschten im Meer; das Mädchen im blauen Kleide kam auf die Klippe zu. Da jubelte es in mir. Tausend Menschen drängen sich da drüben, tausend Schicksale kreuzen sich, tausend Leidenschaften brennen. Ein Meer liegt zwischen mir und euch. Ich stand auf und rief über das Wasser hin: »Mare! Mare!« Der Mönch im Klostergarten sah erstaunt herüber, Mare wandte sich im Boot und kam näher. Ich kletterte die Klippe hinunter, und wir fragten beide zugleich:

»Wo bist du gewesen?«

Ich erzählte ihr, daß ich eben drüben gewesen sei in den Städten des Festlandes, wo es stinkende Eisenbahnen gibt und Dampfschiffe und fluchende, schreiende Menschen, die hassen und stehlen und lügen und sich alle jämmerlich fürchten.

»Wovor fürchten sie sich?« fragte sie.

»Weiß Gott! Einer vor dem andern und am Ende jeder vor sich selbst.«

Sie lachte. »Das ist dumm«, sagte sie. »Ich habe eine Krabbe gefangen, schau, da ist sie.«

Und sie zog mich zum Boot hinab; da hatte sie eine riesige Krabbe mit einer Schnur an der Schere angehängt. Als uns das arme Tier kommen sah, riß es verzweifelt an seiner Fessel, daß ich fürchtete, es würde sich den Scherarm ausreißen.

»Was machst du denn? Das tut ihr ja weh!« rief ich.

Aber Mare lachte: »Einer Krabbe tut gar nichts weh; weißt du das nicht?«

»Warum hast du sie angehängt?«

»Ich will sie ansehen.«

»Und wenn du sie gesehen hast –?«

Mare löste mit großer Geschicklichkeit die Fessel und hielt das zappelnde Tier in die Höhe.

»Dann mach ich es so!« rief sie, und schleuderte die arme Krabbe mit solcher Wucht an die Klippe, daß sie in tausend Stücke zerriß.

»Krabben sind giftig«, sagte sie ruhig.

Ich widersprach, aber sie lachte mich nur aus.

»Du hast auch gesagt, du wärest eben drüben gewesen auf dem Festland. Das ist auch nicht wahr. Siehst du.«

Da hatte ich's.

Vom Kloster herüber bimmelte die Mittagsglocke; Mare sprang in den Kajic.

»Willst du mich nicht mitnehmen?« fragte ich, und stieg ein, »es ist ohnehin mein Boot.«

»Es ist meines,« belehrte sie mich, »ich hab' es mir heute früh genommen.«

Ich lachte: »Darf ich rudern, Fräulein?«

»Wenn du mich auslachst, werfe ich dich ins Meer!« grollte sie.

»Hoho!«

Ich stand auf, nahm sie mit beiden Händen, hob sie vom Rudersitz in die Höhe und setzte sie ans Steuer. Sie wehrte sich nicht, und als wir uns gegenübersaßen, war wiederum die tiefe, steinerne Ruhe in ihren Augen, die ich nun schon kannte als eines ihrer Merkmale, das sie von allen Mädchen unterschied. Wir schwiegen und sahen einander mit ruhigen Blicken an. Weder Frage noch Antwort war zwischen uns, kein Fordern, kein Verheißen. Es war ein Schauen, das nur Farben und Formen kennt, vom Mitfühlen nichts weiß und in der Freude am Sichtbaren das reinste Glück enthält. Von Kindern kann man es lernen, in den Bildern einiger Maler lebt es. – –

Am Strande unserer Insel kannte ich viele Steine, welche um diese Tageszeit zu leben begannen. Sie holten tief Atem, sangen und plauderten. Eben kamen wir an einem vorbei, den ich gut kannte, und ich sagte:

»Hörst du? Der Stein atmet.«

Mare wandte den seinen, dunklen Kopf.

»Er atmet nicht.«

Ich hielt die Ruder ein. Der Stein atmete laut.

»Hörst du?« fragte ich.

»Das sind die drunten; sie haben ein Fest.«

»Wer?«

»Weißt du das nicht?« fragte Mare. »Die Leute, die auf dem Meere sterben, sind nicht tot. Nur heraus können sie nicht mehr. Aber drunten leben sie und halten große Feste. Die Klippen, die da herausragen, das sind die Zinnen und Türme großer Paläste, die auf dem Meeresboden stehen. Da drinnen sind weite, gewölbte Hallen und lauter grünes Licht. Wenn die Ebbe kommt, sinkt das Wasser so tief, daß man zuweilen hören kann, wie die da unten lachen, plaudern, singen und tanzen.«

»Das ist schön«, sagte ich. »Die Fischer tanzen wohl alle sehr gerne?«

Sie sah mich einen Augenblick erstaunt an.

»Es ist das schönste!« sagte sie dann.

»Freilich,« sagte ich nachdenklich und zog die Ruder an, »wenn man tanzt wie du –.«

Wir sprachen nichts mehr. Sie hielt die Hand ins Meer und ließ das Wasser durch die Finger fließen.

*


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