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Drittes Buch

Einige Tage nach der Haussuchung bekamen Hans und Karl eine Vorladung vor den Universitätsrichter, denn die Polizei hatte der Universitätsbehörde Mitteilung davon gemacht, daß sie die beiden in Weilands Wohnung angetroffen, auch weitere Angaben über ihren sonstigen Umgang zugefügt, den sie bereits seit einiger Zeit mit Sorgfältigkeit beobachtet hatte.

Ein alter Herr empfing sie in seinem Amtszimmer mit ernsten und bekümmerten Mienen, legte ihnen erst die Anzeige vor und fragte, ob sie die Nachrichten für richtig anerkannten; da waren allerhand wunderliche Dinge berichtet, daß die beiden einmal in einer Wirtschaft an einem Tische mit bekannten Sozialdemokraten gesessen, und daß sie ein andermal auf der Straße beim Abschiednehmen gerufen: »Auf Wiedersehen am Wahltage!« Die beiden waren durch die Feierlichkeit der Umstände befangen und gestanden mit stockender Stimme zu, daß die Nachrichten alle richtig seien; da begann der alte Herr ihnen herzlich ins Gewissen zu reden, daß sie doch noch sehr jung seien und sich mit solchen Menschen zusammentun wollten, welche die Fürsten ermorden und alles umstürzen möchten, was uns heilig sei. Über diese Rede kam Hans in einen heftigen Ärger, daß er die jugendliche Schüchternheit gegen den weißhaarigen und würdigen Mann überwand und entgegnete, solche Meinungen über ihre Absichten seien unrichtig, und wollte eine lange Auseinandersetzung beginnen. Diese schnitt der Richter aber kurz ab, indem er mit verächtlicher Gebärde fragte, ob er sich denn zu der Partei zähle; und wie Hans mit einem Ja antwortete und in seiner Erklärung fortfahren wollte, unterbrach er ihn wieder und sagte, es sei gut so. Hierdurch stieg noch die Empörung Hansens, und er sagte schnell, alle ehrlichen Leute müßten zu der Partei halten. Wie der Richter diese kecken Worte hörte, verfinsterte sich sein Gesicht sehr, und er neigte bedenklich den Kopf.

Auf dem Flur draußen, nachdem sie entlassen waren, machte Karl Hansen Vorwürfe über seine Heftigkeit und unbedachtsame Rede; aber der antwortete, er habe nicht anders gekonnt, und ihm sei gewesen, als sitze plötzlich ein andrer Mensch in ihm, der sich auf den Richter losstürzen wolle, und er habe den noch zurückgehalten, und nur einmal als Kind habe er ein ähnliches Gefühl gehabt, wie er mit den Kindern des Grafen habe spielen sollen; und selbst noch jetzt, wo er vor der Tür stehe, und alles abgetan sei, geschehe ihm innerlich, als treibe ihn der andre, zurückzukehren und den Richter totzuschlagen. Das erschrecke ihn selber, denn er sei doch sonst ein sehr ruhiger Mensch.

Nun nahm die Angelegenheit der beiden ihren weiteren behördlichen Gang mit Vernehmungen, Verhandlungen und Beschlüssen, und am Ende wurde ihnen »wegen unzulässiger Begünstigung der sozialdemokratischen Bestrebungen« das Consilium abeundi erteilt. Für Karl hatte der Schlag eine geringe Bedeutung, denn der hatte sich in der letzten Zeit gänzlich in die Literatur begeben und war ohnehin nicht willens, seine Universitätsstudien fortzusetzen; Hans aber arbeitete an einer Doktorarbeit und hatte den Gedanken, später durch die Empfehlung seines Lehrers eine Beschäftigung bei einem großen gelehrten Unternehmen zu finden; und so war für ihn dem Anschein nach eine große Gefahr vorhanden, daß sein Leben scheiterte; denn es war wohl schwer, eine Universität zu finden, wo er nunmehr zur Promotion zugelassen wurde, und wenn ihm das wirklich gelang, so hatte es gewiß große Schwierigkeiten, nachher die gewünschte Beschäftigung zu bekommen.

Weiland war aus Berlin ausgewiesen und hatte zunächst seine Familie zurückgelassen und sich auf die Suche nach einer neuen Stelle in einem andern Orte begeben; aber mehrmals war es schon geschehen, wenn er bei seiner Arbeit war, daß Polizeibeamte in die Fabrik kamen und ihn durchsuchten. Anfänglich schrieb er mit Lustigkeit, wenn er alsdann von seinem erschreckten Herrn verabschiedet wurde und wieder weiterreisen mußte; aber zuletzt lauteten seine Briefe ganz verzweifelt; denn er schämte sich, daß er kein Geld nach Hause schicken konnte. Die junge Frau hatte das Glück gehabt, daß sie die beiden Zimmer vermietete, und so schlug sie sich denn ärmlich mit dem Kinde durch, indem sie in der Küche wohnte; aber sie verbrachte ihre Tage mit manchen heimlichen Tränen, wenn der eine Mieter ihre geliebten Möbelstücke rücksichtslos behandelte, etwa mit den Stiefeln auf dem Sofa lag oder mit der Zigarre ein Loch in die Tischdecke brannte. Sie klagte auch zuweilen dem andern Mieter, dem, welcher in der früheren Schlafstube wohnte; derselbe war Aufseher in einer Fabrik, ein ruhiger und ordentlicher Mann von etwa dreißig Jahren, der verheiratet gewesen und von seiner liederlichen Frau verlassen war. Dieses Unglück Weilands drückte Hans noch besonders nieder, und wie er auch für sich so nirgends einen rechten Weg sah, den er gehen konnte, so erschien ihm sein ganzes Leben in trüber Zwecklosigkeit. Da bekam er unerwartet einen Brief von seinem Lehrer, daß er ihn aufsuchen möge; denn wiewohl er dem durch sein Arbeiten nähergetreten war, hatte er doch nicht gewagt, jetzt zu ihm zu gehen, weil er sich schämte, wie denn Unglück argwöhnisch macht und die Menschen zu einem unsinnigen Stolz verhärten kann. Hansens Lehrer war ein alter Mann mit schneeweißen Haaren und blitzenden blauen Augen, den die Jahre nicht versteinert hatten wie die einen, daß er bei seinen vormaligen Meinungen stehen geblieben wäre, noch hatten sie ihn schwach gemacht wie die andern, daß er sich zu Gesinnungslosigkeit entwickelt hätte, sondern als eine nicht auf das Handeln angelegte Natur hatte er sich zu einer milden Skepsis entwickelt, die in verständigem Zuschauen ihr Genüge fand, und die Wärme seines Herzens hob er für die einzelnen Menschen auf, die ihm irgendwie nahetraten, wie unser Hans. So begrüßte er den mit dem Troste, er wolle dafür sorgen, daß er an einer schweizerischen Universität promoviere, und alsdann werde er auch eine Stelle für ihn finden, wo er zuerst in untergeordneter gelehrter Arbeit tätig sein könne und aber doch Zeit habe, eigenes zu leisten, wenn er es vermöge. Dann fuhr er fort: »Ich meine, daß für jeden jungen Menschen, wenn er anders Kraft in sich hat, eine Zeit kommen muß, wo ihm alle bestehenden Einrichtungen unsinnig erscheinen; denn die haben ihren Grund ja nicht in den sittlichen Idealen, sondern in der menschlichen Gebrechlichkeit. Ein junger Mann aber kennt nur die sittlichen Ideale, weil er die in sich trägt; von der menschlichen Gebrechlichkeit aber weiß er nichts, die lernt er erst durch das Leben kennen, an sich wie an anderen. So erneuert sich, um nur ein Beispiel zu nehmen, für jede Generation immer wieder der Zweifel an der bestehenden Eheform, und wie der junge Mensch an die Stelle der Ehe die Liebe setzen möchte, so soll auch in allen andern Verhältnissen an den Platz des Rechtes die Sittlichkeit treten. Bei tüchtigen Personen kommt mit der Zeit die Erfahrung, die ihnen die relative Vernünftigkeit alles Bestehenden zeigt und sie bewegt, daß sie von ihrer Schwärmerei ablassen und vielmehr das Bestehende durch Liebe und Geistigkeit verklären, weil sie anders keinen Ausweg für ihren guten Willen haben; untüchtige Personen aber lernen nicht durch die Erfahrung; und indem sie bei der Schwärmerei verharren, werden sie am Ende aus ursprünglich guten und edeln Menschen zu Narren und Verbrechern, denn weil sie darin beharren, das Gesetz für unrechtmäßig zu halten und allein ihrer Sittlichkeit folgen wollen, verwechseln sie mit der Zeit die Sittlichkeit mit ihren Trieben, weil ja die Menschen bei zunehmenden Jahren immer selbstsüchtiger werden; außerdem aber gibt es schon von Anfang an unter euch Verbesserern der Welt schlechte Menschen, nämlich solche, bei denen nicht das sittliche Ideal und der Mangel an Erfahrung der Grund ihres Abscheus gegen das Bestehende ist, sondern ein Mangel an Zucht und leerer Hochmut.

In deinem Falle, mein lieber Hans, kommt noch dazu, daß wir heute in einer Zeit leben, wo ein jugendlicher Stand, nämlich die Klasse der industriellen Arbeiter, die erst vor kurzem durch die gesellschaftliche Entwicklung geschaffen ist, die ihm historisch gebührende Stelle erstrebt, welche um einiges wenige höher ist wie die, welche er gegenwärtig inne hat. So vereinigt er mit diesem Streben alle die jugendlichen Anschauungen von Gleichheit der Menschen, von erhöhter Sittlichkeit in allen Beziehungen und noch viele andere, die du ja kennst. Und wende mir nicht eure merkwürdige geschichtliche Auffassung und eure Entwicklungsvorstellungen ein: denn auch die sind nur eine jugendliche Illusion neben andern, besonders bezeichnend für unser braves, nachdenkendes und vielstudierendes deutsches Volk. Wenn erst die Verfolgung aufhört, so wird mit der Zeit auch die Illusion schwinden, wenn auch die Terminologie noch beibehalten werden mag.«

Inzwischen bereiteten sich für Karl neue Liebesbande vor. Unvergessen war noch in seiner Seele die Leidenschaft für Johanna, die ihm die Jahre seiner angehenden Jünglingszeit verzehrt hatte, und es war nicht selten, daß ihm ihr eindringliches Gesicht des Nachts in verwirrten Träumen erschien, die wohl keine Erinnerung zurückließen, aber eine dunkle Sehnsucht und ein unbestimmtes Fühlen in der Helle des Tages erzeugten. Nun kam Johanna in diesen Zeiten nach Berlin, und hatte bald, wie denn die Welt ja so klein ist, Beziehungen zu dem Kreise Karls gefunden, so daß sie ihm unerwartet entgegentrat. Das geschah aber so.

In ihre kleine Stadt war ein Fremder gezogen, ein etwa fünfzigjähriger Herr, der ein berühmter Geigenkünstler gewesen; der hatte sich ein altertümliches Haus am Bergabhang gekauft, dessen großer Garten mit weitschattenden hohen Bäumen sich den Berg hinaufzog. Die alte Mauer um den Garten wurde durch ein eisernes Staket erhöht, an dem sich im zweiten Jahre Ranken des wilden Weins zeigten, die in Bälde so dicht und hoch wuchsen, daß niemand von irgendeinem Punkte draußen in den weiten und schattigen Garten blicken konnte, und das Haus wurde fest verschlossen und nur auf langes Pochen mit dem alten Türklopfer den Boten und Geschäftsleuten geöffnet; denn ein Besuch kam niemals an diese hohe und finstere Tür; und als einzige Bedienung hatte der Herr ein altes Weib nebst deren gleichfalls nicht mehr jungen Tochter, die beide abenteuerliche Gerüchte über ihn in dem neugierigen Städtchen verbreiteten.

Der Künstler hatte ein langjähriges Virtuosenleben geführt, war an Höfen und in Großstädten herumgereist, zuerst mit Übermut und Stolz, nachher in Langeweile und Ekel, und wie er alle Künstlereitelkeit bis auf das letzte befriedigt hatte und der Geschmack auf der Zunge ihm immer bitterer wurde, war ihm der Gedanke gekommen, sich an diesen stillen Ort zurückzuziehen und ganz nur sich selbst zu leben, denn in seinen zerstreuten und verwirrten Umständen zwischen vielen Menschen, die alle leer waren und ihm schmeichelten, war er auf den Gedanken gekommen, er sei ein Selbst, und es sei wichtig und sogar nötig, daß er dieses Selbst in Sammlung und Ruhe rein und groß aus sich herausstelle.

Indessen vergingen ihm in dem alten Hause und stillen Garten die Tage und Wochen; und zuerst hatte er gedacht, dieses müßige Dahingleiten der Zeit sei für das nächste nötig, damit sich sein Geist erhole von dem zerreißenden Leben, das er geführt. Aber auch späterhin wartete er vergeblich auf eine Sammlung und Zunehmen der Kraft, vielmehr glitten die Tage und Wochen wie vorher dahin, wie in einem tiefen Flusse, schnell und ohne Halt, und auch seine Unruhe vermochte dieses Unheimliche nicht zu hemmen. Und während er vorher gedacht hatte, er könne keine Liebe zur Kunst in sich bilden, weil er nach der Willkür des Zufalls fremden Leuten an verschiedenen und gleichgültigen Orten äußerliche Musik vorspielen müsse, so zeigte es sich nun, daß er in der Einsamkeit gar nicht den Bogen anrühren mochte und es ihm ein heftiges Unbehagen bereitete, wenn er seinen kostbar eingelegten Geigenkasten ansah.

Unterdessen hatten sich aus den Erzählungen der beiden Weiber in dem Städtchen viele Legenden um ihn gebildet, von denen er nichts ahnte, denn er war als ein hochgewachsener und schlanker Mann von künstlermäßigem Aussehen ganz zu einem Helden phantastischer Bilder geschaffen. Auf Johanna, die damals gegen ihr neunzehntes Jahr ging, hatten diese Geschichten und der Anblick seiner Gestalt einen sehr tiefen Eindruck gemacht, so daß sie eine heftige Liebe zu ihm faßte und auf Mittel sann, wie sie sich mit ihm bekannt machen könne. Und am Ende fand sie eines, das freilich sehr gefährlicher Art war, aber dadurch gerade ihrem erregten Gemüt besonders zusagte. Der Fremde hielt sich nämlich zwar von aller Gesellschaft des Städtchens zurück, aber im Winter, wo auf dem großen See eine prächtige Schlittschuhbahn war, verschmähte er es nicht, sich auf dem Eise zu zeigen, denn er war von Jugend an ein eifriger Läufer gewesen; und zwar ging er immer des Morgens auf die Eisbahn, wenn die andern Bewohner der Stadt durch ihre Tätigkeit verhindert waren, so daß er seine kunstvollen Zirkel fast allein und ohne lästige Gesellschaft zeichnen konnte. Hierauf baute Johanna ihren Plan; denn an einer Stelle war das Eis dünn durch einen Quell, der vom Boden aus das Wasser bewegte, und wiewohl der gefährliche Punkt durch Tannhecke immer genügend gekennzeichnet war, so hatten sich an ihm doch schon zwei Unglücksfälle ereignet; die Vorfahren erzählten, daß durch diesen Quell der See mit dem großen Netz der unterirdischen Wasseradern in Verbindung stehe, welche den Wassergeistern als Wege dienen zwischen ihren Städten und Schlössern.

Johanna beschloß nun, an einem Morgen, wenn sie den Fremden auf dem See wußte, gleichfalls zum Schlittschuhlaufen zu kommen, und wenn er in der Nähe war, mit scheinbarer Ungeschicklichkeit an die dünne Stelle zu geraten, damit sie einbreche und von ihm gerettet werde, denn daß er vielleicht nicht so mutig sein könne, wie sie annahm, das kam ihr gar nicht in den Sinn.

Nach diesem Plane ging sie nun vor, und es geschah alles, wie sie gewollt hatte, wenn schon ihr zuletzt schien, als handle sie gar nicht absichtlich, und das Eis gab an der Stelle nach, und sie sank ein, mit einem wunderlichen Gefühl darüber, daß das Wasser doch nicht so kalt war, wie sie sich gedacht, und obwohl sie hatte standhaft sein wollen, schrie sie doch laut nach Hilfe, aber es schien ihr, als habe sie dabei gar keine Angst. Der Musiker kam eilfertig auf sie zu, und wie sie seine Figur so von unten sah, erschien er ihr komisch; ohne daß ihr der Grund recht klar wurde, rief sie dem ratlos Ängstlichen zu, er solle sich flach auf das Eis legen und ihr von weitem die Hand reichen; unterdessen hielt sie sich aufrecht im Wasser, indem sie sich an das Eis festklammerte und die Beine nicht in die Höhe ziehen ließ. Er tat nach ihrer Vorschrift, und sie sah vor sich eine vornehme und schmale Hand in feinem Handschuh, die ergriff sie, und so kam sie aus dem Wasser. Wie sie beide aufrecht auf dem Eis standen und sie sein entsetztes Gesicht sah, in dem unter grauem Haar sich schon tiefe Runzeln zogen, da wurde sie so aufgeregt, daß sie ihm um den Hals fiel und ihn mehrmals auf den Mund küßte. Er brachte sie schnell nach Hause, und indem ihre erschreckten Leute sie empfingen, ging er mit dem Versprechen, daß er sich morgen nach ihrem Befinden erkundigen wolle.

Wie er am nächsten Tage kam, war sie gesund und fröhlich, denn der Unfall hatte ihr nicht im geringsten geschadet, und empfing ihn mit heiterm Lachen, er aber stand mit einer fremden Verlegenheit vor ihr, die indessen ihr den schlanken und nicht jugendlichen Mann noch liebenswerter erscheinen ließ. Und indem an die ersten Fäden sich bald weitere anspannen, schien es ihm, daß er eine unwiderstehliche Liebe zu dem jungen Mädchen gefaßt habe, denn in seinem unsteten Leben hatte er zwar manches verliebte Abenteuer bestanden, aber es hatte noch nicht ein Weib wirklichen Einfluß auf ihn gewinnen können. So geschah es am Ende, daß die beiden sich heirateten, wider den Willen des Vaters und zur großen Verwunderung der kleinen Stadt.

Schon am Hochzeitstage wurde sie ungeduldig über ihn und sprach verletzende Worte; er schwieg, aber seine Lippen zitterten und sein Gesicht sah alt aus; da hängte sie sich um seinen Hals und sagte ihm, daß sie ihn lieb habe. Nun geschahen geheimnisvolle Dinge in dem stillen, alten Hause. Einmal wurde bekannt, daß der Mann ein junges Dienstmädchen, das sie angenommen hatten, in ihrer Gegenwart mit einer Feuerzange geschlagen hatte, und war nachher zu dem Mädchen auf ihre Kammer gegangen, hatte ihr Geld gegeben und gesagt, seine Frau sei schuld, er habe nicht anders gedurft, und sie solle heimlich aus dem Hause gehen. Noch viele andre sonderbare Geschichten wurden verbreitet, und am Ende, nachdem die beiden noch nicht ein Jahr verheiratet waren, wurde eines Morgens in der Stadt erzählt, daß der Mann sie heimlich verlassen habe. Es folgte dann nach einiger Zeit eine Ehescheidungsklage, in welcher die Frau einen Eid schwor, der mit der Aussage des Mannes nicht übereinstimmte, aber da dieser seine Aussage nicht auf seinen Eid nehmen wollte, so wurde ihr von den Richtern geglaubt, wenn schon die ganze Stadt der Meinung war, daß sie im Unrecht sei. Nach dieser Scheidung mochte sie nicht mehr zu Hause bleiben, weil niemand mit ihr verkehren wollte, und deshalb kam sie nach Berlin, wo sie bei einem Meister Malunterricht zu nehmen gedachte. Hier gewann sie bald eine gewisse Stellung; denn wenn früher und auch noch jetzt in der ruhigeren Gesellschaft eine gefühlsmäßige Abneigung gegen die geschiedene Frau herrschte, weil in ihr sich eine Verneinung dessen verkörperte, was der allgemeine Wille der Gesellschaft war, so wird jetzt in den unruhigeren Kreisen umgekehrt eine Geschiedene mit besonderer Freude empfangen als eine Verkörperung der neuen Bestrebungen, und auch ohne daß Johanna selbst Erfindungen zu machen brauchte, wurde von ihren Mitkämpferinnen gleich angenommen, daß sie eines der Opfer der bekannten männlichen Untugenden sei und beklagt werden müsse, und auch Männer schlossen sich der Meinung an.

Inzwischen war jene Luise, welche die kindliche Entführungsreise mit dem Dichter Peter gemacht hatte, zu weiteren Jahren gekommen, und durch jenes unklare Streben und den Drang, eine Kraft zu betätigen, welche damals die Flucht veranlaßt hatten, war sie zu einer Beschäftigung mit dem getrieben, was man die Frauenfrage nannte, und hatte für sich selbst einen Ausgang gefunden, denn sie lernte fleißig bei Lehrern, weil sie das Abiturientenexamen machen wollte und dann in der Schweiz Medizin studieren; und indem auch hier noch keine Scheidung eingetreten ist zwischen den tüchtigen Menschen, auf denen die Zukunft ruht, die ja irgendwie anders sein wird als die Gegenwart, und den zerfaserten und untüchtigen, die nur aus Schlechtigkeit und Ohnmacht mit allem Neuen gehen, so kam sie in ihren Kreisen mit Johanna zusammen und gewann eine Zuneigung zu ihr, wie ja solche innerlich gänzlich zerstörten Personen von Johannas Art oft die Liebe gerade der Besten gewinnen.

Karl hatte durch seine Natur die Gewohnheit, daß er gern mit Frauen sprach, und nachdem seine wunderliche und unpassende Liebschaft ein Ende genommen, besuchte er wieder häufiger eine solche Gesellschaft, wo er Frauen und Mädchen antraf, die zu seiner Klasse gehörten. So kam er jetzt auch oft wieder zu Luisen, die ihn in ihrem jungfräulichen Stübchen empfing, mit ihrem Bruder zusammen, der sich immer mehr zu einem wortkargen und scheuen jungen Gelehrten entwickelt hatte, und saßen die drei dann behaglich um den runden Tisch, wo Luise mit Freundlichkeit als Wirtin waltete, und eine besondere Wärme, die von den friedlichen Wänden, der reinen Luft des Zimmers und der Stille ihrer Bewegungen ausging, bewirkte in seinem Herzen ein besonderes Wohlgefühl; dann wurde nicht gestritten und disputiert, nur Kleinigkeiten wurden erzählt, oft in Andeutungen, die bloß den drei verständlich waren, und zuweilen brachte Karl eine Blume mit, und wenn Luise die in einem zarten Glase auf den Tisch setzte, so freute er sich.

Schon länger hatte er von der neuen Freundschaft gehört, aber wegen des veränderten Namens war ihm keine Ahnung gekommen. So fand er unvorbereitet an einem Tage Johanna beim Eintritt in das Zimmer vor, wie sie an dem Platz gegen das einzige Fenster saß, den er selbst sonst innehatte, und so kam es, daß er sie bei der Vorstellung nicht erkannte, sich gleichmütig verbeugte und unbekümmert setzte. Da sprach Johanna zu ihm: »Ich denke, wir müssen uns kennen.« Dieser Worte Klang trieb ihm plötzlich das Blut zum Herzen, er sprang auf und zitterte, und war ihm, als müsse er ohnmächtig werden; sie aber brach in ein silberhelles Gelächter aus, das von einer wunderbaren Lieblichkeit anzuhören war. Da schien es ihm, als geschehe das alles meilenweit entfernt von ihm.

Es geschah Karl, daß unter seinem gewöhnlichen Menschen, den er kannte, sich plötzlich ein andrer und neuer Mensch erhob, den er nicht kannte, denn der hatte bis dahin unbewegt geschlummert. Ganz plötzlich erhob sich der und zeigte sich als blind und ganz erfüllt von einer unsinnigen und leidenschaftlichen Liebe zu Johanna, und während er sonst alle andern Regungen durch genaue und kranke Selbstbeobachtung in klares Licht stellen konnte, war an diesem Treiben gar keine Beobachtung möglich, denn es schien, als sei es ebenso einfach und nicht zu untersuchen wie der Hunger oder Durst. Gleichzeitig mit diesem verspürte er einen neuen Wunsch, nämlich, daß er an Gott glauben könnte, und indem er meinte, daß es keinen lebendigen Gott gibt, betete er zu dem, daß er ihm Glauben geben möge an ihn. Aber es war ein tiefes Dunkel und Schweigen, und kein Trost kam herab in sein furchtsames Herz.

Ehe er Johanna wiedersah, hatte er oft an Luise gedacht und sie sich vorgestellt, und solches Bild hatte ihn dann getröstet. Etwa sie saß unter einem blühenden Kirschbaum, in welchem die Bienen summten, und ein Blütenblatt fiel langsam sich drehend in ihren Schoß, oder ihre großen und dunklen Augen hatten jenen wunderbaren, tiefinnerlichen Ausdruck, den viele durchweinte Nächte erzeugen, wenn es die Dinge unsrer Seele gewesen sind, um die wir geweint haben; und ihre kühle Hand lag auf seiner Hand, Ruhe in ihm verbreitend und den Frieden, den sie sich erkämpft hatte. Denn auch sie hatte schwere Zeiten in ihrem Innern gehabt, aber wenn es im Gespräch an diese kam, so glitten die Worte an ihr ab ohne Wirkung, und nur im Gefühl teilte sie mit von dem, was sie besaß. Und er wußte, das Leben entflieht, wie der Schatten einer Wolke dahinzieht über schweigende Wälder und Berge.

Nun waren zu dem noch die Gefühle und Triebe des andern und untenliegenden Menschen gekommen, die sich um Johanna bewegten.

Sehr merkwürdig war es, welche Übereinstimmung er mit ihr in scheinbar unbedeutenden Dingen hatte, die doch auf Tieferes in uns weisen; so liebten sie beide, wenn im Bücherbrett die Bände eng zusammenstanden, und wo eine Anzahl Werke von geringerer Höhe neben größeren aufgestellt waren, legten sie andre oben quer über, damit die Lücke ausgefüllt wurde. Eine eigne Rührung überfiel ihn, als er das bemerkte. Auch schien es, als seien sie in allem der gleichen Meinung, und eine Uneinigkeit entstehe nur scheinbar und durch Mißverständnisse. So gelangte er auch neben Johanna oft zu dem Gefühl der Beruhigung. Zuweilen, wenn seine Gedanken einander widerstritten, sagte sie ihm, welches seine richtige Meinung war, ehe er selbst Klarheit gewonnen hatte; bei solchen Gelegenheiten konnte sie ihm scherzend vorwerfen, er rede oft doppelsinnig.

Aber plötzlich wurde ihm dann klar, daß sein Kreis enger geworden, und daß er das frühere Gefühl verloren hatte, hinter seinem Bewußtsein breite sich noch ein großer und dunkler Raum aus, der ihm gehörte, wenn er nur seine Schritte in diese Pfadlosigkeit lenken wollte, dann überkam ihn eine heftige Angst vor ihr, die ihn körperlich peinigte.

Einmal spielte er Schach mit ihr; sie hatte einen Zug getan, der das Spiel gegen sie entschied, und als es schon zu spät war, wollte sie ihn zurücknehmen. Er antwortete, daß das gegen die Regel sei, da stand sie auf und sagte, nun wolle sie nicht zu Ende spielen. Wie er ihren Gesichtsausdruck sah, wurde ihm plötzlich bewußt: sie brauchte ihn nur; und wie sie in diese Klarheit hinein noch sprach, daß er ihrem früheren Mann sehr ähnlich sei, da spitzte sich in ihm plötzlich ein starker Haß zu, und er empfand fast körperlich, wie sie einen selbstsüchtigen Willen auf ihn wirken ließ und durch den vieles aus ihm herausholte, was ihm gehörte, um es sich anzueignen und sich in roher Weise damit zu schmücken. Unter solchen Umständen gelangten sie zum Einverständnis. Und zwar geschah das scheinbar unvorbereitet, aber er hatte es vorhergefühlt. Sie stand von ihrem Stuhl auf, legte die Hände auf den Rücken und ging im Zimmer auf und ab wie ein Mann. Vorher hatte sie geraucht, und von dem Ende ihrer Zigarette im Aschenbecher stieg noch eine dünne Rauchsäule in die Höhe, die jedesmal in Verwirrung geriet, wenn sie in die Nähe kam. Sie begann damit, daß es doch nötig sei für sie beide, zur Klarheit zu kommen, und weil für sie selbst die Peinlichkeit des Anfangens geringer sei, so wolle sie beginnen; denn in seiner Natur liege es, daß er endgültige Entschlüsse scheue. Und wie sie so sprach, arbeiteten in ihm Furcht und Scheu, und er sah unglückliche Zeiten voraus, und doch konnte er nicht aufspringen und ihr entgegentreten, denn sein Herz bebte in tiefer Sehnsucht zu ihr. Dämmerung sammelte sich in den Winkeln des Zimmers. Sie ging auf und ab, sprach stockend und langsam. Es fiel ihm ein, daß er einen Vorwand haben mußte, um das Gespräch abzubrechen, aber seine Angst fand keinen Vorwand, und sein Herz schlug ihr entgegen.

Ihr Tonfall war fremdartig; und es wurde ihm plötzlich klar, daß sich hier für einen Augenblick in ihr der Vorhang lüftete, durch den ihr eignes Innere sich vor ihr verbarg, und daß sie erschrak vor sich selbst; hätte er ihr jetzt alles sagen können, was er wollte, seinen Haß, seine Liebe, seine Furcht und seine Verachtung, so hätte sie alles begriffen und hätte ihn ziehen lassen. Aber er brachte kein Wort über seine vertrockneten Lippen, und schämte sich für sie. Und weil sie im Staube lag und sich selbst verachtete in dieser Minute, so sagte er, wider seinen Willen und tonlos: »Du hast recht, ich liebe dich über alles.« Wie diese Worte verhallt waren, sonderbar waren sie verhallt in dem dunkelnden Raume, und sein Herz krampfte sich zusammen, da war auch in ihr der Vorhang wieder zugezogen, und sie wußte nicht mehr, daß sie im Staube gelegen hatte. Karl aber fühlte sich vernichtet, daß er hätte mögen ohnmächtig werden.

Sie kam zu ihm und legte ihm die Arme um den Hals; und er mußte sie küssen; das war eine Heuchelei, daß er sie küßte, und eine Qual war es für ihn. Sie wich seinem Kuß aus, scheu und befangen; aber auch sie heuchelte ja, indem sie auswich, nur wußte er, daß ihr das keine Qual war. Sie hatte jetzt einen Menschen, der ihre Leiden tragen mußte, einen Feigling, der am Abgrund gestanden hatte und hinuntergesprungen war in die Tiefe, trotzdem er wußte, daß er unten zerschmettern würde, aber er sprang hinunter, weil etwas in ihm war, das ihn zwang, sich in dieses Verderben zu stürzen. Und siehe, jetzt lachte sie schon, mit jenem melodischen Lachen, das ihm so furchtbar war. Er hätte sie fassen mögen und weit von sich schleudern, aber er zog sie an sich und flüsterte Liebesworte. Und an Luise dachte er und ihren ruhigen Blick, und wußte jetzt mit Klarheit, daß es nur seine Schwäche war, die sie fern von ihm gehalten. Denn ihre Seele hatte sich zu ihm geneigt und wollte ihm ihre sanfte Blüte erschließen.

Es folgten die äußerlichen Dinge, Verlobung und Hochzeit, und die Aufmerksamkeit der Menschen, und inzwischen ging der seelische Kampf der beiden weiter, denn auf der einen Seite drang sie in ihn hinein als etwas Fremdes, suchte ihn auszufüllen und sich an Stelle seines Eigenen zu setzen, so daß er hätte mit ihren Augen sehen müssen und mit ihren Gedanken urteilen, und auf der andern Seite nahm sie räuberisch von ihm, paßte das Geraubte sich an, daß es ihr altes Eigentum schien, und zeigte ihm das gelegentlich ganz unbefangen. Dann erkannte er mit Wut Stücke von sich in fremder Gefangenschaft, die er nicht befreien konnte.

Doch er kam am Ende dazu, daß er sich gegen das erste mit einem Erfolg verteidigte, und zuletzt wieder allein in sich war; aber gegen das zweite gab es für ihn keine Waffen. Indessen stellte sich da unerwartet eine Hilfe für ihn ein, denn je mehr er sich abschloß und sie aus sich entfernte, desto geringer schien ihre Kraft zum Rauben zu werden, wiewohl sie den Trieb dazu behielt. Dadurch kam sie in eine Enttäuschung, die sie jedoch nicht verstand, denn die Lage erschien ihr jetzt so, daß sie glaubte, sie habe die ganze Welt aufgefaßt, aber die sei ganz einfach und immer gleichmäßig und verursache ihr eine quälende Langeweile. Deshalb glaubte sie sich betrogen, weil man doch die Erwartung habe, daß das Leben mehr sei, und in Haß und Erbitterung über diesen vermeintlichen Betrug schloß auch sie sich nun immer mehr ab und wendete die wenigen und geringen Vorstellungen, die sie erobert hatte, mit Wut immer hin und her, ob sie nicht doch Neues an ihnen entdecke. Darauf gewöhnte sie sich an, zu klagen, und erzählte in allgemeinen Ausdrücken, daß sie vom Unglück verfolgt sei und alles fehlschlage, was sie beginne, und alle andern Menschen mehr Glück haben, und so fort; so wurde sie endlich auch in ihrer Ausdrucksweise pöbelhaft, denn nichts zieht Menschen so sehr ins Gemeine wie solches Klagen. Mehr und mehr wendete sie sich in diesen Reden mit einer Spitze gegen Karl; und am Ende, nachdem alles, was geschehen war, sich ihr ganz verkehrt hatte, sagte sie sogar, daß sie gegen ihre eigentliche Neigung und Absicht und nur aus Mitleid Karls Weib geworden sei, welches Mitleid ihr nunmehr übel vergolten werde.

Johanna hatte den Plan aufgegeben, eine bei ihr vorhandene geringe malerische Begabung auszubilden, weil ihr die Beharrlichkeit fehlte, sich das handwerksmäßige Können anzueignen, das für den Maler nötig ist, und wie so viele dachte sie, daß der Schriftsteller dieses Könnens entraten kann; und wie denn damals, als durch eine mißverstandene Rückkehr zur Natur die Meinung aufkam, durch die Wiedergabe einer zufälligen Beobachtung könnte man ein Dichterwerk schaffen, viele Frauen solche Fähigkeiten zeigten, so wendete sie sich nun der Schriftstellerei zu. Hierdurch entstanden auch äußere Gegensätze zu Karl, denn wenn auch bei ihm selbst die Begabung nicht zum Kunstwerk ausreichte, so wußte er doch um diesen Mangel schon bei sich genau, denn er beschränkte als Mann sein Wollen nicht auf sein Können, und noch deutlicher sah er den Mangel aber bei seiner Frau, deren Begabung zudem noch geringer war wie die seinige, da sie noch mehr lediglich Ausdruck einer problematischen Natur war und von jener Art, wie sittlich geringwertige Menschen sie oft haben durch ihre Minderkraft.

Aber auch diese Kämpfe der Ehegatten fanden keine rechte äußere und anschauliche Form, die eine eigentliche Erzählung möglich machen würde, und so muß es auch hier am bloßen Bericht genügen.

Inzwischen hatten auch Karls frühere Geliebte und ihr Verlobter Jordan geheiratet, nachdem sie ihren gebührlichen Brautstand gehabt, und hatte sie wohl große Sehnsucht, daß sie ihr Kind wollte zu sich nehmen, das sie von Karl bekommen, aber sie scheute sich; wie sie aber am Hochzeitstage von ihrem Mann in die Wohnung geführt wurde, die sie zusammen eingerichtet für sich, da fand sie in einem Kinderwagen liegen und ruhig schlafen das kleine Söhnchen, denn ihr Mann wollte ihr eine Freude machen. Da weinte sie vor großem Glück, küßte und herzte den guten Jordan, und weil das Kindchen eben aufwachte und nach einer Nahrung schrie, ging sie schnell in die Küche, woselbst schon alles bereit stand, und richtete ihm seine Flasche, und inzwischen spielte der Mann mit dem Kleinen, indem er ihm seine Uhr vorhielt und mit Schlüsseln klingelte. Sie aber bei ihrer Hantierung überlegte sich, was sie ihm sagen wolle, und wie sie wieder in die Stube kam und das Kind besorgt hatte, sprach sie zu ihm: »Ich bin sonst stolz gewesen und hätte von einem andern keine Gabe angenommen, auch wenn ich ihn lieb hatte, wie ich ja in Wahrheit Karl lieb gehabt habe. Von dir aber nehme ich alles an; und das nicht deshalb, weil ich weniger stolz geworden bin, sondern weil du ein solcher Mensch bist, daß sich einer nicht schämt, wenn du ihm gibst. Und nicht eine gewöhnliche Dankbarkeit habe ich gegen dich, sondern weil ich weiß, daß das Glück, das du andern schenkst, durch deine Güte wieder reicher zu dir zurückgeht, so liebe ich dich nur mehr in größerer Fröhlichkeit.«

Nun lebten die beiden in ruhigem Glück, das sie dadurch noch mehr wärmte, weil sie beide vorher durch schweres Unglück gegangen waren, und genossen das Glück mit klarem Bewußtsein, daß dieses Unglück notwendig für sie gewesen war.

Recht bald begann der Kleine aufrecht zu sitzen, und dann wurde er aus dem Wagen genommen und erhielt ein kurzes Kleidchen und versuchte zu gehen; und wiewohl er seinen Pflegevater nur eine kurze Zeit zu sehen bekam des Abends, wenn der von der Fabrik heimkehrte, hatte er ihn doch besonders in sein Herz geschlossen, sah ihn viel an und hielt sich zu ihm, denn auch ganz kleine Kinder wissen schon den Gesichtsausdruck der Erwachsenen zu deuten und haben nach dem ihre Gefühle. Schon in den ersten Tagen, wo er sich frei auf dem Fußboden bewegen durfte, hatte er gemerkt, daß der Vater, wenn er gekommen war, seine Schuhe wechselte, und so brachte er ihm, ohne daß es die Mutter ihm aufgetragen, seine Pantoffeln. Hierüber erhob sich bei den Eltern eine große Freude und ein besonderes Rühmen seiner Klugheit, das bewirkte, daß er auch fernerhin bei dieser Erfindung verharrte. Es bewunderten auch die andern Frauen im Hause den Kleinen sehr und erzählten ihren Männern von dem Kind, und der Kaufmann an der Ecke fragte jedesmal die Mutter nach ihm, wenn sie einholte. Über alles dieses wurde sie noch glücklicher, und ihr Gesicht war so, daß jeder froh, werden mußte, der sie ansah.

Weil sie doch nun einen Mann hatte und sich nach ihrer Vorstellung nicht mehr des Kindes vor andern zu schämen brauchte, so bekam sie eine besondere Lust, einmal mit den beiden zu ihren Eltern zu reisen, die auf einem Dorfe und mit der Bahn nicht allzu entfernt wohnten. So beredete sie denn eine lange Zeit mit ihrem Mann diesen Plan, und wie die Witterung passend war und sie beide mit Kleidung wohl versehen, daß sie den Eltern gefallen mochten, da erbat er sich für einen Montag Urlaub, und sie fuhren auf zwei Tage nach dem Ort mit großer Freude; der Kleine war sehr artig unterwegs, und viele, die mitreisten, fragten die Eltern über ihn, ließen sich erzählen und freuten sich seiner.

Die Eltern der Frau waren Instleute, die zu einem großen Gute gehörten und ein Häuschen für sich hatten, eine Kuh und zwei Schweine, und ein Stück Acker bekamen sie von der Herrschaft. Sie verwunderten sich sehr über ihre Tochter, daß sie so schön gekleidet war, und über den Schwiegersohn, und über den Enkel, und waren über die Maßen stolz und fröhlich, und mußten die Kinder von allem erzählen, von der Arbeit des Mannes, und von seinem Lohn, und von ihrer Wohnung in einem so großen Hause, daß in dem einen Hause so viele Menschen wohnten, wie hier in dem ganzen Dorfe, und daß sie polierte Rohrstühle in ihrer Stube hätten. Über das alles schlug die Mutter die Hände überm Kopf zusammen, und der Vater sagte nur: »Ei, ei!« Und bei dieser freudigen Verwunderung der Alten wurde es den beiden erst so recht klar, wie gut sie es hatten, und wie glücklich sie lebten.

Dann nahm die alte Mutter den Enkel auf den Arm, der ganz fein und vornehm aussah in seinem großen, weißen Hut neben ihrem verbrannten und verarbeiteten Gesicht, und ging mit ihm hinaus in den Hof, ließ ihn die Schweine im Stall sehen und erzählte ihm, daß die zu Martini geschlachtet würden, und daß dann Wurst gemacht würde, und er solle dann auch eine kleine Wurst haben, und dann zeigte sie ihm die Kuh, die vor der Krippe stehend zurücktrat und sich umsah nach den beiden mit ihren großen, sanften Augen. Und wie die Alte so allein mit dem Jungen war und keiner sie sehen konnte, herzte sie und küßte den Enkel fortwährend, denn vorhin hatte sie das nicht gewagt, und das Kind streichelte ihr die Backe und faßte lachend an ihre Nase. Der Alte aber führte den Schwiegersohn im Häuschen herum und zeigte ihm alle Einrichtungen, wie er die Wurst räucherte, und wo er sein Korn aufhob, denn er bekam Dreschanteil, auch das Dach zeigte er ihm und erzählte, daß es früher mit Stroh gedeckt gewesen sei, aber er habe jetzt ein Ziegeldach hergestellt, und zwar habe er Falzziegel genommen, was das Neueste sei und sehr viel besser als die Hohlziegel, die man früher gehabt, und so redete er noch vieles Wirtschaftliche und Verständige mit dem Schwiegersohn. Und weil ihm der so gut gefallen hatte, und er selbst hatte doch auch seinen kleinen Stolz, so nahm er ihn am Ende beim Ärmel und sprach zu ihm, er müsse nicht denken, daß die Eltern seiner Frau Habenichtse wären; und wenn sie einmal starben, so kamen doch auf jedes Kind etwa hundertundfünfzig Taler, die sie dann erbten.

Wie es gegen den Abend ging und die alte Frau daran dachte, das Essen zu bereiten, da taten sich die beiden Alten zu einer heimlichen Unterredung zusammen, und dann brachten sie eine Flasche Wein zum Vorschein, die hatte die Herrschaft vor Jahren einmal geschickt als eine Stärkung für die alte Frau, die damals recht krank gewesen war, aber sie hatte aus eigener Ehrfurcht nicht gewagt, das Geschenk anzurühren, sondern es aufgehoben, wenn einmal ein besonderer und festlicher Tag sein sollte. Sie lachten beide viel in Behaglichkeit und in Unruhe über das Ereignis, daß die Flasche nun entkorkt werden sollte, dann bereiteten die beiden Frauen am Herde das Essen, und die Mutter freute sich, wie flink ihre Tochter war, dachte auch seufzend früherer Zeiten, wo ihre Glieder noch nicht so steif geworden; ganz leichtfertig ging sie an den Speck und schnitt ein großes Stück ab, auch viele Eier nahm sie und ein großes Stück Butter stellte sie auf, und wenn sie auch eine heimliche Furcht hatte, ob nicht zu viel aufgehe, wenn sie den Tisch so üppig bereite, so freute sie sich doch wieder, daß es ihren Kindern gut schmecken sollte. Das gute Essen und der Wein machte alle Lebensgeister noch froher und munterer, und der alte Vater erzählte aus seiner Jugend und rühmte die heutige Zeit, daß es da jeder besser habe, und wer ordentlich und brav sei, der erreiche auch etwas, sei es nun in der Heimat oder in Amerika; und seine Bäcklein röteten sich unter den grauen Stoppeln, und er begann sogar die alte Mutter an die Zeit ihrer Verlobung zu erinnern, daß die erst sich schämte und ihm verbot und nachher gerührt wurde und sich mit dem Schürzenzipfel ein Tränlein aus dem Auge wischte; am meisten lag ihm jedoch das neue Dach aus Falzziegeln am Herzen, und er wurde nicht müde, dessen Vortrefflichkeit zu preisen. Die beiden Alten hätten in ihrem Stolz das Enkelkind gar zu gern ihrer Herrschaft gezeigt, nur wußten sie nicht recht, wie sie das beginnen sollten, denn sie hatten Furcht, daß sie aufdringlich erscheinen möchten, und die Herrschaft denke vielleicht, sie wollten etwas geschenkt haben für das Kind; da kamen sie am Ende überein, daß die Tochter mit dem Kleinen den alten Vater morgen auf dem Felde besuchen sollte zu einer Zeit, wo der Herr gewöhnlich geritten kam, dann würde der fragen, und er wollte ihm alles erzählen und ihm seine Tochter zeigen und das Enkelkind, und das sähe doch dann aus, als sei es bloßer Zufall gewesen. Und wie sie so sprachen, begannen sie allerhand Vergleiche mit diesem Nachbarskind und mit jenem; und keines, fanden sie, war so prächtig wie das ihre, denn an dem war alles zu bewundern.

So gingen am Ende alle schlafen, und wie sie in den rundlich gestopften und weichen Betten lagen, denn die Alten hatten zwei leere Betten stehen und die Federn waren von ihren Gänsen, die sie selbst gezogen, da waren alle so froh, daß es gar kein größeres Glück geben konnte, und schliefen fest und ohne Träume. Und am andern Tage wurde die geplante Begegnung mit dem Herrn auch durchgeführt, und der Herr fragte auch, und wie er alles gehört hatte, sprach er freundlich mit der Mutter und dem Kind, und wiewohl er nur einige gleichgültige Worte gesagt hatte, so wiederholten die beiden Alten die doch immer wieder und waren froh.

Dann aber ging es an das Abschiednehmen, und die Eltern mit dem Kind fuhren wieder nach Berlin zurück, unter vielen Versprechungen und Plänen, daß sie selbst bald wiederkommen wollten, und daß die Eltern sie in Berlin besuchen sollten, und dem Jungen hatte die Großmutter noch zwei schöne, große Äpfel heimlich in die Hand gegeben, die vom vorigen Herbst waren und aussahen wie eben gepflückt, die hielt er mit großer Sorgfältigkeit fest, bis die Mutter sie ihm abnahm, weil er müde wurde und schlafen wollte.

Nun geschah es aber, daß das Kind krank wurde, und fiel der Mutter zuerst eine seltsame Aufgeregtheit auf und besondere Röte des kleinen Gesichtes, dann wurde der Arzt gerufen und erkannte einen heftigen Anfall von Scharlach. Wie die Eltern seine Worte hörten, bekamen sie zwar erst einen Schreck, aber darauf bedachten sie, daß doch die meisten Kinder von dieser Krankheit befallen werden und wieder genesen, und das machte sie wieder guten Mutes. Dann folgte ein seltsamer Vorgang, nämlich das Kind wurde immer kränker, die Eltern aber, als ob sie eine heimliche Furcht hätten, die sie durch gewollte Hoffnung beschwichtigen könnten, wurden gleichzeitig immer zuversichtlicher. Aber am Ende geschah es in einer Nacht, wo die Mutter am Kopfende des kleinen Bettchens saß, daß das Kindchen plötzlich schneller atmete, und weil die Mutter vom Arzt gehört hatte, daß die Entscheidung bevorstand, so dachte sie bei sich, jetzt überwindet es die Krankheit, das macht ihm Mühe; plötzlich aber verzog sich der kleine Mund wie zu einer kläglichen Bitte, und das Gesichtchen sah mit einem Male viel älter aus, und da blieb der Atem stehen. Das war der Mutter zuerst recht sonderbar; aber mit einem Male verstand sie, was das bedeutete, und schrie: »Er stirbt, er stirbt!« Da sprang der Mann vom Lager auf und kam mit einem ungläubigen Lächeln und wollte beruhigende Worte sagen, indem er die kleinen Händchen erfaßte; die waren aber ganz anders geworden, und das Wort stockte ihm.

So standen nun die beiden vor dem Leichnam und verstanden nichts, nur daß dem Mann einfiel, daß er die Augen zudrücken mußte. Und wie die Augen geschlossen waren und der Schatten der langen Wimpern sich abzeichnete, war der klägliche Ausdruck um den Mund des Kindes verschwunden, und in dem wachsfarbenen Kindergesicht zeigte sich ein tiefer Ernst und eine wunderbare Entschlossenheit, wie eines Helden, der einen schweren Gang zu tun hat. Da sank die Mutter auf die Knie und begann zu schluchzen. Dem Mann aber zerstreuten sich noch immer die Gedanken durch den Gram, weil er keine Handlung zu tun hatte, denn noch eine lange Zeit war ihm, als müsse er verlegen sein und lächeln, und wunderte sich über sich selbst, denn er hatte das liebe Kind sehr gern gehabt, und am Morgen geschah ihm wunderlich, wie er seine Hausschuhe erblickte, die ihm der Kleine abends immer angeschleppt hatte, jeden einzeln, und drückte ihn ungeschickt an sich; da strömte es ihm plötzlich aus den Augen, ohne daß ein Aufhalten möglich gewesen wäre, unaufhörlich, wie eine Quelle, und ohne Schluchzen. Da schonten die beiden einander und sprachen nicht miteinander und taten ein jedes, was nötig war.

Am Abend des zweiten Tages sagte die Frau: »Ich habe bis nun nicht an Gott geglaubt und war stolz auf diesen Unglauben. Jetzt aber weiß ich, daß es einen Gott gibt, und zu einer Strafe für mich habe ich diese Einsicht gewonnen, denn ich habe dahingelebt in Leichtfertigkeit und ohne Gedanken, und wie dieses Kind kam, habe ich es nicht aufgenommen als eine Bestrafung dafür, daß ich nicht an mich dachte und an die Aufgabe, die ich erfüllen soll, und auch nicht als ein Geschenk, das mich zur Besinnung, Liebe und Nachdenken bringen konnte, sondern als eine zufällige und ungerechte Last, die ich verabscheute, und auch die Freude, die ich später an ihm gehabt, ging nicht aus einer Belehrung und Besserung hervor, sondern nur aus derselben alten Leichtfertigkeit und Gedankenlosigkeit, nach der ich dahin gelebt habe wie ein Tier im Walde. So ist mir dieses Kind nun wieder genommen, und ich habe meine Strafe dahin und weiß nun, daß alles das nicht möglich wäre, wenn es nicht einen Gott im Himmel gäbe. Durch dessen Nachsicht habe ich bis jetzt gelebt, nun aber kann ich nicht mehr leben. Wenn ich aber das tote Kindchen ansehe, so ist mir, als habe es alles das gewußt, und wiewohl es nur eben anfing, die ersten Laute zu sprechen und ganz kindisch war in seinem Wesen, so hat es mich doch ganz durchschaut, und in seinem Innern hat es mich gerichtet; das sehe ich an dem Ausdruck seines Gesichtes.«

An Karl war eine Nachricht von dem Geschehnis gesendet; er kam zu den beiden, und wie die Beerdigung war, wohnte er der mit seiner Frau bei. Für das Kind hatte er keine rechten Gefühle gehabt, da er es kaum gesehen, denn die väterliche Liebe wächst erst, wenn ein Vater in einem größer werdenden Kinde sein eignes Bild wiedererkennt, und jene besondere Liebe, die wir zu den ganz Kleinen haben, auch wenn sie uns fremd sind, in deren großen und unbestimmten Augen noch ihre himmlische Heimat träumt, die entsteht doch nur im ganz nahen Zusammenleben. Auch hatte er nicht mehr genug Zuneigung zu seiner früheren Geliebten, um mit ihr zu empfinden und zu verspüren, was für sie das alles bedeutete. So überwog bei ihm das Gefühl der Peinlichkeit seiner wunderlichen Lage, und er hatte eine Empfindung von Leerheit, die aber machte ihn betroffen, wie er neben den beiden tiefgebeugten Menschen stand; und seine Frau war von äußerlicher Höflichkeit und zeigte eine gewisse Neugierde. So kam es, daß sie auf die hochgespannten und empfindlichen Seelen der andern verletzend wirkten und denen ein häßliches Gefühl verursachten. Nur einen Augenblick tauchte bei Karl etwas Besonderes auf, als er sah, wie Jordan mit Zartheit seiner Frau den Arm streichelte, als könne er sie dadurch trösten; da wurde ihm klar, wie die beiden zusammengehörten und eins waren, und was in Wahrheit die Ehe bedeutet, und empfand ein tiefes Mitleiden mit sich selbst.

Auf dem Heimweg sprach Johanna gleichgültige Dinge in kalter und selbstsüchtiger Weise und erregte in Karl eine tiefe Erbitterung. Jordan und seine Frau waren schweigend nach Hause gegangen; denn der Mann wußte nicht, was er zu dem sagen sollte, das in ihr jetzt sich bewegte und Gestalt annahm, und hatte Scheu und Ehrfurcht vor ihr; ihr aber hatte dieses Zusammenkommen mit dem früheren Geliebten einen neuen Eindruck gemacht, dessen Folgen sich erst nach Wochen zeigten. Da sprach sie zu ihrem Manne: »Ich habe ein herzliches Erbarmen mit Karl, denn er ist ein ganz unglücklicher Mensch; und das nicht nur durch sein ganz schlechtes Weib, sondern auch durch sich selbst. Es ist mir aber sein Anblick eine Tröstung gewesen in meinem gegenwärtigen Leiden, denn durch ihn habe ich gesehen, daß ich doch nicht verworfen bin. Wir haben die christlichen Lehren ja alle gehört, aber weil sie uns nur äußerlich gelehrt wurden und nicht eine Antwort auf das Fragen unseres Herzens waren, so haben wir sie nicht verstanden und dadurch sind sie uns fast in Vergessenheit geraten. Jetzt weiß ich, was Gottes Liebe bedeutet, und weiß, daß Gott mich liebt. Deshalb habe ich keine Unruhe mehr, mache mir auch keine Vorwürfe und Sorgen, denn ich weiß, daß mir nur Gutes geschehen ist, und daß mir nie Übles geschehen wird, durch die Liebe Gottes. Diese Erkenntnis ging mir auf, wie ich Karl beobachtete, denn der gehört nicht zu den Auserwählten; weshalb das aber so ist, weiß ich nicht, und das wird wohl ein Geheimnis sein, das Gott sich vorbehalten hat.« So sprach die Frau, und wiewohl der Mann den eigentlichen Sinn ihrer Worte auch später nicht verstanden hat, denn er war ein Mensch, der auf anderm Wege zu seinem Ziele kam, nämlich durch seine eigne Milde und Güte, so wußte er doch, daß auch solches gut ist, und ließ sie nach ihrer Art denken.

Und so lebten die beiden sich immermehr ineinander, und am Ende erreichten sie dasjenige Maß von Vollendung, das bestimmt ist für solche Leute, wie sie sind, mögen das nun gelehrte und hochmächtige oder schöne und berühmte Menschen sein, oder ein armes und unbeachtetes Arbeiterpaar, das nicht unterschieden von den andern in einer menschenerfüllten Stadt wohnt.


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