Otto Ernst
Vom Strande des Lebens
Otto Ernst

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Anna Menzel.

Herr Sievers und Frau betrachteten sich ihr erstes Dienstmädchen. Herr Sievers hatte in den letzten Jahren Glück gehabt in seinem Maurerhandwerk, so viel Glück, daß er sich nun ein eigenes Haus und seiner Frau ein Dienstmädchen leisten konnte. Die Zigarre zwischen den halb entblößten Zähnen haltend, lugte er über das »Lokale« seiner Zeitung hinweg nach dem Mädchen; Frau Sievers aber gab sich, in einem breiten Sessel ruhend, dem hochinteressanten Geschäft mit ihrer ganzen und vollen Persönlichkeit hin. Man durfte immerhin von einer vollen Persönlichkeit sprechen.

Vor ihr stand ein schlankes Mädchen von achtzehn oder höchstens neunzehn Jahren. In glücklichen Stunden mochte das Mädchen hübsch sein – das ließ sich fast mit Sicherheit annehmen – zurzeit aber lag ein Ernst auf seinen Zügen, der zu seinen Jahren in keinem Verhältnis stand. Die Mundwinkel waren beständig ein wenig herabgezogen: ein Zug, den der Kummer nur durch jahrelange, liebevoll-stetige Arbeit auf unserem Gesicht herausbildet.

»Ich gebe sechzig Taler Lohn,« sagte Frau Sievers, indem sie sich auf der »sechzig« einen Augenblick lang behaglich situierte; dann in die Wirklichkeit zurückkehrend, wiederholte sie: »Sechzig Taler Lohn und natürlich Mützengeld.«

»Wenn es ginge,« wandte das Mädchen bescheiden ein, »möchte ich lieber keine Mützen tragen.«

Aber das gab's nicht. Nun konnte sich Frau Sievers zum erstenmal einen Dienstboten gönnen, und da sollte es keiner in Uniform sein? Und warum denn nicht? Das verstehe sie nicht!

Das Mädchen machte eine kaum merkliche, verlegene Bewegung und schwieg.

»Alle vierzehn Tage,« fuhr Frau Sievers fort, »haben Sie einen Abend in der Woche frei, und außerdem alle drei Wochen einen Sonntagnachmittag – wenn Sie mit Ihrer Arbeit fertig sind natürlich. Aber um zehn Uhr müssen Sie zu Hause sein; später ausbleiben und Herumtreiberei und so was dulde ich durchaus nicht.« Sie lehnte sich tief in den Sessel zurück, und das Auge eines Dichters würde in diesem Augenblick gesehen haben, wie sie sich einen schweren und teuren Mantel von sittlicher Würde um die Schultern zog. »Herr Sievers ist darin sehr strenge,« fügte sie hinzu.

Herr Sievers wußte nicht, wie er zu dieser Huldigung kam; aber er akzeptierte sie, indem er seine Züge sichtbarlich verhärtete.

»Sie können auch sonst gern mal gehen, wenn Sie fertig sind,« sprach die Herrin des Hauses in liberalem Tone weiter. »Viel zu tun haben Sie hier ja nicht; die paar Zimmer – Kinder sind hier nicht – wenn Sie mal mit nach dem Essen sehen und nachmittags 'n bißchen Handarbeit machen – dann können Sie nachher meinetwegen tun und machen, was Sie wollen.«

»Muß ich auch die Wäsche machen?« fragte das Mädchen.

»Ja – natürlich! Aber das Plätten besorge ich selbst. Das macht mir doch keine zu Dank.« Die letzten Worte sprach sie zu ihrem Gatten gewendet.

In seinem Nicken sprach sich Anerkennung ihrer hausfraulichen Tugenden aus.

»Wie heißen Sie noch?«

»Anna Menzel.«

»Also, wenn Sie einverstanden sind, Anna, dann können Sie am ersten Mai zugehen. Hier sind Ihre Zeugnisse und Ihre Dienstkarte.«

Das Mädchen nahm die Papiere dankend entgegen und verabschiedete sich. Herr Sievers machte mit der Zigarre im Munde eine gemessene, aber wohlwollende Sitzverbeugung.

Das wurde Anna bald genug klar: ein schlechter Dienst war es bei den Sievers nicht. Wenigstens in einer Hinsicht war man nicht interessiert: Essen und Trinken waren gut und reichlich; sie durfte sich nehmen, soviel sie wollte. Und als sie wenige Tage nach ihrem Antritt das Mißgeschick hatte, eine ziemlich wertvolle Terrine auf den Boden und in Scherben fallen zu lassen, bemerkte zwar Frau Sievers mit mildem Vorwurf und offenbar in Übereinstimmung mit den Tatsachen, daß sie die Terrine doch vier Jahre lang gebraucht und nie »entzweigeschmissen« habe; aber sonst machte sie durchaus kein Aufhebens von der Sache, und nach drei Minuten hatte sie sie bereits vergessen.

Ein wahres Glück für Anna Menzel, endlich wieder, wie es doch schien, ein erträgliches Dasein gefunden zu haben. Bis ins siebzehnte Jahr hinein war sie, eine einzige Tochter, im Elternhause gewesen; an Stelle ihrer kränklichen und arbeitsunfähigen Mutter hatte sie den Haushalt geführt. Ihr Vater, ein kleiner Handwerker, hatte einen auskömmlichen Verdienst, aber auch nichts mehr gehabt. Das Bedürfnis, ihre Tochter »vom Hause zu geben, damit sie Unterschied lerne«, hatten die beiden Alten nie gefühlt; vielmehr hielten sie diese treue und liebevolle Hilfe mit Herzen und Händen fest. Und es war gut, daß sie noch ein paar Jahre zärtlichen und warmen Beisammenseins mit ihrem Kinde genossen; denn bald rief sie der Tod, eines schnell nach dem andern, ab. So stand das Mädchen allein. Ein älterer Bruder war schon vor Jahren nach Amerika gegangen und ließ wenig und außer der Nachricht von seinem Wohlergehen nur Gleichgültiges von sich hören. Im »Lande der Freiheit«, wo die Menschen – von der Hitze oder von der Jagd nach dem Dollar? – so ausgemergelte, ausgereckte, abgehetzte, gierende Züge bekommen, war er seiner Familie abgestorben.

Anna ging ihre Diensterfahrungen durch: sie war bisher durchaus nicht verwöhnt worden. Am besten war es noch in ihrem ersten Dienstverhältnis gewesen, obwohl die Hausfrau sehr wenig Liebenswürdigkeit gezeigt hatte. Desto freundlicher war der muntere, stets zum Scherze geneigte Herr gewesen. Die Gebieterin, die den Scherz ihres Gatten nicht so kindlich unbefangen beurteilte wie Anna, hielt es für geraten, vorzubeugen und das Mädchen zu verabschieden. Ahnungslos und nicht wenig bestürzt empfing Anna die Kündigung, und als sie weinend nach dem Grund fragte, erhielt sie eine ausweichende Antwort. Wie entsetzlich, die erste Stelle schon nach einem halben Jahre verlassen zu müssen. Das war eine hübsche Empfehlung. Freilich fiel das Zeugnis sehr günstig aus, und so fand sie denn auch bald einen neuen Dienst.

Aber auf dieser zweiten Stelle hatte sie hungern und frieren müssen. Das tat weh. Die Speiserationen wurden ihr zugemessen, und die Hausherrin, die alle Sparsamkeitsrezepte aus ihrem Hausfrauenjournal befolgte und sie in der Ausführung noch zu überbieten versuchte, sammelte die Krumen, um sie im Brotschrank zu verschließen. Annas Zimmer war, wie fast alle »Mädchenzimmer«, nicht heizbar; auf ein eigenes wohnliches Gelaß, auf eine Heimat mit vier Wänden, hatte sie keinen Anspruch. Und in der allerdings heizbaren Küche, in der das Mädchen sich auch in seinen freien Stunden aufhielt, wurde außer dem für die Bedürfnisse der Herrschaft erforderlichen Quantum den ganzen Winter hindurch keine Kohle gebrannt. Dagegen war die junge Hausfrau nach Vorschrift ihres Journals sehr für gesunde, frische Luft eingenommen, weshalb sie, auch an recht kalten Tagen, sofort nach Fertigstellung der Mahlzeiten weit die Küchenfenster zu öffnen pflegte. »Frische Lust ist das halbe Leben,« pflegte sie dann wohl in heiter überzeugtem Tone zu dem Mädchen zu sagen, indem sie wieder in die Wohnstube ging.

Anna hätte wohl gern dieses unwirtliche Haus verlassen; aber sollte sie auch den zweiten Dienst sobald aufgeben? Unmöglich.

Und dann war doch auch eines – ach ja, eines war dagewesen, an dem sie wirklich mit ganzem Herzen gehangen hatte: das Kind ihrer Herrschaft! Der süße kleine Erwin! Wer ihn jetzt wohl des Nachmittags auf dem Arme trug und spazierenfuhr? Die hatte ihn wohl nicht so lieb wie sie! Zu ihr – gewiß – zu ihr war er immer viel lieber gegangen als zu seiner Mutter! »Janna, Janna, bei Janna schein!« hatte er – ach wie oft – gerufen und dabei die dicken, runden Ärmchen ausgestreckt. Solch ein reizendes Geschöpf gab es ja wohl nicht wieder auf der Welt. Sie hätte so gern eine Photographie von ihm gehabt; aber das wagte sie nicht zu sagen. – Ach ja, wie mochte es ihm nun wohl gehen?

Fest und leidenschaftlich hatte sie dieses Kind an ihr Herz geschlossen; wenn sie mit ihm allein war, hatte sie es heimlich geherzt und gehätschelt und auf Ärmchen und Wangen geküßt, und dann war sie glücklich gewesen, auf Augenblicke glücklich und ganz zufrieden. Und als nach einem Jahre der Dienst zu Ende war, weil der Herr Zollamtsassistent versetzt wurde, da hatte sie mit heißen, strömenden Tränen von ihrem Liebling Abschied genommen. Wieder ganz arm, war sie mit ihrem Bündel ganz von neuem in die Welt hinausgegangen. Das hatte sie nicht gewußt, daß ihr das Kind eine Heimat gewesen.

Dann war sie als Kleinmädchen in das große Haus eines »Konsuls« gekommen, eines jener Großkaufleute, die aus den Kolonien »drüben« einen bunten Papagei, eine farbige Frau und vor allen Dingen Geld mitgebracht haben. Seelenfroh war Anna, daß sie nun ein Nebenmädchen, eine Kameradin, eine mitfühlende Genossin hatte. Nun konnte sie doch einmal ein vertrauliches Wort reden, ohne beständig fürchten zu müssen, daß sie die »Grenzen ihrer Stellung« überschreite. Diese beklemmende Furcht hatte nun schon so lange unablässig auf ihr lebendig klopfendes Herz gedrückt. Und die Köchin war eine Person von wahrhaft bezwingender, stürmender Liebenswürdigkeit. Gefällig und kameradschaftlich bis zum Übermaß! Und wie drollig und ungeniert sie über die Herrschaft sprach! Wie im Himmel fühlte sich Anna; der Gipfel ihres Glückes war er klommen. Sobald aber die Köchin merkte, daß die andere sich durch ihr stilles, freundliches Wesen bei den Herrschaften eine besondere Beliebtheit erwarb, begann sie plötzlich eine wunderbare Gemeinheit zu entwickeln. Sie erschwerte ihrer Genossin nach Kräften die Arbeit, verleumdete sie bei der Herrschaft, kränkte sie täglich und stündlich durch Worte und Mienen von ausgesuchter Niederträchtigkeit und entwickelte eine unglaubliche Vielseitigkeit in der Erfindung immer neuer Bosheiten. Mit dieser Person sollte Anna zusammenwirken und zusammen leben! Es kam ihr eine Ahnung davon, daß es auf der Welt kein entsetzlicheres Schicksal gibt, als einem elenden Menschen preisgegeben zu sein. Sie brachte ihre Tage mit Weinen, mit zornigen Vergeltungsgedanken, mit ohnmächtiger Verzweiflung zu. Einer solchen naiven, selbstgerechten Roheit gegenüber war sie wehrlos. Als sie eines Tages mit einem Handwerker, der im Hause des Konsuls eine Reparatur zu besorgen hatte, ein paar Minuten geplaudert hatte, erklärte die Köchin mit erhaben und breit agierender, explosiver Entrüstung, daß sie zur Herrschaft gehen und kündigen wolle, und dann wolle sie sagen, daß sie ein anständiges Mädchen sei und nicht länger mit »so einer« zusammendienen wolle, die jedem »Kerl« nachlaufe.

Das stieß denn dem Faß den Boden aus. Ein ganzes Jahr hatte Anna auf ihrer vorigen Stelle Hunger und Kälte gelitten, und sie würde noch länger ausgehalten haben; aber dies war nicht mehr zu ertragen. Sie stellte dem Konsul die Sache vor. Die kleine, zierliche Frau Konsul war, als sie Anna kaum zu Ende gehört hatte, ganz bange geworden; sie hatte mit beiden Händen heftig abgewehrt und sie an den Herrn verwiesen.

Der Herr Konsul behandelte die Sache sehr würdevoll und reserviert. Man konnte sich doch nicht mit dem Gezänk der Dienstboten befassen.

»Wir haben so etwas schon bemerkt, Anna,« sagte der Herr Konsul. »Und wir können uns ja wohl denken, auf wessen Seite die Hauptschuld zu suchen ist. Aber das wird sehr schwer festzustellen sein, und darum ist es das beste, Sie gehen beide.«

Vor diesem Akte der Gerechtigkeit bekam Anna einen lebhaften Schreck; aber was half es – sie mußte ihren Dienst nach einem halben Jahre verlassen, und das war ihr unsagbar peinlich.

Auch die Köchin mußte gehen; aber schon vierzehn Tage später suchte der Herr Konsul sie persönlich auf, »kaufte« sie von ihrer neuen Herrschaft »los«, und im Triumphe kehrte sie zurück an die Stätte ihrer früheren, ruhmgekrönten Wirksamkeit. Sie kochte denn doch zu famos, und namentlich wußte sie die unglaublichsten Ragouts mit einer Meisterschaft zu bereiten – ah! – der Herr Konsul hätte es einfach nicht länger ohne sie ausgehalten.

In zwei Jahren dreimal die Stelle wechseln – ja, es war ein eigenes Mißgeschick, das Anna verfolgte. Aber nun hoffte sie auch festzusitzen; in den ersten acht Tagen wenigstens ließ sich ja alles recht gut an. Wenn ein böser Zufall sie nicht wieder vertrieb, so hoffte sie lange auszuhalten bei den Sievers; an ihr sollte es nicht liegen!

Ihr schlichter Geist war aber nicht vorausschauend genug, um zu ahnen, daß um diese Zeit im friedevollen Gemüt der Frau Sievers große Umwälzungen sich vollziehen würden. Die ungeheure Bedeutung des Dienstboteninstituts kam nämlich dieser beschaulichen Frauennatur erst nach und nach im ganzen Umfange zum Bewußtsein. Schon nach acht Tagen erkannte diese Menschenkennerin, daß man dieser Anna neben der Reinigung und Instandhaltung der sechs Wohnräume nicht nur die ganz allgemeine und bloß zeitweilige Obhut über die Kochtöpfe übertragen, sondern daß man die Gesamtheit der überwachenden Tätigkeit, wie Umrühren und Wenden, Begießen und Würzen der Speisen, vertrauensvoll in ihre Hände legen könne.

Und nach Verlauf weniger Wochen, in denen Anna sich glänzend bewährte und Herrn Sievers das Essen besser schmeckte als je zuvor, übertrug Frau Sievers mit einem kühnen Vorstoß auch die gesamte Initiative im Kochgeschäft, so daß ihr nur noch die allerdings täglich sich erneuernde Sorge um den Küchenzettel blieb. Sie gehörte zu jenen hochherzigen Naturen, die nicht halb vertrauen und halb mißtrauen können; wo sie einmal vertraute, da vertraute sie ganz; auf wen sie bauen konnte, auf den baute sie immer ein Stockwerk nach dem andern.

So ehrenvoll für Anna nun auch zweifellos die wiederholte, stillschweigende Bestätigung ihrer unbedingten Verläßlichkeit war, so läßt sich doch begreifen, daß sie weiteren Vertrauensbeweisen mit einer gewissen Beunruhigung entgegensah. Die »sonstigen« freien Stunden, in denen Anna »tun und machen konnte, was sie wollte«, waren eigentlich vom ersten Tage an in Wegfall gekommen. Freilich konnte sie den ganzen Tag über tun und machen, was ihr gefiel (denn keine Seele kümmerte sich um sie), nur mußte am Abend ihr Pensum bewältigt sein, und dieses Pensum half ihr über die Qual, die die Wahl einer Beschäftigung so manchem bereitet, glatt hinweg. Seit einiger Zeit schon hatte sie freiwillig ihre Ausgeh-Abende zu Hilfe genommen – es mußte sein, wenn sie überhaupt fertig werden wollte.

Was sollten ihr denn auch diese Abende? Wohin, zu wem sollte sie gehen? Sie hatte wohl ein paar entfernte Verwandte in der Stadt; aber die waren ihr fremder als Fremde. Im Elternhause hatte man still und für sich gelebt und nur sehr wenig Umgang mit anderen gepflogen. Gleichwohl hatte sie hin und wieder eine Freundin gehabt, eine Schulfreundin – aber was sind Schulfreundschaften! Mit einer wohl war sie recht herzlich verbunden gewesen; aber die hatte eine reiche Partie gemacht. Da »paßte« es nicht. Was würden die wohl für Augen machen, wenn sie zum Besuche käme, ein Dienstmädchen – na!

Zum Tanze ging sie auch nicht. Vor dem Tanzboden hatte man ihr im Elternhause eine unbegrenzte Scheu eingeprägt – dahin gehen, das war schon so gut wie untergehen da draußen, da, in dem unheimlich tosenden Wirbel, der allabendlich durch die Stille herüberdrohte.

Hätten ihre Eltern noch gelebt, so würde sie es doch vielleicht eines Abends gewagt haben, dem Verbot zu trotzen und ein erstes Mal den Tanz zu kosten; denn wie ein Rückzugs- und Anlehnungspunkt war das elterliche Haus da. Aber in ihrer Einsamkeit hatte sie doppelte Furcht vor dem Weltwirrsal; ein Schritt hinaus schien ihr das Verderben.

Öffne dem jahrelang gefangenen Vogel den Käfig: er getraut sich nicht in die Freiheit.

Also was sollte sie mit den Ausgeh-Abenden anfangen? Sie arbeitete, um ruhig schlafen gehen zu können. Um die notwendigen Arbeiten für sich selbst besorgen zu können, ihre Wäsche, ihre Kleider auszubessern und instand zu halten, blieben ihr ja noch die freien Stunden am Sonntagnachmittag.

Frau Sievers war gewiß eine gute Hausfrau; noch vor kurzem hatte ein Hausfreund sie in einem Toast eine »Zierde ihres Geschlechts« genannt, bei der man vorzüglich esse und die ihr Heim wie ein Schmuckkästchen halte, und Herr Sievers hatte in verhaltener Begeisterung dazu genickt. Sie verstand sich vortrefflich auf das »stille Walten«, namentlich seitdem sie mit geruhiger Regelmäßigkeit einen Jahresring nach dem andern ansetzte; alles machte sie ohne Aufregung und ohne Anstrengung. In ihren kontemplativsten Stunden gelangte sie – spät genug – zu der Erkenntnis, daß der Begriff »Dienstbote« eigentlich das Merkmal einer absoluten Verantwortlichkeit und Verwendbarkeit in sich schließe. Eine arbeitende Dienstbotenbesitzerin –? Mit dem eigentümlichen, treffsicheren Instinkt der Frauen ahnte sie so etwas wie eine contradictio in adjecto, obwohl sie von einer solchen sicherlich nie gehört hatte. Und so schrak diese mutige Frau auch vor der letzten Konsequenz, vor dem höchsten Beweis ihres Vertrauens nicht zurück, das Bügeln der Wäsche, das »ihr sonst doch niemand zu Dank machte«, an das Mädchen abzutreten.

Sie hatte früher selbst arbeiten müssen, diese Frau, und sie hätte ein Maß haben können für die Kraft und die Bürde eines Menschen. Aber Emporkömmlinge vergessen leicht. Und sie übernehmen sich an jedem neuen Gewinn. Jede neue Stufe feiern sie mit einem sinnlosen Rausch.

Wenn sie unter ihrer Last nicht zusammenbrechen wollte, mußte Anna nun wohl ein Stück von ihrer Gewissenhaftigkeit über Bord werfen. Das kostete ihr unendlich viel Überwindung. Aus dem Elternhause hatte sie einen peinlichen Ordnungssinn mitgebracht. Etwas Unfertiges, nachlässig Gearbeitetes hatte sie nie aus den Händen loswerden können. Nun mochte sich ihre reinliche Natur noch so sehr sträuben – sie mußte sich schon in die Notwendigkeit fügen, wenn die Arbeit wenigstens äußerlich abgetan werden sollte.

Gegen solche Reduktionen hatte nun auch Frau Sievers nicht das geringste einzuwenden, und zwar schon um deswillen nicht, weil sie nichts davon merkte. Die Natur hatte ihr jenen Blick für das Große verliehen, der über die Ecken und Winkel hinwegsieht. Dazu kam, daß sie ihre Tage entweder außer dem Hause in anregendem Verkehr mit gleichgestimmten Freundinnen oder, wenn sie zu Hause war, doch fast immer in derselben Stube und auf derselben Chaiselongue verbrachte. Die Lesezirkelmappe, die das Haus Sievers ersichtlich aus fünfzehnter Hand empfing, brachte wöchentlich sieben Romanstücke. Die »Novellenzeitung« oder, wie Frau Sievers mit Nachdruck aussprach: »Nofellenzeitung« – sie ärgerte sich über die Unbildung, die ein »w« las, wo doch »v« stand – also die »Nofellenzeitung« fügte fünf Romanstücke hinzu, und damit nichts umkomme, wurde der Roman unter dem Strich der Tageszeitung im Vorübergehen mitgenommen. Die Auseinanderhaltung dieser dreizehn »Fortsetzungen« wäre an sich wohl eine Aufgabe gewesen, vor der sich Anna Menzels Tagewerk schamhaft hätte verkriechen müssen; aber glücklicherweise kam es den meisten dieser Romane auf ein paar untergeschobene, entführte oder vertauschte Kinder oder Kapitel nicht an. Und Frau Sievers war in diesem Punkte nun schon gar nicht kleinlich.

Bei solcher Lage der Dinge erscheint es begreiflich, daß Anna Menzel unter Scheltworten und Antreibereien nicht zu leiden hatte. Insofern war die Behandlung gut; sie wurde eben überhaupt nicht behandelt. Hier war die Arbeit und da war das Geld dafür; drinnen war die Herrschaft und draußen war das Mädchen. Ihre Mahlzeiten nahm sie am Küchentisch ein; ihre freien Stunden feierte sie am Küchenfenster. Wenn man einmal den beiden Sievers von ihrer großen Dankespflicht gesprochen hätte, so würden sie ohne Zweifel ein Gesicht gemacht haben wie ein Pferdeknecht, der, mitten in der Nacht aus dem Schlafe gerissen, eine Stelle aus dem Thukydides übersetzen soll. Und doch ist ein ungerechtes Scheltwort leichter zu ertragen als stillschweigender Undank.

Schon nach den ersten acht Tagen hatte Anna zu fühlen angefangen, daß ihr in diesem Hause etwas fehle. Aber sie wußte nicht, was. Merkwürdig – hier brauchte sie nicht zu hungern und nicht zu frieren – hier quälte sie nicht die Niedertracht einer unversöhnlichen Feindin – sie wurde nicht gescholten und nicht getrieben – und doch – ja ja, wahrhaftig – es war ihr fast, als hätte sie lieber gehungert und gefroren.

Was war das nur?

Warum war es ihr hier immer bei der Arbeit so, als nütze das alles nichts, als habe das gar keinen Zweck, was sie tue, als werde das nun immer so bleiben bis ans Ende ihrer Tage, einerlei, ob sie nun fleißig sei oder nicht? Warum fand sie nie mehr den Mut, ein Liedchen vor sich hinzusummen, wie sie das sonst wohl bei der Arbeit getan hatte? Warum grübelte sie überhaupt jetzt so viel, und warum ertappte sie sich zuweilen auf so seltsamen Gedanken? Warum hatte sie zuweilen das Gefühl, als müsse sie Wischtuch und Besen weit von sich werfen, die Tür aufreißen und hinausstürmen, um sich zu retten, zu retten!

Zu retten? – Wovor?

Als müsse sie mit weit ausgebreiteten Armen durch die Straßen gehen und sagen: »Hier bin ich, hier bin ich – kennt ihr mich denn eigentlich? War nicht einer da, der nach mir fragte? Der mir etwas zu sagen hatte?«

Und wenn sie dann einmal auf der Straße war, wenn sie am Sonntagnachmittag das Grab ihrer Eltern besucht hatte und nun »spazierenging«, dann wagte sie sich wieder nicht an die Welt heran. Planlos, ziellos schritt sie dann fürbaß, viel zu schnell, viel zu sehr in sich gekehrt, um am Gehen, am fröhlichen, befreienden Wechsel der Umgebungen Freude und Erquickung zu haben. Meistens schritt sie immer geradeaus, so lange, bis Ermüdung ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Weg lenkte. Sie nahm sich vor, hierhin und dorthin zu gehen; aber auf halbem Wege kam ihr immer die Frage: Was soll ich da?

In den Tanzsaal gehen? Wo sie ganz allein unter all den Fröhlichen sitzen würde? Sollte sie sich da hinsetzen und sich anbieten: Wer will mich haben? Und wenn sie nun niemand haben wollte? Sie wurde rot bei dem Gedanken. Nein, an den Tanzsaal war gar nicht zu denken.

Und ihre Schüchternheit wuchs eher, als daß sie abnahm. Einmal zaghaft gewesen, macht feige für zehnmal. Da war ein Biergarten, darin saßen Leute an Tischen, plaudernd und der Musik zuhörend. Sollte sie hineingehen und sich auch ein Glas Bier geben lassen? Die Leute würden sie ansehen; sie würde auffallen. Und was sollte sie auch so allein dasitzen?

Aber da war ein Fruchtladen. Sollte sie sich einmal Kirschen kaufen?! Aber wo sollte sie sie essen? Auf der Straße? Das ging doch nicht! Also ließ sie's.

Vor dem Schaufenster einer Konditorei blieb sie stehen. Die ausgestelltem Torten und Bonbons lockten sie sehr; sie hatte etwas so Schönes noch nie gekostet. Zu dem eleganten Laden wie zu allem Glänzenden und Kostbaren stellte sie sich die abenteuerlichsten Preise vor. Die Damen, das wußte sie, pflegten in die Konditorei zu gehen. Daß auch sie da hineingehen könne, wäre ihr nie auch nur flüchtig in den Sinn gekommen.

»Guten Tag, Fräulein Schröder!« sprach plötzlich jemand dicht neben ihr, indem er tief den Hut zog.

»Guten Tag,« hatte sie mechanisch geantwortet. Sie sah auf und blickte in ein durchaus fremdes Gesicht,

»Sie irren sich wohl,« sagte sie befangen.

»O Pardon! Bitte tausendmal um Verzeihung. Wirklich ganz frappante Ähnlichkeit –« sprach der Höfliche mit frech und schlecht gespielter Verlegenheit. Es kam ihm nicht darauf an, eine Illusion zu erzeugen.

Sie machte eine Verbeugung, wie sie glaubte, daß man vor solch vornehmen Herren machen müsse, und ging weiter.

»Aber mein Fräulein, warum denn so eilig!« rief er hinter ihr. Ängstlich beschleunigte sie ihre Schritte.

»Herrjeses, sei'n Se man nich bange; ich fress' Se nich!« rief der Liebenswürdige, diesmal mit dem Tone der Herzenshöflichkeit.

Fast jedesmal war sie lange vor zehn Uhr wieder im Hause. Sie legte dann ihre Sonntagskleider ab, packte sie behutsam in ihren Schloßkorb, zog ein alltägliches Kleid an und setzte sich mit einer Näharbeit in die Küche, um nach den ersten zwanzig Stichen einzuschlafen. Stundenlang schlief sie am Küchentisch, den Kopf auf die Arme gelegt, bis sie, oft erst lange nach Mitternacht, fröstelnd erwachte und sich in ihre Kammer und ins Bett schlich.

Schließlich zog sie dem zweck- und freudelosen Umherirren die Küche noch vor, und so blieb sie auch an den meisten Ausgeh-Sonntagen zu Hause. Und doch war die Küche kaum ein sonderlich anheimelnder Ort. Sie war in ein ewiges Halbdunkel getaucht; das Fenster führte auf einen etwa zehn Schritt breiten und vielleicht doppelt so langen Hof, der rings von vier Stock hohen Mauern umgeben war, und Sonne und Mond schauten im ganzen Jahr nur auf wenige, flüchtige Augenblicke herein. Dieser Hof, eine Art von Luftschacht, hielt mit zäher Gewissenhaftigkeit alle Küchengerüche solange wie möglich fest und war außerdem ein ausgezeichnetes Kommunikationsrohr für alles Lachen und Schreien, Singen und Zanken, das ans den verschiedenen Stockwerken kam. In der sonntäglichen Stille schwieg meistens auch das, und Anna konnte dann ungestört beobachten, wie oben an der dritten Etage die Sonnenstrahlen mit dem rosafarbenen Blütenball einer Hortensie spielten oder wie der Regen sich in den Eimern und Waschbottichen auf dem Hofe ansammelte und wie er aus dem Ausflußrohr der Dachrinne rauschend hervorschoß, um durch den Sielrost in der Mitte des Hofes zu verschwinden. Da lag ein Stück Papier auf dem Rost, und das Wasser gab sich nun schon eine Viertelstunde lang die erdenklichste Mühe, es in die Tiefe mit hinabzureißen. Nun wurde das Blatt vom Wasser gehoben; dann kam ein Strahl, der es wieder platt auf den Rost drückte. Es mußte starkes Papier sein. Jetzt flatterte der eine Zipfel auf und ab, und jetzt – da – da war er losgerissen, und im Nu verschwand der Fetzen in die Tiefe. Aber die andere Hälfte hatte sich auf die Seite gerettet und lag nun außerhalb des Stromes. Ob das Stück nicht zuletzt auch noch mit hineingerissen würde? Sie wollte doch einmal sehen. Und sie starrte auf das Stück Papier, so lange, bis sie ganz, ganz anderswo war mit ihren Gedanken, weit, weit weg, in ihrer Kindheit, in ihrer Schulzeit.

Dann stand sie auf und holte aus dem Schloßkorb, der mit dem Bette zusammen ihre Kammer nahezu ausfüllte und der all ihre Habseligkeiten enthielt, ihre Schulbücher. Mit unbegrenzter Sorgfalt und Pietät hütete sie diese Schätze aus einem glücklichen, geistigen Leben der Vergangenheit; ein befreiendes, stolzes Gefühl überkam sie, wenn sie mit zärtlicher Schonung die Blätter wendete. Sie packte die Bücher sorgsam zusammen und nahm sie mit in die Küche. Über ihre Handarbeit hinweg schaute sie hinein. Das war das abgegriffene Lesebuch mit seinen vielen traulichen Geschichten und Gedichten, die sie fast alle auswendig wußte, wenigstens gewußt hatte; ob sie jetzt noch –? Sie versuchte die »Kraniche des Ibykus« aus dem Gedächtnis herzusagen, leise für sich, mit dem gleichförmigen, etwas empfindsam singenden Tonfalle, wie ihn Mädchen sich gern aneignen; aber es ging nicht; immer wieder blieb sie stecken. Mit einer gewissen Angst hatte sie bisher festzuhalten gesucht, was ihr die Volksschule mitgegeben hatte; wie ein paar mit Schweiß und Sorgen erworbene Sparpfennige hatte sie ihr Wissen zusammengehalten, war sie es in freien Stunden nach ihren Heften und Büchern mit stiller Freude immer wieder durchgegangen. Aber jetzt hatte sie ihren kleinen Schatz lange nicht revidieren können, und er schrumpfte zusammen. Ihr war auch so dumpf im Kopf seit einiger Zeit! – Sieh da, die »Heinzelmännchen«. Das hatte sie immer so gern gehabt. Ach ja – – Heinzelmännchen! Und einen Augenblick wünschte sie ernsthaft – so ernsthaft, als wenn es wirklich etwas nützen könne, wünschte sie, daß es doch Heinzelmännchen geben möchte. Sie malte sich einen Augenblick aus, wie das sein möchte. Sie hatte noch ein wunschkräftiges Herz.

Und eine kindliche Freude hatte sie dann an ihren Zensuren. Mit Wohlbehagen ging sie sie durch: sie waren immer besser geworden. Überaus stolz war sie darauf, daß sie einmal so schön hatte schreiben können, wenn ihre Hände nun auch hart, rauh und steif geworden waren.

Da war ja auch das Rechenbuch. Nun mußte sie doch einmal sehen! – Sie blätterte mit dem Eifer eines ehrgeizigen Schulkindes: da war sie, die große, schwere Aufgabe – fast eine halbe Seite nahm sie ein – mit x und y und z; ihre Mitschülerinnen hatten sie immer angestaunt, daß sie das konnte! Und sie ging daran, die Aufgabe zu lösen. Aber sie kam immer mit ihren Folgerungen nicht weit; die Positionen wirbelten ihr durcheinander; dann fing sie mit einer gewaltsamen Anstrengung wieder von vorn an; sie straffte verzweifelt die Stirnhaut und zog sie wieder zusammen; sie preßte die Finger gegen die Stirn, daß es schmerzte; endlich in einer Art wirrer Angst stellte sie die Zahlen aufs Geratewohl und ganz willkürlich zusammen, um vielleicht durch Zufall die Lösung zu finden – und dann lag der Bleistift auf dem Tisch; sie stützte die Stirn in die Hand, und durch die geschlossenen Lider fielen die Tränen schwer und reichlich auf das Papier. Sie war so dumm geworden, so dumm . . .

Endlich legte sie ihre Bücher wie abwesend wieder zusammen, trug sie bekümmerten Herzens in ihre Kammer, barg sie sorgsam wieder in ihrem Korb und machte sich an die Vorbereitung zum Abendessen.

Diese Vorbereitungen waren oft sehr umfassend; heute aber waren sie es ganz besonders. Schon an den allergewöhnlichsten Skatabenden pflegten die Sievers ganz unvergleichlich aufzutischen; heute war ihre Wirtsehre indessen noch besonders engagiert. Am Abend des vorhergehenden Tages war ein hochbegabter und sehr schätzenswerter Skatbruder von einer zwölftägigen Landwehrübung ins Leben heimgekehrt, in die Menschlichkeit. Wenn es überhaupt Anlässe zur Erhebung über die gleichförmige Alltäglichkeit gibt, so gehört zu ihnen gewiß die Heimkehr eines lang ersehnten Freundes. Mit dem Ersatzmann, der während der zwölf Tage den Krieger vertreten hatte, war es doch nichts gewesen, und nur zu oft hatte er den beiden anderen Anlaß zu Ausbrüchen gerechtesten Zornes gegeben. Der Ersatzmann gehörte zu den oberflächlichen Schwachköpfen, die nicht einmal von fünf bis zwölf ihr bißchen Aufmerksamkeit auf das Spiel konzentrieren können, und die es fertigbringen, den Gegner nur zum Schneider zu machen, wenn sie ihn schwarz machen können.

»Nanu?! Was machen Sie denn eigentlich! Warum gehn Sie denn nich mit Ihrem Jungen 'rein?«

»Ja, ich dachte –«

»Ach was, passen Sie doch auf!«

So bekam der Ersatzmann im Laufe eines Abends wiederholt die bestverdienten Rüffel, für die er dann am Schlusse höchstens acht bis zehn Mark zu erlegen hatte.

Aber jetzt war ja Herr Pinkpank wieder da, und das mußte gefeiert werden, und zwar tüchtig.

Also: Roher Schinken, gekochter Schinken, Rauchfleisch, Gänsebrust, Mettwurst, Zungenwurst, Leberwurst, Kalbsbraten, Roastbeef, Sardellen, Lachs, Kaviar, Anschovis – – na, und zwei Sorten Käse, das war ja selbstverständlich.

»Haben wir auch was vergessen?« fragte Herr Sievers sinnend.

Frau Sievers versank in dumpfes Brüten. Nach zehn Minuten tauchte sie wieder empor.

»Was meinst du, wenn wir noch 'ne tüchtige Portion Spiegeleier –«

»Na ja – natürlich! Eier haben wir ja noch nicht! Und dann 'n kleinen Pudding hinterher – und 'n tüchtigen, steifen Punsch – es wird sich schon machen.«

Plötzlich schien ihn ein Gedanke zu erschrecken.

»Du hast doch Bier bestellt?«

»Steht schon draußen,« sagte die zuverlässige Hausfrau.

Herr Sievers ging hinaus und zählte dreißig Flaschen. Nun ja, mit dem Punsch zusammen konnte das ganz gut reichen. Zur Not war noch ein netter Bommerlunder Schnaps da. Und höchlichst zufrieden mit dem entworfenen Programm, brannte er sich eine Zigarre an.

Indessen rief Frau Sievers das Mädchen herein, um ihm die nötigen Aufträge zu geben.

Und nun war also das Fest herangekommen. Herr Pinkpank strahlte im ganzen Umkreis seiner Persönlichkeit, er war unbeschreiblich glücklich, daß er nicht mehr auf den Wunsch eines Hauptmanns über Stoppelfelder zu laufen, steile Böschungen hinanzuklettern und sich zur besseren Deckung gegen die feindlichen Platzpatronen auf den Bauch niederzuwerfen brauchte, und daß er von seinen 191 Pfund 187 ins Zivilverhältnis hinübergerettet hatte. War es denn ein Traum? Er stand nicht mehr unter den Kriegsartikeln, sondern saß vor einem Tische »von Segen gebogen«!

Bevor er zu essen begann, überblickte er wohl zwei Minuten lang die Fülle seiner Hoffnungen. Er mußte erst Ordnung in seine Anschauungen und Empfindungen bringen. Er entwerfe, so bemerkte er, einen Feldzugsplan. Die Begierde muß durch die Vernunft gezügelt werden. Dann griff er auf dem rechten Flügel an, um den Gegner, Schritt für Schritt an Boden gewinnend, langsam, aber sicher »aufzurollen« und zu vernichten.

»Langsam – und mit Gemütlichkeit: dann läßt sich viel wegsetzen!« Diese seine Devise pflegte er jedermann zu empfehlen.

In der Regel verliefen die Abende so, daß sie mit drei Stunden Skat begannen, mit einer Stunde Essen fortsetzten und mit drei Stunden Skat schlossen. Diese heilige Symmetrie sollte aber heute vollkommen aufgehoben werden. Als die aggressive Begeisterung der Speisenden am Verlöschen war und nur noch an ein paar Käsestücken ein letztes, aufflackerndes Leben entfachte, erschien Anna mit einer ungeheuren Punschbowle in der Tür, und gleichzeitig gab sich Herr Sievers einen Schwung, daß er auf den Beinen stand.

Die Skatgäste blickten mit freudiger, aber sprachloser Spannung bald auf Herrn Sievers, bald auf seine Gattin.

»Gestatten Sie, meine Herrschaften,« sagte der freundliche Wirt, »daß ich zu dieser Bowle ein paar Worte der Erklärung hinzufüge. Ich glaube im Sinne aller zu handeln, wenn ich unserm Vaterlandsverteidiger gratuliere, daß er so tapfer für uns gefochten hat, und spreche ich die Hoffnung aus, daß er noch recht oft mit uns einen Skat macht. Er lebe hoch!«

»Hoch – hoch!« Man erhob sich mit begeisterter Kraftanstrengung; aber sehr bald zog das Gewicht des Irdischen, das jeden Aufflug lähmt, die respektiven Begeisterungen wieder auf die Stuhlpolster zurück.

Herr Pinkpank war ein Gemütsmensch. Wenn er viel und gut gegessen hatte, dann brauchte nur jemand das Wort »Rührung« auszusprechen, und ihm rannen schon die Tränen über die Wangen. Einer Erschütterung, wie er sie soeben empfangen, war er kaum gewachsen. Es war fast, als sollte er ganz aus dem Leim gehen.

»Ne – hör mal – mein lieber Sievers – daß du das – daß du mir das – daß du so an mich gedacht hast – das – ne, weißt du – das hat mich – ne wirklich – das hat mich zu doll gefreut – weißt du – ich – – – prost!!«

Da er durchaus nicht weiter konnte, hatte er mit einem kühnen Entschluß zu diesem immer erlösenden Wort seine Zuflucht genommen und sein Glas so kräftig gegen das des Wirtes gestoßen, daß fast der ganze Inhalt über dessen Ärmel floß.

»O«, machte Frau Sievers.

»Ach was, das schad't nix!« bemerkte Herr Pinkpank in einer großen Wallung, »aber weißt du – daß du das – das –«

Er setzte sich plötzlich, starrte vor sich hin, verharrte zehn Minuten lang in diesem Zustande und schlug dann an sein Glas. Und dann folgte noch manches gute Wort und manches gute Glas; je mehr aber der Gläser wurden, desto mehr beschränkten sich die Worte auf eine herzliche Zwiesprache zwischen Pinkpank und Sievers.

»Ne, weißt du, Sievers – daß du mir – daß du mir so'n Empfang, weißt du – bereitet hast – das –«

»Nu ja –« begann Herr Sievers.

»Ne, erlaube mal – siehst du – daß mein alter Freund, stehst du – das bist du ja doch noch, hä? – Na ja, also – siehst du – daß du mir so'ne feine Rede gehalten hast – verstehst du –«

»Na das –« hub Herr Sievers an.

»Ne, erlaube mal – laß mich doch mal aussprechen, siehst du – daß du mir so'n freundschaftlichen Empfang – jawoll – so'n freundschaftlichen Empfang, siehst du – daß du mir den bereitet hast – das vergeß ich dir nie – weißt du –«

»Na ja, denn woll'n wir noch mal trinken!«

»Ne, das vergeß ich dir nie!«

»Ja, aber deshalb könn'n wir doch noch mal trinken!«

»Jawoll – das könn'n wir – aber das vergeß ich dir nie!«

Und Herr Pinkpank versicherte das schließlich mit einem Fanatismus, als wolle er es Herrn Sievers nie vergessen, daß er ihm seine beiden Eltern ermordet habe.

Herr Thamsen, der dritte Triumvir, war inzwischen – ganz nach der Theorie des Pförtners im »Macbeth« – in das Stadium der Frauenverehrung getreten. Er hatte den deutsch-französischen Krieg mitgemacht und pries in weniger abwechslungsvollen als inbrünstigen Beteuerungen Frau Sievers gegenüber die aufopfernde Liebestätigkeit der deutschen Frauen zur Zeit dieses Krieges.

»Die d–eutschen Frrr–aun, Frau Sievers, das will ich Ihnen sagen, was die siebzigeinundsiebzig getan haben, das läßt sich – beschreiben läßt sich das gar nicht.«

Eine Beschreibung unterließ er denn auch.

Frau Sievers bemerkte, das könne sie sich wohl denken.

»Ja, die d–eutschen Frrr–aun, die haben siebzigeinundsiebzig ebensoviel, ja vielleicht noch mehr geleistet als die Männer, ja.«

»Das glaub' ich wohl,« bemerkte Frau Sievers.

»Und darum sag' ich immer: eine echte d–eutsche Jjungfrau« – hier umspannte er zärtlich den voluminösen Arm der Frau Sievers – »das ist das Ideal! Die d–eutschen Frrr–aun und Jjungfraun – die soll'n leben!«

Und als die Gläser zusammentrafen, begann Herr Pinkpank, der die letzten Worte aufgefangen hatte, weit in den Sessel zurückgelehnt und mit merkwürdig angstvollem Tenor, ein sehr empfindungsvolles Lied von der Liebe zu singen. Herr Thamsen eilte ans Klavier, um die Begleitung zu suchen, und durch ein eigentümliches Zusammentreffen fand er sie gerade, als der Sänger, wie verröchelnd, die letzte Zeile sang. Eben erschien Anna mit einer zweiten Bowle in der Tür, als Herr Pinkpank, dessen Haupt nunmehr ganz zurückgesunken war, mit Tränen der Rührung die Zimmerdecke betrachtete und dahinschmolz in die tremolierenden Worte:

»Nur einmal blüht – im Jahr der Mai –
Nur einmal im Leben – die Liebe.«

Der gute Herr Pinkpank hatte keine Ahnung davon, welche Wirkung er erzielt, wie tief sein Gesang in die Seele des Mädchens gegriffen hatte, das soeben lautlos hinter sich die Tür schloß.

»Nur einmal blüht im Jahr der Mai –«

Anna mußte sich gegen die Wand des Korridors lehnen, eine Art Schwindelgefühl hatte sie ergriffen. Ein unbeschreibliches Angstgefühl bemächtigte sich ihrer vollständig. Es war ihr, als flösse unaufhaltsam etwas an ihr vorüber – etwas unsäglich Kostbares und Schönes – »nur einmal« – »nur einmal« hörte sie immerwährend – sie mußte es festhalten – festhalten, was da vorüberflutete, immer noch – immer noch – ohne Aufhören – etwas Unwiederbringliches!

Etwas, was nie, nie wiederkam –

Sie begriff immer noch nicht, daß es das Leben war, was da an ihr vorbeifloß. Ihr eigenes Leben.

Sie wiederholte sich die Worte:

»Nur einmal blüht im Jahr der Mai,
Nur einmal im Leben die Liebe.«

Und nun plötzlich durchdrang sie bis ins Innerste des Herzens ein ungeheurer, süßer Schmerz, eine grenzenlose Sehnsucht. Eine warme Flut quoll auf in ihrem Innern, als wollte sie die Wände ihres Körpers sprengen, als wäre da drinnen eine mächtige Ader gesprungen, und durch ihre ganze Brust ergösse sich warmes, warmes Blut. Ohne Unterbrechung wiederholte sie wohl hundertmal die Worte des Liedes, und sie wurden ihr nicht fade; im Gegenteil, bei jeder Wiederholung wurden ihr Schmerz und ihr Entzücken größer; sie grub mit diesen Worten immer tiefer in ihr Herz hinein, und immer neue, selig erwärmende Ströme Blutes schossen hervor.

Sie saß noch starr und versunken am Küchentisch, als die Gäste aufbrachen. Erschrocken sprang sie auf, ging in das Zimmer, wo das Gelage stattgefunden hatte, entfernte dessen Spuren und begab sich dann zur Ruhe. –

Wenige Tage darauf brachte ihr der Zufall das Ereignis ihres Lebens. Bei dem Krämer drüben war ein neuer Kommis eingetreten. Die früheren Kommis hatten im ganzen ein unerhörtes Quantum »Witze« produziert. Das gehörte zum Geschäft, die Kunden – wenigstens die Mehrzahl der Kunden – wünschten es so, die Minorität wurde eben vergewaltigt. Zu jeder Tüte konnte man billigerweise einen Witz verlangen. Sie waren nicht immer ganz zart, diese Witze; aber selten waren sie gut. Besonders gegen die Dienstmädchen glaubten sich die Gehilfen hin und wieder eine Extraqualität, eine stärkere Sorte erlauben zu dürfen. Die Dienstmädchen gelten nicht als Vollweiber; die zarten Rücksichten gegen das weibliche Geschlecht beschränken sich doch vernünftigerweise auf die Damen. Bei solchen Armen und solchen Fäusten kann man nicht gut mehr vom »zarten Geschlecht« reden.

Anna hatte die Erheiterungsversuche der Gehilfen stets mit einer durchaus nicht sauertöpfischen, aber außerordentlich kühlen und unerschütterlichen Reserve pariert. Wie alle durch Temperament und Erfahrung ernst gestimmten Leute hatte sie einen tiefen Widerwillen gegen alles Läppische und Alberne. Aber das hatte die Kommis nicht abgehalten, sich immer von neuem in ihrer ganzen Breite zu entfalten: der Herr Prinzipal forderte die Witze gleichsam als einen Teil der Arbeitsleistung. Er hielt sich für einen Geschäftsmann; trotzdem wußte er nicht, daß ihm die große Gabe, seine Kunden nach ihrer Individualität zu behandeln, versagt war.

Dieses Talent besaß aber in hohem Grade Herr Gustav Schneider, der neue Kommis. Herr Schneider war ein hübscher Kerl mit wasserhellen, klugen, herausfordernden Augen und einem schönen hellblonden Schnurrbart, der in weichen Linien über die Mundwinkel fiel.

»Gnädiges Fräulein? Womit kann ich dienen?« fragte er mit gespreizter Geschäftigkeit.

»Ein Pfund Hutzucker, bitte.« Sie errötete, als sie ihm in die Augen sah.

»Von dem süßen oder von dem sauern?« fragte Herr Schneider, indem er eine Tüte abriß und Anna mit seinem triumphierendsten Lächeln anblickte.

Anna blickte schweigend zum Fenster hinaus; aber sie war noch tiefer errötet. Zweierlei hatte Herr Schneider sofort heraus: erstens, daß dieses Mädchen weit hübscher sei, als es ihm anfangs geschienen hatte, und zweitens, daß sie für »Witze« nicht eingenommen war. Danach hatte er denn auch binnen einer Sekunde sein Benehmen modifiziert. Er gab ihr, was sie wünschte, ohne überflüssige Bemerkungen, packte es ihr zuvorkommend, aber ohne Aufdringlichkeit in den Handkorb und sagte zum Abschied mit höflich ernster Verbeugung: »Adieu, Fräulein. Besuchen Sie uns recht bald wieder.« Dabei fiel ihm auf, daß sie von schlanker Gestalt war, sich vorzüglich hielt und außerordentlich reiches Haar hatte – vorausgesetzt, daß es echt war. Er hatte in diesem Punkte seine Erfahrungen.

In der Regel wurden die Krämerwaren ins Haus geliefert, und nur, wenn man etwas zu bestellen vergessen hatte, oder bei unvorhergesehenem Bedürfnis, ging Anna in den Laden hinüber. Am folgenden Tage, als der Lehrling vorfragte, hatte sie einen Augenblick die Absicht, etwas zu »vergessen«, damit sie nachher hinübergehen könne. Aber sie fühlte, daß in einem solchen Verfahren etwas Unwahrhaftiges liege, und das widerstrebte ihr. Auch schien es ihr, der neue Kommis müsse merken, daß sie nur komme, um – –

Über und über rot, bestellte sie hastig alles, was nötig war. Dann, als der Lehrling fort war, bereute sie, daß sie nicht doch den kleinen Kniff angewandt habe. Morgen wollte sie es doch einmal damit versuchen.

Aber – was wollte sie denn eigentlich? Wohin drängte denn eigentlich ihr Herz? Sie schämte sich ihrer Empfindung, ihres Interesses; ihr jungfräulicher Stolz lehnte sich dagegen auf; sie schalt sich heftig, daß sie überhaupt an diesen wildfremden, einfältigen Menschen dachte.

Plötzlich empfand sie einen freudigen Schreck: sie hatte doch etwas vergessen! Und noch dazu etwas, was sie sofort gebrauchen mußte! Und sie eilte zur Tür hinaus und über die Straße, damit nur nicht der Lehrling inzwischen zurückkomme und ihr etwa die Bestellung abnehme.

Aber diesmal war er nicht im Laden gewesen; sie kam langsam und sehr niedergeschlagen zurück. Den ganzen Tag über blieb sie so traurig und mißmutig, als wäre für ihr ganzes Leben alles Licht erloschen.

Aber dann am folgenden Tage war er wieder da, und als sie ihn sah, stand ihr Herz einen Augenblick still, um dann plötzlich sehr heftig zu pochen. Sie hörte noch, wie er vor einer anderen Käuferin ein wahres Gratis-Brillant-Prachtfeuerwerk von Witzen verpuffte, bevor er sich respektvoll und gemessen zu ihr wandte. Sie hegte keinen Zweifel, daß er sie achtete, daß er Rücksicht auf sie nahm – wie lange hatte sie das nicht erfahren! Und darum tat es ihr so unendlich wohl; wie ein schmeichlerisch warmer Tauwind schwoll es in ihr auf, um alle Starrheit zu lösen; sie mußte an sich halten; denn sie fühlte, daß ihr die Augen heiß und feucht wurden. Wem hatte sie bisher so viel gegolten, daß er Rücksicht auf sie nähme? Keinem. So hoch hatte sich Sehnsucht, Freude, Schmerz, kurz: alles menschliche Gefühl in ihr hinter den Schranken, die es einengten, aufgestaut, daß ein warmes, menschliches Wort diese Schranken auf einmal durchbrechen und dem wild überströmenden Gefühl einen Weg in die Freiheit geben mußte. Es ist oft genug nicht ohne Grund, wenn bei scheinbar kleinlichem Anlaß ein Gefühl aus uns hervorbricht, das andern überschwenglich erscheint. Sie konnte nicht umhin, beim Verlassen des Ladens den Gruß des Herrn Schneider mit einem freundlichen Lächeln zu erwidern.

Mit schnellen, starken Schritten ging sie über die Straße. Sie fühlte sich wunderbar gehoben. Jahre hindurch hatte sie nicht so viel Lebensmut besessen.


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