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Wenn in einer Stadt an einem Sonntage, der seinem Namen Ehre macht, auf dem Markte fröhliche Musik erschallt, dann ist das nicht anders, als wenn einem Menschen das Herz vor Feiertagsfreude höher schlägt.

So ging es heute in Gündsitbargen. Noch war vom schlanken Vizelinturme der zwölfte Uhrschlag nicht verzittert, da hob die Bürgerkapelle die blitzenden Trompeten und ließ zunächst ein Lob- und Danklied zu dem Herrn emporbrausen, der wieder einmal so viel warmgoldenes Licht über das wohlgeordnete Gemeinwesen »jenseit der Berge« ausgegossen hatte. Den geistlichen Klängen folgten weltliche Weisen, und je länger der Meister den silberbeschlagenen Stab schwang, während seine andere Hand in Wellenbewegungen durch die Luft glitt, desto mehr Zuhörer fanden sich auf dem mittelgroßen, ein unregelmäßiges Viereck bildenden Platz ein. Die einen standen im dichten Kranze um die Musiker herum. Das waren die Sachverständigen oder wenigstens ganz Andächtigen, die keine Note missen wollten; die andern aber, die solch eine Darbietung nur als Unterhaltung betrachteten, lustwandelten unter behaglicher Rede – die jungen Mädchen und die Ehepaare Arm in Arm – und die flotten Jünglinge mit den kecken Hütlein und den grellfarbigen Halsbinden und Lederhandschuhen verstanden es trefflich, den Spazierstock zwischen den Fingern hin und her zu quirlen. In zwei eirunden Kreisen bewegte sich die Menge. Der innere lief wie der Zeiger der Uhr, der äußere schob sich in entgegengesetzter Richtung hin. So ergaben sich bequeme Gelegenheiten, daß man einander grüßen, Scherzworte austauschen und auch wohl, wie es bei jungem Volke nicht anders ist, heimliche Winke und Blicke wechseln konnte. In den Pausen, wenn die neuen Noten verteilt wurden, war wie ein Rauschen das Gemurmel der Plaudernden und das Schlürfen der Füße über das unebene Pflaster zu vernehmen, auch wurde dann das Plätschern des Brunnens hörbar, neben dem die Musik ihre Pulte aufgestellt hatte. Aus sechs Fischmäulern glitzerten die frischen Strahlen von einer Mittelsäule bogig in das granitene Becken hinunter, oben auf der Säule war eine kleine Auffangeschale angebracht, und der Erbauer des Brunnens mußte ein sinnreicher Mann gewesen sein, denn er hatte es so eingerichtet, daß das Wasser aus der Röhrenspitze auf diese Schale in Gestalt einer Glasglocke niederströmte, worunter der städtische Gärtner an jedem Sommersonntage Blumen tat. Heute schaute ein Rosenstrauß durch die kristallene Wand, ein wunderhübscher Anblick, dessen sich die Gündsitbargener nach Gebühr erfreuten.

Ja, nun begann die Kapelle den Einzugsmarsch der Wartburggäste, da öffnete sich unweit der Kirche in dem breiten, zweistöckigen Hause mit den verhängten Ladenfenstern eine Tür, und hinter einer schlicht gekleideten Frau trat ein stattlicher Mann heraus. Sein langer Bart war angegraut, aber seine Wangen hatten eine jugendliche Rosigkeit. Unter dem linken Kragen seines schwarzen Rockes glänzten zwei Orden, und sein Zylinder war so blank, daß sich die Marktherrlichkeit darin abspiegelte. Die Frau nahm ohne Aufenthalt ihren Weg über den Platz, der Mann jedoch blieb erst auf der obersten Schwellenstufe vor der Tür stehen, und ließ die Herrscheraugen über die Häupter des Volkes schweifen. Als er sicher war, daß die Versammelten zur Genüge von seinem Erscheinen Kenntnis genommen hatten, ging er der Frau würdevoll nach und erreichte sie mit wenigen weit ausholenden Schritten. Beim Überqueren des Marktes wurde ihm viel Ehrerbietung bewiesen. Alle Augenblicke hieß es: »Guten Tag, Herr Stadtrat! Wie geht es Ihnen?« Der Ton, worin das gesprochen wurde, zeugte von dem Bestreben der Bürger, sich diesen Mann zum Freunde zu halten. Sein Dank war selbstgefällig, aber nicht hochmütig und auch nicht von unehrlicher Liebenswürdigkeit. In wenig mehr als zwei Minuten war er mit seiner Frau auf der anderen Seite, und beide begaben sich in ein Haus, über dessen Tür ein Schild mit der Inschrift »Buch- und Kunsthandlung von Hermann Oldekopp« angebracht war. Hinten im engen Flur führte eine Wendeltreppe empor, dann kam man auf eine mit Schränken bestandene Diele.

Eilfertig, wie der vornehme Gast es beanspruchen kann, öffnete das Dienstmädchen die Flügeltüren zur besten Stube. Etliche Herren und Damen erhoben sich, allein der Stadtrat achtete ihrer vorläufig nicht, sondern trat auf einen kleinen, vertrocknet aussehenden Mann zu und begrüßte ihn lebhaft: »Mein lieber Freund! Unsern und insbesondere meinen innigsten und herzlichsten Glückwunsch. Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich freue, daß dein lieber Sohn die Stelle bekommen hat!«

»Ja, danke sehr, lieber Jessen«, antwortete der Angeredete mit knarriger Stimme, »es hat sich ja ganz nett gemacht, und du wirst wohl das deinige dazu getan haben. Das wollen wir dir nicht vergessen.«

»Bitte, bitte sehr! Nur meine Pflicht einem tüchtigen jungen Gündsitbargener und dem Sohne meines alten Freundes gegenüber. Und was vermag unsereins schließlich? Das ist viel weniger, als mancher sich denkt.«

So sagte der Stadtrat zwar, aber aus der Art, wie er das Lob für sein Verdienst um die Familie Oldekopp ablehnte, konnte schon ein nicht allzu feines Ohr erlauschen, daß er sich seiner Wichtigkeit und seines Einflusses sehr bewußt war. Der eine oder der andere von den Gästen lächelte denn auch verstohlen.

»Und ebenso Ihnen, meine verehrte Frau Oldekopp, die aufrichtigste Gratulation!« fuhr der Stadtrat fort und schüttelte, sich trotz seiner Behäbigkeit gewandt verbeugend, einer jüngeren Frau die Hand. Sie war in ein rotes Kleid gehüllt, dessen phantastischer Schnitt von der Einfachheit abstach, womit sich die Damen sonst trugen.

Nachdem auch die übrigen Besucher von dem hohen Herrn verbindlicher Begrüßung gewürdigt worden waren, erhielten er und seine Frau den Platz auf dem Sofa, und das Mädchen bot ihnen Sherry in kleinen Spitzgläsern und Torte an. Mit beweglichen Nüstern sog der Ehrengast den süßen Duft des Weines ein und trank ihn schneller aus, als man es in guter Gesellschaft soll. Oldekopp, der sich neben ihn an den Tisch gesetzt hatte, warf einen mißbilligenden Blick auf das leere Glas, seine Gattin jedoch sorgte dafür, daß es alsbald wieder gefüllt wurde. Beim dritten Glase tat der Stadtrat das, wozu er seine Orden angelegt hatte. Vom Markte schollen die Klänge der Weberschen Jubelouvertüre herein; Jessen war aufgestanden und gedachte mit seiner sich im eignen Wohllaut badenden Stimme des wackeren Familienoberhauptes, dem das Fortblühen der alten Buchhandlung zu verdanken sei. Er wolle ja durchaus keine verharschten Wunden aufreißen, könne es sich aber doch nicht versagen, an die viel zu früh dahingegangene erste Frau seines treuen Freundes, des jungen Oldekopps Mutter, zu erinnern. Ein gnädiges Geschick habe es freilich so gefügt, daß für die Dahingeschiedene vollgültiger Ersatz gefunden worden sei. Bei diesen Worten schaute der Buchhändler bedenklich vor sich nieder und drehte die Daumen umeinander.

»Und nun, meine hochverehrten Anwesenden«, sprach der Redner weiter, und sein Ton schraubte sich immer höher hinauf, während die Hörner draußen immer jauchzender schmetterten, »nun erleben unser lieber Freund und seine von uns allen hochgeschätzte Frau Gemahlin die außerordentliche Freude, daß der Sohn dank seiner hervorragenden Begabung und seinem rastlosen Streben (Oldekopp drehte die Daumen) schon so jung in die Dienste seiner Vaterstadt eintreten kann, um hier, wie wir alle bestimmt erwarten und hoffen, Großes zu leisten. Möge denn unser Jürgen, der uns seines bescheidenen und freundlichen Wesens wegen schon immer lieb war, seinen Einzug in unsere Mauern halten mit der Gewißheit, daß der Spruch ›Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande‹ auf uns Gündsitbargener nicht anzuwenden ist.«

Die Marktmusik jubilierte aus voller Kraft, der Herr Stadtrat aber schloß, während Oldekopp bei seiner Daumenbeschäftigung verharrte, mit den Worten: »Und so bitte ich Sie, meine werten Damen und Herren, die Gläser zu erheben und mit mir anzustoßen auf das Wohl unsers lieben Jürgens. Der Stolz des Hauses Oldekopp, unser neuer Stadtbaumeister, er lebe hoch!«

*

Jürgen Oldekopp war nach Hause gekommen und führte, bis er sein Amt antrat, das Leben eines Mannes, der vorläufig am Ziel ist und sich um den künftigen Weg noch keine Sorgen macht. Er wohnte bei seinem Vater in seiner Schülerstube. Vom Fenster aus sah er in den Garten hinab, wo er sich als Knabe getummelt hatte. Noch wußte er genau, wie man es anstellen mußte, um diesen Pflaumenbaum und jenen Holunderbaum zu erklettern. Auf dem Kartoffelfelde dort hinten flocht er sich im Herbst aus den abgeschnittenen Zweigen der Sträucher eine Hütte; auf dem Beet hier links hatte er eine Kuhle gegraben und Kalk und Sand hineingeschüttet, denn er brauchte Mörtel für den Bau einer Burg. In die Erde neben der Laube streute er im Frühjahr gemischten Samen aus, und an den kleinen Blüten, die danach kamen, konnte er sich nie satt sehen. Das Gartenhaus aber mit den bunten Scheiben in der Tür war sein liebster Aufenthalt gewesen. Dort in der eigentümlich dumpfen Luft allein zu sein, durch das rote Glas zu schauen, die Bäume schwarz und das übrige in Flammen getaucht zu erblicken und dann in dem großen, mit Kissen ausgelegten Korbstuhl hinzudämmern – wie war das wunderbar!

Seine Mutter war so jung auf den Kirchhof getragen worden, daß er sich ihrer kaum erinnerte. Sein meist verdrießlicher Vater saß den ganzen Tag vor seinem Pult auf dem erhöhten Platz hinten im düsteren Gewölbe seines Ladens, von wo er alles beobachten konnte, was seine drei Gehilfen da vorne anfingen, und den er nur verließ, wenn es galt, einen besonders guten und achtbaren Käufer selbst zu bedienen. So war Jürgen den Haushälterinnen und den Dienstmädchen ausgeliefert, die bei Oldekopp rasch wechselten, weil der Herr jeden Groschen zehnmal umdrehte, bevor er ihn ausgab. Zuletzt glaubte der Buchhändler, er käme billiger weg, wenn er sich eine zweite Frau nahm. Als Jürgen seine Vaterstadt verließ, um das Baufach zu studieren, freite der alte Oldekopp um eine entfernte Hamburger Verwandte, die Tochter einer Witwe. Sie bekam keine Mitgift, hatte aber nach dem Tode ihrer betagten Mutter eine beträchtliche Erbschaft zu erwarten. Dem Mädchen saß eine enttäuschte Jugendliebe im Herzen; sie ließ sich bestimmen, ihrem Bewerber zu folgen, der sie im Alter um zwölf Jahre übertraf, und wurde damit Jürgens nicht viel mehr als zehn Jahre ältere Stiefmutter.

Bald mußte der Buchhändler allerdings erkennen, daß er sich arg betrogen hatte in der Hoffnung, eine nach dem Beispiel ihres Elternhauses sparsame Schaffnerin erhalten zu haben. Der jungen Frau Oldekopp glitten die Taler wie Sandkörner durch die Finger, und wenn sie Rechenschaft darüber ablegen sollte, wo diese oder jene Summe hingeraten war, so versagte sie vollständig. Ihr Lebenstrieb forderte Geselligkeit und Zerstreuungen, und weil ihr davon in ihrer Ehe kaum etwas geboten wurde, so wollte sie sich wenigstens putzen. Sie kaufte heimlich vor ihrem Manne Kleider und Schmuck in Überfülle; er mochte schelten und knurren, so viel er Lust hatte, bezahlen mußte er die Sachen doch. – »Du kannst es mir ja einfach von meinem eigenen Geld wieder abziehen«, erwiderte die junge Frau, sooft Oldekopp sie wegen ihres Verschwendens tadelte.

Auch mit Jürgen war der Alte nicht zufrieden. Was der auf der Hochschule kostete, damit wäre eine ganze Familie ausgekommen. Hermann Oldekopp dachte an seine eigne Jugend zurück. Seine Eltern hätten ihm auch einen reichlichen Zuschuß geben können – aber hatte er das verlangt? O nein! Er hatte sich mit dem kargen Gehilfengehalt begnügt und immer anständig gelebt. Auch als er, in frühen Jahren günstig verheiratet, nach Gündsitbargen zog, um die etwas in Verfall geratene Buchhandlung zu übernehmen, – wie gering waren da die Ausgaben für seinen Haushalt gewesen! Die heutige Jugend hatte keine Ahnung vom Werte des Geldes.

Nach dem Studium setzte der junge Baubeflissene es durch, daß ihm sein Vater verschiedene Reisen bewilligte, dann vervollkommnete er sich in seiner Kunst bei einem bedeutenden Architekten und war nun mit seinen siebenundzwanzig Jahren schon mühelos zu einer angesehenen Stellung gelangt. Gewiß, er konnte gute Zeugnisse aufweisen, aber wie mancher unter seinen Studiengenossen war begabter als er und mußte doch erst lange ringen, ehe er es zu etwas brachte. Jürgen streckte sich in seiner braunen Samtjacke wohlig auf dem Sofa aus, während das Weichselrohr seiner Pfeife weit in die Stube hineinragte.

Es pochte an seiner Tür, und die Stiefmutter huschte zu ihm herein. Hastig holte sie eine Zigarettendose aus der Tasche, faßte mit begehrlichem Ausdruck eins der Tabakröllchen und zündete es schnell an. Dann sog sie, in den Stuhl neben Jürgen sinkend, geschlossenen Auges den Duft stark ein.

»Gott sei Dank, daß du wieder da bist, Jürgen«, sagte sie. »All die Zeit habe ich dies« – sie hielt die Zigarette empor – »entbehren müssen. Dein Vater spürt es an meinen Kleidern, wenn ich geraucht habe, und dann wird er böse. Rauchen schickt sich nicht für eine ehrbare Frau. Jetzt bekommst du die Schuld. Auf deiner Stube ist solcher Qualm.«

»Aber wenn er dir einen Kuß gibt? Dann kannst du dich nicht mit meinem Rauchen entschuldigen.«

»Kuß?« Auf der Stirn der hübschen Frau sammelten sich Wolken. »Davor bin ich sicher, glücklicherweise. In den ersten Jahren ist es wohl vorgekommen, daß er zärtlich zu mir wurde. Jetzt hat er sich das längst abgewöhnt. Es bringt ja kein Geld ein.«

Sie sprach das nicht in gehässigem, sondern nur in gleichgültigem Tone als zu einem Menschen, vor dem sie keine Geheimnisse hatte. Jürgen erwiderte nichts, sondern dachte sich sein Teil. Ein Vergnügen mußte es allerdings nicht sein, seinen alten Herrn zu küssen. Frau Oldekopp ging rasch auf was anderes über. »Hast du Ili schon gesehen?« fragte sie.

»Nur ganz kurz. Ich traf sie gestern. Drüben bin ich noch nicht gewesen.«

»Geh' nur bald hin. Jessen legt großen Wert darauf, daß du ihm deinen Dankbesuch abstattest. Und du kannst ihn ja auch brauchen.«

»Es ist so schön hier auf meiner Bude. Ein paar Wochen möchte ich allein sein.«

»Allein? Hier in Gündsitbargen? Das gibt es nicht, bester Jürgen. Die ganze Stadt sitzt um dich herum und schaut dir bis in die Schubfächer. Aber ich will dich nicht kränken. Du bist ja jetzt auch einer von den würdigen Stadtvätern, und also darf man in deiner Gegenwart nichts Schlechtes über Gündsitbargen sagen.«

»Bitte, Mama Hannchen« – so nannte Jürgen seine Stiefmutter, denn bis zu dem Namen Mutter konnte er sich beim besten Willen nicht für sie aufschwingen –, »tu dir keinen Zwang an. Ich verstehe dich; man kann solches Nest hassen, man kann es aber auch lieben. Für mich ist hier viel zu tun. Mein Vorgänger hat schlimm herumgewüstet, ich muß zusehen, was ich von den guten alten Sachen retten und bewahren kann, und Neues ist auch genug zu schaffen. Darauf freue ich mich, gerade weil ich hier geboren bin. Aber einstweilen schwelge ich noch in Freiheit und bin für keinen Fremden da.«

»Ili Jessen wird freilich warten.«

»Meinst du? Nun, da muß sich Schön-Ingerlild ein bißchen in Geduld üben. So heiß und hoch flammt die Sehnsucht nach mir wohl auch nicht in ihrem Herzen.«

»Wer weiß? Sie hat jedenfalls viel für dich übrig.«

»Das ist sehr freundlich von ihr, und manchmal scheint es mir so, als ob ich sie auch ganz liebhätte. Aber dann kommen wieder Zeiten, wo ich beinahe gar nicht an sie denke.«

»Füreinander bestimmt seid ihr doch schon immer gewesen.«

»Das Bestimmungsrecht möchte ich mir vorbehalten. Gutes Mama Hannchen, bändige deinen natürlichen Drang, mich in Rosenketten einzuspannen. Ich bin mir fürs erste selber genug.«

Er warf das Haupt mit dem schlicht blonden Haar in die Kissen zurück, und um seine Lippen unter dem kurzen Schnurrbart spielte ein Lächeln.

Mama Hannchen glimmte sich ein frisches Röllchen an, und beide schwiegen, auf das angenehmste beschäftigt, er mit dem Gedanken, daß er zu den vom Glück begünstigten Menschen gehöre, sie im lange vermißten Genuß des blauen Dampfes.

*

Als Jürgen Oldekopp seine geliebte Einsamkeit eine Weile ausgekostet hatte, überkam ihn auch wieder die Lust, Menschen zu sehen, und zu allererst schritt er über den Markt. Da glänzte ihm der Jessensche Laden entgegen. Das eine Schaufenster lag voll Glaskugeln, Bällen und anderem Spielzeug. Das zweite gehörte den Frauen. Vom Plätteisen über den Kupferkessel bis zum Salzbehälter gab es da alle Küchendinge, aber auch für die anderen Räume des Hauses hielt der Kaufherr das Nötige feil. Dann kam die Tür und hieran schloß sich die dritte Auslage, worin die Wünsche des Mannes zu ihrem Rechte gelangten. Der Landwirt fand dort Sense und Sichel, der Gärtner Spaten und Gießkanne, der Tischler Hobel und Meißel, der Schmied den Hammer und die Raspel, kurzum, man konnte sich kein Handwerk denken, das hier nicht sein Rüstzeug bekommen hätte. Neben dem Laden war eine Torfahrt, durch die Jürgen ins Haus trat. Oben in der mit schwellenden blauen Plüschsesseln, Goldbronzesachen und Ölgemälden in dicken Prunkrahmen ausgestatteten Besuchsstube empfing ihn Ingerlild Jessen.

»Ich wollte mich bei deinem Vater für seine Fürsprache bedanken, Ili«, sagte er.

»Du mußt mit mir vorliebnehmen, Jürn. Meine Eltern sind zum Stiftungsfest in der Harmonie. Ich war nicht in der Stimmung dazu. Es geht da immer entsetzlich steifleinen her. Bitte, nimm Platz.«

Sie saßen einander gegenüber, und Jürgen ließ den Blick über die schlanke, hochgewachsene Gestalt im warmgelben Kleide gleiten. Das Mädchen verdiente ihren Namen Schön-Ingerlild. Die feingerundeten Schultern, der kleine, üppige Mund, die schmale Nase, diese tiefblauen Augen und das goldige Haar, ja, das waren alles Gaben, einem Wesen von der Natur geschenkt, damit es beglücke und glücklich sei. Ingerlild stützte den Kopf auf die rechte Hand, so daß das Gewand von dem zarten und doch vollen Unterarm zurückfiel, und verharrte eine Zeitlang unbeweglich mit gesenkten Lidern. Jürgen hatte Mühe, den Ausdruck seiner Bewunderung zurückzudrängen. Aber er bezwang sich; was er hätte sagen können, wäre nur Schmeichelei geworden, und dafür war ihm Ingerlild zu gut. Das Mädchen wußte, warum er schwieg. Eine feinere Schmeichelei als sein Stummsein konnte er ihr freilich nicht darbringen. Sie hob befriedigt den Blick und fragte: »Nun, gestrenger Herr Stadtbaumeister, sind Sie von Ihrer Würde so benommen, daß Sie nicht mehr reden können?«

»Ich denke daran, weshalb ich hierhergekommen bin. Um deinem Vater für seine Freundlichkeit zu danken, gewiß. Aber das ist nur der äußerliche Grund, Ili. In Wahrheit doch, weil ich dich so lange nicht gesehen habe. Du bist die einzige Seele, mit der ich mich richtig verstehe.«

»Ja, Jürn, das glaub' ich selbst. Besser als ich kennt dich kein Mensch. Und das ist ja auch kein Wunder. Wir sind zusammen gewesen, seitdem wir laufen konnten.«

»Weißt du noch? Wenn du als Squa in meiner Laubhütte haustest und ich dir den alten Pelz als erlegtes Wildbret mitbrachte?«

»Du hast deine Squa nicht immer gut behandelt. Oft genug bandest du mich an den Baum und foltertest mich mit Dolch und Pfeilen. Ich erinnere mich noch, wie mir dein Tomahawk einmal dicht am Ohr vorbeiflog.«

»Wenn ich dich nun getroffen hätte!«

»Ich hatte keine Angst. Die Marterungen gefielen mir sogar; warum, kann ich mir selbst nicht erklären.«

»Und wenn du mir Bleisoldaten schenktest.«

»Ich erzählte dir immer, unser Prokurist habe sie mir gegeben. Das war aber meist nicht wahr. Ich habe manche Schachtel für dich vom Lager geholt, ohne jemand zu fragen. Was tat nicht eine gehorsame Squa, wie die schillernde Schlange es war, für ihren Weißen Adler, den Herrn aller Jagdgründe.«

»Hätte ich das geahnt –«

»Lieber Jürn, dann hättest du sie ebensogut genommen, als wenn ich sie dir mit Erlaubnis meines Vaters gereicht hätte. Du warst viel zu gierig nach den kleinen Dingern.«

»Also muß ich noch nachträglich ein böses Gewissen haben.«

»Was hilft das? In die Schuld sind wir nun mal miteinander verstrickt, und ich rate dir: laß dich davon nicht schwerer belasten, als sie mich drückt. Dann hältst du's aus.«

»Ich will es versuchen. Aber besinnst du dich noch darauf, wie wir als Braut und Bräutigam in die Laube zur Kirche wandelten und so taten, als würden wir getraut? Dann das Hochzeitsmahl. Die Torten aus Sand.«

»Wir waren ein friedliches Ehepaar. Dein Wille geschah.«

»Das änderte sich, als wir größer wurden. Da hast du mir viel Kummer gemacht, Ili. Du warst mir nicht treu.«

»Du mir vielleicht? Soll ich dir deine Tertianerschwärmereien herzählen?«

»Die hatte ich immer nur nebenbei. Du bliebst meine Hauptflamme.«

»Nun, zu einer Zeit wenigstens war ich in deinem Herzen ziemlich ausgelöscht. Ich meine, als Groa aus der Pension kam.«

»Ich will es nicht leugnen: es ist mir mit deiner Schwester eigentümlich ergangen. Sie hatte sich nie mit uns abgegeben, und ich hatte mich auch nie um sie gekümmert. Aber damals – ja, sie machte starken Eindruck auf mich. Immerhin, beklage dich nicht, es wurde nicht so schlimm, du siegtest auch über sie.«

»Was für mich sehr leicht war, weil sie bald heiratete.«

»Du wärst auch sonst nicht von ihr verdrängt worden.«

»Wer kann euch Männer berechnen?«

»Ihr Frauen könnt es jedenfalls besser, als wir uns bei euch zurechtfinden.«

»Ich glaube, Mann und Weib sind sich in der Undurchdringlichkeit gleich, und was das Treuehalten anlangt, so übertreffen wir euch ganz gewiß.«

»Ich versichere dir, Ingerlild, du bist mir immer die liebste gewesen! Und wo ich dich jetzt sehe – Ili, was soll ich sagen? Du hörst es ja täglich, daß man sich nichts Entzückenderes vorstellen kann als dich!«

Das Mädchen nahm diese Überschwänglichkeit mit einer Miene an, als labe sie sich an Jasminduft. Jetzt hatte sie aber ihren Triumph gefeiert und war befriedigt. Die Männer verschwenden gern ihre Hingebung, ein kluges Weib trägt deshalb Sorge, daß sie sparsam damit umgehen. Die Quelle ist nicht unerschöpflich. – Ingerlild wendete das Gespräch auf Alltägliches und vereitelte die Versuche seines leicht entzündeten Herzens, ihr wieder nahe und womöglich näher zu kommen als vorhin. Nur in der Bewegung, wie sie ihm beim Abschiede die Hand zum Kuß hinstreckte, lag noch eine Gunst.

*

Der alte Oldekopp fiel seinem Sohne lästig, indem er ihm unablässig mit gar nicht verwendbaren Vorschlägen und Plänen kam, was er alles in Gündsitbargen bauen müsse, und so war Jürgen froh, als die Tage seiner Muße ein Ende nahmen und er sich auf dem Rathause einrichtete. Frisch ging er ans Werk, die Arbeit beglückte ihn, sein Amt machte ihn selbstbewußt. Er richtete seine Gedanken auf das, was die Hauptsache für ihn war, und ließ alles andere beiseite. Selbst Schön-Ingerlild gehörte in dieser Zeit zu den Nebensachen. Das empfand sie wohl, denn der Weiße Adler ihrer Mädchenzeit saß ihr jetzt selten gegenüber, aber es schien nicht, als ob sie etwas entbehrte. Ihre heitere Holdseligkeit, bei der man an eine mondbeglänzte Sommerlandschaft denken mußte, war unverändert.

Alles im Hause richtete sich nach ihr. Die Mutter, die für sich selber gar nichts wollte, ging darin auf, ihr zu dienen; der Vater war stolz und eitel auf diese Tochter und versäumte es gleichfalls nicht, ihr jeglichen Wunsch zu erfüllen. Besonders gern ging er Arm in Arm mit ihr durch die Straßen. Er kam sich dabei wie ein junger Ritter vor. Wenn Ingerlild dann und wann kleine Beziehungen zu einem Herrn anknüpfte, so duldete das der Stadtrat, obwohl er eine Eifersucht nicht unterdrücken konnte. Er wußte mit dem menschlichen Herzen Bescheid, – das brauchte hie und da einen Trunk aus dem Brunnen der Liebe. Wozu war so viel Anmut über dies Geschöpf ausgegossen? Jammerschade, wenn die Schönheit ungenutzt verwelken sollte, und zum Heiraten kam sein Kind noch immer früh genug. Eine Ingerlild Jessen hatte die Wahl.

Ili erfreute sich also großer Ungebundenheit, und da sie nichts tat, was ihrem Ansehen geradezu schädlich werden konnte, stand sie in dem Rufe einer jungen Dame, die zwar nicht zu den Unnahbaren zählte, aber schlecht von ihr zu sprechen, hatten die Leute keinen Grund. Auch die anderen Töchter der lebensfrohen Stadt trafen sich wohl mal mit ihren Verehrern draußen am Lommer See, wo man herrliche Ruder- und Segelfahrten machen konnte, und wo es in der Gartenwirtschaft Rosenlauben gab, recht dafür geeignet, daß man sich darin zu zweit über die bedeutendsten Menschheitsfragen austauschte.

Allgemein wurde eine Verbindung zwischen den Häusern Oldekopp und Jessen erwartet. Der Stadtrat selbst hoffte, Jürgen als seinen Schwiegersohn umarmen zu können, denn sonst wäre er nicht so dafür eingetreten, daß dieser unter den dreiundvierzig Bewerbern um den Baumeisterposten den Vorzug erhielt. Einstweilen jedoch kam Oldekopp junior nicht, um seinen Antrag zu stellen. Das Gemeinwesen, dessen Aussehen schöner und zweckmäßiger zu gestalten ihm oblag, nahm ihn ganz in Anspruch.

Gündsitbargen durfte weder nach der Zahl seiner Einwohner noch nach der hier herrschenden Geschäftigkeit zu den richtigen Kleinstädten gerechnet werden. An einer nach Norden ausgebogenen Krümmung des Stuwaa benannten Flusses gelegen, hatte die Stadt freilich in diesem ihrem nördlichen Teil einigermaßen das alte Aussehen bewahrt. Der breite Fluß schützte sie vor dem Hereinbrechen der neuen Zeit. Die Stadtmauer, die sich an der Stuwaa entlang gezogen hatte, war dahingesunken, der Wall war in einen Ulmenweg verwandelt worden, der im Osten bei der seeartigen Erweiterung des Flusses in Anlagen auslief, während er im Westen in einem Denkmalsplatz endete. Gen Süden, bis zum Markt, stand noch jenes Häusergewirr, dessen Anblick den Kenner und Freund verrauschter Zeiten erfreut. Im Südwesten an der Stadtheide hatte sich die Gegenwart in die krummen und engen Straßen hineingefressen. Fabrik neben Fabrik war dort entstanden. Die nüchternen Gebäude vernichteten die Traulichkeit, brachten aber den Bürgern Reichtum und wurden daher selbst von jenen Gündsitbargenern gern geschaut, die die gute alte Zeit viel im Munde führten. Neben den Fabriken, südlich vom Markt, hob sich ein Viertel mit kahlen Häusern, lauter einander gleichen, geraden Straßen empor, und wieder neben diesen nach Osten zu kamen die noch trostloseren Arbeiterhäuser. Sie zogen sich nach dem Südosten hin und umklammerten das alte Badorf, das mit seinen Strohdächern und Rundgehöften wie eine Insel in der Flut lag. Allerdings war es dem Untergange geweiht; manches städtische Gebäude streckte sich schon zwischen den Scheunen auf.

Die Wohlhabenheit, die in den gelben und grauen Bauten mit den hohen Schornsteinen erwuchs, sah in der Stadt keinen Raum für sich. So richtete sie sich im Süden hinter den neueren Vierteln ein und schuf eine Gegend mit Villen und Gärten, Baumreihen und Wasserkünsten ganz hin bis zu der stattlichen Erderhöhung, auf der die Ruine der einstigen Kaßburg aufragte. Östlich von dieser Vorstadt glitzerte der Lommer See, westlich – für die reichen Herrschaften schonsam durch Pappeln verborgen – war der neue Friedhof angelegt, während sich der alte dicht bei Badorf befand.

Eisenbahnschienen liefen vom Süden her am neuen Friedhof vorbei durch die Heide, und da, wo sie auf drei Wölbungen die Stuwaa überspannten, hatten die Fabriken ihre Lager und Ladeplätze. Die Schienen bogen jenseit des Flusses in dem Ackerlande nach Osten um und schmolzen mit einer Bahn aus dem Westen zusammen. Genau nördlich von der Stadt dehnte sich der Bahnhof hin. Um ihn zu erreichen, mußten die Gündsitbargener über die Brücke und durch eine linealgerade Straße gehen. Auch hier, zwischen dem Bahnhof und der Stadt, waren feinere Häuser an breiteren Wegen zu sehen. Gasthöfe mit Vorgärten luden den Fremden zur Einkehr ein. Die Eisenbahnwagen, die nach Osten weiterglitten, fuhren zunächst durch einen Tunnel und zwischen bewaldeten Hügeln hindurch. Diese erschienen den Bewohnern der Gegend bei der sonstigen Ebenheit des Bodens beträchtlich genug, um sie Berge zu nennen. Es waren die Erhebungen, wonach die Welt da draußen der Stadt an der Stuwaa ihren Namen geschenkt hatte.

Das also war Baumeister Oldekopps Wirkungskreis. Manche von seinen Mitbürgern, die im übrigen Lobpreiser des Vergangenen waren, lagen ihm in den Ohren, er solle die Rumpelkasten in der Altstadt niederreißen und an ihrer Stelle schöne viereckige Häuserblöcke entstehen lassen. Jürgen aber, der nirgend lieber weilte als in den alten Winkeln, hatte im Gegenteil die Absicht, über jedes derartige Gemäuer gleichsam seine schützende Hand auszustrecken. Insbesondere wollte er den gut erhaltenen Markt vor Umbauten bewahren, und damit fand er sich im Widerspruch zu dem alten Oldekopp, den nur der Geiz bisher daran verhinderte, daß er seinem Giebelhause durch das Vormauern einer Wand mit Gesimsen und Schnörkeleien ein modernes und, wie er meinte, der Bedeutung seiner Buchhandlung entsprechendes Äußere gab. Jürgen kam wenig genug mit seinem Vater zusammen, aber schon die gemeinsamen Mahlzeiten wurden ihm zur Pein. Der Alte hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Sohn zu seinem Werkzeug zu machen, und das schlimmste war, daß er sich nach Jürgens Wahl zum Stadtbaumeister nördlich vom Bahnhof für billiges Geld Liegenschaften gekauft hatte. Allerdings war das heimlich und durch auswärtige Mittelspersonen geschehen; in Gündsitbargen wußte man nicht, wer der wirkliche Käufer jener Äcker sei. Nun verlangte er von Jürgen, der müsse dafür sorgen, daß sich die Stadt nach dieser Richtung jenseit der Bahngleise und nicht im Süden um den Kaßberg herum ausdehne. Auch neue städtische Gebäude, so das längst geplante Krankenhaus und das Seminar, müßten auf den Fleck hin, den der Buchhändler sein nannte. Jürgen, der in den Kauf seines Vaters eingeweiht war, konnte es noch so entschieden ablehnen, eine Familienpolitik zu treiben, deren Beweggründe auf die Dauer nicht verborgen blieben und durch die seine Stellung unterhöhlt werden würde; Oldekopp senior ließ nicht nach.

»Ahnt ja keiner, daß ich mir die Koppeln gesichert habe. Warum soll sich Gündsitbargen nicht nach der Gegend erweitern? Die Leute haben es da viel bequemer, wenn sie verreisen wollen. Dann brauchen sie nicht erst durch die Stadt zu laufen. Vor allem aber: denk' nur nach, was du mir all die Jahre gekostet hast! Ist das nun dein Dank?«

Außerdem beherrschte den Buchhändler eine brennende Neugier. Er wollte stets wissen, was der Bürgermeister und die übrigen Beamten gesagt und getan hatten, und was für Vorlagen im Stadtverordnetenkollegium zu erwarten waren.

»Bleibt ja in der Familie«, meinte er. »Ich verrate nichts. Was hat mir schon mancher erzählt, und es ist kein Sterbenswort von mir herausgekommen.« Salbungsvoll fügte er hinzu: »Überhaupt, ein Sohn, der vor seinem Vater Geheimnisse hat, das paßt sich nicht.«

Jürgen trug trotz allem Achtung und Dankbarkeit für den Alten in sich und mochte nicht schroff gegen ihn auftreten. Des Zwanges wäre er aber gern ledig geworden. Darum war er so kühn, mit anderen Junggesellen im Gasthaus zu essen, doch das gewöhnte ihm der Buchhändler bald wieder ab.

»Wenn es meinem Sohn an seines Vaters Tisch nicht gut genug ist, – na ja. Darüber werden sich die Leute gehörig aufhalten, und ich muß mich schämen, denn die legen sich das alles selbstverständlich so zurecht, als ob du bei mir nicht satt zu essen kriegst. Magst du mir das antun, – meinetwegen. Aber mir scheint, du solltest bei deinem bißchen Gehalt froh sein, daß du das teure Wirtshausessen nicht zu bezahlen brauchst.«

Jürgen glaubte freilich nicht, man würde in der Stadt annehmen, daß der alte Oldekopp seinen einzigen Sohn hungern ließe, kehrte aber gutmütig zu seines Vaters Tische zurück und ließ es über sich ergehen, wenn der Buchhändler seine Frau nach den Preisen des Fleisches oder der Fische ausfragte. Immer waren die Preise viel zu hoch. – Frau Oldekopp schmeckte es unter den Vorwürfen ihres Mannes vortrefflich, und sie wurde stets rundlicher. Jürgen indessen sah ein, daß ihn die väterliche Art allmählich zermürbte. Dieser Gefahr entfloh er nur, wenn er sich einen Herd gründete. Für den war im Vaterhause glücklicherweise kein Platz. Also durfte er als Ehemann anderswo wohnen. Und nur recht weit von der Buchhandlung! Auf diesem Umwege wurde der Baumeister wieder an Ili Jessen erinnert, die sich ihm sehr huldreich bezeigte. Ganz sicher! Das Tor zum Herzen der schönen Stadtratstochter stand ihm offen. Warum sollte er nicht eintreten?

*

Ja, warum trat er nicht ein? – Der junge Oldekopp war in seinem Beruf ein überlegsamer, aber doch ziemlich rasch zufassender Mann. Der Bürgermeister schätzte diesen unverdrossenen, arbeitsamen Beamten, der lebhaft auf jeden neuen Gedanken einging, und bei den ihm unterstellten Leuten machte sich Jürgen durch gerechtes und gefälliges Wesen beliebt. Er gönnte Menschen, deren redliche Absichten er wahrnahm, Vorteile und ließ sich sogar von Schlauen, die sich ehrlich zu stellen wußten, mißbrauchen, bis er zur Einsicht gelangte, wie ihn seine Leichtgläubigkeit schädigte. Da wurde er vorsichtiger, wenn auch nie argwöhnisch, denn von vornherein war ihm das Gute im Menschen selbstverständlich. Über seinen Weg im Außenleben kam ihm daher kein Zweifel; lange nicht so einfach jedoch war sein inneres Dasein.

In seinem Amte spürte er nur hin und wieder die Besorgnis, zuviel verantworten zu müssen; er suchte sich dann Beistand bei anderen, und das geschah so, daß er nicht als unselbständig, sondern als bescheiden galt, sehr groß hingegen war sein Verlangen nach einer Stütze, ja nach einem Schutz in allen Dingen des Gemütes. Ihm schien nämlich, er könne die Kraft, die er draußen brauchte, auf die Dauer nicht aus eigenem bestreiten, und er wünschte, so mit jemand verbunden zu sein, daß es ihm möglich war, aus dessen Seele Stärkung zu schöpfen. Solches Verbundensein gab es nur mit einem Weibe, und er würde das entscheidende Wort zu Ingerlild gesprochen haben, hätte ihn nicht die Frage gequält, ob er bei ihr auch jene ihm notwendige Lebenshilfe finden werde.

Der Stadtrat bewies Geduld, drückte Jürgen mit immer gleicher Wärme die Hand und nannte ihn »Mein lieber Kollege!« Schön-Ingerlild aber bekam allmählich Langeweile und griff zu dem bewährten Mittel, um schüchterne oder säumige Verehrer zur rascheren Erklärung ihrer Liebe zu veranlassen: sie verdunkelte ihre Sonne für den Planeten Jürgen und ließ sie desto heller auf einen anderen Stern niederstrahlen. Das war ein kürzlich ans Gündsitbargener Amtsgericht versetzter Referendar, dem die Musik mehr am Herzen lag als die Rechtswissenschaft, und der es erreichte, daß sich unter seiner Leitung ein sangeskundiger Kreis von Herren und Damen bildete. Fräulein Jessen entdeckte ihren Sopran, es wurde ihr leicht, in Bartholdys Chor, wie jene Gesellschaft nach ihrem Begründer hieß, mit die erste Stelle einzunehmen, und durch das geistige Mittel der Harmonien und das schon mehr sinnliche ihrer wohllautenden Stimme umspann sie den Referendar, bis er kein größeres Verlangen kannte, als in ihrer Nähe zu sein. Ingerlild wandelte einige Male mit ihm über den Markt um die Zeit, wo der Stadtbaumeister nach beendeter Tagesarbeit aus dem Rathaus trat, und sie war überhaupt nie so gnadenvoll gegen den neuen Schwärmer, als wenn Jürgen Oldekopp es bemerken mußte.

Seine Pflegemutter, die früher am Ende ähnliche Spiele getrieben hatte, sagte zu ihm: »Du, dadurch laß dir keine Angst einjagen. Das ist nicht gefährlich. Sie macht sich nichts aus Bartholdy. Sie will bloß, daß du endlich den Mund auftust.«

Beruhigende Reden bewirken oft das Gegenteil von dem, was sie bewirken sollen. Daß er eifersüchtig auf den Referendar war, davon wollte Jürgen natürlich nichts wissen. Aber die Erfahrung seiner Stiefmutter in allen Ehren: es war schon dagewesen, daß sich die lockersten, von dem Weibe mit ganz anderen Absichten gewobenen Beziehungen zwischen zwei Menschen so fest als möglich gestaltet hatten. Jedenfalls mußte er sich entscheiden. Alles in allem genommen: War es nicht das Gegebene, daß er Ili heiratete? Wenn sie zu denen gehörte, die sich selber gern anlehnen und daher ihren Mitmenschen nicht als Stütze dienen können: War dies Geschöpf in seiner Lieblichkeit es etwa nicht wert, daß man es auf Händen trug? Er hatte eben die Pflicht, so viel Kraft für sie beide aufzubringen, sonst konnte er sich einen jämmerlichen Kerl nennen! Bisher hatte er sie angeschaut wie eine Schwester, jetzt aber regte sich sein Blut für sie, – elend, wenn er aus Bedenklichkeit zu spät kam!

Mama Hannchen witterte seine Unruhe und stärkte ihm den Mut; als guter Sohn deutete er auch seinem Vater an, was er vorhatte, und fand kein unwilliges Gehör, und so näherte er sich Ingerlild derart, daß diese davon überzeugt wurde, der Referendar habe seine Schuldigkeit getan und fernere Spaziergänge mit ihm oder weitere Gunstbeweise für den stets verzückt vor ihr Stehenden in Jürgens Gegenwart seien nicht mehr nötig. Der Chormeister wurde plötzlich kühl behandelt, und sein Bemühen, noch ein paar Strahlen aus seiner hehren Sonne auf sich zu vereinigen, waren umsonst. Alles war aufs sorgfältigste vorbereitet. In der »Harmonie«, wo sie nachmittags ihr Schöpplein Wein tranken und ihren Whist spielten, drückten sich Jessen und Oldekopp verständnisvoll die Hand, und Jürgen hatte sich, um in der Form nichts zu vernachlässigen, was die Kleinstadt für eine Verlobung vorschreibt, schon entschlossen, am nächsten Sonntagmittag seinen Antragsbesuch beim Herrn Stadtrat und seiner Frau Gemahlin zu machen, da traf aus Kiel die Nachricht ein, Ilis ältere Schwester Groa habe ihren Mann, der als Seeoffizier auf einer Reise durch die tropischen Gewässer begriffen war, am Fieber verloren. Sein Grab war das Meer.

*

Jürgen mochte jetzt nicht sofort als Bewerber bei Jessens erscheinen, zumal da Groa nach Gündsitbargen kam. Er entsann sich ihrer nur aus der Zeit, wo sie ein eben erwachsenes junges Mädchen war. Zuerst gewann er kein rechtes Bild von ihr. Die Witwentracht läßt ja alle Frauen fast gleich aussehen. Einmal traf er sie im Laden seines Vaters. Sie blätterte mit zurückgeschlagenem Schleier in einem Werke, und er wollte mit dem stillen Gruß, der das Leid anderer achtet, an ihr vorüber, aber sie schaute auf und reichte ihm die Hand. Er blickte in ein blasses, doch keineswegs abgehärmtes Gesicht.

Mit Ingerlild hatte Groa nur entfernte Ähnlichkeit. Ihre Züge waren straffer, derber, die Stirn war breiter und ausgeprägter, das Haar, das unter der schwarzen Schaube hervorlugte, hatte eine dunklere Farbe. Ihre Gestalt war kleiner und gedrungener als die ihrer Schwester. Aus ihren Bewegungen sprach Bestimmtheit und Wille.

»Guten Tag, Herr Oldekopp«, sagte sie, »nun sind wir beide in unserer Vaterstadt, freilich aus recht verschiedenen Gründen.«

»Ich habe Ihr Unglück herzlich bedauert, Frau Kapitänleutnant.«

»Ja, man wundert sich, daß man es erträgt.«

Sie standen für sich allein, abseits vom Ladentisch. Das Licht in diesem Raum war stets gedämpft, und unwillkürlich redet man in solcher Dämmerung leiser, dennoch klang Groas Stimme voll und tief. Von dem an Gesang erinnernden Ton, den Ili beim Sprechen hatte, besaß sie nichts.

»Man geht in einer großen Leere einher«, fuhr sie fort, »meint erst, daß es ein Verbrechen ist, seinem Dasein wieder Inhalt zu schaffen – darf man denn was anderes tun als an das denken, was man verloren hat? –, und erfüllt trotzdem schließlich, selbst unter Kämpfen mit dem eigenen Gewissen, seine Pflicht gegen das Leben, das nichts Taubes und Träges duldet. Sie sehen ja, ich verkehre schon wieder mit der Außenwelt, wenigstens durch unsere Dichter.« Sie deutete auf den jungen Mann, der mit einer Anzahl von Büchern herankam.

»Ein Unrecht ist das gewiß nicht«, versicherte Jürgen.

»Ich will es hoffen. Lieber freilich, als daß ich fremde Gedanken genieße, möchte ich etwas Nützliches schaffen. Das ist nur nicht so einfach. Sie müssen ja zufrieden sein, Herr Oldekopp, Sie sind hier in gutes Fahrwasser gekommen.«

»Ich fühle mich auch wohl darin.«

»Wenn Sie das nächste Mal zu uns kommen, so besuchen Sie mich, nicht wahr? Und dann erzählen Sie mir, was Sie hier alles planen. Wenn ich auch sonst noch nicht für die Menschen zu haben bin, einem Bekannten aus der Jugendzeit höre ich gern zu. Auf Wiedersehen!« – Jürgen bekam einen kräftigen Händedruck, und Groa trat an den Ladentisch.

Die Begegnung hatte zunächst zur Folge, daß Jürgen nach mehreren Wochen des Fernbleibens wieder zu Jessens ging. Er fand die Schwestern beisammen. Ili trug keinerlei Zeichen der Trauer; sie hatte sogar ein helles Kleid angelegt, das grell von der Tracht Groas abstach. Sehr widersprachen die fröhlichen Farben, in die sie sich gehüllt hatte, ihrem mürrischen Gesicht. Sie war in dieser Stunde nicht Schön-Ingerlild, sondern ein schlechtgelauntes Mädchen von keiner besonderen Art. Der Gruß, womit sie den Freund empfing, klang kurz und obenhin; Groa hieß ihn um so aufrichtiger willkommen. Kaum hatte er einige Worte mit der älteren Schwester gewechselt, während Ili schweigend in ihrem Sessel lag, da öffnete sich die Tür, und die Mutter bat: »Ach, liebe Groa, möchtest du mal kommen? Da ist der Mann wegen deiner Sachen aus Kiel.«

Groa verließ die Stube, die Mutter glitt wie ein Schatten durch den Raum und verschwand in der gegenüberliegenden Tür. Ili und Jürgen waren allein.

»Nicht auszuhalten!« stieß das Mädchen hervor und stampfte auf den Teppich.

»Was hast du denn, Ili?«

»Ach, das schnürt einem ja den Hals zu! Seitdem meine Schwester hier ist, hausen wir in einer Totengruft. Es ist von nichts anderm die Rede als von ihrer Trauer, wenigstens spricht Mutter immer nur davon. Und immer soll man Groas Schmerz ehren!«

»Das kann man auch gern tun, mein' ich«, versetzte Jürgen. »Aber Groa kommt mir nicht so vor, als ob sie sich mit ihrem Schmerz andern Leuten aufdrängt.«

»Sie ist immer da. Das genügt.«

»Das kann sie doch nicht ändern.«

»Warum ist sie nicht in Kiel geblieben? Warum muß sie hierherkommen und einem alle Lebenslust verderben? Und wenn sie ganz hierherzieht, – das wird schrecklich. Dann mach' ich, daß ich fortkomme.«

»Ein bißchen mehr Teilnahme könntest du deiner Schwester gern schenken. Denkst du nicht, daß dir ein Mitgefühl wohltun würde, wenn du in Groas Lage wärst? Du würdest deine Trauer vielleicht lange nicht so stark für dich allein tragen wie sie.«

»Nun also! Wenn sie so stark ist, braucht sie ja keine Teilnahme.«

»Die braucht jeder Mensch, Ili. Bist du wirklich so kalt gegen Groa gesinnt?«

»Ach, diese Ruhe, diese Erhabenheit, womit sie herumgeht. So war sie immer. Nicht den geringsten Scherz durfte man machen, gleich wurde man strafend angesehen. Alles muß ernst sein, feierlich. Abendmahl und Begräbnis zu gleicher Zeit. Und sie ist überall maßgebend. Außer ihr hat niemand was zu bedeuten. Sie kann bloß irgendwo auftauchen, so sind die Menschen ganz allein für sie da. Ich bin Luft. Alle geben ihr recht. Auch du! Dir geht es wohl wieder wie damals, als sie aus der Schweiz kam – nicht? Groa hier und Groa da und Groa in Ewigkeit. Das macht mich wild!«

Jürgen brach dies von Ili mit immer gesteigerter Heftigkeit geführte Gespräch bald ab. Er hatte einen Blick in Ingerlild getan, bei dem er erschrak. Nichts Bezauberndes, nur ein böses Keifen war in ihrer Stimme gewesen, und ihre Gefühllosigkeit gegen die Schwester offenbarte ihm ein Herz, das nur an sich dachte und sich weigerte, auch einmal für andere Menschen zu schlagen. Der Trauerfall in der Familie paßte ihr eben nicht. Wenn sie aber die eigene Schwester ohne deren Schuld mit so herben Ausdrücken bedenken konnte, wo lebte dann ein Mensch, den sie mit ihren argen Launen verschonte? Würde nicht ihr Mann unter dieser Eigensucht, die bei der geringsten Störung emporsprühte, erst recht zu leiden haben? Es war doch nur gut, daß er ihr noch frei gegenüberstand.

*

Die Stadt Kiel und der Hafen mit seiner Kriegsflotte waren für Groa voll lieber, jetzt aber schmerzlicher Erinnerungen. Deshalb hatte sie sich in Gündsitbargen niedergelassen. Da sie kinderlos war, konnte sie den Haushalt an der Ostsee leicht aufgeben. Die drei Stuben, die ihr der Vater im zweiten Stockwerk seines Hauses einräumte, genügten ihr, sie war den Winter über daheim möglichst tätig und freute sich auf die gute Jahreszeit, wo sie den Garten besorgen wollte. Frau Jessen, die an Ili nie eine Stütze gehabt hatte und sich auch ungern etwas von der häuslichen Arbeit abnehmen ließ, fühlte sich durch Groas Fleiß beengt, und der Stadtrat wagte es nicht, sich in ihrer Gegenwart so gehen zu lassen, wie er es liebte. Ingerlild begegnete der Schwester bisweilen schroff, es gelang ihr allerdings nicht, Groa aus dem Gleichmaß zu bringen, aber gerade darum setzte sich in dem Mädchen eine kleinliche, beinah in Haß übergehende Abneigung gegen die Schwester fest. Ein hochbegrüßter Zuwachs war die ältere Tochter also nicht für die Familie.

Ohne Neugier, nur aus ehrlicher Teilnahme richtete sie eines Tages an Ingerlild die Frage: »Wie ist es mit dir und Jürgen Oldekopp? Seid ihr nicht nahe davor, euch zu verloben?«

»Davon ist mir nichts bewußt«, erwiderte Ili schnippisch. »Der Herr schien allerdings eine Zeitlang die gnädige Absicht zu haben, sich zu mir herabzulassen, und ich hätte ihm vielleicht in meiner Verblendung mein Jawort gegeben. In den letzten Monaten hat sich hier aber manches geändert.«

»Wodurch?«

»Am Ende durch dich.«

»Ili!« rief Groa auflachend. »Kind! Du fürchtest doch wohl nicht, daß ich dir bei Jürn Oldekopp im Wege bin?«

»Davon red' ich ja keinen Ton, und jemand zu fürchten, – das liegt mir erst recht nicht. Aber soviel steht für mich fest: irgendwie hängt sein verwandeltes Benehmen mit deinem Hierherkommen zusammen. Nur ist der gute Mensch sehr im Irrtum, wenn er meint, daß ich je auf ihn gelauert habe oder gar noch auf ihn lauere. So ist das durchaus nicht. Fragte er heute an, so würde er einen mächtigen Korb zu schleppen kriegen!«

»Das täte mir leid«, sagte Groa ernst geworden. »Ich bitte dich jedenfalls, mich auch nicht einmal als die unschuldige Ursache dafür anzusehen, wenn ihr euch nicht mehr versteht.«

Ingerlild zuckte die Achseln und ging. Die Schwestern waren einander in der folgenden Zeit noch ferner als gewöhnlich.

Groa entwand sich ihrer Trauer und zog ein paar ihr angenehme Menschen an sich heran. Es gab Gestrenge in Gündsitbargen, die die Ansicht hegten, Frau Kapitänleutnant Kollmann sähe für ihr schwarzes Kleid nicht mehr bleich genug aus und benähme sich auch nicht genügend witwenhaft. Dem Stadtrat aber gefiel es, daß seine ältere Tochter aus sich herauskam. Er war kein Mann der Kopfhängerei. – »Du liebe Zeit! Dran glauben müssen wir alle mal, und solange man lebt und gesund ist, soll man sich freuen.« – Groa war ja immer noch eine Frau in den besten Jahren. Sie fand gewiß Ersatz für das Verlorene, ja, sie wurde vielleicht noch viel glücklicher, als sie es in ihrer ersten Ehe gewesen war. Junge Witwe sein, gut aussehen und Geld haben – das war lange kein Unglück. So lauteten die Reden, die Jessen bei sich selber hielt, und auch die Ermahnungen, womit er Groa in ihrem Bestreben stärkte, das Trübe dahinten zu lassen, liefen auf diese praktische Weisheit hinaus. Er stimmte ja, so schien es ihm, mit seiner Tochter überein. Daß Groa den Begriff der Lebensfreude, wozu sie wieder gelangen wollte, tiefer auffaßte als er, kam ihm nicht in den Sinn. Er gab sich, als er ihre Stirn heller werden sah, gemütlicher und war ihr dankbar, wenn sie an den Gesellschaften teilnahm, die er mit guten Weinen und trefflichen Speisen aufs beste unterhielt. – »Wir werden uns noch ausgezeichnet verstehen, mein Döchting«, meinte er und klopfte Groa vertrauensvoll auf die Schulter, »das Leben liegt erst vor dir.«

Nein, wegen des Zusammenseins mit Groa unter einem Dache hatte der Stadtrat jetzt nicht die geringste Sorge mehr. Etwas anderes war es mit Ingerlild. Wurde denn nun was aus der Verlobung mit Jürgen Oldekopp, oder wurde nichts daraus? Warum machte der junge Mensch noch immer nicht seinen Antrag? Man konnte ihn doch nicht darum bitten.

Ili war reizbar. Fiel nur der Name Oldekopp, so setzte sie ein Gesicht auf, daß man erschrocken den Mund hielt. Außerdem gab sie sich neuerdings mit dem musikalischen Referendar in einer Weise ab, die wirklich zu weit ging. Stadtrat Jessen war sehr für die Beziehungen der beiden Geschlechter untereinander, aber zu viel merken lassen sollte man sich nicht davon. Und Ili kam in der letzten Zeit mit dem Herrn Bartholdy so häufig zusammen, daß die Gündsitbargener beim besten Willen nicht mehr die Augen davor zudrücken konnten. Der Stadtrat wagte es, sie leise zu warnen: »Verdirb dir nichts, Kind. Was hast du von solchem Referendar?« Aber da fuhr Ingerlild auf: »Bitte, Vater! Mir kann niemand was Schlechtes nachsagen. Klatsch rührt mich nicht, und was mich mit Herrn Bartholdy zusammenführt, ist die reinste Begeisterung für die Kunst.«

Diese Begeisterung konnte der Stadtrat seiner Jüngsten ja nun nicht verbieten, an Ili war überhaupt nicht heranzukommen, sie tat doch, was sie wollte, und also mußte der bekümmerte Vater den Dingen ihren Lauf lassen, aber mit seiner Liebenswürdigkeit gegen Jürgen und mit den vorfühlend verwandtschaftlichen Händedrücken für den alten Oldekopp war es aus. Er trank seinen Wein in der »Harmonie« nicht mehr am Mitteltisch, wo der Stammplatz des Buchhändlers war und wo die Honoratioren der Gesellschaft saßen, sondern er setzte sich an den kleinen Tisch nahe dem Fenster und würdigte dort einige ihm an Rang und Reichtum nicht ebenbürtige Mitbürger seines Wortes.

Der Buchhändler, der wie jeder Kleinstädter ein feines Empfinden dafür hatte, ob er bei seinen Nächsten in Gunst oder Ungunst stand, brauchte auch nicht weiter nachzudenken, um den Grund der Jessenschen Kühle zu entdecken. Ihm war es selbst längst peinlich, daß sich die Dinge über den Markt hinüber noch nicht zusammengeknüpft hatten, und die Reden, die er jetzt daheim beim Essen hielt, waren so, daß seinen Tischgenossen jede Suppe übersalzen und jeder Bissen Fleisch in Pfeffer und Senf getaucht vorkam.

»Wenn ein junger Mensch nicht weiß, was er will, dann bringt er es nie zu was. Außerdem läßt kein Ehrenmann ein junges Mädchen sitzen, für das er sich einmal interessiert hat. Wie denkst du dir das nun, mein Sohn? Du wolltest dich doch verloben, wenn ich recht gehört habe.«

»Ich bin Ingerlild nichts schuldig.«

»So? Wenn die ganze Stadt schon darüber einig ist, daß ihr ein Paar seid?«

»Die Stadt hat mich nicht zu verloben. Das kann ich selbst tun.«

»Ja, warum tust du es denn nicht, wo du es doch alle die Zeit schon wolltest?«

»Ich bin eben enttäuscht, nachdem ich Ingerlild kennengelernt habe.«

»Kennengelernt! Wenn man so was hört! Kennst sie, so lange du lebst!«

»Nein. Ich habe sie noch nicht oder wenigstens nicht genau gekannt. Sie hat sich mir jetzt erst gezeigt, und das in einer Weise, daß ich sicher bin: wir würden nicht miteinander glücklich. Und so wenig, wie ich es selber in einer unbefriedigenden Ehe aushielte, will ich Ili Jessen unglücklich machen.«

»Unsinn. Sie ist Stadtratstochter und kriegt gehörig was mit. Da gibt es keine unglückliche Ehe. So was steht bloß in den Romanen, die ich den Leuten verkaufe. Du hast zuviel von dem Kram gelesen, und ich soll mich deswegen von Jessen schief ansehen lassen«, polterte der Alte. »So hätte ich bloß meinem Vater kommen sollen. Du mein Himmel! Der hätte mir ja wohl eine Ohrfeige gegeben, und wenn ich auch schon so alt war wie du.«

»Und die hättest du ruhig eingesteckt?« fragte Jürgen.

Da stutzte der Buchhändler. Die Frage seines Sohnes war an und für sich unbotmäßig, eine bejahende Antwort aber hätte denn doch nicht der Wahrheit entsprochen, und mit Lügen gab sich Oldekopp senior nicht ab, so gern er sich Umwege verstattete, wenn es Geld zu verdienen galt.

Selbstverständlich wurde in Jürgen Oldekopp durch dies Drängen: Tu's nur, erkläre dich, schnell!, ein Trotz gegen seinen Vater wachgerufen; der Stadtrat tat geflissentlich fremd gegen ihn, und Ingerlilds künstlerisches Bestreben schien so zur Schwärmerei für den Chormeister-Referendar zu werden, daß man ihre Zutunlichkeit zu Herrn Bartholdy nicht mehr nur für das Mittel ansehen konnte, den lässigen Liebhaber feuriger zu machen. So sank Jürgen die Hand, die er nach dem Mädchen ausgestreckt hatte, vollends herab, und er erlebte in seiner Seele einen Vorgang, der ihn an die Nebelbilder erinnerte, die er in seiner Jugend gesehen hatte: während Ilis Bild vermattete, wurden ihm die Umrisse und Farben ihrer Schwester immer deutlicher. Er verglich die beiden miteinander und spürte es: Ili, scheinbar weich, schmachtend und hingebend, war in Wirklichkeit das starr selbstsüchtige Weib, das die Gedanken und Kräfte des Mannes für sich fordert und sich vernachlässigt und beleidigt glaubt, wenn er etwas anderes will, als im Dienste seiner Herrin leben und sterben. Groa dagegen achtete die Kraft eines Menschen viel zu sehr, um es zu dulden, geschweige denn zu verlangen, daß er sich ausschließlich der Frau widme. Sie hemmte und verzehrte nicht, sondern trieb zum Entfalten, zum Ertüchtigen. Einen Zweifel, welche von den Schwestern die wertvollere war, konnte es also nicht geben, und warum sollte er nicht zum höchsten Ziele streben?

*

Schön-Ingerlild wurde des Herumziehens mit ihrem Referendar müde. Der Zweck, den sie ursprünglich damit vorhatte, war ja verfehlt, und sie hatte doch Furcht vor jedem absprechenden Urteil über ihr Tun, so sehr sie das Recht für sich in Anspruch nahm, nach ihrem Willen zu leben. Also entließ sie Herrn Bartholdy mit schlichtem Abschied und trat auch aus seinem Chor aus. Infolgedessen verlor er, der eine tiefere Neigung zu dem Mädchen gefaßt haben mußte, die Lust am Werk, und seine Schöpfung welkte hin. Ingerlilds Leben aber war leer. Zwar wollte sie die Enttäuschung, die Jürgen ihr bereitet hatte, vor sich selber nicht wahr haben, aber was gab es sonst, worüber sie immer so mißmutig war? Ihr Unbehagen rührte nur von dem Verhalten dieses Jugendfreundes her, der sie wieder einmal an den Marterpfahl gebunden hatte. Das war ein unwürdiger Zustand. Frei sein! Ein Ruck, und die Stricke rissen! War Jürgen sich darüber klar geworden, daß sie nicht die Richtige für ihn sei, dann brauchte sie ihn erst recht nicht. Er versuchte ja, sich durch immer gleich verbindliches Benehmen ihr gegenüber so zu stellen, als habe er nicht das geringste böse Gewissen, und sie strahlte, wenn sie mit ihm zusammen war; die traurige Rolle einer sitzengelassenen Jungfer wollte sie ganz gewiß nicht spielen!

Über den Grund für Jürgens Rückzug war sie nicht mit sich im reinen. Den Verdacht, daß ihr Groa den Freier abspenstig machte, konnte sie in der Tat nicht hegen, denn diese bewahrte in seiner Gegenwart die äußerste Gelassenheit, und hatte sie sonst auch in Ingerlilds Augen Fehler die Fülle: eine Heuchlerin war sie nicht, das mußte ihr der Neid zugeben. Überdies war Ingerlild von der Macht ihrer Erscheinung durchaus überzeugt. Die noch dazu um einige Jahre ältere Groa kam nicht gegen sie auf. Ili, die selber alles nach dem Äußeren beurteilte, wollte und konnte nicht begreifen, daß es für die Wirkung eines anderen weiblichen Wesens aus einen Mann auch einmal nicht darauf anzukommen brauche, ob dies Wesen ihr an körperlichen Vorzügen gleich oder unterlegen war. Ach was! Mochte es wieder so sein wie bei Groas erster Rückkehr ins Vaterhaus, – so sollte Jürgen, wenn er so genügsam war, ihr nur frei seine Verehrung weihen. Aber er durfte dann auch gleich ganz bei ihr bleiben. Ingerlild entbehrte ihn nicht und dachte zu groß und verachtungsvoll über solchen Wankelmut, um darunter zu leiden.

Das Mädchen mochte es indessen noch so sehr vor sich selber ableugnen, der Stachel einer Enttäuschung saß ihr nun doch einmal in der Brust, und das Leben in Gündsitbargen däuchte ihr jetzt öde. Sie hatte von Herrn Bartholdy viele Lobsprüche über ihr musikalisches Feingefühl und die Pracht ihrer Stimme gehört; ihr Vortrag und Gesang waren auch in den heimischen Zeitungen mit Ruhm bedacht worden. Daher lag es nahe, daß sich in ihr der Wunsch regte, ihre Begabung auszubilden.

»Aber, bitte, nimm Stunden, so viel du willst!« sagte ihr Vater, als sie ihm diesen Plan entwickelte.

»Was ich hier lernen kann, genügt nicht«, entgegnete Ingerlild, und Groa pflichtete ihr bei: »Nein. Da müßte Ili Unterricht bei einem hervorragenden Lehrer haben. Ich glaube bestimmt, daß aus ihrer Stimme dann etwas würde. Sie hat ein wunderschönes Material, aber sie sollte auch bald in die geeigneten Hände kommen, sonst wird es zu spät.«

Die Anerkennung aus dem Munde der so lobkargen Schwester tat Ingerlild wohl und feuerte sie in ihrer Absicht noch mehr an.

»Ja«, meinte der Vater bedrückt, »dann möchtest du also anderswohin?«

»Ach Gott, liebes Kind«, schaltete hier die Mutter ein, »wer soll da denn für dich sorgen?«

»Es braucht ja nicht weit zu sein, Mutter«, entgegnete Ili tröstlich, »und es wird auch Zeit, daß ich auf eigenen Füßen zu stehen lerne.«

»Ja«, bemerkte Groa, »ich kann es ihr gar nicht verdenken, wenn sie mal von Hause will.«

Die Geschwister waren einander noch nie so einig gewesen wie jetzt, wo es an die Trennung gehen sollte. Groa erhoffte für Ingerlild Gutes von einer straffen Lehrzucht, sie freute sich, daß Ili eine Aufgabe vor sich sah. Ili aber war Groa vornehmlich deswegen freundlich gesinnt, weil Groa ihr zutraute, daß sie etwas erreichen könne. Der Stadtrat ließ sich bald überreden; für die Mutter war das Ganze schrecklich, weil der Ort, wo ihre Lieblingstochter studieren wollte, sieben Bahnstunden von Gündsitbargen entfernt lag. Sie sah nicht ein, warum ihr Kind nicht ebensogut hier singen lernen konnte; doch wie in jedes andere Schicksal, so fügte sie sich auch in dieses. Ili war voller Begeisterung und bestellte sich eine Menge Kleider, und zwar einmal solche, die sie tragen wollte, um den musikalischen Darbietungen anderer Künstler beizuwohnen, und auch schon etliche, die sie nötig hatte, wenn sie selber Konzerte gab. Sie nahm mit wichtiger Miene Abschied von Freunden und Bekannten. Das Wort Studium kam bei diesen Besuchen häufig über ihre Lippen. Bei Oldekopps gab sie nur ihre Karte ab. Sie wollte nicht stören … Dann reiste sie ab, und der Stadtbaumeister ließ es sich nicht nehmen, ihr einen Strauß in den Wagen zu reichen.

Schön-Ingerlild empfing ihn mit einem Kopfneigen, als habe sie eben ihr herrlichstes Lied gesungen und lasse sich den schuldigen Tribut einer hingerissenen Zuhörerschaft zu Füßen legen.

*

So schaltete sich Ingerlild aus Jürgen Oldekopps Leben aus. Noch immer war bisher auf dem Nebelbilde zart wie ein Schleier, aber schon störend Ilis Gestalt zu sehen gewesen, jetzt traten Groas Züge allein und auf das kräftigste hervor.

Frau Kapitänleutnant Kollmann milderte, da über ein Jahr seit dem Tode ihres Mannes vergangen war, die Witwentracht und strebte mit danach, den Arbeitern und ihren Familien das Los zu erleichtern. Die Stadt plante, eine Volksküche und ein Kinderheim im Viertel der ärmeren Leute zu errichten; das Werk war nur immer noch nicht begonnen worden. Jetzt nahm Groa mit anderen gemeinnützig denkenden Frauen die Sache in die Hand, und niemand half ihr bereitwilliger dabei als der Stadtbaumeister. Er hatte bald Grundriß und Ansicht eines solchen, die beiden Anstalten in sich vereinigenden Gebäudes geschaffen; so konnte man rasch zum Ausführen schreiten. Groa bekam die Risse zu sehen, und Jürgen bewunderte eifrig, wie treffend sie über Schönheiten und Mängel eines Baues urteilte. Ein Giebel, der ihm wohlangebracht vorgekommen war, aber nach Groas Geschmack das Dach ungünstig zerschnitt, wurde gestrichen. Auch die Hauptpforte gestaltete er weiter und höher, als er ursprünglich wollte, denn Groa meinte, durch ein gedrungenes Tor gingen die Leute nicht so gern, als wenn große, breit zu öffnende Türflügel sie einluden. Vom Grundstein bis zum First wurde dieses Haus ein Stück Gemeinsamkeit zwischen den beiden. Das machte Jürgen glücklich, und Groa fühlte eine Genugtuung darüber, daß er ihr für ihre Vorschläge Dank wußte, und in dieser Freude erwärmte sie unwillkürlich etwas für Jürgen. Sie war keineswegs ein so absonderliches, dem allgemeinen weiblichen Fühlen abgewendetes Geschöpf, daß sie nicht auch ganz gern einen Teil seines Eifers, sich nach ihrem Geschmack zu richten, für ihre Person in Anspruch nahm.

Gerade jetzt, wo bei dem absinkenden Schmerz über den Tod ihres Gatten ihre Gesundheit wieder voll erblühte, spürte sie vieles in sich erwachen, was sie zu Anfang ihrer Witwenschaft begraben gewähnt hatte, und ein so ehrliches Menschenkind, wie Groa es war, machte kein Hehl daraus, daß der Einschnitt, den das Schicksal in ihr Dasein tat, nicht ihren Daseinsnerv getroffen hatte. Das Leid hatte ihre Hoffnungskraft nicht gelähmt. Jürgen war ihr ganz angenehm; allerdings lehnte sich etwas in ihr gegen seine Weichheit auf, aber diese Eigenschaft wurde dennoch die Ursache, daß sie sich seiner, wie sie es deutete: mütterlich annahm. Er kam wieder häufiger in das Stadtratshaus, trat ungezwungen in Groas Gemächer ein, und sie waren öfters allein. Der Stadtrat zog die Augenbrauen hoch. Sollte sich zwischen den Geschäftshäusern hüben und drüben am Markt doch noch eine verwandtschaftliche Verbindung bahnen? Dieser Jürgen Oldekopp! So ein Schwerenöter! Er erschien bescheiden, eine Rolle in der Hand und eine Mappe unterm Arm, und verkündete: »Ich wollte nur mit Frau Kollmann den Plan zum Volkshaus noch mal durchsetzen.« Ja, und dann saß er so lange bei ihr, daß man in der Zeit gut und gern den Plan für ein großes Schloß hätte erörtern können und nicht bloß für ein armseliges bißchen Kinderheim! Oh, mit solchen Ausreden wußte der Stadtrat Bescheid. Groa, die sonst sparsam damit war, jemand bei sich zu empfangen, ließ sich diese endlosen Besuche gefallen, sie mußten ihr also recht sein, denn anders würde sie Mittel gesunden haben, sie abzukürzen und für die Zukunft zu verhindern.

Nun, wenn seine Ältere ihr Herz zum zweitenmal, und zwar an den jungen Oldekopp verschenken wollte, Jessen hatte nichts dagegen, aber durchschauen konnte er die Geschichte noch nicht. Seine Frau, die nichts sehende Allesgewahrerin, äußerte sich auch nicht über Jürgens Kommen, und Groa selbst sprach über das, was ihr am jungen Oldekopp gefiel oder mißfiel, so offen und nannte ihn auch so harmlos ihren Freund: Heimlichkeiten hatten die beiden bisher nicht miteinander. Darauf durfte der Kundige schwören. Immerhin bewog die unbestreitbare neue Annäherung der Familien Jessen und Oldekopp den Stadtrat, daß er seinen alten Platz am Honoratiorentisch in der »Harmonie« einnahm und dem Buchhändler wieder die Hand drückte. Der verstand das zwar nicht, war aber zufrieden, weil der Stadtrat sich ihm günstig erwies – er mochte keinen mächtigen Mann zum Feinde haben. Frau Oldekopp hatte selbst früh auf alle Liebe verzichtet, und so hielt sie auch jede andere Frau über dreißig Jahren für alt und nicht mehr geeignet, von jungen Männern begehrt zu werden. Wollte ihr daher dann und wann der Verdacht aufsteigen, ihr Stiefsohn bemühe sich um Groa Kollmann, so wies sie das doch weit weg. Die paßte höchstens noch für den schon reichlich gichtbrüchigen Kommerzienrat Kedewohr, der ein Auge auf sie geworfen hatte.

Währenddessen glitt der Stadtbaumeister immer tiefer in seine Neigung zu Ilis Schwester hinein. Den Schutz, wonach ihn fast mehr verlangte als nach Liebe, konnte ihm ein so kräftiger Mensch wie Groa unzweifelhaft bieten. Er schmiegte sich ihr an, und sie hatte ja keinen Grund, ihm deswegen zu zürnen. Es erwuchs zwischen ihnen ein Gefühl, das auf seiner Seite schnell zur Sehnsucht aufblühte und bei ihr jene Sprossen der Herzlichkeit trieb, woraus ein Werbender, wenn er nur geschickt und ausdauernd ist, den Kranz der Liebe flechten kann.

*

Von Ili kamen Briefe, wie sie von einer Ili kommen müssen. Zunächst war sie im Himmel, und der Professor, bei dem sie studierte, war der liebe Gott. Diese wundervolle Methode, womit er den Gesang lehrte! Man machte bei ihm rasende Fortschritte, und er hatte ihr schon viel Gutes über ihr Talent gesagt, ja er bevorzugte sie sichtlich, denn er gab ihr immer zehn Minuten über die ausbedungene halbe Stunde hinaus. Nach und nach flossen in ihre langen und mit nur spärlichen Zwischenzeichen abgefaßten Schreiben Schilderungen hinein, die nichts mit dem rein Künstlerischen zu tun hatten. Es war so manches Fesselnde in der großen Stadt. Sie wurde eingeladen, lernte eine Menge Menschen kennen, und hin und wieder tauchte der Name eines besonders fähigen Mitstrebenden auf, zugleich wurde das Lob auf den Professor dünner; er beanspruchte furchtbar viel und ging nicht über Tonbildung hinaus, obgleich sie bereits dreiviertel Jahr bei ihm übte. Nicht ein kleines Lied durfte sie singen, nicht die kleinste Partie lernen.

Nun hatte sie von einer Gesangsmeisterin gehört, deren Lehrkunst so beschaffen war, daß ihre Schüler in kurzer Zeit die gesamte Technik beherrschten, und plötzlich verließ sie den einst angebeteten Professor und reihte sich unter die Hoffnungsfreudigen ein, die auf jene Sängerin schworen. Bei einer Opernaufführung der Schule fiel ihr gleich eine zwar nicht große, aber, wie ihr betont worden war, wichtige Stimme zu, sie konnte mit vor das beifallspendende Publikum treten und wurde in einem Blatte als schön und vielversprechend erwähnt. Dies kümmerliche Zeitungsrühmchen war Gift für Ili. Sie schwankte, auf welchem Felde sie sich ihre Unsterblichkeit holen sollte, ob im Konzertsaal oder auf der Opernbühne. Ach, sie stand ja überhaupt schon mitten im Kunstleben, denn eine Zeitschrift brachte ihr Bild und ein junger Komponist widmete ihr ein Melodram.

Von da an wurden ihre Briefe kürzer und seltener. Sie hatte unsagbar viel zu tun, überall sollte sie singen. Die Lehrerin war freilich nicht der Engel, den sie zuerst in ihr gesehen hatte. Man mußte ihr die Stunden gehörig bezahlen, um bei den Aufführungen mitwirken zu dürfen; es ging auf dieser Hochschule für Gesang auch nichts weniger als friedlich her, aber Überwerfen sollte man sich ja nicht mit dem alten Drachen – so hieß die erst Hochgeschätzte jetzt –, denn er war viel zu mächtig in musikalischen Kreisen und besaß überall Verbindungen mit Agenten und Konzertveranstaltern. Da hieß es nur immer Geld herausrücken, dann war man gesichert.

Das also war der Weg, den Ingerlild Jessen als Künstlerin ging, und Groa hatte ihrer Schwester wegen viele Sorgen. Ratschläge und Ermahnungen wies Ili ab. Du hast kein Künstlerblut in dir und begreifst von unsereins gar nichts, lautete stets ihre Antwort auf Groas Bitte, sie möge es mit der Arbeit recht ernst nehmen und sich nicht von Äußerlichkeiten locken und blenden lassen. Ingerlild wurde schweigsam; nur wenn die Zeitungen ihr schmeichelten oder wenn ihr sonst etwas Angenehmes zuteil ward, bekamen es die Gündsitbargener sofort zu wissen. Des Stadtrats eigene Eitelkeit war stark genug, daß er Ingerlilds Versicherungen, ihr stehe eine große Zukunft offen, noch unbedingt glaubte. Die Mutter machte ab und zu die lange Bahnfahrt, schaffte Ordnung in Ingerlilds Koffern und Kasten und kam wieder heim, ohne von dem zu erzählen, was sie bei ihrer Tochter beobachtet und gehört hatte.

Während sich die vermeintliche Künstlerin so in allen möglichen anderen Dingen und Sachen auflöste, wurde Groa mehr und mehr gezwungen, ihr Denken und Sinnen dem einen Manne zu leihen, neben dem sie in der Jugend gleichgültig hingelebt und der für sie auch später nicht die Bedeutung eines Freundes hatte. Erst in dieser Zeit gewann er für sie Gestalt, und sie konnte sich ihm nicht entziehen, denn er verstand es mit den tausend Listen des zielbewußten Bewerbers, sich ihr immer wieder in Erinnerung zu bringen. Da er nicht zu oft zu Groa kommen durfte, genügte ihm das gesprochene Wort nicht mehr, und er fing an, ihr über den Markt hinweg zu schreiben. Jeder dieser Briefe war schon eine Liebeserklärung oder enthielt wenigstens so hohe und heilige Beteuerungen grenzenloser Verehrung, daß Groa unablässig damit zu tun hatte, die klingenden Sätze in sich widerhallen zu lassen. Sie wehrte sich wohl gegen Jürgen, wie jedes Weib dem Erobertwerden widerstrebt, aber da er sie durch nichts abstieß oder verletzte, sah ihre Ehrlichkeit dies Wehren bald als überflüssig an, es sei denn, daß sie seine Regungen gar nicht erwiderte, und darüber war sie zunächst noch nicht mit sich im reinen. Gewarnt wurde sie ja: Jürgen hatte auch ihrer Schwester eifrig gehuldigt, um schließlich doch von ihr abzuschwenken, – wer konnte wissen, ob nicht seine neue Schwärmerei eben nur – eine Schwärmerei, also eine Laune war? Enttäuscht wollte Groa nicht werden; darum behandelte sie ihn zu ihrer eigenen Unfreude bisweilen recht kalt. Solche Kälte ist indes für den Liebenden das, was ihn am meisten anfeuert. Jürgen ließ nicht ab, sich in aller Bescheidenheit möglichst oft auf Groas Wegen zu zeigen, und als er sie eines Tages wieder mit seinen Augen anschaute, die beredt von seinen Herzenswünschen sprachen, konnte sie sich nicht enthalten, ihn zu fragen: »Haben Sie meine Schwester ganz vergessen?«

»Nein«, lautete seine freimütige Antwort. »Ich bin ihr immer noch gut.«

»Gut! Das besagt nicht viel, noch dazu, mit dieser Ruhe ausgesprochen. Das heißt also: Ihr früheres Gefühl für Ili ist verflogen?«

»Solange ich in Ingerlild mein Ideal sah, habe ich mich in mir selbst geirrt. Ich bezweifle, daß Ili überhaupt ein innerliches Glück fühlen und schenken kann. Das ist mir allerdings erst aufgegangen, seitdem jemand anders hier in Gündsitbargen lebt.«

»Ob aber dieser andere zu solchem innerlichen Glück fähig ist?«

»Ja. Das weiß ich, und wollte, daß ich Sie davon überzeugen könnte, Frau Groa.«

»Von außen kommt die Überzeugung nicht, lieber Freund, die muß im stillen keimen.«

»Tut sie das?«

»Man darf nicht an den Keim rühren, um nachzuforschen, ob er treibt. Er muß sich von selbst ans Licht arbeiten. Dazu brauchen wir Geduld.«

Geduld. Ja, das war die Eigenschaft, die Jürgen jetzt am allerwenigsten besaß. Er deuchte sich wie einer, der an einem verschlossenen Tor rüttelt: »Mach' auf! Mach' auf!« und der nicht begreifen kann, weshalb die Türflügel nicht gleich auseinanderspringen. – So vorsichtig Groa sein wollte und auch war, um sich über ihn zu vergewissern, ihre Gespräche mit ihm wurden doch vertraulicher. Er blätterte seine Seele vor ihr auf und zwang sie, bis in sein Tiefstes zu blicken. Alles war wichtig; es gab nichts, worüber er nicht mit ihr sprechen mußte. Jürgen Oldekopp gehörte zu den Menschen, denen die linke Hand kräftiger geschaffen ist als die rechte. Er hatte nie einen Stein mit der Rechten geschleudert, er faßte jede Klinke mit der Linken an; er schrieb wie die anderen Menschen, aber es war ihm leicht, die Feder mit der Linken von links nach rechts zu führen. Seine Mappe trug er unter dem rechten Arm, weil er des linken als seines Schutzarmes bedurfte; er hatte Mühe, sich des Messers auf der Seite zu bedienen, die man gebrauchen muß, um nicht aufzufallen. Sein Gebaren wurde von dieser Linkshändigkeit bestimmt. Ging er ohne Zweck seiner Wege, so bog er unbewußt stets links in andere Straßen ein, und oft kam es vor, daß er irgendwo hinwies und sagte: »Da, rechts!« Dann lachte ihn sein Begleiter aus, denn er hatte den linken Zeigefinger nach links ausgestreckt. Das Weltbild war für Jürgen anders, als es die Leute sonst sehen. Frankreich lag für ihn gegen Sonnenaufgang, Rußland gegen Sonnenuntergang von Deutschland aus, und so mußte er, was ihm in seinem Berufe manche Mühe kostete, die Himmelsrichtungen fortwährend ins Gebräuchliche umrechnen. Selbst auf die Töne bezog sich die Umkehrung in seinem Gehirn. Was man die tiefe Lage nennt, war für ihn die Höhe. In hundert und aber hundert Dingen hatte er mit dieser Verschiedenheit von den meisten übrigen Menschen zu tun. Männer, deren Wesen so gestaltet ist, werden nie fest auf dem Boden stehen. Es ist ein der Männlichkeit widersprechendes weibliches Teil in ihnen. Ihr Doppelsein ist aber auch der Grund, weshalb sie oft Künstler sind. Ihr Schaffen erblüht aus der Selbstbefruchtung ihrer zwiegeschlechtlichen Seele. So sind sie in gewisser Weise reicher begabt als andere, Jürgen jedoch war der Natur für seine Eigentümlichkeit nicht dankbar. Er klagte Groa manchmal sein Leid über diese Zerrissenheit: »Sie sind das Einheitliche, das Schlichte und Großlinige«, meinte er, »das Gegenteil von mir, der ich immer gegen mich selber ankämpfe. Sie sind, was Ihr Name sagt: Groa, die Erde, die Grünende, Wachsende.«

»So hätte mein Vater in seiner Vorliebe für seltene Namen bei mir das Richtige getroffen?«

»Ja, das hat er, oder, wie ich annehmen möchte, er hat Ihnen mit dem Namen unwillkürlich Ihre Bahn gewiesen.«

»Das mag sein«, erwiderte Groa. »Jedenfalls erinnere ich mich, daß es mich sehr packte, als ich mit zwölf Jahren zuerst in der Edda das Groalied las: Schwingtag kommt zu Groa. Wer ist Groa? Seine Mutter, seine gefangene Braut, seine Schwester – alles in einer Gestalt. Und sie gibt ihm ihre Runen, ihren Segen mit auf die Lebensbahn, neunfachen Segen gegen alle Gefahren: Frost, Sturm, Wintersnot, Wogenprall, Feindschaft, List, und was ihn sonst bedrohen mag. Nichts soll ihm schaden, wenn er ihre Worte bewahrt. Mir war seitdem immer, als müßte auch ich einem Menschen solchen Segen spenden.

Auf festem Steine stand ich im Grabestor,
Während ich dir die Sprüche sprach.

Das hat mich durchschauert. Im Grab … abgeschieden und doch lebendig. Der Augenblick, wo ich an die Stelle kam, machte mich ernst.«

»Wenn Schwingtag aber die Weisheit treulich bei sich bewegt, so kann er die Pforten des Grabes sprengen, und aus der Mutter wird ihm wirklich die Geliebte.«

»Ob Groa das je erlebt?«

»Sie hat es noch nicht erlebt?«

Groa erhob sich und schüttelte kaum merkbar das Haupt. Damit lag ihre erste Ehe offen für Jürgen da, und eine Hoffnung durchströmte ihn: Groas Schwingtag zu werden … ihr Schützling und Erlöser …! Sie war ihm notwendig und sein ganzer Wille richtete sich darauf, sie zu erobern. Das geschah nicht durch einen einzelnen Ansturm, sondern durch ein unermüdliches Wiederkommen. Ihre vertraute Zwiesprache führte sie zum Du hinüber. Damit war auf Groas Stube ein Geheimnis geschaffen. Kleine Zärtlichkeiten schienen nicht mehr unerlaubt. Sie wurden für ihn rasch fast zur Hauptsache, während die Frau manches zu überwinden hatte, bis ihr das zart Leidenschaftliche auch das Natürliche wurde. Das köstliche Fieber in beider Adern steigerte sich. Wenn Ingerlild auf Besuch kam, oder wenn die junge Frau kleine Reisen unternahm, so stockte zwar, was sich zwischen Groa und dem Freunde entwickelt hatte, aber beim Wiedersehen merkten sie, daß sie während der Trennungszeit um so inniger aneinander gedacht hatten. Zuletzt besiegelten sie ganz von selbst ihre Liebe durch den Kuß, und ziemlich weit im dritten Jahre, nachdem Groa als Witwe ins Vaterhaus zurückgekehrt war, kam die Stunde, daß sie ihr Haupt wie in Demut vor dem Bedränger senkte: »Ich komme nicht mehr von dir los, Jürgen.«

»Das sollst du auch nicht, Groa!«

»Ich soll deine Frau werden?«

»Ja.«

Sie ruhte lange stumm an seiner Brust.

*

An der Kaßbergallee, einer stillen breiten Straße der südlichen Vorstadt, inmitten eines großen Gartens, dessen Bäume noch nicht weit herangewachsen waren, lag das Heim, worin sich die jungen Eheleute eingenistet hatten. Vom Turm des Hauses aus überschaute man die niedriger gelegene Stadt, hatte Aussicht auf den blauen Spiegel des Lommer Sees und konnte die übergrünten Steinhaufen der Kaßburg erblicken. Auch ein Stücklein Friedhof mit seinen weißen Kreuzen war zu erkennen. Jürgen hatte die Mauern, die sein Glück einschließen sollten, nicht nach eigenen Plänen erbaut. Dazu wäre die Zeit bis zu seiner Hochzeit zu kurz gewesen. Aber er richtete das Haus mit den luftigen Räumen so ein, wie es ihm und besonders Groa gefiel, und das Paar genoß die ersten Monde des Zusammenseins in jenem Glück, dem kein anderes auf Erden gleicht. Jürgen empfand alles um ihn herum und vor allem seine Frau als vollkommen, und Groa widersprach ihm wenigstens nicht, wenn er das Geschick, das sie zueinandergeführt hatte, das wundervollste nannte, das Menschen beschieden werden konnte. Er war voller Selbstbewußtsein, weil er sich diese Frau, wie er es nannte, errungen hatte; ihn dünkte, er habe damit große Widerstände gebrochen, und seinem Siegerstolz erschien nun auch das übrige Leben, vor allem sein Beruf als Kinderspiel. Unverzagtes Auftreten zeitigte ihm Erfolg; vor Rat und Bürgerschaft setzte er sich durch, und seine künstlerische Art wurde im Bilde Gündsitbargens immer sichtbarer. Häuser der Altstadt, die für die Bauweise verflossener Jahrhunderte kennzeichnend waren, bewahrte er vor Abbruch, die Anlagen an der seeartigen Ausweitung der Stuwaa wurden verschönt, Badorf behielt das dörfliche Aussehen, dem Fabrikviertel verschaffte er bequeme Straßen und ermöglichte die Aufhöhung des oft überschwemmten Wiesenlandes im Winkel zwischen dem westlichen Wall und dem Flusse. In seine Entwürfe für Schulen und sonstige Gebäude kam etwas Frohes und Helles. Mit seinem Schwiegervater war er ein Herz und eine Seele; der wußte nicht, wie laut er Jürgens Gaben rühmen sollte. Mit seinem Vater dagegen stand er sich nicht gut. Wohl war dem Buchhändler die Heirat mit Groa recht gewesen, zumal da Jessens ältere Tochter durch das von ihrem ersten Manne Ererbte eine größere Mitgift in die Ehe brachte als die auf ihr Väterliches beschränkte Ingerlild, im übrigen erlebte der Alte an seinem Sohne keine Freude, denn der machte nicht die geringsten Anstalten, daß das Land nördlich der Eisenbahn im Preise steigen konnte. Im Gegenteil, Jürgens Pläne sahen Gündsitbargens Gedeihen um den Kaßberg herum vor; er wollte hier nach dem Süden einen zweiten Bahnhof hinhaben, um den Reisenden den Weg über die Stuwaa zu ersparen. War in solchem Vorhaben eine Spur von Sohnespietät zu entdecken? Beileibe nicht!

Selten ließ sich der alte Oldekopp bei dem Paar blicken. Groa trat ihm nicht näher und schloß keine Freundschaft mit ihres Mannes Stiefmutter, der die junge Frau etwas unangenehm Strenges, ja Hochmütiges hatte und die nun von hinten herum auf Jürgen einzuwirken suchte, er solle dem Vater nicht allzusehr zuwider sein. Dessen ewige Quengelei sei für sie nicht mehr auszuhalten. Aber Jürgen ging über ihre Nöte hinweg und tat, was ihm sein Gewissen befahl. Und sein Gewissen hieß Groa. Sie war es, die ihm den Mut einflößte, auch einmal in Zwist mit Menschen zu geraten, und ihm die väterliche Gunst entbehrlich machte. Sie beherrschte ihren Mann, obgleich sie ihn gar nicht beherrschen wollte, rein durch die Überlegenheit ihrer einfachen Natur, für die keinerlei Umwege vorhanden waren, sondern die furchtlos auf das zuschritt, was sie für Recht erkannt hatte. Es freute sie, Jürgens Künstlertum zu fördern. Sie fand da eine Kraft in sich, die wohl schon immer in ihr geruht hatte und nur in ihrer ersten Ehe nicht aufgeweckt worden war. Phantasie besaß sie nicht, und vom Selbstschaffen war sie weit entfernt, allein ihr kluges Loben und Tadeln war ein Anregen, beinahe ein Mitschaffen.

Groa wäre mit diesem Leben zufrieden gewesen, hätte ihr nicht die Sorge um die Schwester den Himmel etwas getrübt. Fräulein Jessen war in einem Konzert aufgetreten, und die Kritik bestätigte ihr, daß ihr am Äußeren nichts mangle; um so mehr Fehler habe ihr Gesang. Ili verzagte nicht, sondern schob die Schuld an den schlechten Besprechungen auf Ränke jenes Professors, dem sie aus der Lehre gelaufen war. Übrigens: was kehrte sie sich an Kritiken? Hatten die Zuhörer nicht immer und immer wieder die Hände zu rauschendem Beifall erhoben? War sie nicht mit Blumen überschüttet worden? Sie erreichte es, daß sie an der Oper einer kleinen Hofbühne eine Gastrolle geben durfte. Der abermalige Mißerfolg beugte ihr schon die Zuversicht – aber war es ein Wunder, daß sie nicht gleich auf der Bühne zu Hause sein konnte? Wenn sie an die mißlichen Umstände dachte, die sich gerade bei der Vorstellung zusammengefunden hatten! Und die Zeitungsmenschen lebten vom Hämischsein. Eine Künstlerin mußte eben kämpfen. »Durch Nacht zum Licht!« wie das herrliche Wort hieß, das sie sich als Leitspruch erwählt hatte. Ingerlild raffte sich von neuem auf und veranstaltete – kühn muß man sein, wenn man mit einem Schlage siegen will, – in der Hauptstadt ein Konzert für sich allein. Das kostete ihrem Vater, der dazu mit der Mutter hinübergereist kam, eine Unmenge Geldes und brachte ihr das Zeugnis ein, daß ihre Stimme verpfuscht und wahrscheinlich auch ihr musikalisches Empfinden nicht ausreichend sei. Da brach das Mädchen zusammen und lag jetzt tränt in Gündsitbargen.

Groa saß bei ihrer Schwester: »Ja, Kind, wer sich in die Öffentlichkeit stellt, muß sich gefallen lassen, scharf hergenommen zu werden. Besinne dich, Ili! Ist nicht etwas Richtiges an dem Tadel? Bist du nicht in der verkehrten Schule gewesen? Hättest du nicht bei dem Professor ausharren sollen, wenn er dich auch nicht schnell vorwärtsbrachte? Willst du nicht wieder zu ihm gehen und von vorn anfangen?«

»Nein!« antwortete Ingerlild heftig. »Ich will nichts mehr von Gesang wissen. Ich habe nicht das Recht dazu. Ich bin nur eine Dilettantin! Aber« – und sie beugte den Kopf, der von ihren üppigen Haaren umflossen wurde, in die Kissen zurück – »das hat man davon, wenn man sich für andere opfert.«

»Opfert?«

»Ja. Weswegen bin ich hier weggegangen?«

»Um Künstlerin zu werden.«

»Ach, das denkt ihr oberflächlichen Menschen, aber ihr täuscht euch sehr. Soll ich es dir sagen? Ich bin euch aus dem Wege gegangen.«

»Wem?«

»Dir und Jürgen.«

»Warum?«

»Weil ich sah, wie es um euch stand.«

Groa blickte ihre Schwester prüfend an: »Ili, sagst du die Wahrheit? Hast du wirklich bemerkt, daß Jürgen damals schon an mich dachte? Dann hast du mehr gewußt als ich.«

Ingerlild wurde unter den Augen der Schwester unruhig. »Doch, es ist so«, erwiderte sie mit jener Hartnäckigkeit, womit man gern etwas verteidigt, was einen selbst nicht wahrscheinlich dünkt. »Mir hat alles geahnt, und da wollte ich kein Hindernis für euer Glück sein.«

Groa schüttelte den Kopf. »Ich glaube dir nicht«, sagte sie und verließ ihre Schwester verstimmt und angewidert. Sie kannte Ingerlilds Sucht, die Ursache für alles ihr begegnende Ungemach auf andere zu wälzen. Sie war immer die bejammernswert unschuldig Leidende, ihr guter Wille wurde immer übel belohnt. Zu Jürgen sprach Groa über Ingerlilds vorgebliches Opfer nicht; dieser hatte nicht viel Mitgefühl mit der durchgefallenen Sängerin. Wenn sie nichts konnte, mußte sie davonbleiben. Ihr tägliches Brot brauchte sie sich ja nicht mit Gesang zu verdienen.

Dem Stadtrat war es lieb, daß seine Jüngste nichts mehr mit der Kunst zu tun haben wollte. Die abfälligen Besprechungen hatten ihm weh getan; er schämte sich eine Zeitlang, auf der Straße gesehen zu werden, denn er sah auf jedem Gesicht Schadenfreude. Nach seinem Gefühl lasen die Leute nichts anderes als das schändliche Zeug, das über seine Tochter geschrieben worden war. Langsam erholte sich Ingerlild, und es war nichts natürlicher, als daß sie nun das Gegenteil von dem ersehnte, was ihr ehedem als höchstes vorgeschwebt hatte. Im engen Kreise leben, ein geliebtes Weib werden – wie köstlich mußte das sein! Sie war über das Alter hinaus, wo sie sich mit vollem Recht ein junges Mädchen nennen durfte; aber ihr Spiegel verkündete ihr, daß ihre Schönheit durch den Schmerz erhöht worden sei. Es lag, so fand sie, eine Abgeklärtheit in ihren Zügen, etwas Neues, Reizvolles. Ihr Referendar hatte die Assessorprüfung bestanden und sich fern von Gündsitbargen als Rechtsanwalt niedergelassen, und das Jungvolk, das hier auf den Bällen herumhüpfte, kam für Ingerlild nicht in Betracht. Sie wandte sich reiferen Männern zu und ließ sich besonders vom Kommerzienrat Kedewohr den Hof machen, der ja früher Groa mit Aufmerksamkeiten beehrt hatte. Ihm, der trotz seinem Reichtum ein einsames, unfreundliches, auch mit Gebresten behaftetes Leben führte, eine entsagende, treue Frau zu werden, – das schien ihr rührend.

Als Jessen dahinter kam, daß sein Töchterlein eine Verbindung mit dem Besitzer der blühenden Gündsitbargener Ofenfabrik wohl nicht ablehnen würde, setzte er alle Hebel in Bewegung, um aus dem alten Freunde und Zechgenossen seinen Schwiegersohn zu machen. Schon redete man von Ingerlild Jessens Verlobung, da wurde das Mädchen doch plötzlich andern Sinnes, denn auf einmal flößte ihr dieser beinah greise Mann, dessen Lippen als dicke Wulste lüstern aus einem immer unsauber erscheinenden, grüngelben Bart hervorsahen, Schauder ein. – »Nie!« sagte sie. – Alles Zureden ihres Vaters, alles Drängen des unversehens Verschmähten half nichts. Ingerlild wollte eher in die Stuwaa gehen, als Frau Kedewohr werden. Dem Stadtrat war dieser Bruch peinlich, denn Kedewohr begriff nicht, daß ein Vater nicht die Macht besitzen sollte, eine störrische Tochter zum Gehorsam zu zwingen. Jessen hingegen, so böse er auf Ingerlild war, verteidigte ihre Menschenrechte und äußerte sich dahin, daß er es nie übers Herz bringen werde, sein Kind an den Haaren zum Altar zu schleifen. Aus der langjährigen Freundschaft zwischen dem Kommerzienrat und ihm wurde Feindschaft, und Jessen mußte erproben, daß es nicht ungefährlich war, einen Kedewohr gegen sich zu haben. Seine sonst immer sichere Wiederwahl zum Vorsitzenden der »Harmonie« wäre diesmal fast mißglückt, und als er für sein Geschäft einen größeren Betrag brauchte, stieß er beim Nachsuchen des Leihglaubens auf einen Widerstand, den er nicht für möglich gehalten hätte. Er beseitigte zwar das Mißtrauen, aber einerlei: seine Ehre war gekränkt, und er fand heraus, daß Kedewohr über ihn hatte Worte fallen lassen, die geeignet waren, sein Ansehen zu schädigen. Ingerlild wurde dafür unwirsch behandelt. Sie ertrug es trotzig und ließ sich von ihrer Mutter desto mehr verwöhnen.

Nun konnte sie es aber, nachdem ihre Heiratsabsichten vorläufig wieder in den Hintergrund geschoben worden waren, nicht lange aushalten, ohne sich zu beschäftigen, und so ging sie zur Malerei über, wofür sie auch von Jugend an Sinn und Talent besaß. Ihr gefälliger Lehrer schob ihr gleich das Farbenbrett über den Daumen, und sie durfte die Leinwand beliebig groß wählen. Ein Unterricht nach Ingerlilds Geschmack! Man sah sie in den Anlagen oder vor alten Gebäuden oder auf dem Entenfleck, jener überbuschten Insel in der Stuwaa. Da stand sie vor der Staffelei und hatte es gern, wenn sich ein Kreis bewundernder Zuschauer um sie bildete. Auch von dem Hause, wo Jürgen und Groa wohnten, fertigte sie ein Bild. Das war ihr eine wehmütige Herzenssache. Sie wollte durch ihre Kunst die Stätte verewigen, worauf das von ihr gestiftete Glück waltete. Denn Ingerlild war jetzt schon fest von dem überzeugt, was sie erst ihrer Schwester nur gesagt hatte, um die Schuld an ihrem mißglückten Ausflug ins Land des Gesanges von sich abzuwenden: dadurch daß sie in die Ferne zog, waren Jürgen und Groa zusammengekommen. Wie leicht wäre es für sie gewesen, den Jugendfreund zu fesseln, wenn sie gewollt hätte! Aber ihr Ahnungsvermögen hatte es ihr verraten: Jürgen fühlte auch etwas für Groa, und eine Ingerlild war nicht danach geschaffen, einen Menschen halb zu besitzen. Darum war sie ins Elend gegangen – ach ja! Darum hatten die beiden einander finden dürfen, darum waren sie glücklich geworden.

Ganz unrecht hatte Schön-Ingerlild nicht mit diesem Glauben, den sie sich künstlich zurechtlegte. Aber sie mischte Wahres und Falsches durcheinander. Gewiß hatte sie durch das Verlassen ihrer Vaterstadt ihrem Jugendfreunde freie Bahn zu ihrer Schwester gegeben, nur war es ihr damals nicht im Traum eingefallen, sich für ihn oder für Groa aufzuopfern, auch hatte sie keiner großen Liebe entsagt, sondern war einfach fortgereist, weil sie sich ärgerte, daß der, aus den sie es absah, nicht rasch genug Miene machte, sich an ihre Tändelschürze zu hängen.

*

Eine ganze Weile verharrte der Stadtbaumeister in der unbedingten Anbetung vor seiner Frau. Die überhaupt zu unabhängigem Schalten und Walten neigende Groa hatte in ihrer ersten Ehe, da ihr Mann lange Auslandsfahrten machen mußte, beinah schon immer selbst über sich bestimmt; insofern war durch ihre Witwenschaft kaum etwas verändert worden, und auch ihre zweite Heirat wandelte daran weiter nichts um; Jürgen schwelgte im Erfüllen ihrer Wünsche, und für sie verstand es sich von selbst, daß ihr Wille etwas galt. Doch das war der Unterschied: früher brauchte sie nur ihr eigenes Tun und Lassen zu verantworten, jetzt zog Jürgen sie auch noch in die Verantwortlichkeit für seine Taten hinein. Das bedrückte die junge Frau, es schien ihr eines Mannes nicht würdig, das Entscheiden von sich auf andere zu legen. Freilich geschah es aus Liebe; Leidenschaft dient auch leidenschaftlich gern, und der Befehl einer auf das Innigste verehrten Frau ist eine Gunst und eine Gnade für den Mann. Groa hatte als echtes Weib Freude am Gewähren, gleichwohl mochte sie Jürgen nicht immer vor ihr knien sehen, sondern es wäre ihr oft lieber gewesen, wenn er aufrecht stand, und da versagte ihr Mann.

Er hütete sein Glück eifersüchtig. Soviel er konnte, schloß er sein Haus von der Außenwelt ab, und weil Groa selbst nicht für Geselliges war, konnte er aus seinen vier Wänden einen Tempel machen, dessen nur für ihn betretbares Allerheiligstes Groas Gemächer darstellten. Ihm, der im Verkehr mit den Menschen, in seinem Amt noch etwas andres in sich aufnahm, genügte die Einsamkeit zu Zweien vollständig, Groa aber wurde aus die Dauer von seiner Anbetung nicht ganz satt. Die Rolle als Götterbildnis kam ihr allmählich eintönig vor. Herrschaft ohne jeden Widerspruch wird langweilig. Daheim hielt sie sich mit Vorliebe, doch innerhalb ihres Hauses mochte sie nicht immer in den feierlichen Kleidern einherschreiten, worein Jürgen sie hüllte, um sich daran zu entzücken. Der große Faltenwurf deuchte ihr mehr für eine Theaterheldin passend als für sie, die trotz ihres warmen, auch wohl einmal heiß durch die Adern rinnenden Blutes eine so praktische, oft nüchtern denkende Frau war. Deshalb tat sie Alltagskleider an, wirtschaftete gehörig und war ihrer Dienerschaft ein Vorbild. Das erfrischte sie, und Jürgen, weit entfernt, darüber unwillig zu werden, war so geschmeidig, daß er in jede Richtung, die Groa einschlug, sofort mit ihr ging; ihre Sehnsucht aber, auch einmal die Geführte zu werden, befriedigte er nicht. Sie erkannte, daß der erste Rausch des Zusammenseins ihnen kein rückhaltloses Einswerden gebracht hatte. Wie sollte das nachgeholt werden? Ihre Überlegenheit, die er so liebte und wonach er schmachtete, war das Hindernis dafür, daß sich ihr Wesen in seinem auslöste, und er forderte ihr Verquicken mit ihm durchaus nicht. Sie sollte auf ihrem Throne bleiben, und er war glücklich, wenn sie auch ernst blickte. Das Weib in Groa aber wollte sich dann und wann gebeugt wissen. Die von Jürgen mit Wonne angeschauten Herrinnenzüge wurden starr. Bisweilen meinte sie schon, sie trüge ihrem Manne zu Gefallen eine Maske, aber das war nicht der Fall. Sie zeigte nur ihr wahres Antlitz mit dem von ihm begehrten etwas scharfen Ausdruck und wäre gern genötigt worden, ein wenig Untertänigkeit daraus blicken zu lassen. Doch das litt Jürgen nicht und versäumte also im Grunde seiner Ehe etwas. Er machte Groa nicht zu seinem Eigentum, wie es jede liebende Frau für ihren Mann werden will, sondern ließ es sein Bewenden dabei haben, das zu nehmen, was sie ihm schenkte. Aus natürlicher Schamhaftigkeit gab Groa weniger, als sie ihm hätte gönnen mögen. Das fühlte Jürgen, der aus sich selbst heraus die leisen Zuckungen der Weibesseele verstand, allein er rechnete es sich noch zum Ruhme an, daß er eine völlige Hingabe abwehrte, er wollte gar nicht alles von seiner Frau besitzen; das war freilich keine Großmut, auch keine Bescheidenheit, sondern Furcht vor dem eigenen Müdewerden, wenn er sein Weib erst ganz kennen würde. Es war sein schmerzlicher Genuß, diesseits des Tores zu bleiben, das ihm offen stand.

Groas Wunsch, die rechte Kameradin ihres Mannes zu werden, war fruchtlos. Da tat diese Frau, was jede andere tüchtige Frau auch getan hätte und wozu sie von Jürgen gedrängt wurde: sie ergriff in ihrer Ehe die Zügel. Das entsprach ihrer Natur und fiel ihr daher nicht so schwer, wie es ihr auf die Länge der Zeit doch gefallen wäre, wenn sie sich unter ihrem Manne hätte beugen sollen. Jürgen folgte ihr oder eilte ihr auch einmal voraus. Es war mit den beiden, als wenn man den Planeten und seinen Mond betrachtet. Der große Stern rollt ruhig seine Bahn, der kleine aber umspielt ihn, legt keine größere Strecke zurück als sein Führer, hat indessen in seiner Doppelbewegung einen viel weiteren Weg zu machen, und dabei wird er nie sein eigen. – Alles Halbe und je nach der Stimmung Wechselnde verdroß Groa, und daher schlug sie allmählich gegen Jürgen einen Ton an, der sich nach Erziehen anhörte. Das empfand er als Schroffheit und beklagte sich darüber, denn er war wohl der gehorsame Priester seiner Frau, nur sollte die Göttin allemal gütig und herzenslieb sein, sonst war der Priester verletzt und dämpfte sein Weihrauchfäßlein, daß es nicht mehr so dichte und süße Wolken zu dem Bildnis emporsandte. Bei all seiner freiwilligen Leibeigenschaft wollte er sich einbilden, er brauche nur zuzugreifen, um die ganze Seele seines Weibes zu haben, und im Besitze alles Äußeren, das Groa zu bieten hatte, mochte er überhaupt nicht gestört werden. In der Fron seiner eigenen Sinne rastete er nicht, bis er auch in seinem Weibe eine Sinnesfreude erweckt hatte, die ihrem eigentlichen Fühlen nicht nur fremd war, sondern es sogar abstieß. All sein Anbeten hatte zuletzt den Zweck, sich Groas Menschlichstes gefällig zu machen, und da auch das reinste und edelste Geschöpf von Fleisch und Blut ist, gewann er bisweilen den Sieg über sie; die Herrin ergab sich dem in sie hinübergepflanzten Triebe des Mannes, ward für Augenblicke zur Magd, um – ein wunderliches Hin und Her! – nun erst recht als die unbeschreiblich Gnadenvolle umhuldigt zu werden. Nur das war und blieb verschieden zwischen Jürgen und Groa: er kannte nichts Befriedigenderes, als seine Triebhaftigkeit und seine Kunst, die gleichen schwülschwelenden Flammen in der Frau zu entfachen; sie indessen blickte, wenn sie sich einmal von den Wallungen hatte unterjochen lassen, auf eine solche Stunde nicht ohne Scham als auf eine Stunde der Schwäche zurück. So hatte er seine Frau für ihr Gefühl nicht erhöht, sondern herabgezogen – zu ihm selber. Ein Weib wie Groa wurde durch das, was Jürgen in sie hineingoß, nicht bereichert. Er glaubte sich im dunkelroten Strom der Selbstentrücktheit zum höchsten Leben gesteigert; ihr bangte davor, dieser Strom könne ihr das Feinste entreißen. Sie legte dem vor ihr Knienden eines Tages die Hand aufs Haupt und meinte: »Ich weiß nicht, Jürgen, ich muß oft denken, daß du etwas Besseres von mir haben könntest, als du dir nimmst und als dir schließlich auch eine andere geben würde. Wenigstens hat das, was du von mir verlangst, mit meinem Innersten nichts zu tun, und ich wünschte immer, dir etwas Besonderes sein zu dürfen. Ich habe es, Jürgen, es ist für dich da, aber du rührst lange nicht genug daran.« Jürgen schwor ihr, sie irre sich, er koste im Genüsse dieser Feierstunden ihren ganzen Wert aus; aber sie blieb wehmütig. Ihr lag nicht viel daran, durch die Sinne zu herrschen, denn sie wollte einen Mann und keinen Sklaven. Sie wurde zurückhaltender. Dadurch gelangte der Planet in einen Raum, wo der liebe Mond nicht mehr mit so begeisterten Sprüngen um sie herumtanzte.

Es kam zwischen Jürgen und Groa weiter zu kleinen Auseinandersetzungen. Die bargen noch nicht das geringste Unfreundliche in sich, allein wenn Jürgen nachgab, was meist geschah, so schien es ihm, er tue das nicht, weil er Groas bessere Einsicht anerkannte, auch nicht mehr, um ihr zu dienen, sondern bereits, damit der Frieden im Hause ungestört blieb und weil sie nun einmal die Mächtigere war. Fast wollte er ihr schon vorwerfen, sie habe sich diese Macht angemaßt, und hatte sie ihr doch auf erhobenen Händen hingehalten. Er wurde ungerecht, hin und wieder unmutig gegen seine Frau, obgleich sie nur tat, was er von ihr wollte; und Groa handelte vielleicht nicht klug: sie nahm seine Nachgiebigkeit für eine Tatsache und verstand nicht das Phantastische in ihm; sie sollte ihr Herrinnentum nur in einer gewissen Unwirklichkeit gebrauchen. Da waren Jürgen und Groa ein wenig voneinander getrennt. Dessen wurde sich die Frau noch nicht bewußt, während Jürgen der Feinerspürende war. Die Einsamkeit mit Groa genügte ihm nicht mehr, und er fing an, sein Haus für andere Menschen zu öffnen. Auch quälte es ihn jetzt, daß er mit seinem Vater verfallen war.

Da der Buchhändler nicht blühend aussah und sich bei ihm trotz seinen noch nicht fünfundfünfzig Jahren Altersbeschwerden einstellten, hatte Jürgen Angst, sein Vater könne sterben, während sie beide schlecht zueinander standen. Das ertrug seine Sohnesliebe nicht, und er suchte, wieder an seinen Vater heranzukommen. Eine Aussprache war nicht zu erreichen, das wußte Jürgen; der Alte war zu verbissen und verkniffen, als daß er sich ins Erörtern über etwas einließ, was er für unrecht und pietätlos erklärt hatte. Wie sein Vater gern Umwege machte, um an seine Ziele zu gelangen, so sann auch Jürgen darauf, sich ihm auf diese krumme Weise zu nähern, und er saß öfters bei seiner Stiefmutter, die er über seiner Frau zunächst auch recht vernachlässigt hatte.

Oben in seiner Stube war es gemütlich. Frau Oldekopp, die stets rundlicher wurde, je länger sie das entbehrte, was ein Frauengemüt an Liebe haben muß, gab sich dem verbotenen Rauchen hin, und Jürgen tat es wohl, sich dann und wann nicht unter Groas Zucht zu befinden und mit Mama Hannchen alles, was ihm einfiel, breit bereden zu können. Groa liebte die Kürze und Straffheit, widerlegte ihn auch oft, – seine Stiefmutter dagegen prüfte seine Worte nicht, sondern gab ihm anstandslos recht; bei ihr durfte er andeuten, umschreiben, brauchte zu keinem rechten Ergebnis im Hin- und Herwägen zu kommen, was alles Groa sachte zu rügen pflegte.

Also war der Verkehr mit Mama Hannchen im ganzen bequem; einmal erlebte er es freilich doch, daß auch sie keine Rose ohne Dornen sei. Sie hatte es sich aus allgemeiner Friedensliebe und um die ewige Rederei ihres Mannes stillzukriegen, in den Kopf gesetzt, daß sie Jürgen mit seinem Vater versöhnen wollte. Der Stiefsohn war in der Hinsicht viel zu bedenklich, da mußte sie ihn mit einem kräftigen Mittel willfähriger machen. Sie zauderte nicht, es anzuwenden.

»Könntest du denn deinem Vater nicht den Gefallen tun?« fragte sie. »Laß doch am Bahnhof auch Häuser hinkommen. Da stehen sie ebenso nett wie am Kaßberg. Warum bist du bloß so dafür, daß all das Neue endlos weit vom Markt weg liegen soll?«

Jürgen verzichtete darauf, ihr von der Schönheit des Gündsitbargener Stadtbildes zu sprechen und die künstlerische Notwendigkeit zu schildern, woraus er seinen Plan geschaffen hatte, sondern bemerkte nur: »Es ist beschlossene Sache, daß das südliche Gelände aufgelassen werden soll.«

»Kann es ja gern, das stört deinen Vater an sich nicht. Du sollst nur dafür sorgen, daß er sein Land nicht vergebens gekauft hat. Denk' dir einfach was aus, damit es beim Bahnhof ebenso wird wie in eurer Gegend. Dann ist dein Vater zufrieden und verdient sein Geld, das du doch alles erbst. Ach, er weiß genau, wer dahintersteckt, daß du ihm zuwider bist. Und ich weiß es auch.«

»Wer denn? Bitte!«

»Ganz einfach: deine Frau. Das ist es, was deinen Vater so aufbringt. Er sagt, du stehst furchtbar unter dem Pantoffel und mußt alles tun, was Groa will, und das meinen hier noch andere Leute, verlaß dich drauf.«

»Aus welchem Grunde?«

Mama Hannchen lachte: »Liebe Zeit! Das merkt man ja an deinem ganzen Benehmen ihr gegenüber. Man braucht euch nur beisammen zu sehen, um Bescheid zu wissen, wie es bei euch steht.«

»Nun, ich versichere dir: um meine Amtsgeschichten kümmert sich meine Frau nicht im mindesten, und zu glauben, daß sie mich gegen meinen Vater aufhetzt, ist gemein!«

»Hetzen! Wer spricht davon? Kein Mensch! Und ich für meine Person glaube dir natürlich alles, bester Junge, aber die Ansicht hier ist es nun mal, daß Frau Groa die Hosen anhat.«

Verärgert ging Jürgen durch das Fabrikviertel an der öden Gasanstalt vorüber und bis zu dem Ladeplatz an der Stuwaa. Da nahm er ein Boot, ruderte der trägen Strömung entgegen unter der Eisenbahnbrücke hindurch und landete auf dem Entenfleck. Er stieg aus und streifte im Gestrüpp herum. Bei einer weidenumstellten Lichtung nahe der Südspitze des Eilands war eine Bank angebracht, von der aus man die Flußufer überschauen konnte. Dort ließ er sich nieder und überlegte. Er stand also bei seinem Vater und andern Menschen in dem Ruf, ein Pantoffelheld zu sein? Schauerlich, wie die Außenwelt alles Zarte vergröberte und verhäßlichte, bis es für ihre plumpen Sinne paßte! Er wollte seine Ehe so führen, daß seine eigenen, oft noch unfertigen Absichten in Groas Gedanken die Edelreife bekamen wie die Frucht an der Sonne. Er der Schaffende, sie die Vollenderin: das war die höchste Einheit, die Menschen miteinander bilden konnten. Solch ein Verhältnis, das er mit aller Poesie des Minnedienstes umwob, war für die Gündsitbargener lächerlich? Das wurmte ihn. Wie sollte er diesen niedrigen Geistern klarmachen, daß sie falsch sahen? Das Heiligtum seines Hauses konnte er den Platten unmöglich öffnen, die hätten davorgestanden wie die Kuh vor dem neuen Tor. Es blieb ihm nur der Schutz vornehmer Seelen übrig: die Welt zu verachten und in seinem Tun fortzufahren, wie er begonnen hatte. Aber wie? Er war mit der Bürgerschaft verflochten; sein Künstlertum trat für die wenigsten als das Wichtige zutage; er war zunächst einer der Herren auf dem Rathause, die sich das Urteil der Steuerzahler gefallen lassen mußten und für ihr Gehalt so zu sein hatten, wie es dem biederen Bürger richtig vorkam. Peinlich, als Gegängelter betrachtet zu werden. Um da herauszukommen, fand er nur einen, ihm ja überdies schon heimlich erwünschten Weg; sich seinen Vater zum Freunde machen. Dessen Wort hatte Gewicht, und wenn er seinem Sohne das Zeugnis eignen Willens und persönlicher Freiheit ausstellte, so hörte man darauf, denn man kannte den Buchhändler zu genau, um nicht zu wissen, daß ihm jede blinde Vaterliebe fehlte. Also beschloß der Stadtbaumeister, indem er sein Boot wieder losmachte und die Stuwaa hinabtrieb, daß sich seine Vaterstadt auch gen Norden ausdehnen sollte. Schließlich hatte er sich wohl in seinen Plan verbohrt gehabt und war einseitig geworden. Es mochte gar nicht vorteilhaft sein, zu weit nach Süden hinüberzugreifen, zumal da am Ende der zweite Bahnhof nicht bewilligt wurde.

Groa, der er von dem Umschwung seiner Absichten erzählte, ohne seinen Vater zu erwähnen, wußte ja nicht, wie alles zusammenhing und hörte ihm ziemlich teilnahmlos zu. Es fiel ihr nur auf, daß seine Stimme ein wenig gepreßt klang. Vielleicht war man ihm auf dem Rathause in die Quere gekommen. Sie fragte nichts Gut, wenn ihr Mann einmal etwas für sich behielt und sie nicht zwang, alles mit ihm zu durchdenken. Sie war ihm dafür dankbar.

*

Weite Bürgerkreise hatten daran gearbeitet, Gündsitbargen solle für die Heimatkunde und auch für die bildende Kunst, die unter den Fabrikanten manche Förderer besaß, eine Unterkunftstätte errichten. Dies Bestreben wurde lebhafter, und man kann dem jungen Stadtbaumeister Oldekopp nicht vorwerfen, er habe gegen Pflicht und Gewissen gehandelt, als er dafür sprach, daß das Museum nicht, wie man ursprünglich beabsichtigte, am Fuße des Kaßbergs, sondern in dem leeren Teil nördlich der Eisenbahn entstehen möge. Er schilderte, wie schön der Bau inmitten eines Parkes liegen würde; fremde Besucher werde die leicht zu erreichende Sammlung anziehen, und außerdem würde sich um dies Haus herum die Gegend bis. zu den Hügeln bevölkern, was die Fortschritte, die Gündsitbargen im Süden machen wolle, nicht hemme. Man merkte, daß der Stadtbaumeister seine frühere Meinung geändert hatte, freute sich aber der neuen Pläne. Der junge Oldekopp brachte es noch fertig, daß das Gemeinwesen eine richtige Großstadt wurde. Insonderheit waren die Besitzer der nördlichen Ländereien mit Jürgen einverstanden, denn es trat nun das ein, worauf sie gerechnet hatten: die Bautätigkeit, die bald auf ihrem Eigentum beginnen mußte, erhöhte den Wert des Geländes; und sie bekamen den ja so sauer verdienten Lohn dafür, daß sie ihr Geld geduldig in dem Boden dort hatten steckenlassen.

Unbeliebt war Jürgen niemals gewesen, jetzt aber legte man ihm schon den Ehrennamen: unser Stadtbaumeister bei. Vor allen lobte der Vater seinen verständigen Sinn. Der alte Oldekopp war die Rechtschaffenheit selbst. Wenn er sein Vermögen reichlicher zu verzinsen suchte, als es ihm sein Geschäft erlaubte, so geschah das immer auf eine Weise, die er vor der Welt vertreten konnte, er hatte aber die Schrulle, derlei heimlich zu betreiben. Die Äcker, die er da, hinter Mittelspersonen stehend, sein eigen nannte, hatten ihm gleichsam schwer auf der Seele gelegen. Denn der Grundstückshandel war ihm fremd, und er hörte, daß man dabei von geriebenen Leuten schauderhaft übers Ohr gehauen würde. So wäre er das Erworbene gern schnell wieder losgewesen, konnte es nur nicht über sich gewinnen, die Liegenschaften ohne Vorteil zu verkaufen. Als man nun nach seines Sohnes Vorschlag jene Gegend austeilte, fand der geheime Landbesitzer rasch den erwünschten Abnehmer. Heilfroh, sein schönes Geld in der Tasche zu haben, zog er sich von dieser Sorte von Geschäften zurück. Ihm war immer gewesen, als könnten ihm die so frei und ungeschützt daliegenden Felder eines Nachts davongeschleppt werden. Jürgen wollte es bei dem Ruhme, womit ihn sein Vater bedachte, nicht recht wohl werden, obgleich er sich keines Unrechts zu bezichtigen vermochte. Seine Mitbürger stimmten fast alle mit ihm überein, und die Stadt wurde durchaus nicht geschädigt; was ging es ihn also an, wem das Land gehörte und wer es als Mittel betrachtete, sich zu bereichern? Im Süden wurden genau solche Handelspläne gemacht. So oft er sich das aber auch vorhielt, er kam nicht davon los: Groa würde seine Sinneswandlung nicht ganz billigen. Ihr war es unbekannt, daß ihr Schwiegervater auf jener Stelle Land besessen hatte, denn der Buchhändler hatte Frau und Sohn das strengste Stillschweigen darüber auf die Seele gebunden. Nun wunderte sie sich, wie aufgeräumt der Alte plötzlich wurde. Er besuchte sie, sprach von »seinen Kindern«, brachte ihr dann und wann ein Buch mit und setzte überhaupt ein anderes Gesicht auf.

Als Jürgen, um aus dem Gewissenszwiespalt herauszugelangen, seine Frau zuletzt über den Grund dieser Freundlichkeit aufklärte, sprach sie ihm durch eine leichte Kopfbewegung das gefürchtete Urteil. Die Rücksicht auf den Vater hätte ihn in seinem Tun nicht bestimmen dürfen.

Mama Hannchen dagegen war natürlich äußerst zufrieden mit ihm, und er weilte jetzt noch lieber bei ihr als früher, allein, es ging ihm mit den Stunden auf seiner Stube nicht anders, als wenn jemand im Wirtshaus dämmerndes Behagen aus dem Glase geschöpft hat. Tritt er in den Tag hinaus, unter die arbeitenden, dem wirklichen Leben ins Auge blickenden Menschen, dann erfüllt ihn Scham, weil er sich hat einlullen und erschlaffen lassen. Die Dämmerung seiner Seele dünkt ihn im Lichte eine Lüge. Kehrte Jürgen daher von der Stiefmutter zu seiner Frau zurück, so mußte er stets erst einen Aufschwung nehmen, um aus Mama Hannchens lauwarmer Atmosphäre in die klare, aber auch etwas kalte Luft Groas zu gelangen. Er tat das gern, denn er gehörte ja einzig und allein in diese Groaluft hinein, doch mit Mühe war es allemal verbunden, und die hinterläßt, wie freudig man sich ihr unterzieht, eine Unlust.

Jürgen vergaß manchmal, daß Groa von ihm nichts weiter erwartete, als was er ihr in der Zeit seines Werbens und am Anfang ihrer Ehe geboten hatte. Er war ja doch der Mann, der seine Triebe zwar nicht immer zu bändigen wußte, dem aber an Gefühlen und Gedanken das Edelste und Beste eben gut genug erschien, um es in sich zu hegen; wie hätte sie denn vermuten sollen, es sei für ihn eine Anstrengung, mit ihr auf einer Höhe zu bleiben, unter der sie nun einmal nichts sah?

Mama Hannchen vermied es meist, Groa vor Jürgen zu erwähnen; kam die Rede dennoch auf diese, so waren Jürgens Worte voller Liebe zu seiner Frau und voll des Dankes, ja voll der Bewunderung. Die Stiefmutter widersprach ihm nicht, sondern sah nur ernst drein, um anzudeuten: unzweifelhaft war Groa eine ausgezeichnete, hochgebildete Frau, aber leicht war das Los, ihr Ehemann zu sein, am Ende nicht. Jürgen las im Angesicht seiner Stiefmutter und setzte einen kleinen Seufzer an den Schluß der Lobrede. Wirklich! Es war nicht einfach, immer in groahafter Feiersamkeit einherzuwandeln! –

Wie Mama Hannchen, so dachten alle; man achtete die Frau Stadtbaumeister, liebte sie aber nicht. Dazu war sie zu kühl, ihr Stolz galt als Hochmut. Das Urteil der Welt traf nicht völlig vorbei. Groa betrachtete sich stark als das Maß der Dinge und hatte darum trotz all ihrer Güte ein gut Teil Selbstgerechtigkeit in sich. Ihr fehlte jenes Verständnis für das Minderwertige, das den Menschen liebenswürdig macht. Was sie nicht brauchte, das hatten ihrer Meinung nach auch andere nicht nötig. Jürgen stand zwischen ihr und denen da draußen, wollte beiden Teilen gerecht werden, und gehörte daher im Grunde zu keinem von beiden.

*

Als Jürgen Oldekopp so aus dem Höhenrausch seiner Leidenschaft für Groa wieder ins Dasein trat und mit Leuten umging, die ihm im Vergleich zu seiner Frau gering waren, die er aber nicht entbehren konnte, da beachtete er auch Schön-Ingerlild wieder mehr. Ihre Lust, vor der Leinwand zu sitzen, war erlahmt. Auch in der Malerei mußte man sich quälen, um es zu etwas zu bringen. Wenn Freunde, die sie mit Bildern beschenkte, sie für genial erklärten, wenn sie ein Gemälde im Schaufenster der Oldekoppschen Buchhandlung ausstellte, und die Zeitungen nahmen davon Kenntnis, so lebte ihre Freude am Malen etwas auf, im ganzen aber hatte man nicht mehr den Genuß, Fräulein Jessen am Stuwaaufer oder vor den Häusern der Innenstadt wirken zu sehen. Ihr Farbenbrett trocknete ein. Da war Ilis Herz abermals öde und leer, und die bösen Nerven plagten ihr Leib und Seele. Was half es, daß die Mutter sich für sie aufrieb, daß der Vater sie reich beschenkte und Reisen mit ihr machte und daß sie noch immer als die Schönste angesehen wurde, wo sie sich blicken ließ? Das war alles was Altes, und sie lechzte nach Abwechselndem und Befriedigendem! Daß ihre Versicherung, sie habe Groa und dem Jugendfreunde das größte Opfer ihres Lebens gebracht, keinen Eindruck bei der Schwester hinterlassen hatte, merkte sie leicht; die durchdringenden Augen der Sitten- und Splitterrichterin, wie sie Groa bezeichnete, störten sie überhaupt, und so ging sie ihr aus dem Wege und suchte sich hübschere Gesellschaft. Mama Hannchen, – das war so eine Frau nach Ilis Geschmack! Bei der konnte sie das tun, was sie unter dem Sichaussprechen verstand und was ein ewiges Durchkosten ihrer Schmerzen war. Vor Mama Hannchen brauchte sie keine Geheimnisse zu haben; der konnte sie erzählen, wie hochherzig sie für Groa gehandelt hatte, und durfte gewiß sein, Bewunderung und Mitleid, diese richtige Balsammischung für ein wundes Iliherz, in Hülle und Fülle zu erhalten. Sie durfte sich auch rückhaltlos über Groa äußern, und es sprühte der Haß einer kleinen Seele wider alles Ruhige und Gefestigte aus ihren Worten. Dreimal täglich besuchten die Freundinnen einander, und es war ein fortwährender Austausch von Liebenswürdigkeiten, beinah von Zärtlichkeiten über den Markt hin- und herüber.

Bei seiner Stiefmutter kam Jürgen mit Ingerlild zusammen, und das war eigentümlich: während sie ihm in Groas Gegenwart unbedeutend vorkam, so daß er gar nicht recht wußte, wovon er mit ihr reden sollte, während sie ihm auch sonst, selbst im Hause des Stadtrats, ziemlich gleichgültig war – sobald er sie bei Mama Hannchen traf, fesselte sie ihn, und ihn erfaßte wieder der alte Zauber. Schön-Ingerlild aber hatte, wenn sie Jürgen anschaute, stets ein unbeschreiblich mildes Antlitz, als wollte sie aus tiefster, nächstenliebender Seele sagen: Ich verzeihe dir! Wenn du nur glücklich geworden bist, so will ich gern mein Weh tragen.

War sich Jürgen über den Sinn ihres Ausdrucks auch zuerst nicht klar, so dämmerte ihm doch bald eine Ahnung davon auf, zumal Mama Hannchen ihn darauf hinwies: »Es ist nicht so einfach für ein Mädchen, über die große Enttäuschung seines Lebens Hinwegzukommen, aber, lieber Gott, wir Frauen sind ja dazu geboren, um uns zu verleugnen. Ili wird wohl auch noch wieder ganz froh werden. Dazu mußt du beitragen. Sei nur recht lieb zu ihr, hörst du? Und laß dich in deiner Meinung über sie nicht von andern beeinflussen, die nichts von ihr wissen. Sie ist ein so guter Mensch. Ich kenne sie, und ihr habt ihr ja auch so viel zu verdanken, du und deine Frau, nicht wahr?«

Natürlich forschte Jürgen daraufhin weiter nach, und seine Stiefmutter, der es bei der Trägheit ihres Blutes selbst nicht im Traume eingefallen wäre, einem fremden Manne näher zu kommen, als es sein durfte, hatte doch die Freude aller Weibchen daran, wenn sich zwischen zwei Menschen was anspinnt, mag es erlaubt oder unerlaubt sein. Deshalb arbeitete sie ohne bösen Willen, rein nur nach ihrer Natur daran, Jürgen und Ingerlild dichter zusammenzubringen, als sie jetzt zueinander standen.

»Nun«, meinte sie auf Jürgens Frage, wie ihre Rede gemeint sei, »Ili erholt sich eben furchtbar langsam von dem Schlag.«

»Von welchem Schlag?«

»Aber, Junge, schäm' dich! Das weißt du doch besser als ich! Sieh dir doch nur Ils Leben an. Wie ist sie unstät. Bald tut sie dies, bald das, und nichts macht ihr Freude. Seit wann ist das so? Das rechne dir mal aus.«

»Du glaubst, sie hat mich so liebgehabt, daß sie unglücklich geworden ist, als ich Groa heiratete?«

»Nicht erst damals. Ihr Unglück hat schon begonnen, wie du sie wegen Groa links liegen ließest. Daß euch Männern solche Dinge nie zu Bewußtsein kommen! Aber wenn ihr es nicht selber fühlt: wir sind ja viel zu vornehm, um es euch merken zu lassen, und wenn wir auch daran verbluten.«

Im Gegensatz zu seiner Frau nahm Jürgen die ausgeklügelte Opfergeschichte für bare Münze, und um Schön-Ingerlilds so wie so helleuchtendes Blondhaar wob sich für seine Augen noch ein Heiligenschein. Früher war er mit Groa einer Ansicht gewesen: Ilis flatternde Art sei eine schlechte Eigenschaft, und sie müsse sich einfach viel mehr zusammennehmen, jetzt entschuldigte er vieles bei der Schwägerin, und weil er ja doch wenigstens mit daran schuld war, daß sie dies nach ihrem bitteren Wort verpfuschte Dasein führte, so benahm er sich nun gegen das Mädchen mit den leidenden Zügen besonders freundlich und suchte sie möglichst zu erheitern.

Eine Zeitlang blieb seine neue Annäherung an Ingerlild Groa verborgen, denn Jürgen kannte seine Frau: sie tat manches, was ihm am Herzen lag, mit einem Achselzucken ab, das ihn schnell wieder verstummen ließ. Dadurch wurde er ja oft von ihr selbst, obgleich sie die Wahrheit über alles schätzte, zunächst in ein Verschweigen hineingedrängt, das nicht weit von Unaufrichtigkeit lag. Nach und nach begann er indessen doch, zu ihr über seine frisch erwachte Freundschaft für Ili zu sprechen auf die Gefahr hin, daß sie von seinem regeren Umgang mit ihrer Schwester weiter nicht erbaut war. Denn Jürgen sah in Groa nicht nur die Gattin, die sein Leben unbestechlich und einigermaßen streng beobachtete, sondern auch das ins Mütterliche erhobene Geschöpf; und diesem mußte er, ob er nun wollte oder nicht, alle seine Gedanken mitteilen und konnte also auf die Dauer keine Heimlichkeiten vor ihm haben. Wozu auch? Eine Mutter begriff ja alles.

Sein Empfinden von Groas Doppelberuf wurde immer stärker, je länger er mit ihr verheiratet war. Es ging bis in seine Träume hinein, die etwas Seltsames, ihn manchmal Erschreckendes hatten: er hielt die Geliebte im Arm und war sich bewußt, daß er in ihr zugleich die Mutter leidenschaftlich liebkoste. Groa war ihm alles, was das Weib dem Manne sein kann, und sein Fühlen für sie hatte etwas Religiöses. Aber es ist ja so: wenn man auch an den lieben Gott glaubt und im allgemeinen annimmt, daß er allwissend ist, wenn man sich auch stets an ihn wendet, sobald man einer Hilfe bedarf, so tut man deshalb doch noch lange nicht bloß das, was Gott wohlgefällig ist, sondern weicht auch einmal vom geraden Wege ab in der stillen Hoffnung, daß dem Himmelsvater diese kleine Abschweifung am Ende entgehen könnte oder daß man sonst auf irgendeine Art gut damit durchkomme. Jürgen schwankte auch immer Zwischen der vollen Hingabe an die Frau, die er unbedingt als seinen höchsten Besitz anerkannte, und dem Bestreben, etwas für sich zu behalten.

Groa nahm dies Hin und Her wahr, ohne es in ihrer Einfachheit achten zu können. Wozu einmal sein Entschlüpfen und dann wieder diese Sucht, sich ihr unterwürfig zu zeigen mit Anstalten, die etwas Theatralisches hatten? Sie war die geborene Königin und konnte deshalb schlecht die Rolle einer Königin spielen. Wies sie sein Werben, sein Betteln, seine Glut zurück, so versank er in schlaffe Trauer, und auch sie wurde dann wehmütig, weil sie ihm nicht mehr geben konnte, aber es kam ihr auch nicht einen Augenblick der Gedanke, daß sie ihm mehr schulde, als sie ihm gab. Sie war bereit, ihm ihr ganzes Ich zu schenken – weshalb griff er nicht zu? Ihr ewig wandelbarer Schwingtag verlangte, daß sie immer anders, immer neu, immer die Gestalt seiner augenblicklichen Phantasie sein sollte, – sie aber fühlte bei diesem Wechsel, bei diesem Sichauflösen in alle möglichen Teile ihre Echtheit schwinden. War ein einzelner Diamant nicht kostbarer als eine Reihe von großen, bunten, doch falschen Steinen? Gewiß, das war er für eine Groa, nicht aber für einen Jürgen, dessen Phantasie die Fähigkeit hatte, das farbenbrechende Glas in herrlichste Edelsteinmasse umzuwandeln, und der sich dann tausendmal reicher vorkam als mit dem einen wirklichen Diamanten.

Sein Gehaben erschien ihr wunderlich und überflüssig, und ihr Ton gegen ihn gewann einen Anflug von Schärfe. Darunter litt er. Er hatte ja in der Seele lauter feine Goldblättchen hängen, die schon ein Hauch verwirrte und sogar zerriß! Groas Unwille aber bewies, daß diese kluge Frau, so viel sie von ihrem Manne wußte, ihn doch nicht ganz richtig beurteilte, sonst wäre sie dessen inne geworden, daß aus dem in ihm brodelnden Chaos seine eigentliche Kraft geboren wurde, sein Künstlertum, das ihn zwang, jeder Stimmung nachzugehen, einerlei, wohin sie ihn führte. Sein Geist mußte irrlichterieren. Seine Torheit war das Allernotwendigste für ihn. Je verworrener er war, desto harmonischer und schlichter wurden seine Schöpfungen.

*

So stand es um diese beiden Menschen, als ein Ereignis eintrat, worauf Groa längst geharrt, das sie längst herbeigewünscht hatte, während es Jürgen gar nicht so übermäßig lieb war.

Das Weib lauschte tief in sich hinein. Ein seltsames Rauschen kündigte ihr an, daß ihr Blut neue, ungewohnte Bahnen rollte. Was ihr in ihrer ersten Ehe nicht vergönnt gewesen war, das sollte sich jetzt erfüllen: die Teilung ihres Wesens in zwei Wesen, das auf den Gipfel gesteigerte Persönlichkeitsgefühl, das doch davon herrührte, daß sich ein anderer Mensch von ihr loslöste. Groa horchte gespannt aus das Rauschen, und die Umwelt versank vor ihr. Sie sah mit ihrem geistigen, beinahe auch mit ihrem körperlichen Auge das sich bildende Kind in ihrem Schoße, friedlich schlummernd in süßester Geborgenheit; sie empfand ihren Leib für dies werdende Geschöpf als einen Wall vor den Unbilden, die es da draußen erwarteten, und es tat ihr weh, daß sie nicht für immer die Hüterin eines solchen reinen Lebens sein sollte. Das ruhende Kind war sündlos und kampflos; welch ein Jammer, daß es hinaus mußte, um zu werden wie alle andern Menschen, erregt zu Streit und auch nicht mit der Macht begabt, sich vor Schlechtem zu bewahren.

Aber solange es Groa ganz gehörte, wollte sie dafür sorgen, daß es nicht von etwas Häßlichem angetastet wurde. Ihr Blut sollte als ungetrübter Quell durch das wachsende Menschenkind hindurchspülen, sie wollte frei von jedem niederen Gedanken sein, wollte ihrem Geschöpf das Schönste und Beste mitgeben, was in ihr lebte. Sie rang nach Selbsterhöhung, nach Läuterung, um dem Kinde jetzt, wo es noch ihr Eigentum war, nichts als wundervolle, auch vor dem unerbittlichsten Gewissen bestehende Gefühle einzuströmen.

Was sie später an Erziehung zu leisten hatte, schien ihr unwesentlich; jetzt war die Zeit, wo sie unmittelbar auf das Kind einwirkte, jetzt hatte sie ihre wichtigste Aufgabe zu erfüllen, jetzt konnte ihr niemand anders hineinreden, sondern sie war die uneingeschränkte Lehrerin des entstehenden Seins, hatte darum aber auch die volle Verantwortung dafür zu tragen, was aus dem Kinde dann wurde. So machte Groa, um sich würdig zu bereiten, eine seelische Fastenzeit durch und nahm in der Sehnsucht, sich von allem Gemeinen fernzuhalten, ihre Zuflucht zu Gott.

Nach einer gläubigen Jugend hatte ihr erstarkendes Selbstbewußtsein sie überzeugt, daß Wunderglaube und Dogmen, ja, daß selbst eine einzelne bestimmte Religion oder gar ein bestimmtes Bekenntnis zum Heile des Menschen nicht nötig seien. Sie hatte von überall her in sich aufgenommen, was von Gott gesagt, wie Gott verstanden wurde. Zuletzt war ihr der Gottesbegriff aus dem Persönlichen ins große Natürliche hinübergewachsen; sie sah und fand den schöpferischen Hauch rings um sie her. Es gab nichts Totes für sie, auch nichts bloß Lebendiges, sondern sie hielt alles für gottbeseelt. Damit war sie zufrieden; Gott wurde ihr nicht zu jener furchtbaren Gestalt, die alle Eigenschaften des Menschen, die guten und fast noch mehr die schlechten, riesenhaft vergrößert und vergröbert in sich birgt, nicht zu jenem Überwesen, das nach Laune, die der Sterbliche notgedrungen Allgerechtigkeit nennt, belohnt und bestraft, das Unschuldige martert, etliche andere, die es nicht so zu verdienen scheinen, aus unbekannten Gründen besonders an sein Herz schließt und im allgemeinen die Menschheit so hält, daß sie nicht viel Freude erlebt. Gott war für Groa auch nicht so kleinlich, daß er Unglück und Bitternis über eine Seele schickte, damit sie sich an seine Herrschaft erinnere; Gott ließ sich für Groa auch nichts abschmeicheln, – Gott war einfach das Allgroße, ganz Erhabene, das in allem aufging und worin das All schwebte. Mit diesem Gott hielt die werdende Mutter ihre Zwiesprache. Sie betete zu ihm, den sie als Gewissen in sich fühlte; sie sog ihn ein, den sie als Schönheit in und über der Welt ruhen sah; sie teilte ihn ihrem Kinde mit und war sicher, dadurch für das Gute eine neue Stätte auf Erden zu schaffen. Und um sich ganz in sich selbst versenken zu können, errichtete sie zwischen sich und den anderen Menschen eine Mauer, über die keiner zu ihr hereindrang – nicht einmal ihr Mann, denn im Vergleich zu dem, was sie ihrem Kinde sein und schenken wollte, war auch Jürgen zu sehr mit Mängeln behaftet. Es kamen Monate, wo sie das Tor ihres Herzens, durch das er ja sonst so gern hätte eintreten dürfen, wenn anders er es nur wagte, vor ihm verschlossen hielt. Nur ihr Kind durfte bei ihr wohnen.

Jürgen Oldekopp war Künstler genug, um die Schönheit der heranreifenden Mutterschaft zu erfassen, aber er wollte doch nicht schon hinter dem erst kommenden Kinde zurückgesetzt werden. Er war es gewohnt, Groa die Alltäglichkeiten zu erzählen. Es gab auf dem Rathause manchen Ärger; manches Kleinpersönliche erschien in der mit Aktenstaub durchtränkten Luft wichtig; der Ehrgeiz der Beamten führte zu Ränkesucht und Mißgunst, und auch Jürgen wurde manchmal von der Lust angesteckt, vermeintlich ungerechtes Bevorzugen anderer oder Beeinträchtigen der eigenen Person genau durchzusprechen. Groa, die es ihm gönnte, daß er sich von solchen Winzigkeiten entlastete, hatte ihm bis dahin stillgehalten, nun jedoch bat sie ihn in Liebe und Freundlichkeit: »Behalte das jetzt für dich, Jürgen. Du kommst ja selbst leicht darüber hinweg. Was hat es zu bedeuten? Ich möchte gerade jetzt nichts davon wissen.«

Er schwieg, war aber in seiner Eigenliebe verletzt, bis auf einmal seine leicht beweglichen Gedanken wieder umschwangen. Je näher nämlich Groa ihrer Zeit kam, desto weniger konnte sie sich auf die Pflege des rein Seelischen beschränken, wie sie es am liebsten getan hätte. Die Beschwerden, die der Körper ihr machte, wurden groß. Sie war die Jüngste nicht mehr, und dem Arzte mißfiel ihr Aussehen. Groa grämte sich: ihr natürliches Gefühl sagte ihr, daß das Mutterwerden etwas Gesundes sei, daß ein Weib in der Hoffnung auf ihr Kind allezeit fröhlich sein müsse, sie aber ging bleich umher und war wie krank.

War es bei ihr zu spät für das höchste Glück? Bitter dachte sie daran, daß ihre besten Jahre ungenutzt vergangen waren. Warum das? Sie hatte ja Frucht bringen wollen nach der Bestimmung und nach der Sehnsucht des Weibes; in ihrer ersten Ehe war ihr das versagt gewesen, und nun, wo sie gewiß als Mensch ihre Entwicklung zur Mutter viel tiefer und reicher erlebte, als sie es in ihrer Jugend getan hätte – war sie da schon nicht mehr kräftig und geschmeidig genug, um ihre edelste Pflicht zu erfüllen? Traurig blickte sie in den Spiegel. Sie erschien sich alt, wo sie doch gerade so jung sein sollte wie in keinem ihrer Ehejahre zuvor. Diese Sorge um das Körperliche lähmte ihr Streben nach der Heiligung. Sie wurde schwach und anschmiegebedürftig. Jürgen sollte nur gut zu ihr sein, dann mochte er sprechen, worüber er wollte. Dies Zugeständnis machte ihn sofort äußerst schonsam, er behelligte sie mit nichts, was ihr unangenehm sein konnte, denn neben seiner Liebe beherrschte ihn die Furcht, sie zu verlieren. Er sah sich als gebeugten Witwer hinter dem Sarge gehen, der sein alles umschloß. So deutlich wurde die Vorstellung, daß sie ihm Tränen auspreßte. Desto unermüdlicher umgab er Groa mit Zartheiten, und sie hatte also bei allem inneren Erwarten und Gespanntsein äußerlich ruhige und ungestörte Monde, wofür sie Jürgen dankte.

Schwer rang sich das neue Leben vom älteren los. Sah der Baumeister, der seinem furchtbar leidenden Weibe so gar nicht beistehen konnte, in dieser peinigenden Untätigkeit auf den Garten hinaus, dann dünkten ihn die Blumen fahl und das Laub schwarz. Schon waren die Ärzte halb entschlossen, das Kind zu opfern, um die Mutter zu retten, da half sich die Natur oder, was am Ende dasselbe war, Groas sich noch einmal aufraffender Wille. Das Wesen kam zur Welt, und die ärztliche Kunst lehrte die kleine Lunge atmen und das kleine Herz pochen. Groas Mutter, die all die Tage bei den jungen Leuten geweilt und sich kein bißchen Schlaf gegönnt hatte, legte zuletzt ihrer fast gänzlich erschöpften Tochter ein wohlgebildetes, kräftiges Mädchen in den Arm.

*

Solange Groa das Kind unterm Herzen trug, hatte Jürgen ihm keine väterlichen Gefühle entgegengebracht; vor der Wiege aber kam er gleich zur Vaterliebe. Die war im Gegensatz zu allen sonstigen Wirrnissen köstlich einfach! Er gab sich der Freude hin, das neue Leben zur Bewußtheit aufsprossen zu sehen, half den Willensäußerungen nach, indem er ihnen Hemmnisse aus dem Wege räumte, war glücklich über jedes Zeichen des Gedeihens, bewunderte die Anmut und das Liebliche, das er an seinem Kinde täglich mehr entdeckte, und so konnte die kleine Gunhild damit zufrieden sein, daß der Storch, der sie aus dem Lommer See fischte, sie just dem Stadtbaumeister Oldekopp durch den Schornstein geworfen hatte. Ihr Seelchen war vergnügt, ihr Gemüt freundlich. Früh spielte auf ihrem Antlitz jenes Lächeln, das so hold ist wie sonst nichts, und ihre Augen spähten lebhaft und lernbegierig umher. Jürgen war stolz auf seine Vaterschaft; das prägte sich in seinem Auftreten aus und wirkte auch auf seine Amtsführung.

Eine Anzahl von Bürgern beschwerte sich darüber, daß man auf dem Kaßberg nur die schöne Luft, und den weiten Blick genießen könne; es müsse, so meinten sie, die Ruine der alten Burg fein ausgebaut und eine Gastwirtschaft darin eingerichtet werden, damit jeder nach dem Besteigen der Anhöhe auch des Leibes warten könne. Die Zeitungen brachten vielerlei über diese Angelegenheit. Den Gündsitbargenern wurde verlockend geschildert, wie herrlich es sei, wenn man das wildwachsende Buschwerk in einen angenehmen Park verwandelte. Die voller Geröll liegenden Überreste der Rittersäle aber bekamen dann ein Dach und wurden gedielt und getäfelt. Was würde das für eine altdeutsche Pracht werden! Auch sei es eine Ehrenpflicht der Stadt, neben der verjüngten Burg einen Bismarckturm zu erbauen. Gündsitbargen wurde für diesen Plan ziemlich eingenommen, und es erhob sich ein Murren, als der Stadtbaumeister sich mit Macht dafür einsetzte, daß Berg und Burg in ihrer jetzigen Gestalt erhalten blieben. Es war nicht leicht, seinen Schwiegervater auf seine Seite zu bringen, denn dem deuchte es auch sehr nett, dort im alten Gemäuer, etwa in einer ehemaligen Frauenkemenate zu sitzen und Maitrank zu schlürfen. Nur langsam ließ er sich überzeugen, daß man jenem Erdenfleck durch eine Gastwirtschaft seine ganze Romantik töten würde. Schließlich gab der Stadtrat, der ja auch den Ehrgeiz hatte, als Sachverständiger in Dingen der Kunst und der Natur zu gelten, seinem Schwiegersohne nach, es gelang ihm, die Mitglieder der »Harmonie« zum großen Teil für Jürgen zu gewinnen, und es wurden nun auch schon Stimmen laut, die dem Stadtbaumeister beipflichteten.

Beim Magistrat und den Stadtverordneten siegte Jürgen. Allerdings waren manche wider ihn, und er hatte sich eine schroffe Gegnerschaft geschaffen, die da behauptete, er habe keinen Sinn für Fortschritt und Verkehr. Jürgen ließ die Leute reden; sein Kaßberg war gerettet!

Der Erfolg kräftigte ihn. Er erhob überall den Schild, wo Unverstand oder Habsucht das gute Alte in Gündsitbargen zertrümmern wollten. Die Fabriken seiner Vaterstadt hatten voll zu tun, die Arbeiter bekamen reichlichen Lohn, das Geschäftsleben wurde reger und reger. Ein Unternehmer ging damit um, an den Markt ein riesiges Warenhaus hinzustellen. Mehrere der feingegliederten Gebäude sollten zugunsten eines schreienden Prunkwerkes fallen. Da war es wieder der Stadtbaumeister, der in hartem Strauß auch den Markt rettete. Er erreichte, daß an den Häusern dort nichts geändert werden durfte; der Unternehmer mußte seinen Kaufpalast in einer Seitenstraße aufmachen und wurde sogar dort gezwungen, seiner Geschmacklosigkeit Zügel anzulegen. Eine frischere Zeit als diese, wo sein Kind die ersten Schritte tat und die ersten Wörter stammelte, hatte Jürgen nie gehabt. Er kümmerte sich sogar nicht weiter darum, daß er mit seinem Wirken für das alte Marktbild abermals mit seinem Vater zusammenstieß.

Das Kind hatte Groa nicht so viel an Kräften gekostet, daß sie es nicht bald ersetzen konnte, und an Liebe schenkte sie Gunhild alles, was ein Mutterherz hat, aber ein Schatten lag doch über ihr und verging nicht wieder. Ihre Hoffnung, eine Groa in des Wortes umfassender Bedeutung zu werden, war für immer dahin. Eines Knaben zu genesen, dem dann eine Reihe helläugiger Brüder folgte – mit diesem Verlangen war sie Jürgen Oldekopps Frau geworden; nun drückte sie ein Mädchen an die Brust, und die Ärzte wollten nichts davon wissen, daß sie zum zweitenmal Mutter würde. Ihr Groatum sollte nur innerlicher Natur sein. Darein mußte sie sich fügen und schloß, stark wie sie war, auch mit manchem andern ab. Sie fühlte immer mehr, daß sie ihren Mann an Jahren überragte, und ihr mütterlicher Trieb, der gern Knaben erzogen hätte, richtete sich noch bestimmender auf Jürgen. Sie drängte das Begehren seiner Leidenschaft immer öfter zurück. Da wurde er eifersüchtig auf sein Kind und meinte: »Gunhild nimmt mir viel von dir.«

»Nein«, entgegnete sie, »Gunhild macht uns beide nur reicher.«

»Warum bist du denn jetzt anders gegen mich?«

»Ich bleibe dir im Herzen nichts schuldig. Aber ich habe viel hinter mir. Da ist es kein Wunder, wenn ich ruhiger geworden bin.«

Nun ja, dachte Jürgen, sie hatte das Schwere doch eben hinter sich, es war vergangen, abgeschlossen. Weshalb daran haften? Wenn Gunhild das einzige Kind blieb, was schadete das denn? Das Leidenschaftliche, dem Groa sich hingegeben hatte, um als Weib vollendet zu werden, war seiner Eigensucht Selbstzweck. Darauf verzichten hieß für ihn, daß es überhaupt mit seiner und Groas Liebe fast zu Ende war.

*

Je höher und dichter die Bäume und Sträucher im Garten des Stadtbaumeisters heranwuchsen, desto friedlicher sah das Haus dahinter aus. Wer da vorüberkam, dachte nicht daran, daß es jenseit der blanken Fenster auch Kämpfe geben könne.

Und doch! Es ging mit Jürgens und Groas Ehe genau so wie mit jedem Bündnis, dem Mann und Weib vor dem Altar das verleihen, was wir die Ewigkeit nennen. Wir wähnen dann in unserer hohen Stimmung, ein Heim errichtet zu haben, das wirklich für immer steht. Wir sehen es mit Flaggen geschmückt und mit Blumengewinden verziert und ziehen fröhlich ein, um die ersten seligen Tage unter dem sicheren neuen Dach zu verbringen, und sollten uns doch sagen, daß jetzt schon, wo wir uns am Vollgefühl des festen Besitzes ergötzen, von allen Seiten her die unheimlichen Kräfte des Verwitterns und Vermorschens am Werke sind, die unsern stolzen Bau wieder dem Erdboden gleichmachen wollen. Freilich, es ist ja ein Glück, daß wir nicht so weise sind, denn wo bliebe sonst die Freude? Sie wäre das Maikeimchen, das der Frost entsaftet. Laßt uns nur an die Unstürzbarkeit des Hauses glauben, aber laßt uns trotzdem bisweilen an die Grundmauer klopfen und das Dachgebälk prüfen: ob auch schon etwas zu bessern ist.

Die kluge Groa wollte diese Vorsorge gern üben; Jürgen aber, so gut er sich auf das Bauen verstand, war in seinem eigenen Heim kein Meister, sondern ließ – sogar frevelhaft genug nicht ohne Wissen und Willen – allmählich manches verfallen. Er liebte Groa und beging doch eine böse Unliebe gegen sie, indem er jetzt, weil sie ihm kalt vorkam, nicht mehr sein ganzes Glück in ihr suchte. Schön-Ingerlild, die Jugendgespielin, war wieder bei ihm auf dem Plan. Es war eigen, wie blühend sich des Stadtrats Jüngste erhielt. Die schweren Erfahrungen und Enttäuschungen, die sie in ihrem nun bald dreißigjährigen Leben hatte durchmachen müssen, konnten ihr nichts anhaben. Vielleicht war das Antlitz nicht mehr ganz so rund und voll, aber dafür waren die Augen noch größer und sprechender geworden, und ihre Gestalt, ein wenig schlanker als früher, sah noch vornehmer aus.

Mit gewohntem Vaterstolze führte der Stadtrat Ili an seinem Arm durch die Straßen; ein oder zwei Schritte hinterher folgte die Mutter und wandte den Blick nicht von ihrem Kinde ab. Stieß Ili mit dem Fuße an einen Stein, so zuckte Frau Jessen zusammen und hob die Hände, als müsse sie hinzueilen und das Mädchen halten, damit es nicht stürzte; lachte Ili über einen Scherz ihres Vaters, so überflog das Gesicht der Mutter ein Lächeln. Ihr Kind war froh! Ili konnte sich des Abends nicht zur Ruhe legen, ohne daß die Mutter noch einmal in ihrem Zimmer erschien, die Decke über ihr glättete und sich dann mit einem innigen: »Behüt' dich Gott, liebes Kind!« leise wieder hinaus begab. Was Ili tat und trieb, wie oft und rasch sie ihre Neigungen wechselte, das war dieser Frau ganz einerlei. Sie verlangte keinen Dank, wenn ihre Tochter nur zufrieden war. Sie würde auch nicht widersprochen haben, falls Ingerlild einen ihrer noch immer nicht wenigen Verehrer genommen hätte, aber es war ihr lieb, daß kein Freier Glück hatte, denn das wußte sie: völlig konnte sie der Tochter nach deren Vermählung nicht mehr dienen; sie hatte ja auch ihrem Manne die gewohnte Behaglichkeit zu schaffen, und wenn sie sich auch zerteilte, das heißt, ihre Kräfte verdoppelte, wer konnte wissen, ob der Schwiegersohn sie duldete? Und der Gedanke, Ili werde es als Frau nicht so gut haben, wie sie es als Mädchen immer gehabt hatte, war der Mutter unerträglich. übrigens drängte auch der Vater seine Jüngste nicht in die Ehe hinein: »Warum willst du deine Freiheit aufgeben?« meinte er. »Wenn wir mal nicht mehr sind, hast du reichlich zu leben und kannst dir alles so einrichten, wie du es wünschest, und außerdem versichere ich dir: wir Männer taugen alle nicht viel.« – Das sprach er mit einer solchen Überzeugtheit aus, daß man Selbsterkenntnis aus seinen Worten heraushörte.

Ingerlild selbst fühlte sich so geborgen im Elternhause, daß sie nicht einsah, weshalb sie einem fremden Menschen ins ungewisse folgen sollte. Gleichwohl gab es natürlich Stunden, wo sich in dem Mädchen die Sehnsucht nach noch anderer Liebe regte, als die Eltern sie ihr boten, und dann stellte sich Ili es am schönsten vor, so zu heiraten, daß ihr Mann zu ihr ins Haus zog und daß sonst alles blieb, wie es gewesen war. Der Herr Gemahl hatte sich einfach in das Leben einzufügen, das sie immer hier führte – ja, eine solche bequeme Vergrößerung ihres Hofstaates wäre ihr recht gewesen. Allein es fand sich leider niemand, der seinen Beruf darin gesehen hätte, auf die Art in Ilis Dasein nützlich und angenehm zu werden, und deshalb begnügte sie sich damit, hier und da ein wenig zu tändeln. Sie hielt das für durchaus ungefährlich und merkte nicht, daß sie bei jedem Huldbezeigen etwas von ihrer Anziehungskraft einbüßte. Es kam ihr nicht in den Sinn, daß sich ein Mädchen durch bloße Liebeleien unfähig macht, eine große Liebe zu gewinnen und im eigenen Herzen zu fühlen. Es ist dasselbe, als wenn man einen Feuerstoß in lauter einzelne Glimmkohlen auseinanderteilt, die weder wärmen noch leuchten. Musik und Malerei waren für sie abgetan, nun versuchte sie's mit anderen Künsten. Der Garten hinter dem Hause wurde nach ihrem Geschmack in eine Anlage verwandelt, wie man sie auf Bildern aus dem achtzehnten Jahrhundert erblickt, aber die Gärtnerei war doch nicht das Richtige. Die Gewächse erforderten zuviel Pflege und kamen auch viel zu langsam hoch. Beim Verfertigen künstlicher Blumen hatte man mehr die Möglichkeit, die Phantasie walten zu lassen, und es entstanden unter Schön-Ingerlilds geschickten Fingern aus Draht, Seide und Perlen Orchideen von verzehrend schmerzlichen Formen und Schattierungen; es erblühten da so unschuldige Maiglöckchen, daß einem beim Betrachten zumute wurde, als müsse sich nun gleich ein liebes weißes Schäfchen danebenlegen; es prunkten da Sonnenrosen von einer Größe, daß die Familien, die von der Stadtratstochter mit solchen Übertrumpfungen der Gottesnatur bedacht wurden, sie verzweifelt von einem Zimmer ins andere trugen, denn nirgend gab es für diese gewaltigen Räder Raum genug.

Wenn Ingerlild es indessen dem Schöpfer auch klarmachte, wie er es hätte anstellen müssen, um etwas wirklich Schönes an Blumen in die Welt zu setzen – ihre Grenzen hatte diese Kunst ebenfalls, und in der trüben Erkenntnis ließ sie zuletzt Draht, Seide und Perlen durcheinander in ihrer Schublade liegen.

»Wozu das ganze Kämpfen?« seufzte sie. »Was bietet uns alle Kunst? Sie befriedigt einen immer weniger, je mehr man sich damit zu schaffen macht.«

Also fand Ingerlild überhaupt, daß im weltlichen Getriebe für sie nichts zu genießen und zu tun sei, wurde folgerichtig fromm und besuchte die Gottesdienste des alten Pastors, der sie konfirmiert und seitdem nicht unter seinen Zuhörern gesehen hatte. Bald aber geriet sie nicht mehr in die schwüle Stimmung, die sie für Hingabe an Gott hielt, begann, die Lehren des Christentums zu zerfasern, und meinte, man könne unmöglich heutzutage noch an all das glauben, was da gepredigt wurde. Auch den Gedanken, barmherzige Schwester zu werden, besiegte sie schnell. Der Karbolgeruch im Krankenhause verleidete ihr von vornherein diesen Beruf, so hübsch ihr die Tracht stehen mußte. Daher war sie nun mit der Kirche und allem, was mit kirchlichem Wesen zusammenhing, rasch zu Ende, und wieder ganz folgerecht sah sie in der christlichen Religion die Zerstörerin der Schönheit, wie sie bei den Griechen und Römern geherrscht hatte. Ingerlild flocht ihr Haar in einen Venusknoten und wandelte in einem Kleide nach hellenischem Muster umher. Allerdings fehlte es in Gündsitbargen für eine Aspasia, die jetzt Ingerlilds Ideal war, an den nötigen hochgebildeten Männern. Nur einer war da, der vielleicht die Rolle des Perikles übernehmen konnte, und das war ihr Schwager. Trat Ingerlild bei sich daheim dem Stadtbaumeister im weißen Gewande als Griechin entgegen, die Arme bis zu den Schultern entblößt und Sandalen an den Füßen, die durch den Hauch des Strumpfes hindurchschimmerten, so fühlte er sich dem Mädchen doch sehr wesensverwandt! Groa, der die Schwester zufällig einmal in solcher Tracht vor die Augen gekommen war, hatte freilich kurz gesagt: »Ich weiß nicht, was die Maskerade für Zweck haben soll.«

Zweck! Ja, das war es. Groa war ein reiner Tatsachenmensch; alles, was sie schätzen und achten sollte, mußte einen bestimmten Sinn haben. Die bloße, von jeder Nützlichkeit losgelöste Schönheit galt ihr nichts. Jürgen aber liebte das, was seine Frau Maskerade nannte, und wäre Groa dankbar gewesen, wenn sie sich ihm auch dann und wann so gezeigt hätte. Sie tat es nicht, das wußte er, und er drängte sie auch nicht mehr dazu, aber ihm mangelte etwas bei ihr, und er war froh, daß Ingerlild es ihm gab. Enger und enger schloß sich der eine Zeitlang gelockerte Jugendbund wieder zwischen Ingerlild und Jürgen, und dieser hatte, wenn er bei seinem Schwiegervater war, gar nicht das Empfinden, daß Groa zur Jessenschen Familie gehörte. Es war ihm lieb, sich seiner einstigen Squa gefällig zu erweisen, wie und wo er nur konnte.

Ili schwärmte eine Weile für das Zurückdämmen der Phantasie zugunsten der Verstandesschärfung und warf sich auf das Schachspielen. Jürgen war ihr Gegner. Das wurde ein merk-* würdiger Zweikampf! Zunächst mochte Ingerlild die schwarzen Figuren nicht anfassen und bekam daher stets die weißen. Dann verloren sie beide alle Augenblicke ihre Königin, schenkten sie einander aber großmütig wieder, weil der andere Teil sonst zu schnell unterlegen wäre. Des öfteren war Jürgen so höflich, seine Schwägerin mit Absicht gewinnen zu lassen, vornehmlich, wenn er spürte, daß ein Schatten über ihrer Seele lag. Verlor sie in solcher Stimmung, so haßte sie auf einmal das Spiel, doch bekam Jürgen nach einem derartigen Anfall schon am zweiten Tage wieder das resedaduftende Einladungskärtchen: Du bist mir Revanche schuldig! Ich erwarte dich auf dem Felde der Ehre.

Nachdem Ili eine Sammlung von Schachfiguren, alten und neuen aus Holz, Elfenbein, Zinn und Silber zusammengekauft hatte, ermüdete diese Übung des Verstandes ihr blondes Haupt, und auf irgendeinem Schrank verstaubte das Schlachtgefilde; die dicken Türme eines besonders kostbaren Spiels aber benutzte sie zum Garnaufwickeln. Damit war auch dieser Abschnitt ihres reichen Lebens beschlossen, und sie ging unbefangen zu Neuem über. Kein Wunder, daß sie nach dem Ausflug ins steinige Land der Vernunft wieder in den Bereich der Phantasie flüchtete, und eines Nachts erlebte Aspasia auf ihrem weißen Lager etwas geheimnisvoll beängstigend Süßes: Sapphos Geist wurde in ihr wach, und sie sprach in freien, ungeheuer schwungvollen Rhythmen das Weh aus, das sie beim Anblick der Sterne, der wild tosenden See oder der ewig vereisten Bergesgipfel empfunden hatte. Mit verschämten Wangen ließ sie dann Jürgen das auf lila Papier mit silberner Tinte niedergeschriebene Gedicht lesen. Der war pflichtgemäß hingerissen von dem großartigen Flusse der Verse und der Kühnheit ihrer Bilder, ermannte sich dann und erwähnte diesen oder jenen Ausdruck, der vielleicht noch treffender zu fassen sei, hütete sich aber gleich, die auf das geringste Tadelswörtlein hin in sich zusammensinkende Verfasserin zu entmutigen. Schön-Ingerlild war froh, sie hatte nun vom Himmel herab Klarheit darüber bekommen, wozu sie wahrhaftig und innerlichst berufen war: eine deutsche Dichterin zu werden. Dafür brauchte man keinen Lehrer und keine Lehrerin, die Gedichte strömten von selbst aus der ursprünglichsten Schaffenskraft heraus, es war herrlich!

Sie verfaßte im Wachen und im Träumen ihre Lieder im Volkston, Balladen, Romanzen und vor allem Klagetöne einer überirdisch gewaltigen Liebe zu einem hohen Unbekannten. Sie ließ ein Bild von sich aufnehmen, – auf dem Ruhebette lag sie, in der Rechten eine Lyra, die Linke in die Flut des Haares vergraben, und mit seherischen Blicken schauten ihre großen Augen in die Weite. Die Gündsitbargener Zeitungen kamen nicht drum herum, die ihnen von der Stadtratstochter übersandten, auf die jedesmalige Jahreszeit passenden Lieder abzudrucken. Die Schriftleiter seufzten, die Setzer seufzten, die Leser seufzten. Ingerlild jedoch trug den Kopf hoch wie nie und zweifelte nicht im geringsten daran, daß sie die Herzen des deutschen Volkes im Fluge durch ihre Kunst erobert hätte. Schnell war indessen die Lyrik ein überwundener Standpunkt für sie, und sie schwang sich in das Allerheiligste der Poesie hinein, indem sie ein Trauerspiel: »Semiramis die Große« hinwarf. Die Heldin dieses Stückes watete nicht nur bis zu den schlanken Knöcheln, sondern sogar bis zu den weißen Knien in Blut, so daß Jürgen die Dichterin staunend fragte, woher sie mit all solchen grausigen Dingen Bescheid wisse.

»Ach, das steckt in einem«, entgegnete Ingerlild achselzuckend. »Man weiß und kennt alles von selbst.«

Der Gündsitbargener Theaterdirektor bedauerte, daß seine Bühne viel zu klein sei, um dies alle orientalischen Gluten aushauchende Seelengemälde aufführen zu können, und das Drama begann die Rundreise an den anderen Theatern, und die hat es ja wohl heutigestags noch nicht beendet, wenigstens hat noch keine Schauspielerin als Ingerlilds Semiramis die Große die schlanken Knöchel und die weißen Knie im Blute unbotmäßiger Vasallen, ausgekosteter Günstlinge und erbarmungslos hingemordeter Völkerscharen gebadet. – So wird wahre Größe verkannt.

*

Einmal erlebte Ingerlild es freilich doch, daß ein Werk von ihr aufgeführt wurde: an dem Tage, wo ihr Vater sein fünfundzwanzigjähriges Stadtratsjubiläum feierte. Das war ein Fest für ganz Gündsitbargen. Der Markt und sogar das Rathaus prangten im Schmuck, die Bürgermusik brachte dem verdienten Manne ihr bestes Ständchen dar, würdevoll kamen die Glückwunsch-Abordnungen der »Harmonie« und der vielen anderen Vereine, denen Jessen angehörte, und einige von ihnen trugen eine Kapsel, worin die mit schnörkeligen Buchstaben auf eine Pergamentrolle gezeichnete Ernennung des Stadtrats zum Ehrenmitgliede ihrer Körperschaft enthalten war. Der Wein floß, Blumen über Blumen wurden dem Gefeierten gespendet, und seine zahlreichen Verehrerinnen hatten es sich nicht nehmen lassen, ihn mit sinnigen, selbstgefertigten Gaben zu beschenken. Zufriedenen Lächelns strich er, der ja immer noch der schöne Mann war, über die weichen, hübsch bestickten Sofakissen hin. Der Bürgermeister aber, der die besondere Schwäche seines Kollegen kannte, hatte dafür gesorgt, daß er dem Jubilar einen neuen Orden überreichen konnte. Da war für Jessen das Glück voll. Unten im Laden veranstalteten die Gehilfen und Lehrjungen, die zuviel getrunken hatten, zur Feier des Tages auf eigene Hand einen Ausverkauf zu halben Preisen.

Am Abend war im Saal große Gesellschaft. Es wurde geschmaust, geredet, gesungen und getanzt, und plötzlich ertönte dann ein Klingelzeichen. Alles blickte erwartungsvoll auf den Vorhang, der an einer Schmalseite des Raumes eine Bühne abschloß. Die Gardine glitt auseinander, und die Eingeladenen sahen in eine hell erleuchtete Landschaft hinein, die sie wohl kannten, denn der Maler hatte die waldig bergige Gegend im Nordosten der Stadt dargestellt. Hier erschienen nun die Göttin Gündsitbargia mit der Mauerkrone und die Nixe der Stuwaa im Schilfgewand und der Ritter Frank von Kaßburg in schimmernder Rüstung, und alle drei gaben in wohltönenden Versen die Ansicht kund, daß es nirgend auf der Welt schöner sein und besser hergehen könne als in dieser Stadt, daß es aber lange nicht so gut aussehen würde, wenn nicht ein Mann wie der Jubilar dem Gemeinwesen seine Kräfte weihte. Die Dichtung endete mit einem Guß von Huldigungen für den Stadtrat, und der allgemeine Beifall der Gesellschaft zeugte dafür, daß Rittersmann, Nixe und Göttin in ihrem Lobe das Richtige getroffen hatten.

Es blieb kein Geheimnis, von wem das Festspiel herrührte; Ingerlild war die Verfasserin, und Jürgen Oldekopp hatte die Bühne eingerichtet. Für beide kargte man nicht mit Ruhm, und der Stadtrat drückte sie an die Brust. Groa brach zur frühen Stunde auf, ihr Mann geleitete sie unmutig. Sie fühlte das und meinte: »Du kannst ja wieder zurückgehen.«

»Nein«, antwortete er, »wenn man einmal gestört worden ist, kommt man nicht wieder in Stimmung.«

»Es ist ja auch genug. Seit heute früh bist du dort gewesen.«

»Ja«, sagte er gereizt, »genug! Das ist dein Lieblingswort. Aber ich möchte mich auch einmal ungemessen freuen. Ich kenne das; du verdirbst mir in der Hinsicht ja so manches.«

»Das tut mir leid. Gunhild braucht mich, und ich dachte, du seiest ebenso satt von dem Lärm wie ich. Warum bist du nicht geblieben? Mach' dich unabhängiger von mir. Ich wäre damit sehr einverstanden.«

»Glaub' das nicht, Groa; du selbst handelst nach deinem Gutdünken, aber mit der Unabhängigkeit, die du anderen Menschen und besonders mir gönnst, sieht es sehr fraglich aus. Du verstehst nicht, daß uns etwas gefallen kann, was du nicht magst.«

»Ich kann allerdings nicht aus mir heraus, aber ich versichere dir, daß ich dir nicht im geringsten deine Freiheit beschneiden will.«

»Durch dein Wesen tust du es.«

Groa schwieg. Sie wußte, Jürgen verließ das Fest nicht so unwillig, wie er sich anstellte. Auch er war des Trubels schon überdrüssig und dankte es ihr sogar von Herzen, weil sie so vernünftig war, mit zu allererst von der Lustbarkeit zu scheiden, aber er meinte törichterweise, sich etwas zu vergeben, wenn er das eingestand. So blieb er wieder einmal draußen vor dem Tore, anstatt fröhlich zu Groa hineinzuschreiten, und auch in anderer Weise wurde das Jubiläum für Jürgen eine Quelle des Ärgers. Denn Groa sagte gar nichts über Ingerlilds Festspiel, bis ihr Mann die Frage nicht mehr zurückhalten konnte: »Was denkst du denn eigentlich von Ingerlilds Stück?«

»Ob es geschmackvoll ist, daß die eigene Tochter den Vater besingt, möchte ich bezweifeln. Ob die Verse etwas getaugt haben oder nicht, das mußt du besser wissen als ich. Mich berührt diese Art von Poesie nicht.«

»Man muß bei solchen Gelegenheiten nicht jedes Wort auf die Wagschale legen. Grobheiten kann man einem Manne an seinem Ehrentage doch nicht gut sagen.«

»Nein, das nicht, aber etwas weniger Verhimmelung wäre für alle Teile anständiger gewesen.«

»Wenn du nur nicht immer alles abzirkeln wolltest. Ich habe mir von vornherein gedacht, daß du nicht zufrieden sein würdest.«

»Guter Jürgen, dann frage mich doch nicht erst. Ich beklage mich ja über nichts.«

Dabei blieb es. Jürgen heimste nur noch eine karge Anerkennung für sein Bühnenbild ein. Ach diese Sparsamkeit! Sie rührte von Groas aufrichtiger Gesinnung her, man konnte sich fest an das halten, was sie sagte; aber Jürgen, so sehr er Groas Wahrheitsliebe achtete, verlangte doch, daß sie auch einmal minder streng urteilte. Sie tat es nicht, und das legte er ihr als Überhebung aus. Sein Empfinden war also falsch, und dennoch hatte er von sich aus recht, denn für eine Seele wie die Jürgen Oldekopps reicht es nicht aus, daß man ihr in aller Stetigkeit gegenüberbleibt, sie will sich anschmiegen und kann das nur, wenn es auch den andern Teil treibt, sich anzulehnen. Gemessenes, selbst freundliches Verharren gilt der Jürgenseele schon als ein Zurückstoßen. Dann irrt sie traurig umher und findet, – ja, was fand Jürgen Oldekopp nun draußen vor dem Tore?

*

Groa war mit Gunhild an die See gereist. Jürgen wurde durch sein Amt noch in Gündsitbargen zurückgehalten; erst in zwei Wochen konnte er ihr folgen. Zum erstenmal war er in seiner Ehe allein. Ein merkwürdiges Gefühl. Ein Aufatmen. – Wirklich? – Ja. Er konnte es nicht leugnen, obgleich er sich schämte; als wenn er die Befreiung von einem Druck erlebte, so und nicht anders war ihm zumute. Seine Stuben kamen ihm viel weiter und höher vor; er durchschritt sie, als wolle und könne er fliegen. Fast gleichzeitig jedoch mit dieser Lust, ungebunden zu sein, wachte auch schon ein Schmerz in ihm auf. Die Zimmer waren groß, ja, aber alles, was er und Groa sorglich darin zusammengetragen hatten und was er sonst so liebte, das erschien ihm nun kalt und tot. Gehörten ihm diese Sachen?

Ihn dünkte, er wandle in einer fremden Umgebung, in anderer Leute Eigentum umher. Freilich: fremd war wohl kaum der richtige Ausdruck; vielmehr hatte er das Empfinden, daß nur Groa ein Recht an diesen Dingen besaß, und Groa hatte sie bei ihrem Weggehen unter einen unsichtbaren Verschluß gelegt, so daß er nicht heranzukommen vermochte. Sein Besitz war es jedenfalls nicht, worin er sich bewegte. Das ganze Haus sprach nur von Groa, und nachdem er sich anfangs von ihrer kräftigen Persönlichkeit entlastet geglaubt hatte, war sie binnen kurzem mächtiger denn je über ihn. Sie war fort und doch nicht fort, ihr Wesen hatte sich gleichsam in der Luft hier aufgelöst und durchdrang nun jeden Gegenstand, saß an jedem Tisch, stand in jeder Tür. Er ging um ihren Lieblingsplatz auf der Veranda herum: es wäre ihm nicht möglich gewesen, sich in den Korbsessel niederzulassen, wo sie gern des Nachmittags und des Abends eine Weile mit Lesen verbrachte. Unwillkürlich rückte er den Schemel, der sich verschoben hatte, an den Sessel hin, wie er es oft für sie tat. Er sah, wenn ihm sein Mahl aufgetragen wurde, auf ihren Platz ihm gegenüber, und es kam vor, daß er einen Teller dorthin setzte, denn die öde Fläche des Tischtuches schmerzte seine Augen. Groas und Gunhilds gemeinsames Schlafzimmer öffnete er überhaupt nicht. Er dachte immer, daß er die beiden da im Schlummer stören würde.

Nein, eine Wonne gewährte ihm seine Freiheit nicht; trotzdem meinte er die Pflicht zu haben, dieser Zeit die äußersten Wohlgefühle abzuringen. Nach eigenem Willen zu handeln – war das nicht längst seine Sehnsucht gewesen? Gewiß, wenn er nur Groa hätte schildern können, wie herrlich es war, von niemand abzuhängen.

Er versuchte im Garten zu arbeiten, wollte Pflanzen umsetzen, ein Gebüsch lichten, aber Spaten und Schere wagten sich in seiner Hand nicht vorwärts, denn er grübelte darüber nach, ob er es auch Groa recht machte, und dabei wußte er doch, wie gleichgültig seiner Frau solche Kleinigkeiten waren. Jetzt erst trat es ihm ins Bewußtsein, welche Sicherheit Groa seinem Leben gab, und wie notwendig sie für ihn war. Ließ sie ihn aus ihrem Banne, dann tastete er ungewiß herum, und seine Gedanken schufen sich eine Fronherrin, die ihn tatsächlich auch im Geringsten und Unwesentlichsten leitete, während die wirkliche Groa – das erkannte er jetzt deutlich – ihm doch weiten Spielraum ließ. Er war mit der abwesenden Groa viel enger verbunden, oder besser gesagt, er war viel fester an sie gekettet als an die Groa, die sich seiner sonst mütterlich annahm. Zwingend war diese Gewalt, die Groa gerade nun ausübte, wo sie seinen Neigungen und Wünschen doch gar kein Hindernis in den Weg legen konnte. Nie hatte er sich so peinlich nach ihr gerichtet wie jetzt.

Nirgend Ruhe, immer Kämpfe, niemals Ungetrübtheit, immer Leid! Er mußte die unsichtbare Groa, die wie eine Riesin hinter ihm stand und ihm ihre Hände lastend auf seine Schulter legte, endlich abschütteln. Im Hause selbst vermochte er das nicht, und also durchstreifte er die Umgegend, aber bei allem Schönen, was er sah, dachte er nur: Hier muß ich so bald als möglich mit Groa hin. Er zechte im Ratskeller mit seinem trinkfreudigen Schwiegervater und dessen ausdauernden Genossen, er ließ die trostlosen Witze über die Strohwitwer auf sich niederregnen, er stürzte den Wein hinunter, um von Besinnung zu kommen, und öffnete spät in der Nacht beschämt und zaghaft seine Tür. An diesem Abend war er Groas unwürdig gewesen und hatte daher auch etwas seiner selbst Unwürdiges begangen.

Immer und überall Groa … Groa, die nicht da war und ihn doch einhüllte und als sein Gewissen in ihm lebendig war, wenn er einmal trotzig einen Fuß anderswohin setzte, als ihr recht und also überhaupt recht war. Welch eine Macht bedeutete die Frau in seinem Dasein! Und war er nicht glücklich, ihr zu gehorchen, gehorchen zu müssen? War er glücklich? Er fand keine Antwort auf die Frage und mußte auflachen: vielleicht hätte er die Frage erst Groa unterbreiten müssen, um zur Klarheit darüber zu kommen. So hing er von ihr ab. – Groa! – Das Kind war viel unwichtiger für ihn. Er sah Gunhild am Strande spielen; wie würde sie sich da prächtig erholen! Diese Hoffnung genügte ihm, um seine Sehnsucht nach dem kleinen Geschöpf zu lindern. Alle seine Gedanken gehörten der Frau, von der es ihn, wenn sie bei ihm war, trennte, daß er nicht den Mut besaß, sich durch nichts von ihr trennen zu lassen.

Groa hatte sich kaum in dem Gasthause an der See ein wenig eingerichtet und war kaum froh geworden, daß sie für ein paar Tage den winkligen Gedankenzügen ihres Mannes nicht nachzusinnen brauchte, da bekam sie auch schon mit jeder Post die hingebendsten Briefe von Jürgen. Er wühlte sich in seine Liebe zu Groa hinein und fand einen überreichen Schwall schwelgerischer Worte für sein Verlangen nach ihr; kein Vergleich war ihm zu erhaben, daß er ihn nicht auf Groa anwandte; kein Stern saß ihm zu hoch, den er ihr nicht zu Füßen legte. Mit peinlicher Selbstzerfaserung schilderte er ihr, was er jede Stunde angefangen hatte; er beschrieb ihr das Haus, die Stuben, den Garten, als sei sie nie darin gewesen und sollte durch seine Briefe über alles unterrichtet werden; er stellte ihr sein Ungenügen in der Gesellschaft fremder Menschen dar. Er erinnerte an all die Schönheit, die sie im Leben schon miteinander genossen hatten, und er malte ihr glühend die Freuden ihres Wiedersehens aus. Unerschöpflich war er in den Ausdrücken für sein umherkreisendes Fühlen, als dessen ewige Mittelsonne er Groa pries.

Indem er sich so gleichsam vor Groa auf die Knie warf, wo sie auch ging und stand, gestattete er ihr keinen Augenblick, daß sie an etwas anderes dachte als an ihn. Sie glaubte seinen Beteuerungen, denn sie wußte ja selbst, wie unveränderlich notwendig sie ihm war, obgleich sie ihn als den beweglichsten Stimmungsmenschen kannte; sie entzog sich ihm auch nicht; sein Schwung trug sie empor, und sie ließ sich von seiner Liebe durchrieseln, aber ein wenig müde machte er sie doch. Sie wäre ganz gern eine Weile für sich allein gewesen. Ihre Briefe waren im Vergleich zu den seinigen kühl und karg. Sie bedurfte für ihre Gefühle nicht so ausführlicher Äußerungen. Was in ihr für Jürgen lebte, das war sehr einfach. Ihre Stärke war schweigsam. Er hätte ja für seine feurigen Ausbrüche gern mehr von ihr wieder bekommen, besaß aber die Fähigkeit, zwischen ihren Zeilen herauszulesen, was er immer lesen wollte. So wurde ihm jede einzelne, weit beschriebene Briefseite zu einem umfangreichen Herzensergusse, und aus jedem freundlichen Satze Groas erwuchs ihm die volltönende Versicherung ihrer Liebe.

Sein Haus wurde ihm gleichgültig; er entdeckte, daß er es früher wohl nur liebte, weil er es nach Groas Geschmack ausgestattet hatte. Was er um sich herum nicht durch Groas Augen sehen konnte, das reizte ihn nicht. Er floh seine eigenen Räume, wußte nicht, wo er seine innere Unrast stillen konnte, und fand endlich eine Zuflucht in seiner alten Schülerstube.

Ja, hier durfte er ruhen. Das alles hier war von Groa unberührt, denn sie hatte kaum je einen Blick in das kleine Zimmer hineingeworfen und sehr zu seinem Leidwesen die Sachen, die von ihm aus seiner Jugend herübergerettet und in Fächern und auf Riegel aufgespeichert worden waren, gar nicht beachtet. Dies hier gehörte ihm allein! Es war wundervoll, die alte Steinsammlung, das Briefmarkenalbum und die Menge Siegel, die er sich einst von allerhand Schreiben gelöst und in ein Heft zusammengeklebt hatte, dann das Puppentheater, den Laubsägekasten und die Bilderbücher wieder zu betrachten, die einst seine Welt waren. Mit hinüber in sein Heim hatte er diese Dinge nicht genommen, nicht nehmen können. Als er um Groa warb, galten sie ihm nichts, und Groa selbst hätte nichts mit ihnen anzufangen gewußt. So etwas Kleines war nicht ihr Stil. Wie verschrumpft war der liebe Kram für Jürgen gewesen, jetzt schüttete er das Wasser seiner liebenden Erinnerung darüber, und siehe da: Alles quoll zu frischem Leben auf. Von diesem Genuß, sich wieder als Junge zu empfinden, schrieb er seiner Frau nichts. Sie hätte ihn doch nicht verstanden. Überhaupt gelang ihm hier kein rechter Brief an Groa. Die Jahre, die er unter diesem Giebel verbracht hatte, lagen vor seiner Zeit mit ihr; das Gedächtnis daran war das einzige, was er besaß, ohne es mit ihr teilen zu müssen.

Jürgens seelische Regungen ruhten tief im Körperlichen verankert: seine linke Hand wollte alles schaffen, aber das Leben hatte ihn dazu gezwungen, auch die rechte anzuspannen. Sicherlich hatte diese Notwendigkeit manche Gabe in ihm geweckt, die bei andern zeitlebens schlummert, eine Qual blieb indessen der Zwang doch. Hier auf seiner Schülerstube durfte er rückhaltlos links sein und brauchte darum nicht zu leiden!

Niemand störte ihn in seiner Stimmung. Außer dem bequemen Mama Hannchen erschien nur noch Ingerlild Jessen in diesen vier Wänden, die ihr sehr vertraut waren, denn sie war als Kind fast jeden Tag hier gewesen. Die lange Zwischenzeit war plötzlich wie ausgelöscht, wenn Jürgen und Ingerlild ihre gemeinsamen Erinnerungen hervorsickern ließen. Ili begriff, warum Jürgen die Sachen so lieb und wert waren, sie hatte sie ja einst selbst in der Hand gehabt, sie war ja seine Vorhangaufzieherin, Lampenanzünderin und Zuschauerin gewesen, wenn er in seinem Puppentheater »Emilia Galotti« oder Körners »Nachtwächter« gab. Sie hatte ihm beim Einkleben der Briefmarken geholfen und sich manche Rüge gefallen lassen müssen, weil sie die Blättchen nach der Schönheit und nicht nach ihrer Seltenheit beurteilte; sie war es, die er damals auf der Innenseite eines Buchdeckels abzeichnete, für sie hatte er auf der kleinen Druckerei Besuchskarten hergestellt; jedes Indianergeschichtenheft, das jetzt noch auf den Borden stand, hatte sie mit ihm durchgelesen, und wenn er auf der Glasharmonika spielte, hatte sie gefühlvoll dazu gesungen. Nichts war in der Stube, was nicht auch für Ingerlild lebte und dadurch jetzt für Jürgen doppeltes Leben gewann.

»Wie du das alles behalten hast!«

»Ist ja doch auch einmal meine Welt gewesen, Jürgen. Furchtbar alt kommt man sich vor, wenn man zurückdenkt, wieviel Jahre das schon her ist, daß wir hier miteinander saßen.«

»Jung, Ili! Wir sitzen ja noch immer hier beisammen.«

»Das ist nur Einbildung, Jürn. In Wahrheit liegt unendlich viel zwischen jetzt und damals.«

»Laß versinken, Ili! Ich will nur fühlen, was ich damals fühlte. Das hab' ich so lange nicht können, beinahe möchte ich sagen, nicht dürfen.«

Ilis Augen blitzten zu ihm auf. Es war jener Blick, der fragt und zugleich das schon weiß, wonach er forscht. Ein kurzes Stocken im Gespräch, dann erzählte sie irgend was Gleichgültiges. Sie fuhr ganz gern einmal in die Nähe gefährlicher Klippen, aber zur rechten Zeit stemmte sie ihr Schiff geschickt von der Brandung weg. Er jedoch geriet in den Zustand, wo es den Menschen treibt, recht viel von sich zu reden; und da es unmöglich ist, daß man immer nur sich selbst betrachtet und schildert, wird es notwendig, auch von denen zu sprechen, die einem wichtig sind.

Während Groa vollkommen wahr gemeinte Briefe, überfließend von Liebesbeteuerungen, erhielt, hörte Ingerlild unter seinen Worten den Ton einer sich beengt fühlenden Seele heraus. Jürgen klagte nicht im geringsten über Groa, o nein, er rühmte sie sogar, aber in seinen Worten lag etwas wie ein Lob auf das Schicksal, das einem gnädig ist. Man ist wohl glücklich darin, wird aber nie das Empfinden los, daß man von der Hand des Unabwendbaren abhängig ist, und dies Bewußtsein dämpft die Freude an der noch so großen Gunst des Geschickes. Man verdankt sich das Glück nicht recht selbst, man ist nicht recht frei dabei; alles, was einem zufällt, kommt vom unentrinnbaren Lose.

Es war am Tage, bevor Jürgen Oldekopp seiner Frau nachreisen sollte. Er hätte die Zeit der Trennung nicht verlängern mögen, gleichwohl war ihm leise weh zumute, weil er von diesen Stunden des Erinnerns Abschied nehmen mußte. Es war nun wieder vorbei mit dem Sichgehenlassen, Groa verlangte, und mit vollem Rechte, daß er sich straffte.

Heute noch! – Er hatte einen Gedanken: auf seiner Schülerstube sollte ein kleines Fest gefeiert werden. Mama Hannchen und Ingerlild wurden dazu geladen. Die sagten freudig zu. Jürgen bereitete alles sorgsam vor. Er sperrte den Tag aus, indem er die Fenstervorhänge zuzog, er entzündete die trauliche Hängelampe, bei deren Schein er so manches Exerzitium geschrieben, sich über so manchen Geschichtszahlen gequält, aber auch manches seine Phantasie anreizende Buch gelesen hatte. An Wein, Likör – Mama Hannchen liebte dies seimige Getränk sehr –, Süßigkeiten und Rauchzeug war kein Mangel. Das Puppentheater zeigte den Festsaal in der Wartburg, und die Rampe war mit brennenden Lichtern besetzt, die ihren Schimmer auf die Versammlung edler Ritter und Damen warfen. Aus dem Schrank ward das Spielzeug hervorgeholt und ringsherum aufgestellt.

Jürgen stand und sah sich um, und ihm war schmerzlich zu Sinne. Wie grausam war das Leben, daß es den Menschen aus solchem Paradies vertrieb! Draußen rasche Tritte die Treppe herauf, Lachen von Frauenstimmen. Jürgen öffnete die Tür. Mama Hannchen und Ili machten erst noch auf der Schwelle halt, wunderten sich über die künstliche Beleuchtung, traten zaghaft näher, wie man in einen feierlichen Raum hineingeht, bestaunten redselig alles, was Jürgen aufgebaut hatte, und überreichten ihm dann Rosensträuße. Sie lächelten einander an, denn sie kannten wohl die Bedeutung dieses Abschiedsfestes. Ingerlild legte Hut und Handschuhe ab und ließ sich im Schaukelstuhl nieder, Mama Hannchen nahm ihren Lieblingsplatz auf der Liege ein. Jürgen füllte die Gläser, der Duft des Weins und des Likörs verbreitete sich im Zimmer, und unter Scherz und Geplauder dreier sich einiger Menschen verfloß schnell eine Stunde.

Da klopfte es an die Tür. Mama Hannchen hielt die Zigarette erschrocken unter den Tisch. Das Dienstmädchen trat nach Jürgens ärgerlichem Hereinruf ein und meldete: »Ob Frau Oldekopp vielleicht herunterkommen wollte. Herr und Frau Direktor Grönings sind da.« – Mama Hannchen brach fast in Tränen aus: »Die langweiligen Menschen!« Sie stampfte mit dem Fuße auf den Boden: »Hat mein Mann denn keine Zeit?«

»Nein, der Herr läßt sagen, er müsse zu Versammlung. Frau Oldekopp möchte so gut sein und die Herrschaften empfangen. Um sieben wäre der Herr wieder hier!«

»Hast du Grönings gesagt, daß ich zu Hause bin?« – »Ja.« – »So dumm!« Mama Hannchen nahm das Mundtuch und schleuderte es auf den Teppich. »Immer sagst du das Verkehrte! – Ach, was hilft es!« wandte sie sich seufzend zu Jürgen und Ingerlild. »Mein Mann wird böse, wenn ich die langweilige Gesellschaft so wieder wegschicke, und das sind Leute, die um fünf kommen und bis elf bleiben. Zum Verzweifeln!« Sie erhob sich. »Und es war so gemütlich hier. – Was stehst du denn noch da?« fuhr sie das Mädchen an. »Du siehst ja, ich komme schon.« – Das Mädchen verschwand. – »Ja. Kinder, denn also« – Mama Hannchen leerte ihr Glas und tat noch einen rechten Zug aus der Zigarette – »amüsiert euch gut.« – Sie warf einen leidvollen Blick auf den Tisch, ordnete ihr Haar und verließ traurig die Stube.

Das Leichte, Flirrende, das über der vorigen Stunde geschwebt hatte, verschwand mit ihr. Jürgen und Ingerlild wurden ernst und sprachen eine Weile gar nichts. Ingerlild hatte ein Knie über das andere geschlagen und wiegte sich leise im Stuhl. Er schaute in sein Glas; die Rampenlichter drangen tiefrot gefärbt und sachte flackernd durch den Wein hindurch.

»Morgen mittag fährst du?« fragte Ingerlild schließlich.

Ja.«

»Ich glaube, es wird Zeit für dich. Du hältst das Alleinsein, ich meine das Getrenntsein von Groa nicht länger aus.«

»Denkst du?«

»Ja. Ich kann mir nicht helfen; all das, was du hier anstellst, dies Hervorholen der alten Sachen, dies Versinken in die Vergangenheit – ist das ganz echt bei dir? Oder soll es dir nur dazu dienen, deine Sehnsucht zu betäuben?«

»Vielleicht beides, Ingerlild. An der Echtheit zu zweifeln, hast du keinen Grund. Ich liebe dies alles. Geht es dir denn anders?«

»Mir? Auf mich kommt es gar nicht an, guter Jürgen. Ich bin dir ja bloß wieder mal gefällig gewesen, indem ich an deiner Erinnerungsliebhaberei teilnahm. Du bist es gewohnt, von mir zu verlangen, daß ich mich nach dir richte, wenn du es auch nicht ausdrücklich sagst. Und ich tue es gern. Freilich habe ich das Gefühl, daß ich darin zu weit gehe. Denke an unsere Kindheit, als ich mich von dir an den Baum binden ließ.«

»Ich habe darüber nachgedacht, Ingerlild. Warum tat ich das? Begreifst du, daß es aus dem Wunsche geschehen sein kann, so etwas von dir zu erfahren? Aber du erfülltest mir diesen heimlichen Wunsch nicht.«

Ingerlild schüttelte den Kopf. »Hab' ich nicht im entferntesten dran gedacht.«

»Einerlei. Laß uns nicht mehr von den alten Zeiten reden. Es war in diesen Wochen wunderschön für mich, daß du auf alles eingingst. Das vergess' ich dir nicht, Ili. Ich brauchte das. Man hat in seiner Seele doch ein volles Saitenspiel: schade, wenn einige Saiten nie benutzt werden! Das macht sie dumpf, oder auch: sie reißen!«

»Bei dir ist noch nichts zersprungen, Jürgen.«

»Nein, aber vielleicht einiges erschlafft.« Er hob die Hände, als wolle er sich von vornherein dagegen verwahren, irgendeinen Vorwurf gegen irgendeinen Menschen ausgesprochen zu haben. »Es muß ja sein, nicht wahr?« sagte er. »Es geht ja nicht anders. Man kann nicht auf allen Saiten spielen – nicht wahr Ingerlild?«

»Wen fragst du das? Die paar Töne, die ich noch habe …«

»Doch nicht, Ingerlild.«

»O doch, Jürgen. Du weißt das recht gut.«

Er schwieg beklommen; sie hatte ihn bedeutsam angesehen, da war ihm das Andenken an seine Schuld aufgewacht: hatte er sie nicht verlassen? Ingerlild regte sich im Stuhl, wie man es tut, wenn man von etwas Neuem anfangen will. Sie klopfte mit den Fingerspitzen auf die Lehne und schob das Kleid, das sich am Knöchel zurückgezogen hatte, wieder hinunter. »Sage mal, Jürgen, aber aufrichtig: wie spricht Groa von mir?«

»Oh, gut. Wie denn sonst?«

Seine Antwort hatte zu gedehnt geklungen, als daß Ingerlild nicht ihren eigentlichen Sinn heraushörte. »Ja, wir sind eben gar keine Schwestern«, warf sie hin. »Es ist selbstverständlich, daß Groa nicht viel von mir hält, sie hat sich nie damit abgegeben, mir nachzuspüren, sie kennt mich gar nicht. Sie strengt sich ja überhaupt nicht an, einen Menschen zu ergründen. Wer nicht gleich so ist, wie sie ihn haben will, den verachtet sie.«

»Nein, da tust du ihr unrecht. Sie geht den Menschen sehr weit nach. Ich weiß das von mir selbst. Es scheint nur so, als sei sie gleichgültig und lasse alles an sich herankommen. In Wahrheit hat sie einen so scharfen Blick, daß sie jeden, der vor ihr steht, sofort durchschaut, dann allerdings ist ihr Urteil auch gleich fertig; aber ich habe noch nicht gefunden, daß sie sich irrte.«

»So? Also hat sie auch in ihrer Meinung über mich recht?«

»Du brauchst nicht übertrieben mißtrauisch zu sein. Sie äußert sich wirklich nicht böse über dich. Das ist nicht ihre Art.«

»Nein. Sie tut einen einfach ab.«

»Sie hätte dir gewünscht, daß du bei der Musik bliebst. Als du zum Malen übergingst, und es damit auch bald aus war, ja, da hat sie es bedauert, weil du nirgend Befriedigung findest, und die anderen Male, wenn sich Schön-Ingerlild für etwas begeisterte und dann so rasch wieder dabei Langeweile kriegte – mußte ihr das nicht leid tun? Mir ist es, offen gestanden, ebenso gegangen.«

»Ja, aber es ist doch ein Unterschied zwischen euch. Groa tadelt es von einem erhabenen Richterstuhl herab, wenn ich mir Abwechslung verschaffe; du dagegen, Jürgen …«

»Gewiß, ich bin überzeugt, daß es so zu dir gehört. Und das kann kein Mensch ändern.«

»Siehst du? Und weil du auch nicht von mir verlangst, daß ich mich ändere, darum stehst du mir viel näher als meine eigene Schwester.«

»Ja, Ili, ich will dich so, wie du bist!«

Seine Stimme war herzlich. Die Augen des Mädchens verdunkelten sich dadurch, daß ein Tränchen auf das untere Lid heraustrat. Sie ließ die Knie nebeneinander sinken, lehnte sich weit in den Stuhl zurück und schaute trostlos zur Decke empor.

»Bildet euch nur nicht ein, daß ich nicht an meiner Unvollkommenheit leide, Jürgen. Ich weiß alles, was ich falsch gemacht habe; ich weiß, daß ich einem traurigen, furchtbar einsamen Alter entgegengehe. Ich bin ja jetzt schon alt. Aber wenn man wenigstens eine Menschenseele besitzt, die einen nimmt, wie man ist, und einem nicht immer mit Worten oder auch aus stumme Weise vorhält, wie man fein sollte, dann trägt sich ja die Einsamkeit schon leichter.«

Jürgen war aufgestanden und ging zu ihrem Stuhl. »Die Seele hast du, Ili.«

Sie gab ihm die Hand: »Dank dir, Jürgen!«

Er streichelte ihr die Hand und führte sie dann an seine Lippen. Es dauerte etwas zu lange, bis er sie wieder vom Munde ließ; Ingerlild entzog sie ihm zuletzt. Schwer atmend stützte er sich, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, an den Schrank. Ingerlild sah, wie seine Brust arbeitete, also war Gefahr vorhanden. Rasch ausweichen. Sie sprang auf. Sie war lustig. »Ach, was soll die ganze Denkerei, das ganze Gefühlsspalten!« Sie schwang das Glas. »Komm, Jürn!«

Er stieß mit ihr an, aber sein Antlitz war nicht heiter dabei. Er setzte das hastig ausgetrunkene Glas hin und nahm wieder seine Stellung am Schranke ein. Ili flatterte in der Stube herum, betastete dies, legte jenes zurecht. Sein Blick folgte ihrer geschmeidigen, anmutigen Gestalt unablässig. Dann langte sie nach ihrem Hut. »Ich muß gehen.«

»Bleib' doch noch«, bat er. »Wer kann ahnen, wann wir wieder mal so auf meiner Stube zusammen sind?«

Sie ließ den Arm, den sie schon nach dem Hut ausgestreckt hatte, ein wenig sinken. »Wirst du Groa erzählen, daß ich heute nachmittag so bei dir war?«

»Warum nicht?«

»Ja, man erzählt wohl, aber man erzählt damit doch nicht alles – nicht wahr?«

»Das kann man gar nicht. Das Feinste läßt sich nicht in Worte kleiden, und zwänge man's, so würde es so plump und ungeschickt klingen, daß der, dem man es sagte, doch keinen Begriff davon bekäme, was man eigentlich erlebt hat.«

»Unsere innerlichsten Erlebnisse dringen ja überhaupt nicht bis zu Worten durch.«

»Hast du das oft erfahren?«

»Nein. Nur ein paarmal.«

»Wann zuletzt?«

»Muß ich dir das sagen?«

»Bitte!«

»Und wenn ich es dir nicht sage, weißt du dann, wann es gewesen ist?«

»Ja, Ingerlild. In diesen Tagen. Hier bei mir.«

»Ich habe nichts gesagt.«

Nur ein wenig, so daß er die Ellbogen noch am Körper behielt, breitete er die Arme voneinander und fuhr leise fort: »Ili, sei gut zu mir.«

»Was willst du denn, Jürgen? Sei doch nicht töricht. Zerreiß' dich nicht. Wir gehören nun einmal nicht zusammen.«

»Doch. Hast du das nicht gefühlt, gerade in diesen Tagen, in dieser Stunde?«

»Gehören und gehören ist zweierlei. Du gehörst Groa.«

Sein Haupt senkte sich: »Ja.«

»Also gibt es zwischen uns beiden nichts.«

»Kannst du das aussprechen, ohne dir selbst was vorzulügen?«

»Immer wieder bitte ich dich, Jürgen, zerreiß' dich nicht. Ich kenne dich. Das regt sich in dir immer nach dem Menschen hin, der dir am nächsten ist. Sowie Groa erscheint, hat sie die unbeschränkte Macht über dich. In den letzten zwei Wochen, wo du sie nicht hattest, fühltest du mich wieder dicht bei dir. Da tauchte unsere frühere Zeit auf; es war ja auch schön, wir haben sie noch einmal durchgekostet. Nun lösche die Lichter an deinem Theater aus. Das Stück ist zu Ende. Glaub' es mir, Jürgen, das ist ganz und gar nichts Seltenes, daß ein Mann zwei Frauen liebhat oder sogar liebt. Ich bezweifle, daß es überhaupt einen Mann geben kann, der alles, was er an Liebe in sich hat, nur auf eine Frau richtet. Ich lass' es mir auch ruhig gefallen, wenn du mir einen Teil von deinem Herzen schenkst. Ich nehm' ihn an. Das ist so eine kleine, allerdings sehr nutzlose Rache für mich. Aber ich rate dir als deine Freundin: kommt hier nicht mehr oft her und schau' diese alten Dinge, die ich in der Hand gehabt habe, lieber gar nicht mehr an. Groa ist sehr klug, und sie ist gewiß auch ziemlich duldsam, aber die Grenze, wo bei uns Frauen die kluge Duldsamkeit aufhört, ist immer recht eng gezogen, und du bist nicht der Mann danach, um mit deiner Frau in Unfrieden zu leben. Wenn du jetzt hier fortgehst, dann zieh den Schlüssel ab und gib ihn jemand, damit er ihn versteckt, wo du ihn nicht wiederfinden kannst.«

»Immer sprichst du von mir! Ja, ja, ich bin dir dankbar! Du willst mir was Gutes tun, du willst mich schonen. Aber wenn ich dir nun sage, ich habe ja gar keine glühendere Sehnsucht in mir, als mich zu zerreißen, wie du es nennst!«

»Dann erwidere ich dir, daß ich genau so meinen Stolz habe wie Groa. Man gehört einander, oder man gehört einander nicht. Ein Zwischending gibt es nicht.«

»Du erklärst doch eben selbst, daß es keine Seltenheit ist, wenn ein Mann zwei Frauen liebt.«

»Er mag sie lieben. Die eine, die seine Frau ist, weiß meistens von dem Zwiespalt nichts, die andere, nach der er sich nur sehnt, ist ganz bedeutend mehr eingeweiht. Sie kennt die Wirrnis in seinem Herzen und ist daher auch schon vertrauter mit ihm als die eigene Frau, vor der er immer Geheimnisse hat, haben muß, um der lieben Hauseintracht willen. Darum hat das ahnungslose Eheweib auch ein viel leichteres Leben als die andere, die immer kämpfen muß gegen den Mann und – gegen sich selbst.«

»Das gestehst du mir ein, Ingerlild? Du hast in dir zu kämpfen?«

»Nun soll ich wohl wieder an den Baum gebunden und mit Tomahawks und andern lieblichen Instrumenten behandelt werden, nicht wahr? Das gelingt dir nicht mehr, mein Junge.« Sie trat auf das Puppentheater zu und blies die Lichter aus. »Wenn du es nicht selber tust, siehst du?« Sie ließ den Vorhang herunterfallen. »So! Schluß der Kindervorstellung. Die Herrschaften können nach Hause gehen.«

Sie setzte ihren Hut auf, nahm ihre Handschuhe und wollte sie anziehen; er aber hielt ihre Hände fest: »Geh noch nicht, Ili! Ich muß noch über so vieles mit dir reden!«

»Ach, Jürgen, das Viele wäre doch immer nur das eine. Wir haben uns ja alles gesagt. Laß mich los, wirklich! Alles gesagt, schon durch das – bitte, laß mich los! – durch das, was wir uns verschwiegen haben.«

Sie rang mit ihm, er umklammerte sie noch, ihre Wangen wurden heiß. Da ihr Widerstand nichts fruchtete, überließ sie ihm endlich ihre Hände: »Also, mach', was du willst. Foltere mich. Ich bin dir ja nie zu etwas Besserem gut genug gewesen.«

Dies ihr Ergeben war stärker, als ihr heftigstes Sträuben gewesen wäre. Gleich hatte sie die Hände frei und trat ihm nahe, indem sie langsam die Handschuhe überstreifte. »Denk' nicht mehr an mich, Jürgen, nicht so, wie du es in diesen Tagen getan hast, deinetwegen. Ja, zu allererst für dich, aber dann auch meinetwegen. Ich brauche, gerade weil ich so wankelmütig erscheine, meine Selbstachtung. Die hab' ich auch für gewöhnlich. Ich nehme mir einfach das Recht, mir mein Dasein so einzurichten, wie das den ganz ordentlichen Gemütern nicht passend deucht. Aber das Gefühl, daß du mich nicht höher stellst, als ihr Männer im allgemeinen eure Nebenliebe zu stellen pflegt …«

»Ili!«

»So? Ist es mehr in dir, Jürgen?«

Er stürzte vor ihr auf die Knie und beugte das Haupt tief hinunter. Die ganze, zusammengekrampfte Gestalt war ein einziges Flehen: Setz' mir den Fuß auf den Nacken, gönn mir ein einziges Mal das schrankenlose Glück, eine Gebieterin nicht immer nur um mich und über mir zu haben, sondern sie auch zu fühlen, hart, unerbittlich – bis zur Erde beuge mir den Nacken hinab, und ich will dir den Fuß küssen in Demut und Dankbarkeit.

So lag er, stammelte nur einige abgerissene Worte, und Ingerlild, in allen Liebessachen von Natur unterrichtet, begriff sein Flehen wohl. Eine Gier flammte in ihren Blicken auf. Ihr Fuß zuckte.

Jürgen mußte das bemerkt haben, denn es lief ein Schauer durch seinen Körper, und er kauerte sich noch kleiner zusammen. Aber dann wich das Mädchen wie vor einem Schlund zurück, beugte den Kopf hintenüber, schloß die Augen, wie jemand, der Grausiges gesehen hat, und rang die Hände, wie man es in der Erinnerung an eine große Gefahr tut. Schon war sie einen Schritt von ihm weggetreten.

Er ächzte in seiner Enttäuschung. Ingerlild fand ihre Fassung wieder: »Komm du auch zu dir, Jürgen. Schnell. Ich mag dich nicht so sehen.« Sie kehrte sich unwillig von ihm fort und ging auf die Tür zu. Die Kälte in ihrem Ton ernüchterte ihn. Er sprang auf: »Du bist mir böse? Hab' ich dich verloren?«

»Nein, es schmerzt mich nur, daß du leidest. Und niemand kann dir helfen.«

»Du hast wohl recht: niemand!« Dann bäumte es sich vor Zorn in ihm auf: »Weil du nicht willst, weil all das Gerede von Verstehen und Begreifen lächerlich ist! Weil du nicht die Kraft hast, einmal …«

»Kraft?« unterbrach ihn Ingerlild. »Willst du von Kraft sprechen, Jürgen Oldekopp? Bildest du dir ein, es gehört mehr Kraft dazu, sich vor jemand hinzuwerfen, als ihn so liegenzulassen?«

»Also deine Wünsche ganz, ganz im geheimen –«

»Die gehen dich nichts an.«

»Doch! Ich entwinde sie dir! Ein einziges Mal. Ich sauge sie aus dir heraus!«

Er sprang auf sie zu, riß sie an sich, sein Mund suchte den ihren. Sie keuchte mit Aufbieten all ihrer Besinnung und all ihrer Macht, bis sie ihn fortgestoßen hatte. Dann richtete sie sich hoch auf und sagte drohend: »Nicht! Du! Schäm' dich!«

Er fiel schlaff in einen Stuhl und brütete vor sich hin. Ili wußte, jetzt war die Gefahr vorüber. Sie hatte – fast gegen ihren Willen – gesiegt. Die Falte zwischen ihren Brauen glättete sich. Noch war ihr Zeigefinger emporgestreckt wie vor einem unartigen Kinde: »Verbotene Früchte! Hüte dich! Der Saft berauscht böse. Nicht anrühren, Jürgen!« Ein Lächeln huschte um ihre Lippen; ganz echt schalkhaft aber klang es nicht, als sie fortfuhr: »So ein Verführer ist mein Herr Schwager? Man soll sich wohl wahren, einer Künstlerseele zu trauen. Die schweift weit umher und denkt, sie ist in allen Welten heimisch.« Gleich wandelte sich ihr Ausdruck dann in Mitleid um. »Jetzt bist du ganz ruhig, lieber Freund, – nicht wahr? Mein alter guter Jugendkamerad? Ich will dir doch keine Schmerzen bringen!« Abermals wechselte es auf ihrem Antlitz; es lag Angst und Furcht darauf. »Jürgen, bitte, bitte, nie wieder so etwas! Nie wieder, hörst du? Ich bin ja doch auch nur ein Mensch!«

Ein Ruck durchfuhr den Mann bei diesem Geständnis ihres innersten Wunschlebens; er wollte von neuem auf sie zu …

Da war sie aus der Tür, die sie hinter sich zuzog, als wäre das Schloß eine sich tief in das Holz einbohrende Schraube.

*

Obgleich Jürgen Oldekopp in seinem Verlangen nach Ingerlild nur seiner Natur gefolgt war, hatte er doch Schaden an seiner Seele genommen, denn er war fortan gezwungen, eine Maske zu tragen, und wer kann darunter richtig atmen? Als Ingerlild ihn verlassen hatte, schaute er umher. Die Stube mit allem, was darin stand und lag, war nicht mehr der alte Raum seiner harmlosen Spiele; die Dinge, die er so geliebt hatte, kamen ihm öde und abgeschabt vor. Haftete überall Staub, oder was war das sonst für ein Schleier, der ihn am klaren Sehen hinderte? Urplötzlicher Verfall, jäher Einsturz, raschestes Einschrumpfen seiner Erinnerungen …

Er wußte auf einmal von seiner Jugend nichts mehr und hatte doch die beiden Wochen hindurch so an ihr gehangen. Es dämmerte ihm auf: Ili war die Verkörperung seiner früheren Zeit gewesen. Was auf den Sachen von ihr zurückgeblieben war, ihre einstige Berührung, ihr Hauch, das hatte ihm den eigentlichen Wert, den eigentlichen Geist dieser Andenken an die verklungenen Tage bedeutet. Hätte sie seiner Leidenschaft, die ja seit seinem Erwachen zur Männlichkeit in ihm geruht haben mußte, vorhin gewillfahrt, so wäre alles um ihn herum verklärt worden. Sie stieß ihn von sich, und ihm erschien seine Umgebung tot und verwest. Er riß den Vorhang vom Fenster, daß das fahlgelbe Tageslicht hereindrang. Er löschte, vom Zwielicht gepeinigt, die Lampe aus.

So … mit den Wonnen, die er in dieser Stube genossen hatte und die er durch den Rausch an Ingerlilds Lippen bis ins Unermeßliche hatte steigern wollen, war es für ewig zu Ende. Er verließ das Zimmer und merkte, daß er die Tür sehr behutsam schloß, auch ertappte er sich dabei, daß er auf der Treppe nicht recht aufzutreten wagte und unten im Flur einen scheuen Blick durch das Fenster warf, das in die hintere Ladentür eingelassen war, als wolle er nicht gern, daß sein Vater ihn sehe; er machte ein paar Schritte über den Markt und traute sich nicht weiter, sondern wandte sich zur Linken und scheuerte rundum an den Häusern entlang, anstatt quer über den Platz zu gehen; er schlug die Richtung nach seinem Hause ein und wagte doch nicht, den kürzesten Weg zu nehmen. In großem Bogen schweifte er durch das Arbeiterviertel, wo ihn niemand kannte, durch Badorf, am Lommer See entlang und endlich über den Kaßberg hinüber. Müde kam er zuletzt vor seinem Garten an.

Er faßte die Pfortenklinke, und seine Hand zuckte wieder von dem Messing zurück, denn ihm war, als hätte er über eine andere Hand, die die Klinke festhielt, gegriffen – war es Groas? –; und diese andere Hand wollte ihm verbieten, einzutreten. Doch er konnte nicht immer draußen bleiben, er faßte Mut, öffnete die Tür und schlenderte durch den Garten. Dabei spähte er unruhig hier- und dorthin, ob auch irgendein Teil vernachlässigt sei. Ja, die Beete und Gebüsche dünkten ihn unordentlich; den Rasen, über dessen Üppigkeit er sich gefreut hatte, nannte er bei sich wild, und die Steige waren seinen Augen auf einmal ein Greuel an Unsauberkeit. Hastig packte er seine Koffer, womit er gut bis morgen früh hätte warten können; kaum hatte er mancherlei hineingetan, so wühlte er es wieder heraus. Er fürchtete, er habe das Zeug nicht sorgsam genug geglättet. Wenn irgend jemand – dachte er an Groa? – einen Blick darauf warf, mußte er den Eindruck gewinnen, als sei hier ein völlig Zerstreuter am Werk gewesen, und doch lag alles genau und gerade.

Nun kam der Abend – nun kam die Nacht, das waren entsetzlich lange Zeiten, und dennoch graute ihm davor, daß sie vorübergehen könnten. Morgen früh war schon so nahe, und dann mußte er reisen … zu seiner Frau. Ob er nicht drahtete, daß er erst übermorgen, erst in einer halben Woche fahren könnte?

Nein, nein! Nicht lügen! Es blieb, wie es bestimmt war. Aber allein vermochte er in dieser Dunkelheit nicht zu sein. Er raste wieder aus dem Hause der inneren Stadt zu, fand lustige Gesellschaft, war der Ausgelassensten einer, und man spaßte darüber, wie gründlich er den letzten Abend seines Strohwitwertums noch ausnutzen wollte. Er gab allen recht: »Jawohl! Freiheit, die ich meine!« Er stürzte den Wein hinunter, aber anstatt daß er davon belebt wurde, senkte es sich dumpf über ihn; er brach gleichsam in sich zusammen, und seine gemachte Heiterkeit war schnell dahin. Stier und stumm saß er da, die Hände in die Taschen vergraben, horchte nicht mehr auf die Witze, trank nur mit Gewalt in sich hinein, machte bissige Bemerkungen über alles mögliche, verschonte selbst seinen Schwiegervater nicht, suchte Streit, wurde von den andern, die nicht in ihrer Munterkeit gestört sein wollten, links liegengelassen und sprang dann plötzlich auf. Man gab sich keine Mühe, ihn zurückzuhalten.

All dies war nur die Schwüle, das Wolkenansammeln, das Windstocken vor dem Gewitter. Als Jürgen sich heimschleppte, tobte es in ihm los; er lernte es kennen, was ein grollendes Gewissen heißt. Selbstverachtung, Scham vor Ingerlild und Scheu, Groa vor die Augen zu treten – das waren die Gefühle, die ihn hin und her zerrten. Aber seine Reue half ihm nichts: unabwendbar kam die Stunde, wo er genötigt war, seiner Frau die Hand zu reichen, sie zu küssen. Also galt es, seine Kräfte zusammenzuraffen, damit Groa das Geschehene nicht ahnte. Ihm schien, er habe auf Erden sonst nichts mehr zu tun, als nur die Rolle eines unbefangenen Mannes zu spielen. Es bedurfte seines ganzen Scharfsinns, es bedurfte der schlauesten Berechnung, damit er den Bruch, den er in der Seele erlitten hatte, heimlich hielt. In seiner Verzweiflung mußte er auflachen. War er nicht wie ein kleiner Junge, dem eine Nippsache entzweigefallen ist und der die Stücke aufeinandersetzt und das Ganze wieder da hinstellt, wo er es weggenommen hat? Die Mutter geht vorüber und denkt, die Vase sei heil wie immer; sie sieht den Riß nicht. Aber jedesmal, wenn sie in die Nähe kommt, glaubt das Kind vor Furcht der Entdeckung zu ersticken; und eines Tages, ja, als der Staub vom Schrank gewischt werden soll, da fällt der Mutter der abgebrochene Teil entgegen. Was tut nun der kleine Junge? Leugnet er, von etwas zu wissen? Oder weint er sich nicht lieber an der Mutterbrust aus und erleichtert sich das Gemüt durch ein Geständnis auf die Gefahr hin, bestraft zu werden? Ja, was tut er? Wer konnte das wissen? Stimmte der Vergleich überhaupt? War Jürgen Oldekopp auch so ein Knabe? War es unvermeidlich, daß das, was er verbergen wollte, einmal ans Licht kam? – Ja, in mancher Hinsicht glich er solchem Kinde. Aber er hatte keine gleichgültige Nippsache zerbrochen, sondern der Riß, woran er schuldig war, ging durch sein eigenes gesamtes Leben.

Nicht still hinstellen konnte er den verdorbenen Gegenstand; er trug das Zerstörte mit sich herum, er war es selbst in ganzer, eigener Person. Wenn er nun jenen besseren Vorsatz des Knaben sofort ausführte und sich vor Groa entlastete, und wenn dann auch etwas von der Mißachtung, die er gegen sich selber hegte, in ihr aufleben würde: entwertet war und blieb er ja freilich mit dem Schaden für sie, aber lieben konnte sie ihn trotzdem noch, und er hatte die Überzeugung, sie verzieh ihm mütterlich. Dann war er der Gewissensqualen ledig und fand bei Groa sogar noch Schutz vor neuen Anfechtungen. Dann war er ihr näher als je zuvor.

Er weidete sich an dem Glück, so ins Sichere zu gelangen. Er freute sich darauf, zu Groa zu eilen und ihr alles zu sagen. Er konnte das, wie ihm deuchte, sehr leicht, denn etwas Tatsächliches, etwas Schlimmes hatte sich ja zwischen ihm und Ingerlild keineswegs ereignet. Daß er viel von Ingerlild hielt, wußte Groa und auch, daß Ingerlild ihm gut war. Nun also, wenn er im Gedenken des einstigen häufigen und engen Zusammenseins mit dem Mädchen einmal zu warm für Ili gefühlt hatte, war das so arg?

Gewiß nicht. Beinahe als Scherz konnte er es Groa erzählen, wie ihn die alte Jugendliebe übermannt hatte, wie sie dann aber beide … und hier kam schon das gefährliche Umdrehen zu seinen Gunsten … beide verständig genug gewesen waren, auch nicht im geringsten vom rechten Wege abzugleiten. So wollte er es machen, um vor seiner Frau die Last von sich zu werfen, dann durften er und Groa und Ingerlild zufrieden sein. Er, weil er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, Groa, weil sie sah, daß jene Jugendschwärmerei wohl wieder einmal in ihm aufgeblitzt war, aber kein Unheil angestiftet hatte und fortan sicherlich erst recht nicht mehr verhängnisvoll wurde; und Ingerlild, weil Jürgen sie in die helle Sonne der großen Tugendhaftigkeit hineinstellte.

Wahrhaftig, das ging! Wäre es nur schon so weit, daß er mit Groa am Strande ging und ihr dies kleine Erlebnis – mehr so vom rein seelenkundigen Standpunkt aus, wie bedeutend doch im allgemeinen der Einfluß der Erinnerung auf den Menschen sei, als von der persönlichen, ihn besonders angehenden Seite schilderte! Ja, er sehnte sich jetzt, als er draußen vor der Stadt durch die Nacht hinirrte, nach seiner Beichte. Er war ein gutes, restlos jedes Versehen eingestehendes Kind!

Aber sein Gewissen meinte das nicht so ganz. Die Umdrehung, daß sie beide, er und Ingerlild, natürlich sofort vernünftig gewesen wären, wurde von dieser unangenehmen, den geringsten Lügenversuch sofort rächenden Kraft nicht zugelassen. Wie eine schwere Faust griff das Gewissen mitten in Jürgens Gedanken hinein und zerquetschte ihm seine Schlauheit. Er war gezwungen einzuräumen, daß er es Ingerlild allein zu verdanken hatte, wenn er jetzt nicht zugleich mit der Erinnerung an eine ihm nie wieder die Sinne loslassende Stunde der Lust noch eine viel brennendere Reuebürde auf dem Nacken schleppte. Das Gewissen ersparte ihm nichts. Ein rückhaltloses Bekenntnis vor Groa abzulegen, war Jürgen erlaubt, sich selbst aber irgendwie zu entschuldigen, wurde ihm verwehrt.

Um seines Daseins wieder froh zu werden, mußte er zuerst Groas Verzeihen erringen, indem er ihr nichts verschwieg. Hatte er, nach dem Fuße der Gebieterin lechzend, vor Ingerlild gekniet, so mußte er sich jetzt vor Groa beugen, nicht in der Hoffnung auf ein süßes Spiel, sondern in der Erwartung, daß sich ihre Hand auf seine Schulter legte und daß sie ihn fragte: Warum das? Bin ich dir nicht genug? Und er mußte jede, aber auch jede ihrer Fragen offen beantworten und durfte nicht den kleinsten Teil seines Ichs unter einem schönen Tüchlein verdeckt halten. Er mußte zugestehen, daß sie ihm wirklich nicht genug war, daß er sich noch nach etwas anderem sehnte, als sie ihm bot, ihm bieten konnte, und daß er dies andere in Ingerlild gewittert und bei Ingerlild gesucht hatte. Wenn sie dann weiterforschte, ob er es fortan entbehren und sich nicht mehr danach sehnen wolle, durfte er auch nach allerpeinlichstem Prüfen seines Herzens nicht einfach erwidern, daß es nun für immer mit seinen Wünschen vorbei sei, sondern er konnte Groa nur bitten, sie möge ihm helfen, er wolle redlich das seine tun, um stark zu bleiben und das in sich zu zertreten, was sie nun einmal nicht in ihm liebte.

Mehr durfte er nicht versprechen, wofern er ein unbedingt gehorsamer Knecht seines Gewissens und doch der freieste Mensch von der Welt werden wollte. Das war der Weg nach rechts, schmal, steinig und von Dornen eingesäumt. Er leitete zur Höhe. Jürgen jedoch war ja einer von denen, die nach links blicken, wenn sie rechts meinen, und er bog denn auch an diesem Kreuzwege zuletzt verkehrt ab und kam auf einen Pfad, der allerdings auch nicht anmutig genannt zu werden verdiente – o nein, er war sogar sehr sandig und von tiefen Löchern ausgehöhlt. Aber er erschien Groas Mann immer noch besser als der andere, allzuviel Mut, Selbstentäußern und Demut von ihm fordernde Weg. Daß Ingerlild ihn nicht verriet, dessen war er gewiß, wie der Mensch ja immer darauf baut, daß derjenige, der es ihm abgeschlagen hat, bei etwas Bösem sein Mitschuldiger zu werden, auch anständig genug ist, den Mund über die ganze Geschichte zu halten.

Also entschloß sich der Baumeister, ein rechter Mann zu sein und Groa nicht in die Regungen hineinschauen zu lassen, die während der letzten Zeit so heftig in ihm waren wie nie zuvor, und er kam sich sehr heldenhaft vor, als er bis zu diesem vermeintlichen Überwinden seines Gewissens gelangte. Nach einem Schlaf, der mehr ein Bewußtlossein denn ein Schlummer zu heißen war, traf er fast willenlos seine letzten Vorbereitungen zur Reise. Er fuhr ab, freute sich auf Gunhild und war im Gedanken an Groa ruhig. Sie sah den Riß sicherlich nicht, sollte ihn niemals sehen. Was er ihr freiwillig an Untertänigkeit darbringen wollte, das bezog sich doch schließlich nur auf jene Dinge der Leidenschaft, die ihr wenig galten. Als Mann mußte er alles tun, um neben ihr zu bleiben und sich nicht unterjochen zu lassen. Er war in der Notwehr. Darum: Männerlist gegen Frauenklugheit. Jürgen Oldekopp, der Tor, faßte sich wieder einmal nicht das Herz, in das Tor der Erlösung einzugehen. Es schien ihm noch leichter, eine Maske zu tragen, als sein Gesicht zu zeigen, wie es war. Er bildete sich ein, er müsse als Mann ganz in Groas Wesen verschwinden, wenn er ihr alle seine Gedanken beichtete, und könne sich sein eigenes Ich nur dann bewahren, wenn er die Kraft besaß, dem Mahnen seines Gewissens zu widerstehen und sich seiner Frau nicht zur Fällung eines Richterspruches auszuliefern. Menschenrecht über Gattenpflicht!

*

Oldekopps verlebten im Seebade eine ungetrübte Zeit. Jürgen war aufgeräumt und beweglich. Die Maske saß ihm so trefflich, daß Groa, die überhaupt nicht zum Argwohn neigte, sie in der Tat gar nicht bemerkte. Er machte sich beliebt und ersann mancherlei, wodurch er die Gäste untereinander verband. Er veranstaltete kleine Feste, Beleuchten des Strandweges, Kinderspiele; und alles, was er in die Hand nahm, gelang. Wenn er einen Luftballon steigen ließ, ging das papierne Ding mit dem Spiritusflämmchen unten am Drahtkreuz hoch übers Meer empor; war er es, der eine Verlosung einrichtete, so gab es Gewinne, worüber Mann, Weib und Kind sich wirklich freuten. Seine Ansprache an das alte Ehepaar, das in diesem Sommer zum fünfundvierzigsten Male die Kräfte an der schön und gesund gelegenen Stätte auffrischte und zu dessen Ehren eine Feier abgehalten wurde, war gemütvoll und humoristisch zugleich. Der Badekapellmeister fragte bei ihm an, was er am liebsten spielen lassen sollte, und Oldekopps Sandburg war ihrer Größe und ihrer kunstvollen Anlage wegen am Strande berühmt.

Ja, es ging: Herr Stadtbaumeister hier, Herr Stadtbaumeister da aus dem Munde von jung und alt; Groa wunderte sich über die Geselligkeit ihres sonst nicht zum regen Verkehr mit Menschen geneigten Mannes, aber sie sah darin ein Zeichen von körperlicher Frische, und ein Lächeln überflog stets ihr Gesicht, wenn sie beobachtete, wie er Gunhild herzte und unablässig bestrebt war, der Kleinen alles so zu bereiten, daß diese Wochen zu einer schönen Erinnerung für ihr ganzes Leben werden mußten. Die Liebe, die er für das Kind verströmte, war Jürgens aufrichtigstes Gefühl; ob er nicht aber vielleicht auch etwas von dem, was er gefehlt hatte, durch seine Zärtlichkeit gegen Gunhild bei Groa wieder gutmachen wollte? Er war sich dessen nicht bewußt, denn er vernachlässigte seine Frau nicht, und die ziemlich laute Art, in die er sich hineinlebte, bewirkte, daß ihm das letzte Geschehnis auf seiner Schülerstube mehr und mehr zum Traume wurde. Er fand, er habe sich nachher unnütz gepeinigt. Es war doch nun einmal nichts vorgefallen. Er mußte es nur selbst nicht so ernst auffassen, daß ihm das Überschäumen seiner Neigung zu Ingerlild – die Neigung wollte er gar nicht leugnen und brauchte es auch nicht zu tun! – einen kleinen Streich gespielt hatte. Seine Künstlerseele war daran schuld, wenn er sich nicht immer nach den Gesetzen der Philister richten konnte. Unter die Füße treten! Nichts mehr von Reue und Gewissensbissen!

Ingerlild besaß, was Groas Einfachheit nicht in sich barg; er hatte die Arme danach ausgestreckt, es war ihm glücklicherweise versagt worden, und nun sollte es mit dieser Sehnsucht vorbei sein! Er wollte das große Selbsterlösen vollziehen. Es ging ja so mit den Flammen: bevor sie verlöschten, zuckten sie noch einmal mächtig empor. Seine Befreiung aus mancherlei Dumpfem hatte eben mit jener Stunde angefangen, und er war nun kräftig genug, sie rasch zu vollenden. Es wäre unmöglich gewesen, Groa einen rechten Begriff von seinem Leiden und Ringen zu geben. Sie würde nur beunruhigt worden sein und konnte ihm gar nicht helfen.

Die Maske, die sich Jürgen Oldekopp vorgebunden hatte, wurde ihm so selbstverständlich und verwuchs so mit ihm, daß er sie fast nicht mehr spürte. Nur in der Stunde fiel es ihm nicht leicht, die glatte Miene zu bewahren, als Groa äußerte: »Meine Schwester schreibt mir, sie möchte auch ganz gern einmal aus Gündsitbargen heraus. Es wäre doch nett, wenn sie zu uns käme, nicht wahr?« Widersprechen konnte Jürgen nicht, denn damit hätte er vielleicht einen Verdacht in Groa erweckt. Warum sollte er Ingerlild nicht den Aufenthalt in diesem Seebade gönnen? Und wenn Groa ihre Schwester nachkommen ließ, hatte Jürgen erst recht keine Ursache, deren Besuch abzuweisen. Also erklärte er sich sofort damit einverstanden, Ingerlild sollte eingeladen werden, ja, in der übermäßigen Geflissentlichkeit, die der Schuldige braucht, um jede Spur seines Vergehens zu verwischen, war er selbst bereit, an sie zu schreiben. Das fand Groa nicht nötig. »Ich habe ihr doch sonst noch einiges mitzuteilen«, sagte sie.

Jürgen blieb unklar darüber, ob Ingerlild wirklich hatte eingeladen werden oder ihn nur ein bißchen erschrecken wollen. Es vergingen einige für ihn erwartungsvolle Tage, da kam die Antwort von Ingerlild. Sie schrieb der Schwester in ihrer unregelmäßigen, hakenvollen Schrift, die zu ihrem schönen Äußeren in einem scheinbaren Gegensatze stand, sie fahre lieber mit ihrem Vater in den Thüringer Wald. Auch müsse sie nach Berlin, denn wegen der Herausgabe ihrer Gedichte habe sie mit ihrem Verleger zu beraten.

Es war so. Ingerlild Jessen hatte einen selbstlosen Mann gefunden, der ihre Verse veröffentlichen wollte, und nach der Natur der dichtenden Damen lebte sie des Glaubens, der Verleger tue nichts anderes, als daß er darüber nachsann, wie er dies Buch seinem Werte nach drucke und verbreite. Ja, da war es freilich notwendig, daß sie hinreiste, um mit dem Verleger zu konferieren, wie sie es feierlich nannte. Nachher müsse sie gleich in Gündsitbargen sein, denn da käme die Korrektur. Eine mächtige Arbeit! Groa, die unheilbar Nüchterne, hatte kein volles Verständnis für diese Angelegenheit und meinte besonders, wegen der Herausgabe des Bändchens ließe sich doch wohl auch schriftlich verhandeln, aber Jürgen, der Erleichterte, fand die Berliner Reise seiner Schwägerin wichtig und brannte an dem Abend, wo Ingerlilds Absage eingetroffen war, ein Feuerwerk von einem Glanze ab, daß das gesamte Seebad staunte.

Jürgens Urlaub lief ab, und Oldekopps kehrten nach Gündsitbargen zurück. Als der Stadtbaumeister am nächsten Nachmittag aufs Amt ging, begegnete er seiner Schwägerin. Er grüßte etwas befangen, sie aber war strahlend harmlos: »Geht es dir gut, Jürgen? Oh, du siehst viel besser aus. Deine Nerven hatten ein Ausspannen nötig, das hab' ich wohl bemerkt.«

Sieh da! Das war ja eine feine Lösung! All das Wunderliche, was er vor den Ferien zuletzt getrieben hatte, kam von den überanstrengten Nerven her. Er gab Ingerlild eifrig recht: »Ja, man weiß schließlich nicht mehr, wo einem der Kopf steht.«

»Ich fühle das an mir selber«, versetzte Ili, »was ich mit meinem Buch zu tun habe, glaubst du gar nicht!«

Nun war sie bei ihrem Lieblingsgespräch, und Jürgen erfuhr genau, wie sich die Unterredung mit dem Verleger abgespielt hatte. Endlich rief ihn die Pflicht. »Ja, verzeih, daß ich dich aufhielt«, bat Ingerlild, »ich wollte gerade Groa guten Tag sagen.«

Jürgen wurde bei dieser Nachricht nicht ganz wohl zumute. Ob Ingerlild nicht doch, um die von ihr so wenig geliebte Schwester zu ärgern, etwas von jener eigenartig verlaufenen Gesellschaft auf seiner Stube andeutete? Als ihm indessen Groa am Abend unverändert entgegentrat, wurde er ruhig. Ingerlild war doch eine vornehme Persönlichkeit. Er war ihr dankbar für ihr Schweigen und versuchte, sein Gewissen dadurch einzuschläfern, daß er ihm vorhielt, seine Schuld, wenn er denn eine auf sich geladen habe, sei nun unentdeckbar. Und das Unentdeckbare war ja gar nicht mehr als das nicht Vorhandene. Sehnsüchtige Gedanken richtete er in dieser Zeit nicht auf Ingerlild; er hielt sie aber für einen wertvolleren Menschen, als er früher getan hatte. Sie wurde ihm zu einer Gestalt, die sich immerhin mit Groa messen konnte. Sowie er jedoch erst einmal begonnen hatte, die beiden miteinander zu vergleichen, war er auch schon ungerecht. Unwillkürlich sah er Groa kleiner und Ingerlild größer, als beide waren. Er hätte fühlen müssen, daß man einer Groa überhaupt immer Unrecht tut, wenn man sie an jemand anders mißt und daß man sich nur selber als einem über das Niederleidenschaftliche erhobenen Geiste schmeicheln will, wenn man eine Ingerlidseele für etwas anderes als für ein Gefäß der Sinnenhaftigkeit ansieht. Das freundliche Verhalten seiner Schwägerin gegen ihn bewies ja dem Stadtbaumeister, daß sie ihm wegen seines Ausbruches nicht zürnte. Warum sie ihn damals eigentlich zurückwies, obschon sie ihn so verstand und ihn auch liebhatte? Nun, sie war eben ein durchaus reines und edles Mädchen. Jürgen freute sich, diese Antwort gefunden zu haben. Wenn Ingerlild so hoch stand, konnte er sich's ja unbedenklich gönnen, oft mit ihr zusammen zu sein. So gewann Ingerlild Jessen nun erst recht beträchtlich für ihren Jugendfreund. Sie merkte das. Die beiden wechselten kein vertrauliches Wort miteinander, aber ihre aus den gleichen Instinkten heraus geborene Vertraulichkeit war doch da; sie war sogar größer als die zwischen Jürgen und seiner Frau. Ili hielt das Geheimnis von ihres Schwagers innerstem Wesen in der Hand, war zu gutmütig, um durch Verrat an Groa Unheil über ihn heraufzubeschwören, wiegte sich aber in einem Siegesempfinden Groa gegenüber. Gerade der Umstand, daß sie ihren Triumph nicht ausgekostet hatte, als Jürgen bettelnd vor ihr lag, verlieh ihr Macht. Jürgen war Groas Mann und – Eigentum von Ingerlilds Gnaden.

*

Jürgen und Ingerlild waren in dieser Zeit ein Herz und eine Seele. Sie hatten viele gemeinsame Freuden, lauter Spielerisches. Ein Unkrautpflänzlein, das am Seitenrande des Gartens wuchs und keck unter dem Haselbusch hervorlugte, galt ihnen mehr als die ganze Gartenpracht ringsherum. Sie beobachteten gespannt den Lauf der Regentropfen am Fensterglase hinunter, sie konnten lange miteinander über der Mineraliensammlung des Stadtbaumeisters sitzen und sich an Form und Farben der Kristalle entzücken. Die Jugendfreundin war auch jetzt noch Jürgens einfügsame Spielgefährtin. Seine künstlerische Phantasie zeigte ihm wohl das Große, und er rang danach, solche Bilder in die Tat umzusetzen, seine eigentliche Liebe indessen gehörte dem Kleinen, und Ingerlild war es, die diese Neigung mit ihm teilte, während Groa nicht nur in der Kunst, sondern auch im Leben nur das Besondere, Bedeutende wahrnahm. Jürgens Verkehr mit Ingerlild erregte durchaus nicht ihren Unwillen. Wenn er bei ihrer Schwester etwas fand, was sie ihm selber nicht geben konnte – warum sollte sie es ihm nicht gönnen? Groa war ihrem Manne sogar dankbar, daß er sie mit seinen kleinen Liebhabereien unbehelligt ließ. Sie achtete zwar die beiden weichen Seelen nicht vollkommen, aber sie erlaubte ihnen ihr Vergnügen. Mochte Ingerlilds Bild ruhig neben dem Groas auf dem Schreibtische des Stadtbaumeisters stehen, eine Gefahr für ihr eigenes Leben an Jürgens Seite spürte Groa nicht.

Und doch war es nicht anders möglich, als daß sich nach und nach zwischen zwei Charakteren wie Jürgen und Ingerlild aus dem Spiel ein Ernst entwickelte. Jürgens durch die erfahrene Zurückweisung für eine Weile gedämpfte Sehnsucht nach Ili wachte von neuem auf, und da ihm Ingerlild damals in Wirklichkeit weniger aus Tugend widerstanden hatte als aus dem Wissen heraus, daß keine Kette fester bindet denn eine versagte Gunst, so war für sie das Ereignis auf Jürgens Schülerstube nicht etwa ein Ende, sondern im Gegenteil ein Anfang. Wohl verloren sie sich nicht; zur Erfüllung dessen, was beide wünschten, kam es nicht, aber sie tasteten doch bisweilen über die Schranke des Erlaubten hinüber, Ingerlild immer mit ihrer heiteren Miene, Jürgen mit zerrissener Seele.

Ja, in dem Stadtbaumeister von Gündsitbargen, den man als den gewissenhaftesten Beamten kannte und der so peinlich auf äußere Ordnung hielt, war viel Unordnung des Gemüts. Er, der allen offen entgegenkam, hatte mit großen Heimlichkeiten in sich zu kämpfen und haßte das Leben oft, weil es ihm lauter Zwang auferlegte. Dabei hätte er sich dem Zwange nicht entziehen mögen, denn es war ja der Bann, den Groa auf ihn ausübte, und er fühlte deutlich, daß er rettungslos verloren gewesen und von Groa weg in die dunkle Unendlichkeit hinausgeschleudert worden wäre, wenn er seiner Zuneigung für Ingerlild noch einmal und dann vielleicht mit mehr Glück gehorcht hätte. Er fühlte das, denn er liebte ja seine Frau.

Es war ein wirres Hin und Her. Einmal lag er, ohne daß Groa ihm etwas angemerkt hätte, in Ingerlilds Banden, dann wieder suchte er sich der schönen Schwägerin zu entziehen. Aber er hütete sich doch davor, völlig mit ihr zu brechen: sie hatte ja Gewalt über ihn, wer konnte wissen, was sie tat, wie sie sich rächte, wenn er sie beleidigte! Ili blieb immer von gleicher Unbefangenheit, sie ließ das Fischlein zappeln.

Zuletzt ertrug Jürgen Oldekopp diese Kämpfe nicht mehr. In Gedanken an Groas Festigkeit, die sich so wundervoll mit großer Milde paarte, schämte er sich seines seelischen Abirrens, wodurch die Liebe zu seiner Frau leiden mußte, wenn er ihm nicht zur rechten Zeit Halt gebot. Er hatte die Pflicht, um seine zwiespältige Seele so starke Reifen herumzulegen, daß von irgend etwas Klaffendem in ihr nicht mehr die Rede sein konnte. Zwang er beide Teile durch seinen Willen zueinander, dann heilten sie wohl endlich ganz zusammen. Dieser Wille zu Groa hin sollte das einzige sein, was ihn fortan noch beherrschte. Wenn er sich innerlich besiegte, gab er seiner Frau für das, was sie glücklicherweise ohne ihr Wissen durch ihn gelitten hatte, die beste Genugtuung. Er rang mit sich, viel weniger in Schmerzen als in freudiger Hoffnung, und als er eines Tages aufrichtigst so weit zu sein glaubte, daß ihn weder Ingerlild noch sonst eine Macht auf Erden je wieder in seiner ganz und gar einheitlichen Liebe zu Groa zu stören imstande sei, da nahm er entschlossen das Bild seiner Schwägerin vom Schreibtisch und tat es irgendwohin ins Verborgene. Auf die Art meinte er nach seiner Pflicht den großen Schritt zur Selbstreinigung hinter sich zu haben, und war sehr zufrieden. Als aber Groa den leeren Platz auf seinem Tisch gewahrte, stutzte sie. Das Bild ihrer Schwester war ihr dort nie im Wege gewesen. Nun fehlte es und war auch nirgend zu entdecken. Weshalb? Es bereitete dieser Frau, die jedes Mißtrauen als ihrer unwürdig betrachtete, ein körperliches Weh, weil sie zu denken genötigt war: die kleine Handbewegung, womit Jürgen das Bild weggenommen hatte, mußte etwas zu besagen haben.

Was denn aber?

Ein Geständnis? Und was hatte sich denn Jürgen eingestanden, ohne dabei zu überlegen, daß er durch das Entfernen jenes Bildes seine Frau in Argwohn stieß, sie also quälte?

Auf nichts läßt sich die klare und reine Seele unwilliger ein, als darüber nachzugrübeln, wie und wodurch eine andere, bis dahin scheinbar des Vertrauens und der Liebe werte Seele getrübt worden ist. Groa kam es vor, als läge dort, wo sonst das Bild stand, ein schwarzer schwerer Stein. Wenn sie den aufhob: fand sie dann vielleicht ein Blatt, worauf Jürgen sein Geständnis niedergeschrieben hatte?

Sie beschloß, nicht nachzusuchen, sondern den Stein unberührt liegenzulassen und überhaupt nicht daran zu glauben, daß sie etwas unter ihm finden könne; aber das war so furchtbar: gegen ihren Vorsatz arbeitete ihr Gehirn daran zu ergründen, ob es sich hier wirklich um ein stummes Bekenntnis ihres Mannes handelte, und was er zu bekennen haben konnte.

Jürgen hatte gewähnt, seine Last ins Bodenlose zu werfen, in Wahrheit aber war sie auf Groas Herz gefallen.

*

Es war um diese Zeit, daß Groa eines Tages bei ihrem Vater einen fremden Herrn traf. Er befand sich schon im Aufbruch, der Stadtrat stellte ihn aber doch noch seiner hereintretenden Tochter vor: »Bitte, liebe Groa – Herr Doktor Godwiek, den wir als unsern Mitbürger zu begrüßen die Ehre haben.«

Er reichte dem Gast die Hand und sagte: »Ich hoffe denn, mein hochgeehrter Herr Doktor, daß Sie jetzt einigermaßen über die hiesigen Verhältnisse unterrichtet sind.«

Doktor Godwiek neigte dankend den Kopf. Jessen fuhr fort: »Und wenn ich Ihnen sonst mit irgendeiner Auskunft dienen kann, ich stehe immer zur Verfügung. Wir werden uns auch sehr freuen, wenn wir sie in unserer Harmonie sehen dürften. Sie finden mich dort jeden Nachmittag zwischen sechs und sieben. Es ist ganz zwanglos und gemütlich, und was nun eine Wohnung anbetrifft ..«

»Ich habe schon gewählt«, entgegnete Doktor Godwiek. Seine Stimme hatte einen Klang, wie man ihn nur bei einem durchaus gebildeten Menschen vernimmt. Es drückt sich darin die feine Zurückhaltung aus, die doch auf dem Stolz des Charakters beruht. Gleich der ganzen Persönlichkeit hat auch die Sprache ihre sorgfältige Pflege erfahren. Groa war von dem Ton eigentümlich angenehm berührt und warf einen schnellen Blick auf den Besucher. Eine hohe hagere Gestalt. Ganz in Schwarz gehüllt. Er hatte auch schwarzes, an den Schläfen schon ergrauendes Haupthaar und einen dichten Bart, aus dem seine Lippen schmal und scharf geschnitten wie ein hellroter Strich hervorschimmerten. Sein Auge lag unter buschigen Brauen tief hinter den Brillengläsern. Die Haut an der Stirn und an den Wangen, soviel von diesen zu sehen war, hatte einen bräunlichen Glanz.

»So, so«, meinte der Stadtrat, »Sie haben schon etwas Passendes gefunden? Nun, das ist ja schön, Herr Doktor.« Dann kam die kleinstädtische Neugier in ihm auf, wo sich der Herr denn wohl eingemietet haben könne, und er fühlte vor: »Nicht wahr? Wir sind hier nicht arm an netten Logis? So zum Beispiel im Süden, in der Gegend um den Kaßberg herum, wo übrigens auch meine Tochter, die Frau Stadtbaumeister, ihr Haus hat.« – Der Fremde verneigte sich nach Groa hin. – »Da wohnt es sich ganz ausgezeichnet.«

»Ich habe mir nur in der Schörrhofstraße zwei Zimmer gemietet«, entgegnete Doktor Godwiek.

»Beim Schörrhof?« fragte Jessen bestürzt. »Ja, das ist nun allerdings gerade unser allerältester und nicht sehr empfehlenswerter Stadtteil.«

»Ich fühle mich in engen Straßen wohl.«

Damit schnitt Doktor Godwiek die weitere Erörterung über die Wohnungsfrage ab, ohne daß etwas Unverbindliches in seinem Tone lag.

»Ja, dann … dann freilich …« Der Stadtrat mußte immer das letzte Wort haben und wendete, damit alles in Frieden und Freundschaft auslief, mit Vorliebe jedes Gespräch ins Scherzhafte. »Nicht wahr? De gustibus non est …«

»Gewiß. Haben Sie Dank, Herr Stadtrat, daß Sie mich so freundlich aufnahmen. Ich empfehle mich, gnädige Frau.«

Jessen ließ es sich nicht verdrießen, den Gast noch die Treppe hinunter zu begleiten, und Groa, die sich am Fenster niedergelassen hatte, sah Doktor Godwiek dann in einem langen dunklen Mantel und gesenkten Hauptes über den Markt gehen. Der Stadtrat kam zurück: »Bißchen wunderlich, was? Auf dem Schörrhof! Das wäre doch die letzte Gegend, wo ich hausen möchte. Na ja, so diese Chemiker, die sind beinah wie die Apotheker. Kleinen Sparren haben sie alle. Wenn's ihn glücklich macht, mich kann's nicht stören. Aber wie man ihm da einen Gegenbesuch abstatten soll, das weiß ich nicht, man kann sich doch dort nicht mit einem Zylinder blicken lassen. Das gibt ja ein Hallo unter der Bevölkerung. Ja, nämlich«, unterbrach er sich, weil er seiner Tochter jetzt einige nähere Angaben über den neuen Herrn schuldig zu sein glaubte, »er hat hier die erste Stelle in der Chemischen Fabrik. Bedeutender Posten. So ein Mann kriegt ein Ministergehalt. Und denn Schörrhof! Ich danke! Das mag man ja gar nicht ins Mitgliederbuch von der Harmonie schreiben. Diesen Monat ist er angetreten, und es ist ja sehr nett von ihm, daß er sich gleich mit mir in Verbindung gesetzt hat. Er befragte mich über die Arbeiterverhältnisse und so. Und dann der alte Prozeß zwischen der Stadt und der Fabrik wegen der Abwässer, die uns den ganzen Strom verpesten. Er will da auf Verbesserungen dringen. Weiter weiß ich bis jetzt nichts von ihm«, bemerkte er gleichsam entschuldigend, denn er fühlte sich eigentlich verpflichtet, seiner Tochter, bei der er ebensoviel Neugier annahm, wie er selber spürte, weit genaueren Bescheid über den Fremden zu geben, als ihm das zu seinem Leidwesen möglich war. »Na, man wird ja schon mehr hören«, setzte er tröstend hinzu. »Familie scheint er nicht zu haben. Wie gesagt: noch etwas im Dustern das Ganze, aber in der Harmonie müssen wir ihn natürlich haben, schon seiner Stellung wegen.«

Frau Jessen kam, und ihr folgte das Dienstmädchen mit einem Teebrett, worauf ein leckeres Frühstück nach dem Herzen des Herrn Stadtrats stand; und über der knusperigen Pastete zur duftigen Brühe, über dem feinen Fleischsalat, den zarten eingelegten Fischen, dem gerade richtig angewärmten Rotwein und dem wohlgekühlten Kognak vergaß der erste Vorsitzende der Harmonie etwas die Bedenken wegen der Liebhaberei, die das neue Mitglied für die unansehnlichste Gasse in ganz Gündsitbargen hatte.

*

Frau Oldekopp ertrug ihre Unkenntnis über die Verhältnisse anderer Leute immer mit äußerster Geduld, gleichwohl hatte Doktor Godwiek so viel Eindruck auf sie gemacht, daß sie sich ihn von ihrem Vater zum Tischherrn ausbat, als er das erstemal bei Jessens eingeladen war. Er genoß von den Speisen sehr wenig, und Groa kam sich mit ihrem gesunden Hunger neben ihm recht ungeistig vor. In der Art, wie er öfters das Mundtuch mit seiner fast überschlanken Hand, deren Rücken stark behaart war, zusammenknüllte, zeigte sich viel Nervosität, aber es schien, daß auch alles, was er an Unrast in sich hatte, in dieser Bewegung ausfloß, denn im übrigen war er durchaus ruhig. Er hatte Groa, als er ihr den Arm reichte, um sie zur Tafel zu führen, prüfend angeschaut, und sie verhielt sich möglichst schweigend. So wenig sie sich selber mit Alltagsdingen abgeben mochte, so wenig hatte offenbar Doktor Godwiek Lust dazu. Das Gespräch zwischen ihnen kam daher zunächst nicht recht in Gang, und da war Groa nun doch zu sehr Weib, als daß ihr das auf die Dauer gefallen konnte. Sie wagte ein Wort, auf die Gefahr hin, etwas herzlich Unbedeutendes zu bemerken: »Wir Gündsitbargener sind Ihnen sicherlich zu steif. Sie kommen jedenfalls aus einer großen Stadt und sind wohl auch kein Norddeutscher. Da lebt es sich nicht leicht bei uns ein.«

»Ich habe immer gefunden«, entgegnete er, »daß die Schwierigkeit des Einlebens nirgend vorhanden ist, wenn man den Wunsch und das Bedürfnis hat, einen Kreis zu finden. Ob Kleinstadt oder Großstadt, das spielt dabei gar keine Rolle. Jeder von uns lebt sozusagen in einer kleinen Stadt, wenn er auch mitten unter Hunderttausenden sitzt. Ob's der Arbeiter, der Gelehrte, der Geschäftsmann, ob's der König ist: sie alle haben ihre verhältnismäßig engen Grenzen. Und jeder von uns zieht sich selbst eine Linie, die freilich von andern Kreisen geschnitten wird. Die Großstadt ist, was den einzelnen betrifft, nur eine Einbildung.«

»Aber sie bietet doch immer die Möglichkeit, daß wir uns erweitern und unsere Grenzen nach außen zurückdrängen.«

Er lächelte. »Ja, die Möglichkeit ist da. Aber wer benutzt sie denn? Das sind seltene Ausnahmen, und die haben, behaupte ich, auch in der Kleinstadt Gelegenheit genug, sich weiterzubilden. Es gibt in solcher kleinen Stadt immer Menschen, mit denen man verkehren kann, auch bei besonderen Ansprüchen; mehr braucht man nicht, mehr sucht man auch in der Großstadt nicht, wenn man nicht zu den ganz Zerflossenen gehört, und man begegnet wirklichen Menschen in der kleinen Stadt sogar häufiger, man kann sich leichter mit ihnen austauschen, man stellt sich herzlicher zueinander. Glauben Sie mir, gnädige Frau, der Großstädter, der so hochmütig auf seine breiten Straßen und das sogenannte mächtige Leben darin ist, hat schließlich von all dem, was er sich aneignen könnte, bitter wenig. Es ist die altbekannte Geschichte, daß er nur dann in die Museen geht, wenn er sie seinem Besuch aus der Provinz zeigen will. Ich bin jedenfalls zufrieden, mich hier in der Enge bewegen zu dürfen.«

»Aber man erlebt in der großen Stadt doch mehr. Man fühlt mehr den Fortschritt, der überall gemacht wird. Ich denke mir, das muß den Menschen froh und glücklich machen!«

»Weshalb? Ist denn Fortschritt an und für sich ein Glück?«

»Gewiß! Stillstand darf es doch nicht geben!« rief Groa.

»Das erkenne ich nicht an. An irgendeinem Punkt alles Fortschreiten auszuschalten, das träume ich mir wunderschön.«

»Daß Sie als Mann des praktischen Lebens sich mit solchen Träumen abgeben, begreife ich nicht, Herr Doktor.«

»Vielleicht gerade, weil ich meine ganze Kraft für die Wirklichkeit brauche. Da tut es wohl, auch einmal zu träumen, und diese Art von Träumen schadet einem ja auch nicht. Andere dagegen sind nicht so harmlos, daß man sich ungestraft in sie versenken dürfte. Das erfährt jeder.«

»Die Gabe, so zu träumen, ist mir nicht verliehen«, bemerkte Groa. »Mir gilt immer nur das Greifbare.«

»So bleiben Sie vor manchem Irrtum bewahrt, denn es kommt leider vor, daß man Traum und Wachen miteinander verwechselt. Das ist dann schlimm und führt zu einem bösen Aufschrecken. In meinem Beruf verbinde und trenne ich, und es kann ja nie ein Zweifel für mich bestehen, was dabei herauskommt. Die Natur ist so ungeheuer logisch wie unser Schicksal. Der Stoff besitzt keine willkürlichen Kräfte und der Mensch keinen freien Willen. Und selbst wenn wir uns Phantasien gestatten, so sind sie nur ein notwendiges Erzeugnis aus den Gefühlsmischungen in unserer Seele. Wir meinen uns schrankenlos und gleiten doch hübsch auf den aus der Ewigkeit herlaufenden Schienen.«

»Dann können Sie sich die anderen Träume, die Sie für schädlich halten, ja auch nicht verbieten.«

»Nein. Wir sind nicht imstande, uns davor zu hüten, daß wir Fehler begehen. Denken wir, daß wir sie aus eigener Kraft unter Kämpfen vermeiden, so ist das ein Irrtum. Es ist uns eben von vornherein bestimmt, so zu kämpfen und nicht auf diesen oder jenen Abweg zu geraten. Es ist uns bestimmt, daß wir uns dann einbilden, wir hätten Willensfreiheit und vermöchten danach handeln.«

»Wenn ich das glaubte, könnte ich überhaupt nicht mehr die Hände regen.«

»Es ist Ihr Schicksal, etwas anderes zu glauben, gnädige Frau, und darum fühlen Sie sich frei.«

»Ich bin es!«

»Gewiß, eben weil Sie sich so fühlen müssen, und ich möchte auch keine Zweifel an dem Glauben in Ihnen erwecken. Könnte es gar nicht. Überdies gebe ich vollkommen zu: im alltäglichen Leben ist es das Richtige und Vernünftige, nicht an den Zwang zu denken. Auch werde ich, so sehr ich von der Unfreiheit des Willens überzeugt bin, nie den Zwiespalt los, daß ich unbewußt doch eigentlich wie ein freies Geschöpf handele. Aber dann und wann ist es gut, sich einmal an das Gesetz von der Ursächlichkeit alles Geschehens zu erinnern. Das bewahrt vor Hochmut.«

»Und lähmt uns.«

»Nur, wenn wir gelähmt werden sollen. Sonst überwinden wir das Bewußtsein unserer Gebundenheit und geben uns mit unserem Geschick zufrieden.«

Nun störte einer der Gäste sie in ihrem Gespräch, indem er ans Glas klopfte und die Jessensche Familie hochleben ließ. Als man nach reichlichen Genüssen aufgestanden war und sich in den Saal begeben hatte, wo Ingerlild dann zur Verschönerung des Abends Lieder sang und eigene Gedichte vorlas, da wußte es Groa so einzurichten, daß Jürgen mit Doktor Godwiek zusammenkam. Auf dem Heimweg fragte sie ihren Mann: »Hat er dir gefallen?«

»Ach«, entgegnete Jürgen ärgerlich, »ich schwärme nicht für diese Sorte Menschen. Sie tun immer so bedeutend und wissen alles besser. Aus jedem Einzelfall, den man erwähnt, destillieren sie sofort das Typische heraus. Diese ewige Analyse und Synthese! Darüber kommt so ein Chemiker nicht hinaus. Soll er meinetwegen bei seinem Anilin tun, oder was er sonst fabriziert. Nach einem guten Abendessen ist mir solche Unterhaltung zu anstrengend.«

*

Obgleich Jürgen nun nach dem ersten Begegnen für den chemischen Tiftler, so drückte er sich aus, wenig übrig hatte, konnte er doch, als sie sich dann und wann trafen, nicht umhin, Doktor Godwiek auch zum Verkehr in seinem Hause einzuladen, zumal da Groa dem neuen Mitbürger immer sehr freundlich die Hand reichte. Godwiek hatte es nicht eilig, bei Stadtbaumeisters zu erscheinen, aber als er erst einmal dort gewesen und von Groa mit der Wärme aufgenommen worden war, an deren Aufrichtigkeit kein Zweifel möglich ist, da kam er bisweilen wieder. Jürgen war ihm gegenüber stets befangen; die Worte wurden in solchen Stunden zumeist nur zwischen Groa und Doktor Godwiek gewechselt. Groa empfand, daß er und ihr Mann einander nicht viel zu sagen hatten, obgleich sie Gegensätze bedeuteten.

Jürgen fällte immer nach Kleinigkeiten, die er an den Menschen beobachtet hatte, sein Urteil und blieb hartnäckig dabei, selbst wenn ihm bewiesen wurde, daß er im Unrecht war, und das Kleine nach seiner Gewohnheit weitaus zu groß und wichtig genommen hatte. Er war auch mit Doktor Godwiek schnell fertig. In seinen Augen war das ein Mann, der sich als den Geistreichen aufspielte und mit Absonderlichkeiten ein gefallsüchtiges Wesen trieb. Groa zuckte die Achseln bei dieser herben, fast mit Gehässigkeit geäußerten Meinung.

»Ich sehe nichts Gemachtes an ihm«, sagte sie. »Daß er nicht mit allen Leuten übereinstimmt, kann man ihm doch nicht vorwerfen. Das tust du ja auch nicht.«

»Aber ich rede nicht immer von meinen Anschauungen.«

»Ja, wovon soll man sonst sprechen, besonders wenn einen keine gemeinsame Erlebnisse miteinander verbinden? Und er geht tatsächlich nicht darauf aus, anderen seine Ansichten aufzudrängen. Ich halte ihn für recht einfach, so wenig ich noch von ihm weiß.«

»Einerlei. Mir ist er unbehaglich. Aber ich will dir natürlich nicht die Freude an der Unterhaltung mit ihm rauben.«

»Das kannst du auch nicht, lieber Jürgen. Nach deinem Vorurteil kann ich mich nicht richten, und wir haben es ja auch schon erfahren, daß du in deinen Sympathien und Antipathien plötzlich umspringst. Vielleicht tretet ihr euch doch noch näher.«

»Die Hoffnung kann ich dir nicht machen. Du mußt diesen neuen Freund schon allein genießen.«

»Freund? – Mit Freundschaft hat mein Gefühl für Doktor Godwiek noch lange nichts zu tun. Gib dir, bitte, keine Mühe, in meinen Worten etwas zu finden, was nicht darin liegt.«

»Merkwürdig, was du in der letzten Zeit für einen zurechtweisenden Ton gegen mich anschlägst.«

»Das ist nicht meine Absicht, Jürgen. Ich will mich immer nur klar ausdrücken.«

»Für mich klingt das nach Schärfe.«

»Das tut mir leid, und ich will mich bemühen, daß sie verschwindet.«

Jürgen hörte keineswegs falsch. Seit der Stunde, wo Groa gegen ihre Natur darüber nachdenken mußte, ob das, was Jürgen früher einmal für Ingerlild empfunden hatte, ihn noch während seiner Ehe in einer Weise beunruhigte, die er selbst als Unrecht erkannte – seit dieser Stunde beherrschte sie sich zunächst nicht völlig selbst.

Der Verdacht war ein Ding, das nicht in ihre Seele hineinpaßte und wie eine Krankheit an ihr nagte, weil sie aber alles Kranke in sich wie eine Schuld ansah, arbeitete sie daran, wieder zur vollen Gesundheit durchzudringen.

Das glückte ihr auch. Es mochte ja sein, daß Jürgen etwas mit sich abzumachen gehabt hatte, was er nicht in seine Ehe mit hinübernehmen durfte. Aber er war ja damit zu Ende gekommen, das hatte er bewiesen: Ilis Bild war von seinem Tische verschwunden. Das hieß doch nichts anderes, als daß er es auch nicht mehr neben Groas Bild im Herzen trug. Sollte Groa kleinlich sein? Sollte sie ihrem Manne in etwas nachspüren, was er schon hinter sich gelassen hatte? Wem nützte sie auf die Art? Gewiß verlangte sie, daß seine Liebe ihr allein gehörte; wenn daran jedoch in der Vergangenheit etwas fehlte, so mußte sie jetzt, um ihrem Manne nicht unrecht zu tun und sich nicht mit überflüssigen Sorgen zu belasten, auch glauben, Jürgen habe alles so bei sich geordnet, wie es seiner und ihrer würdig war. Abgetan war abgetan.

So befreite sie sich von dem Argwohn, der ihr fast so schlimm vorkam, als ob sie ihn selbst verdient hätte. Ihre Stimme verlor den scharfen Beiklang, der Jürgen weh tat, und sie war, gerade weil sie meinte, nicht freundlich genug gegen ihren Mann gewesen zu sein, nun desto zutunlicher, – soweit das denn in ihrem Wesen lag. Die Wolke über dem Hause des Stadtbaumeisters verschwand, die Gatten waren dank Groas trefflicher Arbeit an sich selber einig miteinander; und Gunhild, das frisch erblühende Mädchen, gewährte ihnen die gemeinsame Freude, die uneigennütziger, reiner und vollkommener ist als sonst irgendeine Lust auf Erden. Weil sich Groa aber zugunsten Jürgens ehrlich überwunden hatte, sah sie es auch als ihr Recht an, sich in Gedanken mit Doktor Godwiek zu beschäftigen. Er hatte etwas, was sie fesselte, und so zurückhaltend er war, sie spürte doch in ihm den Wunsch, jemand zu besitzen, an den er sich anschließen konnte.

Man war in Gündsitbargen allmählich still darüber geworden, daß ein Herr in so angesehener Stellung nur zwei kleine dunkle Stuben in einem nichts weniger als vornehmen Viertel bewohnte. Der Harmoniediener in seinem blauen Leibrock hatte sich zwar zuerst geschämt, die Lesemappe und die Einladungsrundschreiben in die Schörrhofstraße tragen zu müssen, aber nach und nach fanden sich alle in das Unabänderliche, besonders da diese Vorliebe für enge Gemächer das einzige Wunderliche blieb, das Godwiek nachzusagen war. Im übrigen war er ein ganz vernünftiger Mensch; allerdings hatte er über Obrigkeit, Kirche und andere geheiligte Einrichtungen Ansichten, die man nicht anders als kühn bezeichnen konnte. Er nahm am geselligen Leben maßvoll Anteil und wurde von den Männern, die mit ihm zu tun hatten, hochgeschätzt. So mochte er sich denn auf dem Schörrhof verkriechen; wem schadete er damit?

Es war noch nicht voll aufgeklärt, ob er Junggeselle sei oder eine Frau habe, indessen sind derlei Rätsel ja dazu da, daß sie gelöst werden, und man brachte bald heraus, daß Doktor Godwiek weder Hagestolz noch verheiratet, sondern geschieden war.

Das wurde hintenherum erkundet; aus seinem eignen Munde erfuhr nur Groa, deren leises Entgegenneigen ihn zutraulich machte, einiges aus der Geschichte seines Lebens.

»Meine Frau war in ihrer Mädchenzeit ein so liebliches Geschöpf«, erzählte er ihr. »Schon auf der Schule verlobte ich mich mit ihr, und sobald ich mein erstes Gehalt in der Tasche hatte, gingen wir hin und verheirateten uns und waren im siebenten Himmel. Die Herrlichkeit dauerte ein paar Jahre, da kam der Bruch. Meine Frau fing an zu lügen. Sie konnte schließlich überhaupt gar nicht die Wahrheit sagen, einerlei, ob die Flunkerei Zweck hatte oder nicht. Dabei verfolgte sie mich mit einer Eifersucht, die so weit ging, daß sie in mein Arbeitszimmer eindrang, um mich mit meiner Sekretärin zu ertappen. Ich ließ mir alles gefallen, um unserer beiden Kinder willen. Aber gerade wegen meiner Töchter mußte ich mich dann von meiner Frau trennen. Lüge steckt an. Als ich das erstemal merkte, daß mir die jüngere auf Anstiften der Mutter die Unwahrheit sagte, da war es mit meiner Geduld zu Ende. Ich nahm die Kinder, die damals bald konfirmiert werden sollten, und ließ meine Frau allein wohnen. Was ich gekämpft habe, um die Kinder auch innerlich bei mir zu behalten, läßt sich nicht beschreiben. Es ist mir mißglückt. Meine Frau hatte die teuflische Gabe, sie immer wieder auf ihre Seite zu ziehen. Die Kinder liefen mir weg; ich holte sie zurück. Sie verschwanden aufs neue; ein endloses Aufpassen, ein vergebliches Abmühen. Je mehr meine Töchter heranwuchsen, desto mehr verfielen sie meiner Frau. Da habe ich denn nicht geruht, bis das Band zwischen mir und den anderen ganz zerschnitten wurde. Fünfzehn Jahre hab' ich auf die Art verloren. Von der Liebe zu meiner Frau ist nichts übrig geblieben, aber meine Töchter entbehre ich schwer. Sie tun mir leid, nur sehe ich nicht die Möglichkeit, sie zu retten. Wenn man Auftritte durchgemacht hat, wie ich in meiner Ehe, wenn man von der eigenen Frau öffentlich verleumdet worden ist, bekommt man zuletzt ein Schamgefühl, und es wird einem zur Wonne, sich zu verbergen. Deshalb bin ich hierher nach Gündsitbargen gekommen und habe mir den düstersten Winkel als Wohnung ausgesucht. Es ist furchtbar, wie scheu einen ein keifendes Weib machen kann.«

»Und Sie sind sich keiner Schuld bewußt, daß Ihre Frau so geworden ist?« fragte Groa.

Er schüttelte den Kopf: »Nein, bloß eines Irrtums. Ich träumte bei ihr von Werten, die sie nie gehabt hat. Das muß man dann büßen.«

»Wäre es nicht aber doch denkbar, daß Ihre Töchter noch zu Ihnen kämen, wo Sie jetzt in einer anderen Stadt sind als Ihre Frau?«

»Böse Kräfte sind den guten immer überlegen. Ich bin lahm und müde geworden in meinem Werben um das Gemüt meiner Kinder.«

Gegen diese Müdigkeit in ihm arbeitete Groa an. Sie wollte ihn zur Hoffnung aufrütteln. Sie sprach viel von den Mädchen und merkte, daß sie ihm damit einen Gefallen erwies. Trotz seines Verzichts glomm die Sehnsucht nach den Kindern aus allen seinen Worten hervor. Wahrscheinlich hatte er es ungeschickt angefangen, seine Töchter zu gewinnen; Groa stand auch als Frau ein wenig auf der Seite derer, in der Godwiek einst sein Ideal gesehen hatte und die er dann verwarf, vielleicht weil sie geistig nicht mit ihm gewachsen war. Vielleicht hatte er es nicht verstanden, ihr zur rechten Zeit eine so starke Liebe zu erzeigen, daß ihr Gemüt ganz bei ihm blieb und sie nicht erst von ihm weg in die Lüge hineinglitt. Irgendeine Schuld außer seinem Irrtum mußte Godwiek wohl auf sich geladen haben. Allein: so groß war die Schuld sicherlich nicht, daß er der Liebe seiner Kinder unwert gewesen wäre! Je öfter Groa mit Godwiek zusammen war, desto lieber wurde er ihr und desto mehr sann sie darüber nach, wie sie ihm helfen könne. Auch ihm gegenüber begann nun also ihre Mütterlichkeit zu wirken. Aber dieser Trieb war hier nicht mit jener ins Lehrhafte gehenden Strenge vermischt, die sie bisweilen gegen Jürgen anwandte, sondern sie behielt immer etwas Mildes, und das kam daher, daß sie in Marus Godwiek die völlig männliche Erscheinung sah, vor der sie ganz Frau zu bleiben vermochte, während Jürgen sie mit seinem großen Teil weiblichen Wesens oft nötigte, sich viel mehr Männliches anzueignen, als sie von Natur mitbekommen hatte, das sie aber nötig hatte, um Jürgens Weichheit etwas Kraftvolles entgegenzusetzen. Sonst ging es ihr im Hause gar zu sacht und sänftlich her!

Ihr Empfinden in allem, was Godwiek betraf, war und blieb zu ihrem Wohlgefühl rein weiblich, und darum kamen neben dem Hilfetrieb auch andere frauenhafte Eigenschaften bei ihr zum Vorschein; sie, die sonst nichts von Neugier wußte, erfuhr ganz gern Einzelheiten, wie Godwiek den Tag hinbrachte, wie er bedient wurde, und da setzte denn alsbald das Mitleid bei ihr ein: so, wie er es sich jetzt eingerichtet hatte – bloß mit einer alten Aufwärterin –, konnte es nicht bleiben. Er bedurfte einer Seele, die wirklich für ihn sorgte und ihm Behagen schuf. Zwar wehrte er es anfangs ab, wenn sie ihm damit kam, daß sein Verharren in der Schörrhofschlucht durchaus zwecklos für ihn sei, aber allmählich zerstörte ihm ihr Zureden seine einsamkeitssüchtige Stimmung, und er mußte anerkennen, er habe bei der Wahl seines Aufenthaltes nicht ganz schlicht und natürlich gehandelt. Damit waren ihm die dunklen Stuben schon einigermaßen verleidet, und wenn er sich auch noch nicht sofort entschloß, die Düsternis zu verlassen und einen ordentlichen Haushalt zu führen: er gewöhnte sich doch daran, auf Groas Rat zu hören und sie tatsächlich als seine Freundin zu betrachten. Dafür umgab sie ihn mit immer regerer Sorglichkeit. Weil sie nichts zu verbergen hatte, brachte sie vor ihrem Manne öfters die Rede auf Doktor Godwiek; ihre Worte waren harmlos warm, jedoch in Jürgen erhob sich dabei ein Lauern. Nicht nur für den einfach Unglücklichen ist es ein Trost, Genossen des Leides zu haben; auch der in seinem Gewissen Beschwerte ist froh, wenn er sieht, daß sich andere eben solche Bürde auferlegen wollen oder müssen. Jürgen blickte verstohlen, aber scharf hin, wie die Freundschaft immer dichtere Fäden zwischen den beiden wob, er ließ sie gern allein, denn er wußte, daß es nur Zwiesprache und nicht Dreisprache gibt, und er war trotz eifersüchtigen oder besser gesagt neidischen Aufwallens zu untertanselig, als daß er Groa nicht alles, was sie von Godwiek haben konnte, auch gegönnt hätte, allein die Hauptursache, warum er den Dingen ihren ungehinderten Lauf ließ, war die eigentümliche, aus Bangen und Wünschen gemischte Spannung: sollte nun auch sie, die Unantastbare, in sich Geschlossene, es an ihrem eigenen Herzen kennenlernen, daß man nie behaupten darf, man habe sich immer voll in der Gewalt? Erlitt auch sie ein Abbröckeln in ihrer Natur? Dann stand er freilich, so dünkte ihn, gewissermaßen gerechtfertigt da, jedenfalls war sie dann nicht mehr die über alles Irdische erhabene Frau, zu der er nur immer demütig und zerknirscht aufschauen mußte.

Nun, Jürgen Oldekopp harrte und – so wenig Ehre ihm das macht, muß man es doch so bezeichnen – hoffte vergebens. Groa war, mochte das nun eine Tugend oder ein Mangel sein, so völlig zur Einehe geboren, daß ihr schon der Gedanke an das Berührtwerden durch einen anderen Mann, – wenn ihr dieser Gedanke denn überhaupt je auftauchte, – nur Unlust, ja Schauder verursachte. In ihrer Seele ballten sich niemals schwüle Wolken zusammen. Vom Sinnenhaften hatte sie genug und übergenug; Jürgens Phantasie war noch ebenso üppig wie begehrlich, und sie schied nie ganz reuelos aus seinen Armen; um so lieber war es ihr, daß in ihrem Verkehr mit Godwiek das Körperliche gar keine Rolle spielte. Sie hatte die Sicherheit, daß er die Frauen achtete, anders, als Jürgen es tat, der zwar ein Schwärmer für die Frau war, aber in all seiner Verehrung doch die eigensüchtige Weisheit barg: nichts macht das Weib so gefügig, als wenn der Mann vor ihm kniet. Auch in Jürgens Wissen von der Frau, in seiner Kenntnis aller ihrer Regungen lag viel Weibliches; für Godwiek war das Weib das andere, fremde Geschlecht, und Groa merkte, daß sie in ihm erst den wirklichen Mann kennenlernte, während sie fürs Leben mit einer Halbnatur oder vielmehr mit einem Doppelgeschöpf verbunden war.

Godwiek sprach nie von der Frau als vom Gegenstand des Mannesverlangens; das deuchte Groa keusch. Ihr Vergleich zwischen ihrem neuen Freunde und Jürgen fiel in der Hinsicht nicht zum Besten ihres Mannes aus, denn diesem ging der Genuß sinnlicher Schönheit fast über alles, und sein Künstlertum hatte darin recht.

Ili schaffte ihm in dieser Zeit kaum Unruhe. Das schwälige Sprühfeuer zwischen ihm und ihr schien etwas zum Stillstand gekommen zu sein; und das bedeutet ja denn zugleich ein Absinken der Flamme. Jürgen gehörte Groa, indessen doch auch jetzt nicht rückhaltlos, sondern immer mit der Angst, die für Leute seines Schlages eine Wonne ist, daß Groa nämlich eines Tages jenen Zwiespalt in sich haben möge, dem er in seiner eigenen Brust schon so viel Schmerz und damit, denn das besagte ja für ihn dasselbe, so viel Köstliches verdankte.

Im Umgang mit Godwiek erholte sich Groa von Jürgens flackernder Weise, und ihr Drang, im Leben ihres Freundes ein gutes Werk zu vollbringen, wurde stark und stärker. Er folgte ihr, verließ den Schörrhof und nahm sich eine helle Wohnung im Süden der Stadt. Da er, um nicht mehr an die Zeit seines kurzen Glückes und langen Unglücks erinnert zu werden, allen Hausrat Frau und Töchtern überlassen hatte, mußte er sich neu einrichten. Groa half ihm. Das gab Gerede. Man lobte den Doktor Godwiek, weil er dahintergekommen war, daß sich die Aussicht auf Armenkate und Hafthaus nicht für ihn schicke, aber über die Frau Stadtbaumeister wunderte man sich doch weidlich! Die zog den lieben langen Tag mit diesem Menschen in den Läden herum und war auch schon in der neuen Wohnung gewesen. Der Stadtrat fragte seinen Schwiegersohn: »Sag' mal, lieber Junge, kümmert sich deine Frau nicht ein bißchen viel um unseren neuen Herrn Mitbürger?«

Jürgen war ritterlich genug, Groa in Schutz zu nehmen: »Meine Frau weiß ganz genau, wie weit sie gehen darf. Was die Menschen sagen, kann ihr gleichgültig sein.«

»Na, na«, meinte Jessen, Jürgen aber verteidigte Groa mit großem Eifer, und seine Worte entsprangen einer redlichen Überzeugung. Sie handelte zu offen, als daß ihr Herz dabei heimliche Gefühle hegen konnte. Etwas enttäuscht war Jürgen ja freilich. Er hätte seiner selbstsicheren Herrin auch einmal rechte Kämpfe gewünscht, doch einerlei: es war prachtvoll, wie sie stets das tat, was sie wollte. Ihr reines Gewissen ließ ihr jede Freiheit.

Und wie stand es mit ihm? War er selbst jetzt im Gewissen gebundener als seine Frau? Das wollte ihm nicht scheinen! Nun, dann konnte er sich's selber nach Groas Beispiel ja auch erlauben, in voller Freiheit zu handeln.

Gewiß! Nur wie und wo? Das sah er erst noch nicht, als er aber eines schönen Tages beim Herumkramen in seinen Schubladen auf Ilis schnöde weggestecktes Bild stieß, faßte er plötzlich einen Entschluß. Weswegen hatte er das Bild vom Schreibtisch genommen? Aus Rücksicht auf seine Frau. Ja, aber was war er denn jetzt für Ingerlild? Nichts mehr, als was Doktor Godwiek für Groa bedeutete. Wer dankte ihm dafür, daß er diese seine Freundschaft geradezu erdrosselte? Kein Mensch und Groa am allerwenigsten. Wozu hatte er sich also des hübschen Anblicks beraubt, den Ingerlilds Bildnis ihm darbot? Völlig umsonst! Er war nur übertrieben gutmütig und zartfühlend gewesen und mußte sich sogar feige schelten, denn er hatte in der Furcht gelebt, Groa werde ihm seine Freundschaft, – das Wort hob er in seinen Selbstbetrachtungen geflissentlich immer wieder hervor, – seine Freundschaft mit ihrer Schwester zuletzt doch übel nehmen und ihn dafür durch die ihm unerträgliche Kürze ihres Tones bestrafen. Das war unmännlich von ihm, das war ein Verkriechen seiner ganz berechtigten Gefühle, die überdies niemand schadeten. Kühn wieder mit dem Bilde auf den alten Platz! Der Herr Stadtbaumeister vollführte die gewaltige Tat, Ingerlilds Schönheit von neuem neben Groas Schlichtheit zu stellen, wartete nachher allerdings sehr darauf, was Groa wohl dazu sagen werde. Das bekam er nicht zu wissen. Es war auch nicht von Belang. Groa sah die abermalige Veränderung auf seinem Schreibtisch, stutzte einen Augenblick und fand es dann vernünftig von Jürgen, daß er Ingerlild nicht mehr im Versteck hielt.

Als Jürgen seiner Frau nicht die leiseste Verstimmung anmerkte, atmete er auf und beschloß: das Bild blieb nun ein für allemal da. Ja, so ein Held war Jürgen Oldekopp!

*

Außer Groa, der Freundin, die er kannte, hatte Marus Godwiek in Gündsitbargen noch eine, ihm bis dahin ziemlich unbekannte Freundin. Das war Groas Schwester. Ingerlild Jessen war nun in die Jahre gekommen, wo der Beiname »die Schöne« nicht mehr schlechthin für sie paßte, sondern, wenn sie ihn je noch hörte, mehr wehmütige Erinnerungen in ihr auslöste, als daß sie sich über das ihr damit zugedachte Huldigen freute. Ihre Gestalt war noch ebenso schlank und biegsam wie ehedem: ihr Haar prangte in seinem Goldblond, und ihr Antlitz hatte das feine Oval bewahrt. Aber sie konnte es beim Blick in den Spiegel nicht leugnen: kleine Schärfen machten sich in ihren Zügen geltend; um den Mund, an den Augen hatten sich Lebensrunen eingegraben.

Kein Wunder! So viel wie sie gearbeitet hatte. Berühmt war sie ja. Ein zweiter Band voller Verse unter dem Namen: Was die Nachtschattenfee singt, – war herausgekommen, und eine Zeitung hatte ihre Poesie mit der Art der Droste-Hülshoff verglichen, nur daß Annette nicht so viel innerer Glut und keines so hinreißenden Überschwanges fähig gewesen war wie Ingerlild Jessen. Alles gut und schön, aber auf die Dauer ermüdete das Dichten die Seele doch sehr. Ingerlild wollte lieber etwas erleben, als immer nur im Grunde doch Unerlebtes schildern! So verstaubte das große silberne Tintenfaß aus dem achtzehnten Jahrhundert, woraus sie mit Schwanenfedern zu schreiben pflegte, und das Büttenpapier, das eben und eben würdig gewesen war, um ihre Gedanken aufzunehmen, gab sie der Mutter. Die sollte Einmachetöpfe damit zubinden.

Ili hatte wieder einen Abschnitt ihres Daseins durchlaufen; mit der Gündsitbargener Sappho war es vorbei. Also stand sie mit ihrem vollen Gemüt wieder einmal vor dem Nichts! Solch einsames Mädchendasein führte zum Vertrocknen! Als Gattin aber wäre sie jetzt, wo sie dreiunddreißig Lenze zählte, noch emporgeblüht. Es war entsetzlich, daß gerade sie, die zu allem Glück bereit war, so zum Leiden gezwungen wurde! Und keinen Menschen zu haben, mit dem sie sich austauschen durfte. Jürgen konnte ihr nichts sein; der hing an der Schürze seiner Frau; er wollte ja auch immer nur das Spiel, und Ingerlild war so ernst zu Sinne! Wäre es ihr doch vergönnt gewesen, diese Welt zu fliehen und dabei die Traulichkeit zu genießen, die ihr jetzt als das Höchste vorschwebte, die Gattin eines einfachen, sie innig liebenden Mannes zu sein! Wo gab es solches Glück?

Fräulein Jessen erfuhr es. Sie ging eines Nachmittags über den neuen Friedhof, denn sie war in der letzten Zeit immer gern dort und schaute in die Familiengruft hinab, wo einst auch ihr Sarg stehen würde. Durch die kleine Pforte an der hinteren Mauer verließ sie die stille Stätte und schritt am Bahndamm entlang über die Heide. Da traf sie auf ein alleinliegendes Bahnwärterhaus. Der Beamte, ein junger Mensch, bestellte seinen Garten. Das machte einen idyllischen Eindruck. Ingerlild erkundigte sich bei ihm nach der Stunde und fragte ihn allerhand über die Züge, die hier vorbeirasten, und der Mann, froh, einmal eine Ansprache zu haben, berichtete ihr von seinem Leben, und daß er vor kurzem seine liebe junge Frau verloren habe. Ili schied mit einem Händedruck von ihm und setzte ihren Weg in tiefem Nachdenken fort. Eine Woche später erschien im Gündsitbargener Tageblatt eine Novelle von ihr – denn völlig ließ sich das Dichten nicht unterdrücken –, die hieß »Das Weib des Bahnwärters«, und darin hauchte Ingerlild ihre Wünsche aus: eine reiche, vornehme Dame vermählte sich, des Getriebes um sie herum überdrüssig, mit solchem braven Unterbeamten und führte in der Einsamkeit eine unsagbar schöne Ehe mit ihm. Sie verschmähte es nicht, selbst mit der roten Fahne dazustehen, wenn ihre stolzen Eltern und andere Verwandte, die sich von ihr losgesagt hatten, im Luxuszug an ihr vorüberreisten, und eine Schar prächtiger Kinder tummelte sich in dem Garten, worin die Sonnenrosen im Abendrot die schweren Häupter wiegten.

Ja, das war Ilis Traum, sich in der Heide ein Heim zu gründen. Noch ein paarmal war sie draußen bei dem schlichten Manne, und sie ruhte sich auf der Bank neben seinem Hause aus; sie hatte eine Handarbeit mit und kam sich schon ganz fraulich vor. Aber das Unglück wollte, daß der Stadtrat, von einer Reise zurückkehrend, sie vom Wagen aus erblickte, wie sie bei der Wärterbude saß und häkelte. Er traute seinen Augen nicht. War das Ili gewesen, die er da gesehen hatte? Ja, in der Tat. Ingerlild gestand, als sie nach Hause kam, freimütig ihre Besuche bei dem Bahnwärter ein. Da brach ein Donnerwetter auf sie hernieder. Ihr Vater verbot ihr diesen nicht standesgemäßen Verkehr auf das entschiedenste. Wenn sie heiraten wollte, möchte sie ihm gefälligst einen anderen Schwiegersohn aussuchen. So griff väterliche Brutalität rauh in die Romantik ein, die sich Ingerlild hatte schaffen wollen, und sie war abermals einsam.

Sie haßte das ganze Leben und das Leben in Gündsitbargen insbesondere; sie wollte fort und wußte nicht, wohin. Und all diese Unruhe war nichts anderes als das angstvolle Suchen und die brennende Sehnsucht der Weibesseele nach dem Manne. Wo aber ihn finden? Und wenn sie ihn auch fand, wie ihn zu sich ziehen? Sich ihm gar an den Hals werfen? Ach, des Weibes Schicksal war beklagenswert! Um die zarten weißen Handgelenke schlangen sich tief ins Fleisch einschneidende Stricke. Überhaupt in Gündsitbargen war niemand, dessen Frau zu werden Ingerlild wünschen konnte. Diese Gündsitbargener, so einfältig, so aufs Grobwirkliche gerichtet, so schrecklich eingeboren. Eher kamen noch ein paar hierher eingewanderte Fremde in Betracht, ganz genießbare Männer; – der eine oder der andere verdiente sogar die Bezeichnung »nicht uninteressant«. Zum Beispiel Doktor Godwiek.

Ingerlild wußte über Godwieks Schicksal Bescheid. Die Ingerlilds wissen ja dergleichen immer. Es war ihr nicht verborgen, wie Godwieks geschiedene Frau mit ihrem Mädchennamen hieß und woher sie stammte. An ihrer Familie war nicht viel dran. Die Töchter hießen Gabriele und Gertrud. Doktor Godwiek hatte eine wichtige chemische Erfindung gemacht, Geld mußte er reichlich besitzen und gab auch seiner Frau weit mehr, als er nötig gehabt hätte. Das und noch viel mehr Wissen schöpfte Ingerlild aus allen möglichen Quellen. Daß Groa sich etwas zu sehr mit ihm abgab, hatte sie beobachtet, hielt es aber nicht für gefährlich. Diese Groa war viel zu philiströs und fischblütig, um sich in ein Abenteuer zu stürzen. Groa hatte ja nicht einmal die Poesie empfunden, die darin lag, daß sich so ein vom Leben zermürbter Mann in dem Schörrhofwinkel verbarg. Nun stickte sie dem teuren Freunde gewiß das nötige Sofakissen zu Weihnacht. »Nur ein Viertelstündchen.«

Etwas gefreut hatte sich Ingerlild wohl, weil über ihre erhabene Schwester auch einmal der Stadtklatsch umgegangen war, und sie mußte lächeln, daß selbst so ein trostlos treues und ehefrau-pflichtbewußtes Wesen wie Groa einmal geneigt sein konnte, mit einem anderen Manne als bloß immer mit dem geliebten Angetrauten zu verkehren. Im übrigen war es natürlich nur ein hohes und hehres Geistesbündnis, das sie mit Doktor Godwiek geschlossen hatte. Ach, so geistig! Ihr genügte das, aber ob er davon satt wurde? Es war bisweilen etwas in seinem Auge, so dies Aufblitzen, dies prüfende Hinhuschen des Blickes über die Gestalt einer Dame, was einer Kennerin oder Ahnerin mancherlei von ihm verriet. Man hörte ja auch davon, daß er früher den Lebensgenüssen in anderer Art als nur mit der Seele gehuldigt hatte.

Schön-Ingerlild fing an, Doktor Godwiek zu bevorzugen. Ihr Vater merkte wieder sofort, wie der Wind wehte, und ohne daß er mit seiner Tochter über ihre Wünsche sprach, leistete er ihr hilfreiche Hand. Marus Godwiek wurde oft und dringend zu Jessens eingeladen, der Stadtrat bewirkte die Wahl des neuen Mitgliedes zum Beisitzer im Harmonievorstand, die seit langem spielende und unerquickliche Geschichte mit den Abwässern aus jener chemischen Fabrik wurde durch Jessens Vermittlung vom Rate ganz im Sinne Godwieks erledigt, und Jessen nannte binnen kurzem den erst vor wenig Zeit hier Zugezogenen seinen lieben alten Freund.

Ingerlilds Gehirn arbeitete schlau. Sie wußte in ihrem Benehmen wohl ein bißchen Lockendes und Verheißendes zu behalten, kehrte aber im ganzen auch in ihrer Kleidung das zuverlässige, zur Hausfrau geborene Mädchen heraus. Ein Tröpflein Prickelndes in das große Glas voll Ehrbarkeitslimonade. Oh, diese Mischung hatte schon manchem so gemundet, daß er immer davon trinken wollte. Weibeskunst wird niemals umsonst angewandt, und unverkennbar wirkte Ingerlilds Gebaren auf Godwiek. Er wohnte unfern dem Stadtbaumeister, scheute jedoch neuerdings häufig nicht den weiteren Weg in die Innenstadt, um ein paar Stunden bei Jessens zu verbringen.

Groa wußte das, und es schmerzte sie. Sie grollte ihrer Schwester. Gab es nicht sonst Männer genug, nach denen diese Ichlingsnatur ihre Netze auswerfen konnte? Wenn Marus Godwiek so blind war, sich einfangen zu lassen, so würde Ili schon dafür sorgen, daß der Gedanke an seine Kinder bei ihm verblaßte. Godwiek und Ingerlild! Das Unglück! – Groa wies es lebhaft von sich, als ihr Gewissen bei ihr anklopfte, ob sie in ihrem Unwillen auch ein bißchen an sich selber dächte. Denn das hätte ja bewiesen, daß zuviel Freundschaftliches in ihr für Godwiek sprach, und wer konnte das von ihr behaupten? Nein, sie dachte, wie sie ihrem Gewissen vielleicht mit zu großem Fleiße versicherte, uneigennützig nur an Godwiek und vornehmlich an die armen Kinder, die bei einer jedenfalls untüchtigen Mutter bleiben mußten, weil der Vater sich nicht genug um sie kümmerte.

Der Mensch tut ja niemals nur Recht oder Unrecht, sondern er begeht immer Recht und Unrecht zu gleicher Zeit. Obgleich Groa ihren Mann liebte und sich von ihm geliebt wußte, erlebte sie in ihrer Ehe die Enttäuschung, die keinem Weibe erspart bleibt. Von dem Traume, womit es sich dem Manne hingibt, der ihr in seiner werbenden Verzückung lauter Glück verspricht, löscht ein Glanz nach dem andern aus. Die rechte Frau, zumal wenn sie Mutter geworden ist, wäre in ihrem Mitempfinden und ihrer Güte möglicherweise fähig, dem Zusammensein mit dem Manne eine Art Vollkommenheit zu verleihen, der Mann aber, der sich nie ganz zu seiner Frau hinfindet, sich auch, um nicht zu viel von sich zu opfern, nicht ganz zu ihr hinfinden darf, ist der Zerstörer der Ehe. Das fühlt die Frau, und je klarer sie über diesen Mangel ist, desto ruhiger fügt sie sich in das Unvermeidliche. Völlig vergessen freilich kann sie nicht, was ihr zukam, und worauf sie hat verzichten müssen, und deshalb blickt sie besorgt und mitleidig hin, wenn sich anderswo ein Bund knüpfen will. Sie weiß, auch da wird jetzt ein froher Traum gewirkt, der nachher ins eintönig Schattige abblassen muß. Aus dieser von ihr nie ausgesprochenen, aber doch stets wahrgenommenen Ungenüge heraus handelte Groa. Godwiek, der sich einmal so schwer geirrt hatte, tat für ihren Geschmack besser, nicht wieder nach einem Liebesglück, und erst recht nicht bei Ingerlild, zu trachten. Es gab Schöneres: er sollte sich seine Kinder erobern.

Groa wollte also Doktor Godwiek vor etwas Schlimmem bewahren, und das war gut und menschenfreundlich; ihr Versehen war nur, daß sie dadurch unschwesterlich wurde. Ob Godwiek seinen früher begangenen Irrtum in den Dingen der Liebe wiederholen würde, konnte sie ja nicht wissen, sie fühlte aber Gefahr im Verzüge und benutzte deshalb jede Gelegenheit, ihn zu bitten, er möge seine Töchter einmal zu ihm einladen. Das tat er schließlich ihr zu Gefallen, und die Mädchen kamen auch; Gabriele, die ältere, hoch gewachsen, mit ihres Vaters Zügen und Bewegungen, die an ihn erinnerten, Gertrud, die jüngere, klein und rundlich, dem Vater unähnlich, mit einem Munde, der auf Naschsucht deutete, und mit jenem Gebaren, das von der Lust an Spötterei und auch vom Sinn für Heimlichkeiten zeugt.

Groa zog die Mädchen in ihr Haus. Gabriele schloß sich ihr an, Gertrud fühlte sich von ihr bedrückt. Groa deutete an, welch einsames Leben ihr Vater führte. Auf Gertrud machte das keinen Eindruck. Die redete davon, daß es in ihrer Heimat viel netter sei; sie könne es in Gündsitbargen nicht aushalten. Gabriele jedoch wurde nachdenksam, und es war ein froher Augenblick für Groa, als dies junge Mädchen zu ihr sprach: »Ich hätte Lust, bei meinem Vater zu bleiben, wenn er mich haben will.«

»Sie würden ihm die herzlichste Freude bereiten, liebes Kind!« rief Groa.

Ein wenig scheu, so wie man spricht, wenn man den andern bitten will, ob man ihm nicht Vertrauen schenken darf, fuhr Gabriele fort: »Ich habe meinen Vater immer liebgehabt, aber wir sahen ihn ja nur mit Mutters Augen. Das ging gar nicht anders. Mutter hat immer so über ihn geklagt. Sie kann furchtbar bitter werden. Sie haßt ihn. Wir haben schreckliche Jahre hinter uns, wenigstens ich. Mutter hat mir sogar gedroht, daß sie nichts mehr von mir wissen will, wenn ich an meinem Vater hänge. Darum habe ich auch nie gewagt, ihm zu sagen oder zu zeigen, was ich denke. Aber hier bin ich frei von Mutter. Und jetzt möchte ich gar nicht mehr zu ihr zurück, sondern alles für meinen Vater tun, was er von mir wünscht und was ich ihm sein kann.«

So hatte Groa etwas erreicht; während Gertrud zu ihrer Mutter zurückkehrte, richtete sich Gabriele in Godwieks Wohnung ein und war mit ihren achtzehn Jahren so verständig und sorglich, überdies auch so glücklich, der Mutter entronnen zu sein, daß sie ihrem Vater fast die Hausfrau ersetzte. Doktor Godwiek küßte Groa dankbar die Hand, und der Stadtrat und seine Jüngste mußten es sich bald zu ihrem Leidwesen eingestehen, daß ihnen dieser Freier, seitdem er die erwachsene Tochter bei sich hatte, mehr und mehr entglitt. Da Godwiek aus seinem Dank gegen die Frau Stadtbaumeister, die ihm zu einem seiner Kinder verhalfen hatte, kein Hehl machte, so faßte man im Jessenschen Hause einen gehörigen Grimm auf die Vermittlerin.

»Ich muß mich doch mal mit Frau Oldekopp junior über diesen Fall unterhalten«, sagte der Stadtrat zu den Seinigen und begab sich in die Kaßbergallee. Er traf Groa allein. Das war ihm sehr recht. »Liebes Kind«, begann er, »Frieden schließen ist gewiß eine löbliche und christliche Sache, aber man soll sich mit so was auch vorsehen. Die Godwiekschen Familienverhältnisse liegen ja ziemlich trostlos, trotzdem kann ich mich nicht so ganz über die Aussöhnung des einen Fräuleins mit ihrem Vater freuen. Du wirst mich nicht ohne weiteres verstehen, wie?«

»Doch. Du meinst Ilis wegen.«

»Allerdings. Das wundert mich übrigens, daß du da gleich im Bilde bist.«

»Das bin ich von vornherein gewesen.«

»So? Du hast gemerkt, daß der Doktor in letzterer Zeit am Ende nicht ohne bestimmte Absichten so oft zu uns gekommen ist?«

»An Absichten bei ihm hab' ich noch nicht fest geglaubt, wohl aber an Absichten auf der anderen Seite.«

»Nun? Und da?«

»Da meinte ich als Godwieks Freundin, er könne sein Leben auf andere Art besser ausfüllen, als durch eine neue Heirat.«

»Und deshalb hast du dafür gesorgt, daß die Mädchen herkamen?«

»Ja.«

»Dadurch sollte also die – andere Verbindung verhindert werden?«

»Wenn sie ihm noch nicht geradezu notwendig und Herzenssache war: ja.«

»Unerhört! Wie kannst du dich unterstehen, so vorzugehen? Was kümmert dich dieser Mensch? Mit welchem Recht mischest du dich in seine Angelegenheiten? Und hast du dir überlegt, daß es sich dabei um deine einzige leibliche Schwester handelte? Gegen die hast du in ganz unverantwortlicher Weise angearbeitet. Versündigt hast du dich an Ili, – merk' dir das!«

»Ich habe kein Wort gegen sie gesagt. Aber ich gesteh' dir offen: Wenn Godwiek durchaus wieder heiraten wollte, so wünschte ich ihm nicht gerade eine Ili zur Frau.«

»Ach! Was du nicht sagst! Deine Schwester ist zu schlecht für deinen hohen Freund, nicht wahr?«

»Wir kennen Ili ja beide, Vater. Ich wollte Godwiek zu dem verhelfen, was für ihn das Natürlichste ist. Und das ist mir wenigstens halb geglückt. Hab' ich ihm dabei zugleich seinen zweiten Lebensirrtum erspart, – um so besser.«

»Bitte, erkläre mir mal: gehörst du eigentlich zu unserer oder zu Herrn Doktor Godwieks Familie?«

»Zu euch. Darum brauch' ich aber gegen Ilis Fehler nicht blind zu sein. Sie genügt einem ernsten Mann nicht.«

»Dieser ernste Mann schien sich bei ihr sehr wohl zu fühlen. Da brauchtest du dir gar keine Sorgen zu machen. Das war alles im schönsten Werden.«

»Hat er eine wirkliche Neigung für Ingerlild gefaßt, so muß sich die ja trotz seiner Tochter weiter entwickeln.«

»Denkst du? Nein, mein Döchting, wenn so was erst mal gestört ist, … da kenn' ich mich besser aus. Er läßt sich nur alle Jubeljahre sehen, lehnt Einladungen ab, – ich weiß Bescheid. Und wir? Sollen wir ihm vielleicht nachrennen? Ein klein bißchen Ehre haben wir denn doch noch im Leibe! Das ist aus. Ili ist beleidigt und gibt die Partie auf.«

»Das ist jedenfalls ihr eigenes Glück. Echtes Gefühl wird sie für ihn kaum gehabt haben.«

»Kind«, entgegnete der Stadtrat, und sein Gesicht wurde sehr traurig. »Du sitzest hier im warmen Nest. Ili bei uns auch, sicher. Aber darfst du es ihr verdenken, daß sie sich doch nach was anderem sehnt? Ahnst du nicht, daß in Liebes- und Ehesachen aus unecht echt werden kann und häufig wird? Hättest du nicht«, und seine Betrübtheit wandelte sich in Entrüstung, »mit deiner vermeintlichen Hilfe für Godwiek solange warten müssen, bis du wenigstens über Ilis Gefühle richtig urteilen konntest? Du willst so klug sein und dir fällt nicht einmal ein, daß ein Mädchen in Ilis Alter nur noch sehr wenig Zeit hat? Da geht ein Jahr hin, als wären es vier. Nein!« Sein Ton wurde immer empörter. »Du hast in deiner sogenannten, für eine verheiratete Frau höchst überflüssigen Freundschaft zu einem wildfremden Menschen deine Schwesternpflicht schnöde unter die Füße getreten. So ist es. Laß es dir wohl bekommen! Mich siehst du hier nicht wieder.«

Tief erregt ging der Stadtrat heim. Dieser Mann, der sonst allem, auch dem Schlimmsten, eine heitere Seite abgewann, der es bis zu einer Kunst bei sich ausgebildet hatte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen – er war furchtbar niedergeschlagen. Viel Liebe war er ja von Groa nie gewohnt gewesen. Damit hatte er sich auch immer abgefunden. Jedes Kind mußte seine Liebe eben nach dem eigenen Charakter äußern, das eine mit Zärtlichkeiten, das andere höchstens mit einem freundlichen Wort. Er hatte doch immer an Groas Liebe geglaubt. Daß seine Älteste aber so allem verwandtschaftlichen Bewußtsein ins Gesicht, schlagen könne, wie es ihm Groa – noch dazu mit einem Gesicht, als habe sie Wunder was Rühmenswertes vollbracht – heute eingestand, das hatte der Stadtrat nicht für denkbar gehalten.

Nun also! Dann hatte er seine Tochter Groa verloren, oder, besser gesagt, er hatte gelernt, daß Frau Stadtbaumeister Oldekopp nie seine Tochter gewesen war, und besaß dann nur eine Tochter: seine Ili, seine liebe, arme Ili, die nirgend Ruhe fand und deren gute und liebreiche Seele er, der Vater, doch so genau kannte. Mochte denn Groa mit ihrer öden Vernünftelei vom Natürlichen und vom Nichtgenügen bleiben, wo sie wollte. Für steinerne Herzen hatte er nichts übrig! Daheim schloß er Ingerlild an die Brust, und das war das erstemal, daß sie Tränen in den so wohlgepflegten, zu dieser Stunde aber zerzausten Bart ihres Vaters hinabrinnen sah.

*

Zu verschweigen war da nichts. Der Stadtrat hatte keine Ursache, Groa zu schonen. Ingerlild erfuhr, was ihre Schwester wider sie angezettelt hatte. Haß verzerrte ihr erst das Antlitz. Sie brauchte, um Groas Handlungsweise richtig zu bezeichnen, Ausdrücke, vor denen sich die Mutter die Ohren zuhielt, während der Vater ein über das andere Mal rief: »Ganz recht hast du, – wer das tut, der ist … für den kann man gar keine Worte finden, die scharf genug sind!«

Dann rettete sich Ingerlild vor der Gefahr des Erstickens zu einem Verachten dieser Person, die sie bisher ihre Schwester genannt hatte. Des Stadtrats strenger Befehl lautete, daß es fortan keinen Zusammenhang zwischen seinem Hause und den jungen Oldekopps geben solle. Seine Frau durfte sich dort nicht sehen lassen, und selbst Gunhild wurde nicht mehr zu den Großeltern eingeladen.

Auch auf das Haus an der Kaßbergallee griff der Zerfall über. Schwingtag-Jürgen hatte bei dem ganzen Ereignis wieder eine Menge von Empfindungen zu durcheilen. Als er zuerst wahrnahm, daß Jessens ernstlich auf Godwiek rechneten, spürte er den Schmerz, den wir immer haben, wenn ein anderer da ungemessen schlürfen soll, wo wir selber kaum nippten. Bald aber mußte er fragen: Was ersehnte er denn noch von Ingerlild für sich? War nicht alles zwischen ihm und ihr abgeschlossen? Er wurde verständig genug, sich zu sagen, daß er kein Recht besitze, Ili eine Heirat zu mißgönnen, denn er selber konnte ihr ja nichts bieten. An Godwiek dachte er sogar mit einer Schadenfreude. Den Duft von Ilis Persönlichkeit bekam der doch nicht; den hatte Jürgen durch alle die Jahre und alle die Hemmnisse hindurch genossen. Seine Phantasie ermöglichte es ihm, die kleinen Erinnerungen an das Mädchen zu einem großen Erlebnis zusammenzuzwingen. Etwas gleich Feines, gleich Verständnisvolles würde diesem Godwiek nie bei ihr beschieden sein. Was Groa aber tat, um die zwei nicht zueinander zu lassen, konnte man wirklich nur an edle Beweggründe dabei glauben? Oder war nicht doch irgendeine Eigensucht – vielleicht unwillkürliche Eifersucht – mit im Spiel? Er wollte ja nicht an ihr zweifeln, indessen …

»Ich bin notgedrungen beidhändig, Groa«, meinte er, »und deshalb mußt du mir schon verzeihen, wenn ich in dieser Sache nicht dir allein recht geben kann. Als dein Vater mir sie erzählte, habe ich das Meinige getan, um dich zu verteidigen, aber hier unter uns – dein eigenes Bekenntnis lähmt mich. Ich will mir gern Mühe geben, dich zu begreifen, ich weiß nur wahrhaftig nicht, was du an Godwiek findest, daß dir deine Schwester nicht gut genug für ihn erscheint.«

»An ihm finden? Wie soll man solche Sympathie erklären?«

»Doch wohl dadurch, daß man glaubt, mit jemand zusammenzugehören. Aber du und Godwiek? Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich denke eher, du gehörst überhaupt mit keinem Menschen ganz zusammen. Nicht einmal mit mir.«

»Daran bin ich nur nicht schuldig, guter Jürgen.«

»Schuld! Wollen wir das Wort nun nicht beiseitelassen, Groa? Du tadelst es doch bei deiner Schwester, daß sie immer andere Leute verantwortlich macht. Bist du ihr darin nicht ein bißchen ähnlich, so verschieden ihr sonst seid? Es ist ja möglich, daß ich hier zu Hause der allein Schuldige bin. Aber wozu betonst du das noch? Es klingt so furchtbar selbstgerecht.«

»Warum darf man das schließlich nicht sein, wenn man sich bewußt ist, daß man stets seine Pflicht tut?«

»Ja, wer das nur immer genau entscheiden könnte, ob er seine Pflicht tut oder ob er dagegenhandelt.«

»Ich zweifle in der Hinsicht nie.«

»Leider nicht. Es wäre aber vorteilhaft, du tätest es bisweilen. Dann wärst du weniger starr. Merkwürdig, was man für gebogene Wege gehen muß, um an ein so einfaches Geschöpf wie dich heranzukommen. Ich will's ja mit Freuden, Groa, ich bin dir ja dankbar, weil du mir Rätsel aufgibst; nur kannst du es nicht von deinen Eltern und vor allen Dingen nicht von Ingerlild verlangen, daß sie sich schlankweg auf deine Seite stellen. Dem Doktor Godwiek deine Familie zu opfern, das grenzt doch weiß Gott an Gemütlosigkeit!«

»Euch kommt es schon gemütlos vor, sobald jemand nur durchaus aufrichtig und wahr sein will.«

»Nicht zu stolz, gute Groa! Ich hab' es schon häufiger von Frauen gehört, daß sie sagten: ›Ich bin eine Fanatikerin der Wahrheit.‹ Und je mehr solche Frau damit prahlte, desto tiefer steckte sie zuletzt in Heimlichkeiten. Sei ruhig! Ich weiß, du verheimlichst nichts und darfst dich einen ehrlichen Menschen nennen. Aber vor Irrtümern bist du lange nicht gefeit. Was hat dir Ingerlild getan?«

»Ich hasse das Männeranlocken. Ein Mädchen, das einen Mann durch Koketterie gewinnen will, wird ihn nie lieben. Meine Schwester hat immer zu denen gehört, die bei jedem freundlichen Blick ihre Berechnung haben. Hat sie's denn mit dir anders gemacht? Bis noch vor kurzem. Bildest du dir ein, ich hätte nicht gesehen, was sie alles anstellte, um sich dir lieb und notwendig zu machen?«

»Und wenn sie das nun war?«

»Dann bin ich also doch nicht der alleinige Inhalt deiner Tage gewesen, so viel du mir auch davon vorgeschwärmt hast.«

»Über meine Liebe zu dir habe ich kein falsches Wort gesprochen. Aber das lernt man freilich: von einem einzigen Menschen, wie hoch er uns steht und wie lieb wir ihn haben, können wir gar nicht erwarten, daß er uns ganz ausfüllt.«

»Wenn der Mensch, dem wir am nächsten sind, das nicht tut, – haben wir dann das Recht, es von andern zu erwarten?«

»Ja, wer immer so Herr über seinen Verstand ist, daß er alles, was ihn hin und her zieht, damit unterdrückt, der gerät nicht in die Wildnis. Aber es gibt auch noch Kräfte, gegen die unser Verstand nicht ankommt. Du verlierst dich nie, Groa. Du bleibst immer klar und deiner gewiß. Das ist schön, aber schilt nicht auf uns, die wir nicht so mit der Erde verwurzelt sind, daß uns kein Sturm herausreißt.«

»Wen meinst du? Dich und –?«

»Ja, Ili gehört auch dazu. Aber sie hat in einer recht gefährlichen Stunde doch noch fester gestanden als ich.«

»Was war das für eine Stunde?«

»Weil du deine Schwester falsch beurteilst, und weil ich endlich den Druck von der Seele loswerden will, sag' ich es dir: ich habe eine Zeit gehabt, wo es mich mit aller Gewalt zu Ili hinzog. Ich war in einem Zustand – es hat keinen Zweck, ihn dir zu beschreiben. Da sind ja Dinge in meiner Seele, für die du auch nicht das geringste Gefühl hast. Es tobte in mir, es hat in mir geschrien nach einer Erfüllung, von der du nichts ahnst. Bei Ingerlild glaubte ich erlöst zu werden. Ich habe mich vor sie hingestürzt, ich hab' – nun – es war alles so, wie es immer ist, wenn ein Mann die Besinnung verliert und ein Weib auch so weit bringen will. Und ich hab' es deiner Schwester allein zu verdanken, daß alles nicht so gekommen ist, wie ich wollte. Deiner Schwester allein! Du mußt zugeben, das sieht nicht nach Anlocken aus, wenigstens hat in ihr damals irgend was Besseres die Oberhand behalten.«

»Und das war – während unserer Ehe?«

»Ja. Als du mit Gunhild an der See warst. Den Tag, ehe ich euch nachreiste.«

»Und du hast dann mit mir gesprochen, als wäre nichts vorgefallen?«

»Man legt sich das zurecht. Es war ja auch nichts vorgefallen.«

»Also nur das Grobe zählt für dich. In Gedanken kann der Mensch tun, was er will?«

»Wenn jemand mit seinem Gewissen zu schaffen hat, so bin ich es. Mein Gewissen – das bist du selbst, und was gegen dich kämpft, das ist das Tier in mir, nenn's meinetwegen so, das ich nicht unterdrücken kann. Aber so sehr ich mich deswegen selbst verachte: Ganz ohne Rechte ist dies Tier auch nicht, will mir scheinen. Nun, du bekommst ja schließlich immer deinen Willen. Zum Beispiel wieder jetzt: Ich möchte dir deine Schwester im rechten Lichte zeigen, damit du einsiehst, daß Ili nicht so schlecht ist, wie du denkst, und ich kann das nicht anders, als indem ich dir beichte. Das wird mich ja freilich nicht in deiner Achtung heben, aber es befreit mich von der Heimlichkeit, die ich bis jetzt vor dir hatte. Die hat mich viel mehr gequält als die Sehnsucht, für die ich bei deiner Schwester auf Erfüllung hoffte. Was kann der Mensch für seinen Hunger, wenn er nicht satt zu essen kriegt? Du spürst ihn in unserer Ehe ja auch – nur in anderer Weise.«

»Mag sein. Aber ich bezwinge ihn.«

»Darin ist nun der eine so, der andere so.«

»Außerordentlich bequem.«

»Ach nein, Groa. Bequemer als ich und meinesgleichen haben es die Menschen deines Schlages. Du stellst Steine auf, rund um dich herum und sagst: So, das sind die Grenzen, darüber wird nicht hinausgegangen. Jedesmal, wenn dein Blick auf diese Steine fällt, erinnerst du dich brav daran, daß dort dein Reich zu Ende ist und daß du kein fremdes betreten darfst. Aber ich, der ich keinen solchen Wall kenne –«

»Warum nicht?«

»Weil mir das Leben damit zu eng ist, und weil ich weiß, ich stolpere ja doch mal darüber weg; was hat er also erst für Zweck? Unsichtbare Grenzen einzuhalten, ist bedeutend schwerer, und unsereins büßt es genug, wenn er einmal auf verbotenes Gebiet hinüberschweift, aber es ist für mich einfach nötig, die Grenzen nicht immer zu beachten.«

»Ich kann niemand dies Recht auf doppelte Felder gestatten, Jürgen, weder mir noch meinem Manne. Aber etwas anderes brächte ich am Ende fertig.«

»Das wäre?«

»Bist du davon überzeugt, daß ein Wesen wie meine Schwester dir heute noch das schenken könnte, was du damals vergeblich bei ihr gesucht hast? Sei ehrlich.«

»In Ingerlild liegt viel Unausgeschöpftes.«

»Was dich glücklich machen würde?«

»Ich glaube wohl.«

Groa trat dicht vor ihn hin: »Jürgen, meine Grenzsteine kann ich nicht umreißen, ich kann dir nur freistellen, durch sie hindurchzugehen, aber hinter dir setz' ich sie dann so nahe zusammen, daß eine Mauer daraus wird. Du kommst nicht wieder zu mir herein. Also freue dich der Freiheit.«

»Wer denkt daran, Groa!« rief Jürgen bestürzt. Groa verließ das Zimmer.

*

Die Frau kam sich wie gestorben vor. Doch nicht! Sie hatte ihr Kind, also lebte sie. Im übrigen aber: sie hatte keinen Menschen mehr. Durfte sie sich beklagen? Lag's nicht in ihr, wenn niemand recht an sie heran kam? Und dennoch fühlte sie ihr Herz voller Liebe, nur wollte sie nie ins Gewöhnliche hinabsteigen, und die anderen, ach, die fühlten sich da sehr wohl, denen fiel es gar nicht ein, sich zu ihr heraufzubemühen. Ihre Familie … Groa konnte sie entbehren, denn sie war nie mit den Ihrigen verwachsen. Jürgen … der Verdacht, dessen sie sich schämte, als er Ingerlilds Bild beiseitegelegt hatte, war also berechtigt gewesen. Seltsam, wie wenig sein Geständnis sie überraschte. Er sprach wahr: derlei Wünsche, die ihn hinausschweifen ließen, gehörten zu seinem Charakter. Trotzdem: es war unter seinen Worten etwas in ihr erfroren.

»Wer denkt denn daran!« Den Ruf hatte er erschrocken ausgestoßen, als sie ihm den Weg frei machen wollte. Nun, ihr war es nicht unmöglich, sich das Weiterleben ohne Jürgen zu denken. Mochte er sich ein größeres Glück als an ihrer Seite suchen. Ob bei Ingerlild, ob noch bei einer andern – das konnte Groa ja gleich sein. – Bei Ingerlild? Die Frau mußte lächeln: auf die Art wurde dann ja auch das Unrecht gesühnt, das sie ihrer Schwester angetan haben sollte.

Zweimal war sie beschuldigt worden, Ingerlild um das Frauenglück gebracht zu haben. Sie führte ja eine Ehe durch Ingerlilds angebliches Verzichten, und sie hatte verhindert, daß Ingerlild bei Godwiek das ersehnte eigene Heim fand. Jürgen war gewiß Ingerlilds ursprüngliche Liebe, aber welches Mädchen heiratete denn nicht einen anderen, wenn jede Aussicht fehlte, den Geliebten der Jugend zu bekommen? Und außerdem war Groa ihrer Schwester noch zu Dank verpflichtet, denn diese hatte Jürgen in der gefährlichen Stunde den Widerstand geleistet, ohne den Jürgen seine Ehe nicht nur in Gedanken, sondern auch in Wirklichkeit zerbrochen hätte.

Als Betrogene, als heimlich Hintergangene hätte Groa all die Jahre dahingehen müssen, wenn Ingerlild nicht das edle Geschöpf war, Jürgens Begehren zurückzuweisen. Hatte Groa also ihre Schwester nicht sehr unterschätzt? Womit konnte sie ihr Unrecht besser wieder gutmachen, als indem sie nun ganz zurücktrat und die beiden tun ließ, was ihnen beliebte? Wie sollte sie überhaupt weiter mit einem Manne leben, dessen Fühlen und Denken ihr nicht treu war? Mochte es ihm ernst gewesen sein, als er sagte, die Beichte sei ihm eine Erlösung. Wer so lange warten konnte und wer vor allem eines Anstoßes von außen bedurfte, ehe er sich durch ein Geständnis entlastete, der war immer in Gefahr, sich eine neue Last aufzupacken. Und wenn er sich nun schon erlöst fühlte: reuig hatte er nicht zu ihr gesprochen. Er pochte noch auf sein Recht. Sie aber beharrte bei der reinen Pflicht. Sie war eine Frau des Gesetzes. Gab's ein Schwanken in der Seele – nun wohl, das mochte hingehen. Nie jedoch durfte daraus ein wahrnehmbares Wanken werden. Solches Wanken war schon ein Sturz, und wer da stürzte, war verloren. –

Die Tage, die nun kamen, waren für Groa wie in Eis und Schnee gehüllt, so warm auch die Sonne über Blättern und Blumen lag. Ihr war sehr einsam zumute, obgleich sie ihr Kind eng ans Herz zog. Jürgen ging scheu um sie herum. Nachdem er aus Ritterlichkeit gegen Ingerlild den Mut zu seinem Bekenntnis aufgebracht hatte, fürchtete er, doch zuviel gesagt zu haben. Vom Hause am Markt zu dem an der Kaßbergallee führte kein Weg mehr, und auch der alte Oldekopp, der seine Schwiegertochter sonst wegen ihres praktischen Sinnes wohl leiden mochte, hatte jetzt so gut wie ganz mit ihr gebrochen.

Der Zwiespalt zwischen den Familien wurde stadtkundig, und das ärgste war: auch von dem Manne, dem sie geholfen hatte, wurde Groa nicht verstanden. Godwiek erfuhr durch Jürgens immer redseliger werdende Stiefmutter den Sachverhalt. Groa hatte durch seine Versöhnung mit seiner Tochter hindern wollen, daß er sich Fräulein Jessen näherte. So, so! Warum das? Auch Marus Godwiek sah keine andere Erklärung als die, die ihm Mama Hannchen andeutete: Aus Eifersucht!

So, so! Hatte diese scheinbar ruhige, ernste, nie etwas Zweifelhaftes zeigende Frau doch in der Freundschaft mit ihm mehr gefühlt, als sie fühlen durfte? War er ihr gegenüber irgendwie unvorsichtig gewesen? Er wußte das nicht. Aber einerlei, erhöhte Vorsicht war am Platze, besonders gerade um dieser von ihm aufrichtig verehrten Frau willen. Marus Godwiek ging kaum noch einmal zu den jungen Oldekopps und vermied es vor allem, mit der Frau Stadtbaumeister allein zu sein. – Ja, Groa war sehr verlassen.

*

Die Freiheit? Das hieß: Voneinander? Wer dachte denn daran? Wahrhaftig, Jürgen nicht, wenigstens nicht bis zu dem Augenblick, wo Groa dies Wort aussprach. Jürgen nicht! Seine Bestürzung darüber, wie Groa ihm die Grenzsteine beiseiterückte, so gelassen, als handle es sich um etwas Selbstverständliches, weiter gar nicht ins Leben Einschneidendes – ja, diese seine Bestürzung war aufrichtig gewesen. Frei sein von Groa? Nein, das wollte Jürgen nicht. Wie sollte er ohne diese Frau atmen?

Sie sprachen nicht wieder über die Dinge, wovon sie beide bewegt wurden. Er ging gedrückt einher, Groa war still und gütig, kein unfreundliches Wort gab es zwischen ihnen, aber – es war doch anders als früher. Kaum daß ihr Kind noch etwas richtig Gemeinsames für sie war. Ein trübes, fruchtloses Dasein! Ein elendes Versanden ihrer Ehe. Die Not war groß.

Aber sieh! Wie das so oft ist, wenn wir mit unserem Sein und Fühlen nicht mehr ein noch aus wissen, wenn wir glauben, daß wir ewig in der öden Tiefe verharren müssen, in die wir schuldlos oder durch eigene Schuld hinabgeglitten sind, so geschah es auch für Jürgen und Groa Oldekopp. Es trat an den Stadtbaumeister von außen etwas Neues heran. Das zwang ihn, sich aus der Dumpfheit herauszureißen. So wirr es in ihm aussah, mit so vielerlei sich nie ausgleichenden Empfindungen er zu kämpfen hatte – seinem äußeren Menschen merkte man das immer wenig an, und in seiner Künstlerschaft war er von Jahr zu Jahr mehr gereift. Seine Amtszeit bedeutete für Gündsitbargen eine Blüte. Stolz und stattlich entwickelte sich das Bild der Stadt nach Jürgen Oldekopps Absichten. Das gute Alte war gerettet und verfestigt, das Häßliche war beseitigt. Schöne neue Viertel erhoben sich, und wenn man Gündsitbargen jetzt wirklich nicht mehr als Kleinstadt bezeichnen konnte, dann war das zum großen Teile Jürgens Oldekopps Geschmack und Schaffensfreude zu verdanken. Das wußten die Bürger, und sehr gering war die Zahl derer, die dem Stadtbaumeister jetzt, wo er zwölf Jahre unter ihnen wirkte, ihre Anerkennung versagten.

Es war kein Wunder, daß von solch einem tüchtigen Baumeister auch anderswo immer mehr gesprochen wurde. Was er schuf, ward abgebildet; manches davon lobte man als musterhaft, und so kam es, daß im Laufe der Zeit von da und dorther bei Jürgen angefragt wurde, ob er Lust hätte, seinen Wirkungskreis zu wechseln und seine Kraft für größere Aufgaben zu verwenden, als die Vaterstadt sie ihm stellen konnte.

Jürgen wollte aber erst hier sein Werk vollenden und aus Gündsitbargen etwas Ganzes machen, darum hatte er auch auf Bitten des Magistrats solche Anträge bisher abgelehnt. Nun, gerade wie er sich weit von Groa entfernt sah, forderte ihn eine bedeutende Stadt auf, sich um den bei ihr frei werdenden Posten eines Baurates zu bewerben; man versicherte ihm unter der Hand, daß außer ihm niemand ernstlich für das Amt in Betracht käme – wenn er hinschrieb, war er auch gewählt.

Jürgen schaute sich sein Gündsitbargen an. Ja, es stand so weit fertig da, wie er es hatte haben wollen; die Richtlinien, die er dem Gemeinwesen für eine fernere Entwicklung gegeben hatte, waren so klar, so dem Boden angeschmiegt, daß niemand sie verkennen konnte. Er durfte auch einmal anderswo als nur immer hier die Gebilde seiner Phantasie in Stein umsetzen.

Für Groa gab es keinen Zweifel; er mußte annehmen, was sich ihm da bot, und so sandte er seinen Bewerbungsbrief ab. Wie man es ihm versprochen hatte, geschah es. Als er eines Abends mit Groa am Tische saß, traf die Nachricht von seiner Wahl ein. Jürgen jubelte auf. Freies Fahrwasser. Nun kam er mit Groa aus der Trostlosigkeit ihres jetzigen Daseins heraus.

»Freust du dich nicht, Groa?«

»Du hast es verdient, Jürgen.«

»Ich meine: freust du dich, Groa?«

»Für dich, ja, Jürgen.«

»Nun soll das Alte vergessen sein, nun erleben wir lauter Neues!«

»Wir, Jürgen? Hältst du es für so natürlich, daß ich mit dir gehe?« – – –

*

Jürgen war auf dunkle Straßen hinaus geeilt. Wie konnte Groa nur so unerbittlich, so lieblos sein? In dem Augenblick, wo er ein hohes Glück in der Hand hielt, das Glück des Vorwärtskommens, des Erfolges, die Möglichkeit, ins Weite zu gelangen, da war sie nicht imstande, die kleinen häuslichen Angelegenheiten hintanzustellen? Da verkümmerte sie ihm seine Freude, da dachte sie also schließlich doch nur an sich? Und wenn er nun aufbegehrte und zu ihr sagte: Du willst mir die Freiheit geben, gut, ich nehme sie, ich kann da draußen ohne dich sein, ich will handeln, wie es meine Natur verlangt, ich löse mich von dir, weil ich fühle, daß du selber es wünschest – wenn er nun so sprach? Er schritt über den Kaßberg hinaus, und ihn erfüllte erst etwas unbeschreiblich Wonniges.

Wirklich frei sein! Den Druck abstreifen, den er doch immer unter einer Groa spürte, in ein frisches Leben eintreten und durch nichts mehr im Genießen gehemmt werden – war das nicht herrlich? Hier in Gündsitbargen wäre eine Trennung von Groa undenkbar gewesen. Aber dort in der Ferne, wer wußte dort etwas von seiner Ehe? Dort war er ungefesselt und konnte alles in sich aufstehen und brausen lassen, was Groa niedergehalten hatte nun schon die langen, langen Jahre hindurch, gewiß zu seinem Besten, aber doch mehr nur zu seinem leiblichen Wohl als zum Nutzen seines inneren Menschen. Und der wollte auch einmal über alle Schranken hinausfliegen!

Nur: das war seltsam, und er stutzte plötzlich in seinem Freiheitsschwelgen – diesen Flug, von Groa losgebunden, unternahm er ihn nun ganz allein? War nicht einmal die an seiner Seite, wegen der es sich zwischen ihm und Groa trüben mußte, weil ihre Art den Gegenpol zu Groas Art bildete und weil die Nadel seines Seelenkompasses nie gewußt hatte, zu welchem von beiden Polen sie ein für allemal ausschlagen sollte? Ja, wo war Ingerlild in dieser Stunde, als ihm der Weg zu ihr doch völlig glatt und eben scheinen durfte? Er sah sie nicht, die Jugendgespielin, von der er alle die Jahre gehofft hatte, sie werde ihm noch einmal seinen geheimsten Durst stillen; er erkannte, nicht alles auf Erden brauchte sich zu erfüllen, es gab auch Gefühle, die da starben, während das Herz, das sie barg, noch auf den Gegenstand seiner Wünsche zupilgerte.

So mußte, auch das wurde ihm jetzt offenbar, seine Sehnsucht nach Ingerlild beim langen Wandern niedergesunken und für immer eingeschlafen sein. Ihm war, als bedürfe er nun gar nicht mehr der Erfüllungen, wonach früher alles in ihm lechzte. Wenn er sich's richtig überlegte: Warum hatte er sich so rasch damit abgefunden, daß Jessens Jüngste vielleicht Frau Doktor Godwiek würde? Warum hatte es ihm leid getan, Ingerlild enttäuscht zu wissen? Im Grunde doch nur deshalb, weil Groa damals schon voll in ihm gewonnen haben mußte. Er begriff das erst jetzt, wo er in sich nachforschte, mit wem er die ihm angebotene Freiheit wohl teilen möchte. Mit Ingerlild?

Nein. Sie war es nicht. Jenes neue Leben schwebte ihm als etwas so Wertvolles vor: es mit ihm auszukosten, dazu brauchte er einen Menschen, dem er sich mit allen Fasern anvertrauen konnte, der selber des größten und edelsten Lebensglückes wert und fähig war. Solchen Menschen fand er nirgend anderswo als in seinem eigenen Hause, in der Gestalt seines Weibes.

So gelangte dies Mannesgemüt, das sich im Kampfe zwischen seiner Pflicht, sich das Eigene zu bewahren, und dem Sehnen, in einem anderen Menschen aufzugehen, immer wieder in Unruhe stürzte, so gelangte es auf seinen geliebten Umwegen doch wieder zu dem Geschöpf, das einzig und allein das Gute und Erhaltende in seinem Leben war: zu Groa, dem Allwesen für ihn, der Mutter, der Geliebten, der Freundin und auch, freilich nicht nach seinem Begehren, sondern nach ihrem Charakter, der Gebieterin. Was er da draußen bei seinem neuen Werke für Freuden erlebte, sein erster Gedanke würde immer sein, daß Groa nur ja davon erführe. Sie war es, die noch jeder echten Freude in seinem Dasein durch ihr maßvolles, aber darum nicht weniger inniges Mitfreuen die Weihe gegeben hatte. Mochte er sich von seinem Kinde trennen, wenigstens für Jahre – das Kind hatte es bei Groa so gut wie im Paradiese –, ja, mochte er imstande sein, seine Vaterliebe um seiner Freiheit willen zu verleugnen, – ein Trennen von Groa gab es für ihn so wenig, wie er sich hier vom Erdboden zu lösen imstande war.

Zu Groa! Er war ihr treuer, als er selber gedacht und gewußt hatte!

In dieser ihn überstürzenden Klarheit eilte er heim und flehte sie an: »Komm mit mir, Groa. Ich habe keine andere Freiheit und überhaupt kein anderes Leben als bei dir und durch dich. Du liebst mich ja trotz allem. Darum kannst und darfst du mich gar nicht verlassen!«

Wohl zweifelte die Frau erst, ob sie dem Drängen des Mannes nachgeben sollte oder nicht. Aber er hörte nicht auf mit Bitten, und die Ehrlichkeit, die sie in seinen Worten spürte, besaß vereint mit ihrem eigenen Gefühl für Jürgen Kraft genug, sie zuletzt willfährig zu stimmen.

»Ja, Jürgen«, sagte sie, »wenn du mich denn so nötig hast, so will ich mit dir gehen.«

Er barg die Stirn in ihren Schoß und hielt ihre Knie umschlungen. Ihre Hände waren über seinem Haupte gefalten.

*

Groa saß allein. Sie hatte gesiegt und sich besiegen lassen. Sie war zu der Gewißheit hindurchgedrungen, daß sie für Jürgen Atem und Licht bedeutete, so wollte sie ihm ferner sein, was sie ihm bisher gewesen war, ja, noch mehr. Hatte er nun einmal die Scheu, durch das ihm weit geöffnete Tor ihrer Liebe zu schreiten, gewiß, auch jetzt konnte sie nicht anders, als ihn deswegen in aller Milde und Mitleidigkeit töricht zu heißen, aber sie war doch wohl für sich selber zu anspruchsvoll gewesen; sie mußte das Kleine und Kleinliche an ihm ertragen und nicht so sehr ihrer beider Zusammensein als sein Schaffen für die Hauptsache in seinem und auch in ihrem Dasein ansehen. Dann half sie ihm, mit dem sie nun einmal verbunden, durch Liebe verbunden war, diente ihm zum Segen und vollbrachte ihr Größtes. Sie dachte an ihr Lied, und es zogen ihr die alten Nordlandssprüche durch den Sinn, womit ihre Urvorfahrin Groa einst Schwingtag segnete, als er in seiner Not zu ihr gepilgert kam:

Zuvörderst dir sing' ich den vielnützen Spruch,
Rindr sang ihn der Ran:
Von der Schulter schieb, was schlecht dir scheint,
Selber leite dich selbst.

Ich sing' dir zu zweit, wenn du wandern sollst
Unfroh den fernen Weg:
Wurts Riegel rette dich überall,
Wohin dein Fuß dich auch führt.

Den dritten dir sing' ich, wenn dich bedroht
Der Ströme verderblicher Schwall:
Zur Hella hebe dich Hronn und Hrid,
Verrinne die tosende Flut.

Den vierten dir sing' ich, wenn Feinde dir stehen
Bewaffnet am Galgenweg:
Hold möge werden dir ihr Herz
Und gar versöhnlich ihr Sinn.

Dann sing' ich den fünften, wenn Fesseln je
Binden dir Bein und Arm:
Lös-Zauber hauch' ich um deinen Leib,
Von den Gliedern gleitet das Schloß.

Zum sechsten dir sing' ich, wenn da kommt eine See,
Wilder als Menschen wissen,
Meer und Sturm verstecken sich dir in den Schlauch
Und lassen in Frieden dich fahren.

Nun sing' ich den siebten, wenn heim dich sucht
Der Frost auf felsiger Höh':
Schneidkälte schade dir nimmermehr,
Noch kette den Körper sie dir.

Ich sing' dir den achten, wenn dich umfängt
Die Nacht auf dem Nebelweg,
Daß nie dich mög' in Mühsal stürzen
Der Trug einer toten Frau.

Und ich sing' dir den neunten, nahst du zum Streit
Dem Riesen, so schwertberühmt:
Des Wortes und Witzes für Mund und Herz
Sei immer genug dir gegönnt.

Fahr hin und fürchte nicht gefahrvollen Weg,
Nicht werde für Liebe dir Leid,
Auf festem Stein stand ich im Grabestor,
Während ich dir die Sprüche sprach.

Sohn! Trag den Sang der Mutter mit dir
Und birg ihn wohl in der Brust,
Heiles genug sollst du immer haben,
Solang' du bewahrest mein Wort!

 

Ende.

 


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