Friedrich Engels
Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats
Friedrich Engels

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VIII. Die Staatsbildung der Deutschen.

Die Deutschen waren nach Tacitus ein sehr zahlreiches Volk. Eine ungefähre Vorstellung von der Stärke deutscher Einzelvölker erhalten wir bei Cäsar; er gibt die Zahl der auf dem linken Rheinufer erschienenen Usipeter und Tenkterer auf 180,000 Köpfe an, Weiber und Kinder eingeschlossen. Also etwa 100,000 auf ein Einzelvolk,Die hier angenommene Zahl wird bestätigt durch eine Stelle Diodors über die gallischen Kelten: »In Gallien wohnen viele Völkerschaften von ungleicher Stärke. Bei den größten beträgt die Menschenzahl ungefähr 200,000, bei den kleinsten 50,000.« ( Diodorus Siculus, V, 25.) Also durchschnittlich 125,000; die gallischen Einzelvölker sind, bei ihrem höheren Entwicklungsstand, unbedingt etwas zahlreicher anzunehmen als die deutschen. schon bedeutend mehr als z. B. die Gesammtheit der Irokesen in ihrer Blütezeit, wo sie, nicht 20,000 Köpfe stark, der Schrecken des ganzen Landes wurden, von den großen Seen bis an den Ohio und Potomac. Ein solches Einzelvolk nimmt auf der Karte, wenn wir versuchen, die in der Nähe des Rheins angesessenen, genauer bekannten nach den Berichten zu gruppiren, im Durchschnitt ungefähr den Raum eines preußischen Regierungsbezirks ein, als etwa 10,000 Quadratkilometer oder 182 geographische Quadratmeilen. Germania Magna der Römer aber, bis an die Weichsel, umfaßt in runder Zahl 500,000 Quadratkilometer. Bei einer durchschnittlichen Kopfzahl der Einzelvölker von 100,000, würde die Gesammtzahl für Germania Magna sich auf fünf Millionen berechnen; für eine barbarische Völkergruppe eine ansehnliche Zahl, für unsre Verhältnisse – 10 Köpfe auf den Quadratkilometer oder 550 auf die geographische Quadratmeile – äußerst gering. Damit aber ist die Zahl der damals lebenden Deutschen keineswegs erschöpft. Wir wissen, daß die Karpathen entlang bis zur Donaumündung hinab deutsche Völker gothischen Stamms wohnten, Bastarner, Peukiner und andre, so zahlreich, daß Plinius aus ihnen den fünften Hauptstamm der Deutschen zusammensetzt und daß sie, die schon 180 vor unsrer Zeitrechnung im Solddienst des makedonischen Königs Perseus auftreten, noch in den ersten Jahren des Augustus bis in die Gegend von Adrianopel vordrangen. Rechnen wir sie nur für eine Million, so haben wir als wahrscheinliche Anzahl der Deutschen zu Anfang unsrer Zeitrechnung mindestens sechs Millionen.

Nach der Niederlassung in Germanien muß sich die Bevölkerung mit steigender Geschwindigkeit vermehrt haben; die oben erwähnten industriellen Fortschritte allein würden dies beweisen. Die schleswig'schen Moorfunde sind, nach den zugehörigen römischen Münzen, aus dem dritten Jahrhundert. Um diese Zeit herrschte also schon an der Ostsee ausgebildete Metall- und Textilindustrie, reger Verkehr mit dem Römerreich und ein gewisser Luxus bei Reicheren – Alles Spuren dichterer Bevölkerung. Um diese Zeit aber beginnt auch der allgemeine Angriffskrieg der Deutschen auf der ganzen Linie des Rheins, des römischen Grenzwalls und der Donau, von der Nordsee bis zum schwarzen Meer – direkter Beweis der immer stärker werdenden, nach Außen drängenden Volkszahl. Dreihundert Jahre dauerte der Kampf, während dessen der ganze Hauptstamm gothischer Völker (mit Ausnahme der skandinavischen Gothen und der Burgunder) nach Südosten zog und den linken Flügel der großen Angriffslinie bildeten, in deren Centrum die Hochdeutschen (Herminonen) an der Oberdonau, und auf dessen rechtem Flügel die Iskävonen, jetzt Franken genannt, am Rhein vordrangen; den Ingävonen fiel die Eroberung Britanniens zu. Am Ende des fünften Jahrhunderts lag das Römerreich entkräftet, blutlos und hülflos den eindringenden Deutschen offen.

Wir standen oben an der Wiege der antiken griechischen und römischen Civilisation. Hier stehn wir an ihrem Sarg. Ueber alle Länder des Mittelmeerbeckens war der nivellirende Hobel der römischen Weltherrschaft gefahren, und das Jahrhunderte lang. Wo nicht das Griechische Widerstand leistete, hatten alle Nationalsprachen einem verdorbenen Lateinisch weichen müssen; es gab keine Nationalunterschiede, keine Gallier, Iberer, Ligurer, Noriker mehr, sie alle waren Römer geworden. Die römische Verwaltung und das römische Recht hatten überall die alten Geschlechterverbände aufgelöst, und damit den letzten Rest lokaler und nationaler Selbstthätigkeit. Das neugebackne Römerthum bot keinen Ersatz; es drückte keine Nationalität aus, sondern nur den Mangel einer Nationalität. Die Elemente neuer Nationen waren überall vorhanden; die lateinischen Dialekte der verschiednen Provinzen schieden sich mehr und mehr; die natürlichen Grenzen, die Italien, Gallien, Spanien, Afrika früher zu selbständigen Gebieten gemacht hatten, waren noch vorhanden und machten sich auch noch fühlbar. Aber nirgends war die Kraft vorhanden, diese Elemente zu neuen Nationen zusammenzufassen; nirgends war noch eine Spur von Entwicklungsfähigkeit, von Widerstandskraft, geschweige von Schaffungsvermögen. Die ungeheure Menschenmasse des ungeheuren Gebiets hatte nur ein Band, das sie zusammenhielt: den römischen Staat, und dieser war mit der Zeit ihr schlimmster Feind und Unterdrücker geworden. Die Provinzen hatten Rom vernichtet; Rom selbst war eine Provinzialstadt geworden wie die andern – bevorrechtet, aber nicht länger herrschend, nicht länger Mittelpunkt des Weltreichs, nicht einmal mehr Sitz der Kaiser und Unterkaiser, die in Konstantinopel, Trier, Mailand wohnten. Der römische Staat war eine riesige, komplicirte Maschine geworden, ausschließlich zur Aussaugung der Unterthanen. Steuern, Staatsfrohnden und Lieferungen aller Art drückten die Masse der Bevölkerung in immer tiefere Armuth; bis zur Unerträglichkeit wurde der Druck gesteigert durch die Erpressungen der Statthalter, Steuereintreiber, Soldaten. Dahin hatte es der römische Staat mit seiner Weltherrschaft gebracht: er gründete sein Existenzrecht auf die Erhaltung der Ordnung nach Innen und den Schutz gegen die Barbaren nach Außen. Aber seine Ordnung war schlimmer als die ärgste Unordnung, und die Barbaren, gegen die er die Bürger zu schützen vorgab, wurden von diesen als Retter ersehnt.

Der Gesellschaftszustand war nicht weniger verzweifelt. Schon seit den letzten Zeiten der Republik war die Römerherrschaft auf rücksichtslose Ausbeutung der eroberten Provinzen ausgegangen; das Kaiserthum hatte diese Ausbeutung nicht abgeschafft, sondern im Gegentheil geregelt. Je mehr das Reich verfiel, desto höher stiegen Steuern und Leistungen, desto schamloser raubten und erpreßten die Beamten. Handel und Industrie waren nie Sache der völkerbeherrschenden Römer gewesen; nur im Zinswucher hatten sie Alles übertroffen, was vor und nach ihnen war. Was sich von Handel vorgefunden und erhalten hatte, ging zu Grunde unter der Beamten-Erpressung; was sich noch durchschlug, fällt auf den östlichen, griechischen Theil des Reichs, der außer unsrer Betrachtung liegt. Allgemeine Verarmung, Rückgang des Verkehrs, des Handwerks, der Kunst, Abnahme der Bevölkerung, Verfall der Städte, Rückkehr des Ackerbaus auf eine niedrigere Stufe – das war das Endresultat der römischen Weltherrschaft.

Der Ackerbau, in der ganzen alten Welt der entscheidende Produktionszweig, war es wieder mehr als je. In Italien waren die, seit Ende der Republik fast das ganze Gebiet einnehmenden ungeheuren Güterkomplexe (Latifundien) auf zweierlei Weise verwerthet worden. Entweder als Viehweide, wo die Bevölkerung durch Schafe und Ochsen ersetzt war, deren Wartung nur wenige Sklaven erforderte. Oder als Villen, die mit Massen von Sklaven Gartenbau in großem Styl trieben, theils für den Luxus des Besitzers, theils für den Absatz auf den städtischen Märkten. Die großen Viehweiden hatten sich erhalten und wohl noch ausgedehnt; die Villengüter und ihr Gartenbau waren verkommen mit der Verarmung ihrer Besitzer und dem Verfall der Städte. Die auf Sklavenarbeit gegründete Latifundienwirthschaft rentirte sich nicht mehr; sie war aber damals die einzig mögliche Form der großen Agrikultur. Die Kleinkultur war wieder die allein lohnende Form geworden. Eine Villa nach der andern wurde in kleine Parzellen zerschlagen und ausgegeben an Erbpächter, die eine bestimmte Summe zahlten, oder partiarii, mehr Verwalter als Pächter, die den sechsten oder gar nur neunten Theil des Jahresprodukts für ihre Arbeit erhielten. Vorherrschend aber wurden diese kleinen Ackerparzellen an Kolonen ausgethan, die dafür einen bestimmten jährlichen Betrag zahlten, an die Scholle gefesselt waren und mit ihrer Parzelle verkauft werden konnten; sie waren zwar keine Sklaven, aber auch nicht frei, konnten sich nicht mit Freien verheirathen und ihre Ehen unter einander werden nicht als vollgültige Ehen, sondern wie die der Sklaven als bloße Beischläferei ( contubernium) angesehn. Sie waren die Vorläufer der mittelalterlichen Leibeignen.

Die antike Sklaverei hatte sich überlebt. Weder auf dem Lande in der großen Agrikultur, noch in den städtischen Manufakturen gab sie einen Ertrag mehr, der der Mühe werth war – der Markt für ihre Produkte war ausgegangen. Der kleine Ackerbau aber und das kleine Handwerk, worauf die riesige Produktion der Blütezeit des Reichs zusammengeschrumpft war, hatte keinen Raum für zahlreiche Sklaven. Nur für Haus- und Luxussklaven der Reichen war noch Platz in der Gesellschaft. Aber die absterbende Sklaverei war immer noch hinreichend, alle produktive Arbeit als Sklaventhätigkeit, als freier Römer – und das war ja jetzt jedermann – unwürdig erscheinen zu lassen. Daher einerseits wachsende Zahl der Freilassungen überflüssiger, zur Last gewordner Sklaven, andrerseits Zunahme der Kolonen hier, der verlumpten Freien (ähnlich den poor whites der Ex- Sklavenstaaten Amerikas) dort. Das Christentum ist am allmäligen Aussterben der antiken Sklaverei vollständig unschuldig. Es hat die Sklaverei Jahrhunderte lang im Römerreich mitgemacht, und später nie den Sklavenhandel der Christen verhindert, weder den der Deutschen im Norden, noch den der Venetianer im Mittelmeer, noch den späteren Negerhandel.Nach dem Bischof Liutprand von Cremona war im 10. Jahrhundert in Verdun, also im heiligen deutschen Reich, der Hauptindustriezweig die Fabrikation von Eunuchen, die mit großem Profit nach Spanien für die maurischen Harems exportirt wurden. Die Sklaverei bezahlte sich nicht mehr, darum starb sie aus. Aber die sterbende Sklaverei ließ ihren giftigen Stachel zurück in der Aechtung der produktiven Arbeit der Freien. Hier war die ausweglose Sackgasse, in der die römische Welt stak: die Sklaverei war ökonomisch unmöglich, die Arbeit der Freien war moralisch geächtet. Die eine konnte nicht mehr, die andre noch nicht Grundform der gesellschaftlichen Produktion sein. Was hier allein helfen konnte, war nur eine vollständige Revolution.

In den Provinzen sah es nicht besser aus. Wir haben die meisten Nachrichten aus Gallien. Neben den Kolonen gab es hier noch freie Kleinbauern. Um gegen Vergewaltigung durch Beamte, Richter und Wucherer gesichert zu sein, begaben sich diese häufig in den Schutz, das Patronat eines Mächtigen; und zwar nicht nur Einzelne thaten dies, sondern ganze Gemeinden, so daß die Kaiser im vierten Jahrhundert mehrfach Verbote dagegen erließen. Aber was half es den Schutzsuchenden? Der Patron stellte ihnen die Bedingung, daß sie das Eigenthum ihrer Grundstücke an ihn übertrügen, wogegen er ihnen die Nutznießung auf Lebenszeit zusicherte – ein Kniff, den die heilige Kirche sich merkte und im 9. und 10. Jahrhundert zur Mehrung des Reiches Gottes und ihres eignen Grundbesitzes weidlich nachahmte. Damals freilich, gegen das Jahr 475, eifert der Bischof Salvianus von Marseille noch entrüstet gegen solchen Diebstahl und erzählt, der Druck der römischen Beamten und großen Grundherren sei so arg geworden, daß viele »Römer« in die schon von Barbaren besetzten Gegenden flöhen und die dort ansässigen römischen Bürger vor nichts mehr Angst hätten, als wieder unter römische Herrschaft zu kommen. Daß damals Eltern häufig aus Armuth ihre Kinder in die Sklaverei verkauften, beweist ein dagegen erlassenes Gesetz.

Dafür, daß die deutschen Barbaren die Römer von ihrem eignen Staat befreiten, nahmen sie ihnen zwei Drittel des gesammten Bodens und theilten ihn unter sich. Die Theilung geschah nach der Gentilverfassung; bei der verhältnißmäßig geringen Zahl der Eroberer blieben sehr große Striche ungetheilt, Besitz theils des ganzen Volks, theils der einzelnen Stämme und Gentes. In jeder Gens wurde das Acker- und Wiesenland unter die einzelnen Haushaltungen zu gleichen Theilen verloost; ob in der Zeit wiederholte Auftheilungen stattfanden, wissen wir nicht, jedenfalls verloren sie sich in den Römerprovinzen bald und die Einzelantheile wurden veräußerliches Privateigenthum, Alod. Wald und Weide blieb ungetheilt zu gemeinsamer Nutzung; diese Nutzung sowie die Art der Bebauung der aufgetheilten Flur wurde geregelt nach altem Brauch und nach Beschluß der Gesammtheit. Je länger die Gens in ihrem Dorfe saß, und je mehr Deutsche und Römer allmälig verschmolzen, desto mehr trat der verwandtschaftliche Charakter des Bandes zurück vor dem territorialen; die Gens verschwand in der Markgenossenschaft, in der allerdings noch oft genug Spuren des Ursprungs aus Verwandtschaft der Genossen sichtbar sind. So ging hier die Gentilverfassung, wenigstens in den Ländern, wo die Markgemeinschaft sich erhielt – Nordfrankreich, England, Deutschland und Skandinavien – unmerklich in eine Ortsverfassung über und erhielt damit die Fähigkeit der Einpassung in den Staat. Aber sie behielt dennoch den naturwüchsig demokratischen Charakter bei, der die ganze Gentilverfassung auszeichnet, und erhielt so selbst in der ihr später aufgezwungnen Ausartung ein Stück Gentilverfassung, und damit eine Waffe in den Händen der Unterdrückten, lebendig bis in die neueste Zeit.

Wenn so das Blutband in der Gens bald verloren ging, so war dies die Folge davon, daß auch im Stamm und Gesammtvolk seine Organe ausarteten in Folge der Eroberung. Wir wissen, daß Herrschaft über Unterworfene mit der Gentilverfassung unverträglich ist. Hier sehn wir dies auf großem Maßstab. Die deutschen Völker, Herren der Römerprovinzen, hatten diese ihre Eroberung zu organisiren. Weder aber konnte man die Römermassen in die Gentilkörper aufnehmen, noch sie vermittelst dieser beherrschen. An die Spitze der, zunächst großentheils fortbestehenden, römischen lokalen Verwaltungskörper mußte man einen Ersatz für den römischen Staat stellen, und dieser konnte nur ein andrer Staat sein. Die Organe der Gentilverfassung mußten sich so in Staatsorgane verwandeln, und dies, dem Drang der Umstände gemäß, sehr rasch. Der nächste Repräsentant des erobernden Volks war aber der Heerführer. Die Sicherung des eroberten Gebiets nach Innen und Außen forderte Stärkung seiner Macht. Der Augenblick war gekommen zur Verwandlung der Feldherrnschaft in Königthum: sie vollzog sich.

Nehmen wir das Frankenreich. Hier waren dem siegreichen Volk der Salier nicht nur die weiten römischen Staatsdomänen, sondern auch noch alle die sehr großen Landstrecken als Vollbesitz zugefallen, die nicht an die größeren und kleineren Gau- und Markgenossenschaften vertheilt waren, namentlich alle größeren Waldkomplexe. Das erste, was der aus einem einfachen obersten Heerführer in einen wirklichen Landesfürsten verwandelte Frankenkönig that, war, dies Volkseigenthum in königliches Gut zu verwandeln, es dem Volk zu stehlen und an sein Gefolge zu verschenken oder zu verleihen. Dies Gefolge, ursprünglich seine persönliche Kriegsgefolgschaft und die übrigen Unterführer des Heers, verstärkte sich bald nicht nur durch Römer, d. h. romanisirte Gallier, die ihm durch ihre Schreiberkunst, ihre Bildung, ihre Kenntniß der romanischen Landessprache und lateinischen Schriftsprache, sowie des Landesrechts bald unentbehrlich wurden, sondern auch durch Sklaven, Leibeigne und Freigelassene, die seinen Hofstaat ausmachten und aus denen er seine Günstlinge wählte. An alle diese wurden Stücke des Volkslandes zuerst meist verschenkt, später in der Form von Benefizien zuerst meist auf Lebenszeit des Königs verliehen und so die Grundlage eines neuen Adels auf Kosten des Volks geschaffen.

Damit nicht genug. Die weite Ausdehnung des Reichs war mit den Mitteln der alten Gentilverfassung nicht zu regieren; der Rath der Vorsteher, war er nicht längst abgekommen, hätte sich nicht versammeln können und wurde bald durch die ständige Umgebung des Königs ersetzt; die alte Volksversammlung blieb zum Schein bestehn, wurde aber ebenfalls mehr und mehr bloße Versammlung der Unterführer des Heers und der neuaufkommenden Großen. Die freien grundbesitzenden Bauern, die Masse des fränkischen Volks, wurden durch die ewigen Bürger- und Eroberungskriege, letztere namentlich unter Karl dem Großen, ganz so erschöpft und heruntergebracht, wie früher die römischen Bauern in den letzten Zeiten der Republik. Sie, die ursprünglich das ganze Heer, und nach der Eroberung Frankreichs dessen Kern gebildet hatten, waren am Anfang des neunten Jahrhunderts so verarmt, daß kaum noch der fünfte Mann ausziehen konnte. An die Stelle des direkt vom König aufgebotenen Heerbannes freier Bauern trat ein Heer, zusammengesetzt aus den Dienstleuten der neuaufgekommenen Großen, darunter auch hörige Bauern, die Nachkommen derer, die früher keinen Herrn als den König, und noch früher gar keinen, nicht einmal einen König gekannt hatten. Unter den Nachfolgern Karl's wurde der Ruin des fränkischen Bauernstandes durch innere Kriege, Schwäche der königlichen Gewalt und entsprechende Uebergriffe der Großen, zu denen nun noch die von Karl eingesetzten und nach Erblichkeit des Amts strebenden Gaugrafen kamen, endlich durch die Einfälle der Normannen vollendet. Fünfzig Jahre nach dem Tode Karl's des Großen lag das Frankenreich ebenso widerstandslos zu den Füßen der Normannen, wie vierhundert Jahre früher das Römerreich zu den Füßen der Franken.

Und nicht nur die äußere Ohnmacht, sondern auch die innere Gesellschaftsordnung oder vielmehr -Unordnung war fast dieselbe. Die freien fränkischen Bauern waren in eine ähnliche Lage versetzt wie ihre Vorgänger, die römischen Kolonen. Durch die Kriege und Plünderungen ruinirt, hatten sie sich in den Schutz der neuaufgekommenen Großen oder der Kirche begeben müssen, da die königliche Gewalt zu schwach war, sie zu schützen; aber diesen Schutz mußten sie theuer erkaufen. Wie früher die gallischen Bauern, mußten sie das Eigenthum an ihrem Grundstück an den Schutzherrn übertragen und erhielten dies von ihm zurück als Zinsgut unter verschiednen und wechselnden Formen, stets aber nur gegen Leistung von Diensten und Abgaben; einmal in diese Form von Abhängigkeit versetzt, verloren sie nach und nach auch die persönliche Freiheit; nach wenig Generationen waren sie zumeist schon Leibeigne. Wie rasch der Untergang des freien Bauernstandes sich vollzog, zeigt Irminon's Grundbuch der Abtei Saint Germain des Près, damals bei, jetzt in Paris. Auf dem weiten, in der Umgegend zerstreuten Grundbesitz dieser Abtei saßen damals, noch zu Lebzeiten Karl's des Großen, 2788 Haushaltungen, fast ausnahmslos Franken mit deutschen Namen. Darunter 2080 Kolonen, 35 Liten, 220 Sklaven und nur 8 freie Hintersassen! Die von Salvianus für gottlos erklärte Uebung, daß der Schutzherr das Grundstück des Bauern sich zu Eigenthum übertragen ließ und es ihm nur auf Lebenszeit zur Nutzung zurückgab, wurde jetzt von der Kirche gegen die Bauern allgemein praktizirt. Die Frohndienste, die jetzt mehr und mehr in Gebrauch kamen, hatten in den römischen Angarien, Zwangsdiensten für den Staat, ihr Vorbild ebensosehr gehabt wie in den Diensten der deutschen Markgenossen für Brücken- und Wegebauten und andre gemeinsame Zwecke. Dem Schein nach war also die Masse der Bevölkerung nach vierhundert Jahren ganz wieder beim Anfang angekommen.

Das aber bewies nur zweierlei: Erstens, daß die gesellschaftliche Gliederung und die Eigenthumsvertheilung im sinkenden Römerreich der damaligen Stufe der Produktion in Ackerbau und Industrie vollständig entsprochen hatte, also unvermeidlich gewesen war; und zweitens, daß diese Produktionsstufe während der folgenden vierhundert Jahre weder wesentlich gesunken war, noch sich wesentlich gehoben hatte, also mit derselben Notwendigkeit dieselbe Eigenthumsvertheilung und dieselben Bevölkerungsklassen wieder erzeugt hatte. Die Stadt hatte in den letzten Jahrhunderten des Römerreichs ihre frühere Herrschaft über das Land verloren und in den ersten Jahrhunderten der deutschen Herrschaft sie nicht wieder erhalten. Es setzt dies eine niedrige Entwicklungsstufe sowohl des Ackerbaus wie der Industrie voraus. Diese Gesammtlage produzirt mit Notwendigkeit große herrschende Grundbesitzer und abhängige Kleinbauern. Wie wenig es möglich war, einerseits die römische Latifundienwirthschaft mit Sklaven, andrerseits die neuere Großkultur mit Frohnarbeit einer solchen Gesellschaft aufzupropfen, beweisen Karl's des Großen ungeheure, aber fast spurlos vorübergegangne Experimente mit den berühmten kaiserlichen Villen. Sie wurden fortgesetzt nur von Klöstern und waren nur für diese fruchtbar; die Klöster aber waren abnorme Gesellschaftskörper, gegründet auf Ehelosigkeit; sie konnten Ausnahmsweises leisten, mußten aber ebendeßhalb auch Ausnahmen bleiben.

Und doch war man während dieser vierhundert Jahre weiter gekommen. Finden wir auch am Ende fast dieselben Hauptklassen wieder vor wie am Anfang, so waren doch die Menschen andre geworden, die diese Klassen bildeten. Verschwunden war die antike Sklaverei, verschwunden die verlumpten armen Freien, die die Arbeit als sklavisch verachteten. Zwischen dem römischen Kolonen und dem neuen Hörigen hatte der freie fränkische Bauer gestanden. Das »unnütze Erinnern und der vergebliche Streit« des verfallenden Römerthums war todt und begraben. Die Gesellschaftsklassen des neunten Jahrhunderts hatten sich gebildet, nicht in der Versumpfung einer untergehenden Civilisation, sondern in den Geburtswehen einer neuen. Das neue Geschlecht, Herren wie Diener, war ein Geschlecht von Männern, verglichen mit seinen römischen Vorgängern. Das Verhältniß von mächtigen Grundherren und dienenden Bauern, das für diese die auswegslose Untergangsform der antiken Welt gewesen, es war jetzt für jene der Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung. Und dann, so unproduktiv diese vierhundert Jahre auch scheinen, ein großes Produkt hinterließen sie: die modernen Nationalitäten, die Neugestaltung und Gliederung der westeuropäischen Menschheit für die kommende Geschichte. Die Deutschen hatten in der That Europa neu belebt, und darum endete die Staatenauflösung der germanischen Periode nicht mit normännisch-sarazenischer Unterjochung, sondern mit der Fortbildung der Benefizien und der Schutzergebung (Kommendation) zum Feudalismus, und mit einer so gewaltigen Volksvermehrung, daß kaum zweihundert Jahre nachher die starken Aderlässe der Kreuzzüge ohne Schaden ertragen wurden.

Was aber war das geheimnißvolle Zaubermittel, wodurch die Deutschen dem absterbenden Europa neue Lebenskraft einhauchten? War es eine, dem deutschen Volksstamm eingeborne Wundermacht, wie unsre chauvinistische Geschichtschreibung uns vordichtet? Keineswegs. Die Deutschen waren, besonders damals, ein hochbegabter arischer Stamm, und in voller lebendiger Entwicklung begriffen. Aber nicht ihre specifischen nationalen Eigenschaften waren es, die Europa verjüngt haben, sondern einfach – ihre Barbarei, ihre Gentilverfassung.

Ihre persönliche Tüchtigkeit und Tapferkeit, ihr Freiheitssinn und demokratischer Instinkt, der in allen öffentlichen Angelegenheiten seine eignen Angelegenheiten sah, kurz, alle die Eigenschaften, die dem Römer abhanden gekommen und die allein im Stande, aus dem Schlamm der Römerwelt neue Staaten zu bilden und neue Nationalitäten wachsen zu lassen – was waren sie anders als die Charakterzüge des Barbaren der Oberstufe – Früchte seiner Gentilverfassung?

Wenn sie die antike Form der Monogamie umgestalteten, die Männerherrschaft in der Familie milderten, der Frau eine höhere Stellung gaben, als die klassische Welt sie je gekannt, was befähigte sie dazu, wenn nicht ihre Barbarei, ihre Gentilgewohnheiten, ihre noch lebendigen Erbschaften aus der Zeit des Mutterrechts?

Wenn sie wenigstens in dreien der wichtigsten Länder, Deutschland, Nordfrankreich und England, ein Stück ächter Gentilverfassung in der Form der Markgenossenschaften in den Feudalstaat hinüberretteten, und damit der unterdrückten Klasse, den Bauern, selbst unter der härtesten mittelalterlichen Leibeigenschaft, einen lokalen Zusammenhalt und ein Mittel des Widerstands gaben, wie es weder die antiken Sklaven fertig vorfanden noch die modernen Proletarier – wem war das geschuldet, wenn nicht ihrer Barbarei, ihrer ausschließlich barbarischen Ansiedlungsweise nach Geschlechtern?

Und endlich, wenn sie die bereits in der Heimath geübte mildere Form der Knechtschaft, in die auch im Römerreich die Sklaverei mehr und mehr überging, ausbilden und zur ausschließlichen erheben konnten; eine Form, die, wie Fourier zuerst hervorgehoben, den Geknechteten die Mittel zur allmäligen Befreiung als Klasse gibt ( fournit aux cultivateurs des moyens d'affranchissement collectif et progressiv); eine Form, die sich hierdurch hoch über die Sklaverei stellt, bei der nur die sofortige Einzelfreilassung ohne Uebergangszustand möglich (Abschaffung der Sklaverei durch siegreiche Rebellion kennt das Alterthum nicht) – während in der That die Leibeignen des Mittelalters nach und nach ihre Befreiung als Klasse durchsetzten – wem verdanken wir das, wenn nicht ihrer Barbarei, kraft deren sie es noch nicht zur ausgebildeten Sklaverei gebracht hatten, weder zur antiken Arbeitssklaverei noch zur orientalischen Haussklaverei?

Alles, was die Deutschen der Römerwelt Lebenskräftiges und Lebenbringendes einpflanzten, war Barbarenthum. In der That sind nur Barbaren fähig, eine an verendender Zivilisation laborirende Welt zu verjüngen. Und die oberste Stufe der Barbarei, zu der und in der die Deutschen sich vor der Völkerwanderung emporgearbeitet, war gerade die günstigste für diesen Prozeß. Das erklärt Alles.


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