Friedrich Engels
Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats
Friedrich Engels

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III. Die irokesische Gens.

Wir kommen jetzt zu einer andern Entdeckung Morgan's, die mindestens von derselben Wichtigkeit ist, wie die Rekonstruktion der Urfamilienform aus den Verwandtschaftssystemen. Der Nachweis, daß die durch Thiernamen bezeichneten Geschlechtsverbände innerhalb eines Stammes amerikanischer Indianer wesentlich identisch sind mit den genea der Griechen, den gentes der Römer; daß die amerikanische Form die ursprüngliche, die griechisch-römische die spätere, abgeleitete ist; daß die ganze Gesellschaftsorganisation der Griechen und Römer der Urzeit in Gens, Phratrie und Stamm ihre getreue Parallele findet in der amerikanisch-indianischen; daß die Gens eine allen Barbaren bis zu ihrem Eintritt in die Civilisation, und selbst noch nachher, gemeinsame Einrichtung ist (soweit unsere Quellen bis jetzt reichen) – dieser Nachweis hat mit einem Schlag die schwierigsten Partien der ältesten griechischen und römischen Geschichte aufgeklärt, und uns gleichzeitig über die Grundzüge der Gesellschaftsverfassung der Urzeit – vor Einführung des Staats – ungeahnte Aufschlüsse gegeben. So einfach die Sache auch aussieht, sobald man sie einmal kennt, so hat Morgan sie doch erst in der letzten Zeit entdeckt; in seiner vorhergehenden, 1871 erschienenen Schrift war er noch nicht hinter dies Geheimniß gekommen, dessen Enthüllung seitdem die sonst so zuversichtlichen englischen Urhistoriker für eine Zeitlang mäuschenstill gemacht hat.

Das lateinische Wort gens, welches Morgan allgemein für diesen Geschlechtsverband anwendet, kommt wie das griechische gleichbedeutende genos von der allgemein-arischen Wurzel gan (deutsch, wo nach der Regel k für arisches g stehn muß, kan), welche erzeugen bedeutet. Gens, genos, sanskrit dschanas, gothisch (nach der obigen Regel) kuni, altnordisch und angelsächsisch kyn, englisch kin, mittelhochdeutsch künne bedeuten gleichmäßig Geschlecht, Abstammung. Gens im Lateinischen, genos im Griechischen, wird aber speziell für jenen Geschlechtsverband gebraucht, der sich gemeinsamer Abstammung (hier von einem gemeinsamen Stammvater) rühmt und durch gewisse gesellschaftliche und religiöse Einrichtungen zu einer besondern Gemeinschaft verknüpft ist, dessen Entstehung und Natur trotzdem allen unsern Geschichtschreibern bis jetzt dunkel blieb.

Wir haben schon oben, bei der Punaluafamilie, gesehn, was die Zusammensetzung einer Gens in der ursprünglichen Form ist. Sie besteht aus allen Personen, die vermittelst der Punaluaehe und nach den in ihr mit Nothwendigkeit herrschenden Vorstellungen die anerkannte Nachkommenschaft einer bestimmten einzelnen Stammmutter, der Gründerin der Gens, bilden. Da in dieser Familienform die Vaterschaft ungewiß, gilt nur weibliche Linie. Da die Brüder ihre Schwestern nicht heirathen dürfen, sondern nur Frauen andrer Abstammung, so fallen die mit diesen fremden Frauen erzeugten Kinder nach Mutterrecht außerhalb der Gens. Es bleiben also nur die Nachkommen der Töchter jeder Generation innerhalb des Geschlechtsverbandes; die der Söhne gehn über in die Gentes ihrer Mütter. Was wird nun aus dieser Blutsverwandtschaftsgruppe, sobald sie sich als besondre Gruppe, gegenüber ähnlichen Gruppen innerhalb eines Stammes, konstituirt?

Als klassische Form dieser ursprünglichen Gens nimmt Morgan die der Irokesen, speziell des Senekastammes. Bei diesem giebt es acht Gentes, nach Thieren benannt: 1) Wolf, 2) Bär, 3) Schildkröte, 4) Biber, 5) Hirsch, 6) Schnepfe, 7) Reiher, 8) Falke. In jeder Gens herrscht folgender Brauch:

1. Sie erwählt ihren Sachem (Friedensvorsteher) und Häuptling (Kriegsanführer). Der Sachem muß aus der Gens selbst gewählt werden und sein Amt war erblich in ihr, insofern es bei Erledigung sofort neu besetzt werden mußte; der Kriegsanführer konnte auch außerhalb der Gens gewählt werden und zeitweise ganz fehlen. Zum Sachem wurde nie der Sohn des vorigen gewählt, da bei den Irokesen Mutterrecht herrschte, der Sohn also einer andern Gens angehörte; wohl aber und oft, der Bruder oder Schwestersohn. Bei der Wahl stimmten Alle mit, Männer und Weiber. Die Wahl mußte aber von den übrigen sieben Gentes bestätigt werden, und dann erst wurde der Gewählte feierlich eingesetzt, und zwar durch den gemeinsamen Rath des ganzen Irokesenbundes. Die Bedeutung hiervon wird sich später zeigen. Die Gewalt des Sachem innerhalb der Gens war väterlich, rein moralischer Natur; Zwangsmittel hatte er nicht. Daneben war er von Amts wegen Mitglied des Stammesraths der Senekas wie des Bundesrats der Gesammtheit der Irokesen. Der Kriegshäuptling hatte nur auf Kriegszügen etwas zu befehlen.

2. Sie setzt den Sachem und Kriegshäuptling nach Belieben ab. Dies geschieht wieder von Männern und Weibern zusammen. Die Abgesetzten sind nachher einfache Krieger wie die andern, Privatpersonen. Der Stammesrath kann übrigens auch Sachems absetzen, selbst gegen den Willen der Gens.

3. Kein Mitglied darf innerhalb der Gens heirathen. Dies ist die Grundregel der Gens, das Band, das sie zusammenhält; es ist der negative Ausdruck der sehr positiven Blutsverwandtschaft, kraft deren die in ihr einbegriffenen Individuen erst eine Gens werden. Durch die Entdeckung dieser einfachen Thatsache hat Morgan die Natur der Gens zum ersten Mal enthüllt. Wie wenig die Gens bisher verstanden wurde, beweisen die früheren Berichte über Wilde und Barbaren, wo die verschiedenen Körperschaften, aus denen die Gentilordnung sich zusammensetzt, unbegriffen und ununterschieden als Stamm, Clan, Thum u. s. w. durcheinander geworfen wurden, und von diesen zuweilen gesagt wird, daß die Heirath innerhalb einer solchen Körperschaft verboten sei. Damit war denn die rettungslose Konfusion gegeben, in der Herr MacLennan als Napoleon auftreten und Ordnung schaffen konnte, durch den Machtspruch: Alle Stämme theilen sich in solche, innerhalb deren die Ehe verboten ist (exogame) und solche, in denen sie erlaubt (endogame). Und nachdem er so die Sache erst recht gründlich verfahren, konnte er sich in den tiefsinnigsten Untersuchungen ergehen, welche von seinen beiden abgeschmackten Klassen die ältere sei: die Exogamie oder die Endogamie. Mit der Entdeckung der auf Blutsverwandtschaft, und daraus hervorgehender Unmöglichkeit der Ehe unter ihren Mitgliedern, begründeten Gens hörte dieser Unsinn von selbst auf. – Es ist selbstverständlich, daß auf der Stufe, auf der wir die Irokesen vorfinden, das Eheverbot innerhalb der Gens unverbrüchlich eingehalten wird.

4. Das Vermögen Verstorbner fiel an die übrigen Gentilgenossen, es mußte in der Gens bleiben. Bei der Unbedeutendheit der Gegenstände, die ein Irokese hinterlassen konnte, theilten sich die nächsten Gentilverwandten in die Erbschaft; starb ein Mann, dann seine leiblichen Brüder und Schwestern und der Mutterbruder; starb eine Frau, dann ihre Kinder und leiblichen Schwestern, nicht aber ihre Brüder. Ebendeshalb konnten Mann und Frau nicht von einander erben, oder die Kinder vom Vater.

5. Die Gentilgenossen schuldeten einander Hülfe, Schutz und namentlich Beistand zur Rache für Verletzung durch Fremde. Der Einzelne verließ sich für seine Sicherheit auf den Schutz der Gens und konnte es; wer ihn verletzte, verletzte die ganze Gens. Hieraus, aus den Blutbanden der Gens, entsprang die Verpflichtung zur Blutrache, die von den Irokesen unbedingt anerkannt wurde. Erschlug ein Gentilfremder einen Gentilgenossen, so war die ganze Gens des Getödteten zur Blutrache verpflichtet. Zuerst versuchte man Vermittlung; die Gens des Tödters hielt Rath und machte dem Rath der Gens des Getödteten Beilegungsanträge, meist Ausdrücke des Bedauerns und bedeutende Geschenke anbietend. Wurden diese angenommen, war die Sache erledigt. Im andern Fall ernannte die verletzte Gens einen oder mehrere Rächer, die den Tödter zu verfolgen und zu erschlagen verpflichtet waren. Geschah dies, so hatte die Gens des Erschlagnen kein Recht, sich zu beklagen, der Fall war ausgeglichen.

6. Die Gens hat bestimmte Namen oder Reihen von Namen, die im ganzen Stamm nur sie gebrauchen darf, so daß der Name des Einzelnen zugleich sagt, welcher Gens er angehört. Ein Gentilname führt Gentilrechte von vornherein mit sich.

7. Die Gens kann Fremde in sich adoptiren und sie dadurch in den ganzen Stamm aufnehmen. Die Kriegsgefangnen, die man nicht tödtete, wurden so vermittelst Adoption in einer Gens Stammesmitglieder der Senekas und erhielten damit die vollen Gentil- und Stammesrechte. Die Adoption geschah auf Antrag einzelner Gentilgenossen, Männer, die den Fremden als Bruder resp. Schwester, Frauen, die ihn als Kind annahmen; die feierliche Aufnahme in die Gens war zur Bestätigung nöthig. Oft wurden so einzelne, ausnahmsweise zusammengeschrumpfte Gentes durch Massenadoption aus einer andern Gens, mit Einwilligung dieser, neu gestärkt. Bei den Irokesen fand die feierliche Aufnahme in die Gens in öffentlicher Sitzung des Stammesraths statt, wodurch sie thatsächlich eine religiöse Ceremonie wurde.

8. Spezielle religiöse Feierlichkeiten kann man bei indianischen Gentes schwerlich nachweisen; aber die religiösen Ceremonien der Indianer hängen mehr oder minder mit den Gentes zusammen. Bei den sechs jährlichen religiösen Festen der Irokesen wurden die Sachems und Kriegshäuptlinge der einzelnen Gentes von Amts wegen den »Glaubenshütern« zugezählt und hatten priesterliche Funktionen.

9. Die Gens hat einen gemeinsamen Begräbnißplatz. Dieser ist bei den mitten unter Weißen eingeengten Irokesen des Staats New York jetzt verschwunden, hat aber früher bestanden. Bei andern Indianern besteht er noch; so bei den den Irokesen nah verwandten Tuskaroras, die, obgleich Christen, für jede Gens eine bestimmte Reihe im Kirchhof haben, so daß zwar die Mutter in derselben Reihe begraben wird wie die Kinder, aber nicht der Vater. Und auch bei den Irokesen geht die ganze Gens eines Verstorbenen zum Begräbniß, besorgt das Grab, die Grabreden etc.

10. Die Gens hat einen Rath, die demokratische Versammlung aller männlichen und weiblichen erwachsenen Gentilen, alle mit gleichem Stimmrecht. Dieser Rath erwählte Sachems und Kriegshäuptlinge und setzte sie ab; ebenso die übrigen »Glaubenshüter«; er beschloß über Bußgaben (Wergeld) oder Blutrache für gemordete Gentilen; er adoptirte Fremde in die Gens. Kurz er war die souveraine Gewalt in der Gens.

Dies sind die Befugnisse einer typischen indianischen Gens. »Alle ihre Mitglieder sind freie Leute, verpflichtet Einer des Andern Freiheit zu schützen; gleich in persönlichen Rechten – weder Sachems noch Kriegsführer beanspruchen irgend welchen Vorrang; sie bilden eine Brüderschaft, verknüpft durch Blutbande. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, obwohl nie formulirt, waren die Grundprinzipien der Gens, und diese war wiederum die Einheit eines ganzen gesellschaftlichen Systems, die Grundlage der organisirten indianischen Gesellschaft. Das erklärt den unbeugsamen Unabhängigkeitssinn und die persönliche Würde des Auftretens, die Jedermann bei den Indianern anerkennt.«

Zur Zeit der Entdeckung waren die Indianer von ganz Nordamerika in Gentes organisirt, nach Mutterrecht. Nur in einigen Stämmen, wie den der Dakotas, waren die Gentes verfallen, und in einigen andern, Ojibwas, Omahas, waren sie nach Vaterrecht organisirt.

Bei sehr vielen indianischen Stämmen mit mehr als fünf oder sechs Gentes finden wir je drei, vier oder mehr Gentes zu einer besondern Gruppe vereinigt, die Morgan in getreuer Übertragung des indianischen Namens nach ihrem griechischen Gegenbild Phratrie (Brüderschaft) nennt. So haben die Senekas zwei Phratrien; die erste umfaßt die Gentes 1–4, die zweite die Gentes 5–8. Die nähere Untersuchung zeigt, daß diese Phratrien meist die ursprünglichen Gentes darstellen, in die sich der Stamm anfänglich spaltete; denn bei dem Heirathsverbot innerhalb der Gens mußte jeder Stamm nothwendig mindestens zwei Gentes umfassen, um selbständig bestehn zu können. Im Maß wie sich der Stamm vermehrte, spaltete sich jede Gens wieder in zwei oder mehrere, die nun jede als besondre Gens erscheinen, während die ursprüngliche Gens, die alle Tochtergentes umfaßt, fortlebt als Phratrie. Bei den Senekas und den meisten andern Indianern find die Gentes der einen Phratrie Brudergentes, während die der andern ihre Vettergentes sind – Bezeichnungen, die im amerikanischen Verwandtschaftssystem, wie wir sahn, einen sehr reellen und ausdrucksvollen Sinn haben. Ursprünglich durfte auch kein Seneka innerhalb seiner Phratrie heirathen, doch ist dies längst außer Gebrauch gekommen und auf die Gens beschränkt. Tradition der Senekas war, daß Bär und Hirsch die beiden ursprünglichen Gentes seien, von denen die andern abgezweigt. Nachdem diese neue Einrichtung einmal eingewurzelt, wurde sie nach dem Bedürfniß modifizirt; starben Gentes einer Phratrie aus, so wurden zuweilen zur Ausgleichung ganze Gentes aus andern Phratrien in jene versetzt. Daher finden wir bei verschiednen Stämmen die gleichnamigen Gentes verschieden gruppirt in den Phratrien.

Die Funktionen der Phratrie bei den Irokesen sind theils gesellschaftliche, theils religiöse. 1. Das Ballspiel spielen die Phratrien gegen einander; jede schickt ihre besten Spieler vor, die Uebrigen sehen zu, jede Phratrie besonders aufgestellt, und wetten gegen einander auf das Gewinnen der Ihrigen. – 2. Im Stammesrath sitzen die Sachems und Kriegführer jeder Phratrie zusammen, die beiden Gruppen einander gegenüber, jeder Redner spricht zu den Repräsentanten jeder Phratrie als zu einer besonderen Körperschaft. – 3. War ein Todtschlag im Stamm vorgekommen, wo Tödter und Getödtete nicht zu derselben Phratrie gehörten, so appellirte die verletzte Gens oft an ihre Brudergentes; diese hielten einen Phratrienrath und wandten sich an die andre Phratrie als Gesammtheit, damit diese ebenfalls einen Rath versammle zur Beilegung der Sache. Hier tritt also die Phratrie wieder als ursprüngliche Gens auf, und mit größerer Aussicht auf Erfolg als die schwächere einzelne Gens, ihre Tochter» – 4. Bei Todesfällen hervorragender Leute übernahm die entgegengesetzte Phratrie die Besorgung der Bestattung und der Begräbnißfeierlichkeiten, während die Phratrie des Verstorbenen als leidtragend mitging. Starb ein Sachem, so meldete die entgegengesetzte Phratrie die Erledigung des Amts dem Bundesrats der Irokesen an. – 5. Bei der Wahl eines Sachems kam ebenfalls der Phratrienrath in's Spiel. Bestätigung durch die Brudergentes wurde als ziemlich selbstverständlich angesehn, aber die Gentes der andern Phratrie mochten opponiren. In solchem Fall kam der Rath dieser Phratrie zusammen; hielt er die Opposition aufrecht, so war die Wahl wirkungslos. – 6. Früher hatten die Irokesen besondre religiöse Mysterien, von den Weißen medecine-lodges genannt. Diese wurden bei den Senekas gefeiert durch zwei religiöse Genossenschaften, mit regelrechter Einweihung. für neue Mitglieder; auf jede der beiden Phratrien entfiel eine dieser Genossenschaften. – 7. Wenn, wie fast sicher, die vier linages (Geschlechter), die die vier Viertel von Tlascalá zur Zeit der Eroberung bewohnten, vier Phratrien waren, so ist damit bewiesen, daß die Phratrien wie bei den Griechen und ähnliche Geschlechtsverbande bei den Deutschen, auch als militärische Einheiten galten; diese vier linages zogen in den Kampf, jede einzelne als besondre Schaar, mit eigner Uniform und Fahne und unter eignem Führer.

Wie mehrere Gentes eine Phratrie, so bilden, in der klassischen Form, mehrere Phratrien einen Stamm; in manchen Fällen fehlt bei stark geschwächten Stämmen das Mittelglied, die Phratrie. Was bezeichnet nun einen Indianerstamm in Amerika?

1. Ein eignes Gebiet und ein eigner Name. Jeder Stamm besaß außer dem Ort seiner wirklichen Niederlassung noch ein beträchtliches Gebiet zu Jagd und Fischfang. Darüber hinaus lag ein weiter, neutraler Landstrich, der bis an's Gebiet des nächsten Stammes reichte, bei sprachverwandten Stämmen geringer, bei nicht sprachverwandten größer war. Es ist dies der Grenzwald der Deutschen, die Wüste, die Cäsars Sueven um ihr Gebiet schaffen, das îsarnholt (dänisch jarnved, limes Danicus zwischen Dänen und Deutschen, der Sachsenwald und der branibor (slavisch = Schutzwald), von dem Brandenburg seinen Namen trägt, zwischen Deutschen und Slawen. Das solchergestalt durch unsichre Grenzen ausgeschiedne Gebiet war das Gemeinland des Stamms, von Nachbarstämmen als solches anerkannt, von ihm selbst gegen Uebergriffe vertheidigt. Die Unsicherheit der Grenzen wurde meist erst praktisch nachtheilig, wenn die Bevölkerung sich stark vermehrt hatte. – Die Stammesnamen erscheinen meist mehr zufällig entstanden als absichtlich gewählt; mit der Zeit kam es häufig vor, daß ein Stamm von den Nachbarstämmen mit einem andern als dem von ihm selbst gebrauchten bezeichnet wurde; ähnlich wie die Deutschen ihren ersten geschichtlichen Gesammtnamen, Germanen, von den Kelten auferlegt bekamen.

2. Ein besondrer, nur diesem Stamm eigenthümlicher Dialekt. In der That fallen Stamm und Dialekt der Sache nach zusammen; Neubildung von Stämmen und Dialekten durch Spaltung ging noch bis vor Kurzem in Amerika vor sich und wird auch jetzt kaum ganz aufgehört haben. Wo zwei geschwächte Stämme sich zu einem verschmolzen haben, kommt es ausnahmsweise vor, daß im selben Stamm zwei nahverwandte Dialekte gesprochen werden. Die Durchschnittsstärke amerikanischer Stämme ist unter 2000 Köpfen; die Tscherokesen indeß sind an 26000 stark, die größte Zahl Indianer in den Vereinigten Staaten, die denselben Dialekt sprechen.

3. Das Recht, die von den Gentes erwählten Sachems und Kriegsführer feierlich einzusetzen und

4. Das Recht, sie wieder abzusetzen, auch gegen den Willen ihrer Gens. Da diese Sachems und Kriegsführer Mitglieder des Stammesraths sind, erklären sich diese Rechte des Stamms ihnen gegenüber von selbst. Wo sich ein Bund von Stämmen gebildet hatte und die Gesammtzahl der Stämme in einem Bundesrath vertreten war, gingen obige Rechte auf diesen über.

5. Der Besitz gemeinsamer religiöser Vorstellungen (Mythologie) und Kultusverrichtungen. »Die Indianer waren in ihrer barbarischen Art ein religiöses Volk.« Ihre Mythologie ist noch keineswegs kritisch untersucht; sie stellten sich die Verkörperungen ihrer religiösen Vorstellungen – Geister aller Art – bereits unter menschlicher Gestalt vor, aber die Unterstufe der Barbarei, auf der sie sich befanden, kennt noch keine bildlichen Darstellungen, sogenannte Götzen. Es ist ein in der Entwicklung zur Vielgötterei sich befindender Natur- und Elementarkultus. Die verschiednen Stämme hatten ihre regelmäßigen Feste, mit bestimmten Kultusformen, namentlich Tanz und Spielen; der Tanz besonders war ein wesentlicher Bestandteil aller religiösen Feierlichkeiten; jeder Stamm hielt die seinigen besonders ab.

6. Ein Stammesrath für gemeinsame Angelegenheiten. Er war zusammengesetzt aus sämmtlichen Sachems und Kriegsführern der einzelnen Gentes, ihren wirklichen weil stets absetzbaren Vertretern; er berieth öffentlich, umgeben von den übrigen Stammesgliedern, die das Recht hatten dreinzureden und mit ihrer Ansicht gehört zu werden; der Rath entschied. In der Regel wurde jeder Anwesende auf Verlangen gehört, auch die Weiber konnten durch einen Redner ihrer Wahl ihre Ansicht vortragen lassen. Bei den Irokesen mußte der endliche Beschluß einstimmig gefaßt werden, wie dies auch in manchen Beschlüssen deutscher Markgemeinden der Fall war. Dem Stammesrath lag ob namentlich die Regelung des Verhältnisses zu fremden Stämmen; er empfing Gesandtschaften und sandte solche ab, er erklärte Krieg und schloß Frieden. Kam es zum Krieg, so wurde dieser meist von Freiwilligen geführt. Im Prinzip galt jeder Stamm als im Kriegszustand befindlich mit jedem andern Stamm, mit dem er keinen ausdrücklichen Friedensvertrag geschlossen. Kriegerische Auszüge gegen solche Feinde wurden meist organisirt durch einzelne hervorragende Krieger; sie gaben einen Kriegstanz, wer mittanzte, erklärte damit seine Betheiligung am Zug. Die Kolonne wurde sofort gebildet und in Bewegung gesetzt. Ebenso wurde die Vertheidigung des angegriffnen Stammesgebiets meist durch freiwillige Aufgebote geführt. Der Auszug und die Rückkehr solcher Kolonnen gaben stets Anlaß zu öffentlichen Festlichkeiten. Genehmigung des Stammesraths zu solchen Auszügen war nicht erforderlich und wurde weder verlangt noch gegeben. Es sind ganz die Privatkriegszüge deutscher Gefolgschaften, wie Tacitus sie uns schildert, nur daß bei den Deutschen die Gefolgschaften bereits einen ständigem Charakter angenommen haben, einen festen Kern bilden, der schon in Friedenszeiten organisirt wird und um den sich im Kriegsfall die übrigen Freiwilligen gruppiren. Solche Kriegskolonnen waren selten zahlreich; die bedeutendsten Expeditionen der Indianer, auch auf große Entfernungen, wurden von unbedeutenden Streitkräften vollführt. Traten mehrere solche Gefolgschaften zu einer großen Unternehmung zusammen, so gehorchte jede nur ihrem eignen Führer; die Einheit des Feldzugsplans wurde durch einen Rath dieser Führer gut oder schlecht gesichert. Es ist die Kriegführung der Alamannen im vierten Jahrhundert am Oberrhein, wie wir sie bei Ammianus Marcellinus geschildert finden.

7. In einigen Stämmen finden wir einen Oberhäuptling, dessen Befugnisse indessen sehr gering sind. Es ist einer der Sachems, der in Fällen, die rasches Handeln erfordern, provisorische Maßregeln zu treffen hat bis zu der Zeit, wo der Rath sich versammeln und endgültig beschließen kann. Es ist ein schwacher, aber in der weitren Entwicklung meist unfruchtbar gebliebner Ansatz zu einem Beamten mit vollstreckender Gewalt; dieser hat sich vielmehr, wie sich zeigen wird, in den meisten Fällen, wo nicht überall, aus dem obersten Heerführer entwickelt.

Ueber die Vereinigung im Stamm kam die große Mehrzahl der amerikanischen Indianer nicht hinaus. In wenig zahlreichen Stämmen, durch weite Grenzstriche von einander geschieden, durch ewige Kriege geschwächt, besetzten sie mit wenig Menschen ein ungeheures Gebiet. Bündnisse zwischen verwandten Stämmen bildeten sich hie und da aus augenblicklicher Nothlage und zerfielen mit ihr. Aber in einzelnen Gegenden hatten sich ursprünglich verwandte Stämme aus der Zersplitterung wieder zusammen geschlossen zu dauernden Bünden, und so den ersten Schritt gethan zur Bildung von Nationen. In den Vereinigten Staaten finden wir die entwickeltste Form eines solchen Bundes bei den Irokesen. Von ihren Sitzen westlich vom Mississippi ausziehend, wo sie wahrscheinlich einen Zweig der großen Dakota-Familie gebildet, ließen sie sich nach langer Wanderung im heutigen Staat New York nieder, in fünf Stämme getheilt: Senekas, Cayugas, Onondagas, Oneidas und Mohawks. Sie lebten von Fisch, Wild und rohem Gartenbau, wohnten in Dörfern, die meist durch ein Pfahlwerk geschützt. Nie über 20000 Köpfe stark, hatten sie in allen fünf Stämmen eine Anzahl von Gentes gemeinsam, sprachen nahverwandte Dialekte derselben Sprache und besetzten nun ein zusammenhängendes Gebiet, das unter die fünf Stämme vertheilt war. Da dies Gebiet neu erobert, war gewohnheitsmäßiges Zusammenhalten dieser Stämme gegen die Verdrängten natürlich, und entwickelte sich, spätestens Anfangs des 15. Jahrhunderts, zu einem förmlichen »ewigen Bund,« einer Eidgenossenschaft, die auch sofort im Gefühl ihrer neuen Stärke einen angreifenden Charakter annahm, und auf der Höhe ihrer Macht, gegen 1675, große Landstriche ringsumher erobert und die Bewohner theils vertrieben, theils tributpflichtig gemacht hatte. Der Irokesenbund liefert die fortgeschrittenste gesellschaftliche Organisation, zu der es die Indianer gebracht, soweit sie die Unterstufe der Barbarei nicht überschritten (also mit Ausnahme der Mexikaner, Neumexikaner und Peruaner). Die Grundbestimmungen des Bundes waren folgende:

1. Ewiger Bund der fünf blutsverwandten Stämme auf Grundlage vollkommner Gleichheit und Selbständigkeit in allen innern Stammesangelegenheiten. Diese Blutsverwandtschaft bildete die wahre Grundlage des Bundes. Von den fünf Stämmen hießen drei die Vaterstämme, und waren Brüder unter einander; die beiden andern hießen Sohnstämme und waren ebenfalls Bruderstämme unter einander. Drei Gentes – die ältesten – waren in allen fünf, andre drei in drei Stämmen noch lebendig vertreten, die Mitglieder jeder dieser Gentes allesammt Brüder durch alle fünf Stämme. Die gemeinsame, nur dialektisch verschiedne Sprache war Ausdruck und Beweis der gemeinsamen Abstammung. 2. Das Organ des Bundes war ein Bundesrath von 50 Sachems, alle gleich in Rang und Ansehn; dieser Rath entschied endgültig über alle Angelegenheiten des Bundes.

3. Diese 50 Sachems waren bei Stiftung des Bundes auf die Stämme und Gentes vertheilt worden, als Träger neuer Aemter, ausdrücklich für Bundeszwecke errichtet. Sie wurden von den betreffenden Gentes bei jeder Erledigung neu gewählt und konnten von ihnen jederzeit abgesetzt werden; das Recht der Einsetzung in ihr Amt aber gehört dem Bundesrath.

4. Diese Bundessachems waren auch Sachems in ihren jedesmaligen Stammen und hatten Sitz und Stimme im Stammesrath.

5. Alle Beschlüsse des Bundesraths mußten einstimmig gefaßt werden.

6. Die Abstimmung geschah nach Stämmen, so daß jeder Stamm und in jedem Stamm alle Rathsmitglieder zustimmen mußten, um einen gültigen Beschluß zu fassen.

7. Jeder der fünf Stammesräthe konnte den Bundesrath berufen, dieser aber nicht sich selbst.

8. Die Sitzungen fanden vor versammeltem Volk statt; jeder Irokese konnte das Wort ergreifen; der Rath allein entschied.

9. Der Bund hatte keine persönliche Spitze, keinen Chef der vollziehenden Gewalt.

10. Dagegen hatte er zwei oberste Kriegsführer, mit gleichen Befugnissen und gleicher Gewalt (die beiden »Könige« der Spartaner, die beiden Konsuln in Rom).

Das war die ganze öffentliche Verfassung, unter der die Irokesen über vierhundert Jahre gelebt haben und noch leben. Ich habe sie ausführlicher nach Morgan geschildert, weil wir hier Gelegenheit haben, die Organisation einer Gesellschaft zu studiren, die noch keinen Staat kennt. Der Staat setzt eine von der Gesammtheit der jedesmal Betheiligten getrennte, besondre öffentliche Gewalt voraus, und Maurer, der mit richtigem Instinkt die deutsche Markverfassung als eine vom Staat wesentlich verschiedne, wenn auch ihm großentheils später zu Grunde liegende, an sich rein gesellschaftliche Institution erkennt – Maurer untersucht daher in allen seinen Schriften das allmälige Entstehn der öffentlichen Gewalt aus und neben den ursprünglichen Verfassungen der Marken, Dörfer, Höfe und Städte. Wir sehn bei den nordamerikanischen Indianern, wie ein ursprünglich einheitlicher Volksstamm sich über einen ungeheuren Kontinent allmälig ausbreitet, wie Stämme durch Spaltung zu Völkern, ganzen Gruppen von Stämmen werden, die Sprachen sich verändern, bis nicht nur sie einander unverständlich werden, sondern auch fast jede Spur der ursprünglichen Einheit verschwindet; wie daneben in den Stämmen die einzelnen Gentes sich in mehrere spalten, die alten Muttergentes als Phratrien sich erhalten und doch die Namen dieser ältesten Gentes bei weit entfernten und lange getrennten Stämmen sich gleich bleiben – der Wolf und der Bär sind Gentilnamen noch bei einer Majorität aller indianischen Stämme. Und auf sie alle paßt im Ganzen und Großen die oben geschilderte Verfassung – nur daß Viele es nicht bis zum Bund verwandter Stämme gebracht haben.

Wir sehn aber auch, wie sehr – die Gens als gesellschaftliche Einheit einmal gegeben – die ganze Verfassung von Gentes, Phratrien und Stamm sich mit fast zwingender Notwendigkeit – weil Natürlichkeit – aus dieser Einheit entwickelt. Alle drei sind Gruppen verschiedner Abstufungen von Blutsverwandtschaft, jede abgeschlossen in sich und ihre eignen Angelegenheiten ordnend, jede aber auch die andre ergänzend. Und der Kreis der ihnen anheimfallenden Angelegenheiten umfaßt die Gesammtheit der öffentlichen Angelegenheiten des Barbaren der Unterstufe. Wo wir also bei einem Volk die Gens als gesellschaftliche Einheit vorfinden, werden wir auch nach einer ähnlichen Organisation des Stammes suchen dürfen wie die hier geschilderte; und wo hinreichende Quellen vorliegen, wie bei Griechen und Römern, werden wir sie nicht nur finden, sondern uns auch überzeugen, daß wo die Quellen uns im Stich lassen, die Vergleichung der amerikanischen Gesellschaftsverfassung uns über die schwierigsten Zweifel und Räthsel hinweghilft.

Und es ist eine wunderbare Verfassung in all ihrer Kindlichkeit und Einfachheit, diese Gentilverfassung! Ohne Soldaten, Gendarmen und Polizisten, ohne Adel, Könige, Statthalter, Präfekten oder Richter, ohne Gefängnisse, ohne Prozesse, geht Alles seinen geregelten Gang. Allen Zank und Streit entscheidet die Gesammtheit derer, die es angeht, die Gens oder der Stamm, oder die einzelnen Gentes unter sich – nur als äußerstes, selten angewandtes Mittel droht die Blutrache, von der unsre Todesstrafe auch nur die civilisirte Form ist, behaftet mit allen Vortheilen und Nachtheilen der Civilisation. Obwohl viel mehr gemeinsame Angelegenheiten vorhanden sind als jetzt – die Haushaltung ist einer Reihe von Familien gemein und kommunistisch, der Boden ist Stammesbesitz, nur die Gärtchen sind den Haushaltungen vorläufig zugewiesen – so braucht man doch nicht eine Spur unsres weitläufigen und verwickelten Verwaltungsapparats. Die Betheiligten entscheiden, und in den meisten Fällen hat jahrhundertelanger Gebrauch bereits Alles geregelt. Arme und Bedürftige kann es nicht geben – die kommunistische Haushaltung und die Gens kennen ihre Verpflichtungen gegen Alte, Kranke und im Kriege Gelähmte. Alle sind gleich und frei – auch die Weiber. Für Sklaven ist noch kein Raum, für Unterjochung fremder Stämme in der Regel auch noch nicht. Als die Irokesen um 1651 die Eries und die »Neutrale Nation« besiegt hatten, boten sie ihnen an, als Gleichberechtigte in den Bund zu treten; erst als die Besiegten dies weigerten, wurden sie aus ihrem Gebiet vertrieben. Und welche Männer und Weiber eine solche Gesellschaft erzeugt, beweist die Bewundrung aller Weißen, die mit unverdorbnen Indianern zusammenkamen, vor der persönlichen Würde, Geradheit, Charakterstärke und Tapferkeit dieser Barbaren.

Von der Tapferkeit haben wir ganz neuerdings in Afrika Beispiele erlebt. Die Zulukaffern vor einigen Jahren wie die Nubier vor ein paar Monaten – beides Stämme, bei denen Gentileinrichtungen noch nicht ausgestorben – haben gethan, was kein europäisches Heer thun kann. Nur mit Lanzen und Wurfspeeren bewaffnet, ohne Feuergewehr, sind sie im Kugelregen der Hinterlader der englischen Infanterie – der anerkannt ersten der Welt für das geschlossene Gefecht – bis an die Bajonette vorgerückt und haben sie mehr als einmal in Unordnung gebracht und selbst geworfen, trotz der kolossalen Ungleichheit der Waffen und trotzdem, daß sie gar keine Dienstzeit haben und nicht wissen was Exerziren ist. Was sie aushalten und leisten können, beweist die Klage der Engländer, daß ein Kaffer in 24 Stunden einen längeren Weg rascher zurücklegt als ein Pferd – der kleinste Muskel springt vor, hart und gestählt, wie Peitschenschnur, sagt ein englischer Maler.

So sahn die Menschen und die menschliche Gesellschaft aus, ehe die Scheidung in verschiedne Klassen vor sich gegangen war. Und wenn wir ihre Lage vergleichen mit der der ungeheuren Mehrzahl der heutigen zivilisirten Menschen, so ist der Abstand enorm zwischen dem heutigen Proletarier und Kleinbauer und dem alten freien Gentilgenossen.

Das ist die eine Seite. Vergessen wir aber nicht, daß diese Organisation dem Untergang geweiht war. Ueber den Stamm ging sie nicht hinaus; der Bund der Stämme bezeichnet schon den Anfang ihrer Untergrabung, wie sich zeigen wird, und wie sich schon zeigte in den Unterjochungsversuchen der Irokesen. Was außerhalb des Stammes, war außerhalb des Rechts. Wo nicht ausdrücklicher Friedensvertrag vorlag, herrschte Krieg von Stamm zu Stamm, und der Krieg wurde geführt mit der Grausamkeit, die den Menschen vor den übrigen Thieren auszeichnet, und die erst später gemildert wurde durch das Interesse. Die Gentilverfassung in ihrer Blüthe, wie wir sie in Amerika sahen, setzte voraus eine äußerst unentwickelte Produktion, also eine äußerst dünne Bevölkerung auf weitem Gebiet; also ein fast vollständiges Beherrschtsein des Menschen von der ihm fremd gegenüberstehnden, unverstandnen äußern Natur, das sich widerspiegelt in den kindischen religiösen Vorstellungen. Der Stamm blieb die Grenze für den Menschen, sowohl dem Stammesfremden, als auch sich selbst gegenüber: der Stamm, die Gens und ihre Einrichtungen waren heilig und unantastbar, waren eine von Natur gegebne höhere Macht, der der Einzelne in Fühlen, Denken und Thun unbedingt unterthan blieb. So imposant die Leute dieser Epoche uns erscheinen, so sehr sind sie ununterschieden Einer vom Andern, sie hängen noch, wie Marx sagt, an der Nabelschnur des naturwüchsigen Gemeinwesens. Die Macht dieser naturwüchsigen Gemeinwesen mußte gebrochen werden – sie wurde gebrochen. Aber sie wurde gebrochen durch Einflüsse, die uns von vornherein als eine Degradation erscheinen, als ein Sündenfall von der einfachen sittlichen Höhe der alten Gentilgesellschaft. Es sind die niedrigsten Interessen – gemeine Habgier, brutale Genußsucht, schmutziger Geiz, eigensüchtiger Raub am Gemeinbesitz – die die neue, civilisirte, die Klassengesellschaft einweihen; es sind die schmählichsten Mittel – Diebstahl, Vergewaltigung, Hinterlist, Verrath, die die alte klassenlose Gentilgesellschaft unterhöhlen und zu Fall bringen. Und die neue Gesellschaft selbst, während der ganzen dritthalbtausend Jahre ihres Bestehns, ist nie etwas andres gewesen, als die Entwicklung der kleinen Minderzahl auf Kosten der ausgebeuteten und unterdrückten großen Mehrzahl, und sie ist dies jetzt mehr als je zuvor.


 << zurück weiter >>