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Als Breitner durch einen Nebenausgang den Zirkus verließ, hing sich eine dunkle Gestalt an seine Fersen. Mit schnellen Schritten holte sie den Gehenden ein. Ein schmächtiger Mann kreuzte quer durch den Lichtschein.

»Nacht, Hans!« sagte er freundlich.

Breitner drehte sich um.

»Gustav, du? Wieder hier in Berlin?«

Der andere nickte und ging ohne weiteres neben ihm her.

»Das war ein Erfolg, alle Wetter noch mal! Du hast den Trick weg, wie man Menschen anpackt!«

Der Kommunist zog die Schultern noch weiter nach oben.

»Meinst du, daß es nützt? Das Pack ist zu stur. Man müßte täglich so reden, nicht loslassen brauchen. Immer wieder von neuem, bis es jeder kapiert hat. So brüllt man sich nur seine Stimmbänder heiser, und nach einer Stunde – ist alles beim Alten!«

Gustav Dulavet warf einen prüfenden Blick nach der Seite.

»Warum schreibst du nicht mehr? In den Zeitungen –«

»Zwecklos. Ich hab mir die Finger schon gichtig geschrieben. Wer druckt es noch ab? Die Rote Fahne, die nimmt es. Da lesen es Leute, die's auch schon wissen. Die anderen alle, für die es bestimmt ist – Ach, Schwamm drüber –! Reden wir von etwas anderem. Wie steht es mit Frankreich? Was macht ihr da drüben?«

Der Elsässer überhörte die Frage.

»Du müßtest mit Flugzetteln arbeiten, Hans. Mit Gratisbroschüren und stillen Agenten. Wie wirs drüben machen. Ich sag' dir, das wirkt schon.«

Gibst du mir das Geld, heh?« zischte Breitner unwillig.

»Na, soviel bekomme ich wohl noch zusammen. Die Genossen in Frankreich –«

»Ja, ihr seid die Rechten! Wenn man euch noch brauchte, ließt ihr einen sitzen!«

»Wir hatten ja meist für uns selbst keine Kröten. Aber diesmal ließe sich wirklich was machen –«

Der andere horchte ungläubig und wartend.

»Wieviel?«

»Das käme drauf an.«

»Worauf?«

»Wer es braucht. Und wozu ihr es braucht. Die Pariser Genossen sind nicht mehr so geizig. Seitdem jetzt das Gold kam –«

Breitner ging eine ganze Weile schweigend. Dann blieb er kurz stehen. In seinem Gesicht arbeitete es.

»Man soll keine unnützen Hoffnungen machen. Das war immer schon mein sehnlichster Wunsch. Na, du weißt das. Wenn man seine eigene Zeitschrift hätte, eine Druckerei kaufen könnte, Millionen Flugzettel drucken, die Agenten bezahlen – –«

»Wieviel würde das kosten?«

»Ich müßte alles berechnen, ganz genau kalkulieren. Jedenfalls wird's zuviel sein.«

Dulavet nahm seinen Arm.

»Hast du schon zu Abend gegessen?«

»Ich habe den ganzen Tag noch nichts im Magen. Ich will auch nur trinken. Mir brennt schon die Kehle vom Schreien im Zirkus.«

»Weißt du was, Hans. Am besten, wir gehen jetzt in eine Diele und reden mal drüber. Mit ein, zwei Millionen ist das doch zu schaffen. Und die krieg ich sicher von Frankreich zusammen.«

Breitner gab keine Antwort, doch seine Kinnbacken kauten. Dulavet winkte einem Auto.

»Trilby-Bar!« gab er als Ziel an.

* * *

»Also auf gutes Gelingen!« sagte Dulavet herzlich und füllte die Gläser.

Breitner wehrte matt ab. Sein Kopf stand in Flammen. Die Erregung des Vortrags, das zufällige, glückliche Zusammentreffen mit dem Franzosen, die verlockende Aussicht, den Traum seines Lebens verwirklicht zu sehen, auf einmal die Macht über Massen zu haben, hatten ihn aus seiner Ruhe gescheucht, seine Sinne berauscht, und ihn weit mehr trinken lassen, als er gewöhnt war. Seine stechenden Augen hatten einen fiebernden Glanz. Das Leben um ihn verschwamm zu einem Meer bunter Farben und lachender Stimmen. Er hätte kaum mehr angeben können, wo er jetzt war. Eine ungewohnte, wohlige Süßigkeit war in seinem Blute. Immer wieder zog er das Notizbuch aus seiner Tasche und prüfte die Zahlen. Sie stimmten noch immer. Es gab zwei Millionen so alles in allem. Und die hatte Dulavet sicher versprochen.

»Gustav!« sagte er dankbar. Da sah er, daß der Freund im Gespräch mit einer Dame am Tisch stand, die vorher nicht da war.

Breitner starrte sie an wie eine Erscheinung. Er war nie ein Mann für die Weiber gewesen. Sein Leben war Arbeit. War mehr Haß, als Liebe. Doch diese Frau da trieb ihm durch ihren Anblick das Blut in die Schläfen. Sie drehte ihm halb den Rücken zu. Sie stand leicht und lässig, die Hand in der Taille, in jeder Bewegung von seltener Anmut. Ihr blauschwarzes Haar hob sich schimmernd und schwer von dem weiß-schwarzen Hut ab. Die mittelgroße, schlanke Gestalt war biegsam und rank, wie der Leib einer Katze. Das Licht spielte auf ihrem glitzernden Jettekleid und änderte ständig die weichen Konturen des herrlichen Körpers.

Gustav sah die verzehrenden Blicke des Freundes und sagte der Dame in schnellem Französisch einige Worte, die Breitner nicht auffing.

Plötzlich blickte er in ein weißes Gesicht von blendender Schönheit. In wunderbar große, rehbraune Pupillen.

»Mein Freund, Johann Breitner,« hörte er sagen.

Mit seiner ganzen Willenskraft riß er seine Gedanken zusammen. Es gelang ihm auch leidlich. Er stand hastig auf und verneigte sich linkisch.

»Mademoiselle Lulu Dujardin,« stellte Dulavet vor. »Eine treue Genossin, die lange in Rußland für Frankreich gewirkt hat, und nun in Paris lebt.«

Breitner zwang sich zu einigen Redensarten. Er mußte sogar einen Witz gemacht haben, denn die anderen lachten. Er hätte am liebsten schweigen mögen, um nur diese Frau, dies Gesicht anzustarren, in sich einzusaugen wie süße Betäubung. Ohne es zu wollen, gab er Antwort auf Fragen. Er hörte sich selbst, wie einen Anderen, Fremden. Sie erzählte von Frankreich und großen Plänen der Pariser Genossen. Dabei war es Breitner, als sähen die herrlichen samtweichen Augen beim Sprechen nur ihn an. Es war wie ein Stromband. Er fand nicht die Kraft, diesen Zauber zu bannen. Er wollte es auch nicht. Was ihn sonst verwirrt und voll Ungeduld machte, war jetzt süße Wollust. Plötzlich zuckte er heftig zusammen. Die weiche, kleine Hand der Frau lag auf der seinen. Eine warme, fiebernde Welle ging von dieser Hand aus.

»Also Sie sind Johannes Breitner?« sagte sie herzlich. »Der gefürchtete Redner und Führer der Massen, von dem alle sprechen. Wie oft hatte ich mir gewünscht, Sie zu sehen.«

»Ja, ja,« sagte sie schnell, als er abwehren wollte – »Man redet von Ihnen auch drüben in Frankreich. Sie wissen wohl gar nicht, wie sehr Sie berühmt sind. Ach, ich liebe so kühne und herrische Männer!«

Es war wie ein Girren. Die Haltung des göttlichen, schwanenweißen Halses war hingebend, zärtlich, demütig, bezwungen – –

»Diesen biegsamen Leib einmal im Arm halten dürfen! Ihn an sich zu reißen – – nach Hause zu tragen!« fieberten Breitners verwirrte Gedanken.

Gustav schenkte ihm stets wieder ein. Er trank hastig aus. Es war ihm so selig.

Er hörte nicht mehr, was er sprach. Ohne Hemmung ergab er sich blutschwer dem Zauber des Weibes da vor ihm.

»Ich liebe so kühne und herrische Männer!« klang es und sang es ihm aus allen Stimmen. Die jauchzende Geige, das Lachen der Gäste, das Klingen der Gläser, das Hupen der Autos – – von überall her stets die nämlichen Worte: ich liebe so kühne und herrische Männer!

»Wie mich!« sang sein trunkenes Blut ihm als Antwort. »Sie liebt mich, Hans Breitner, den niemals Geliebten!« Zeit und Raum versanken im Dunkel vor dieser Erkenntnis. Er wußte nicht mehr, wie lange sie saßen. Er wußte nicht mehr, was er tat oder sagte. Er wußte nur eines: er fühlte sich glücklich. Er wollte ihr zeigen, daß er ihrer wert war. Er sprach von sich selbst, von den Plänen der Zukunft, von Plänen und Nöten der deutschen Regierung. Die Augen des Weibes verlangten ja Auskunft, auch ohne zu fragen. Schon um sie aufleuchten und staunen zu sehen, sprach er immer weiter. Auch von seinem Leben, von Frauen und Liebe, die er nie genossen und doch so begehrte.

Er sah Menschen kommen und gehen. Er hörte die Geigen. Er sah Frauen tanzen, doch ging es an seinem Bewußtsein vorüber ...

»Bist du müde?« hörte er Lulu dicht an seinem Ohr. »Wir wollen nach Hause.«

Er wunderte sich nicht, daß sie ihn plötzlich duzte. Er nahm ihren Arm und ging wankend zur Türe. Wie im Traum fing er einen spöttischen Blick Dulavets auf. Es war wohl nur Täuschung. Was sollte er spotten?

»Gustav?« sagte er, um ihn zu fragen, doch saß er mit Lulu allein in dem Auto.

»Hans?« girrte sie zärtlich.

Wie ein Kind schmiegte er sich in den duftenden Pelz ihres kostbaren Mantels.

»Wohin fahren wir jetzt?« fragte er fiebernd.

Sie schlang ihren weichen Arm um seinen Hals und drückte ihn an sich. Wie ein Verdurstender trank er den Hauch dieses bebenden Körpers.

»Zu mir, Hans!«

Also nahm dieser selige Traum noch kein Ende. Er preßte sie an sich, daß sie leise aufschrie. Dann glaubte er in ihren Küssen zu sterben ...

* * *

Reichskanzler Brettscheid blickte Doktor Werndt sorgenvoll an. Er begriff oft nicht, woher dieser geniale Mann seine unerschütterliche Ruhe nahm, wo selbst seine, an sich phlegmatische Natur in ihren Grundfesten erschüttert war von dem Ansturm der Ereignisse.

»Wir sitzen dauernd auf einem Pulverfaß!« stöhnte er ratlos.

Der Ingenieur und jetzige Finanzminister schob seinen Notizblock zurecht.

»Darf ich die Herren bitten, in Ihren Mitteilungen fortzufahren?«

Freiherr v. Saldern legte ein Bein über das andere.

»Mein Bericht hat das Wesentlichste schon festgestellt. Grandmaire, der vor seiner Ministerlaufbahn als Advokat die Interessen der größten französischen Konzerne, besonders der Kriegsindustrie vertreten hat, mußte, ob gerne oder gezwungen, auch diesmal den Wünschen der Industriefürsten Frankreichs entsprechen. Es ist nicht mehr länger zu bezweifeln, daß er zum Krieg treibt, und daß alle seine Noten nur noch den Zweck verfolgen, Zeit für eine möglichst großzügige Mobilisation zu gewinnen. Außerdem haben wir bestimmte Nachrichten, daß er unter den bisher neutralen Staaten Bundesgenossen zu werben versucht. Die Zeit ist ihm günstig, denn diese goldarmen Staaten leiden unter dem Kurssturz ihrer Devisen empfindlich. Frankreich benützt ihre Lage, um all ihren Groll gegen Deutschland zu lenken. Wahrscheinlich verspricht es den willigen Helfern Kredite in Goldgeld.« Frankreich benützt ihre Lage, um all ihren Groll gegen Deutschland zu lenken. Wahrscheinlich

Werndt machte sich eine Notiz. Nur zwei kurze Zahlen. Als buche er Daten in einem Konto. Als setze er Läufer in einem Schachspiel. In dem Blick seiner Augen lag etwas wie Frage. Als warte er noch auf irgendeinen Nachsatz. Er kam unverzüglich.

»Über die Verbindungen, die Grandmaire mit gewissen Kreisen in Deutschland gesucht hat, wird wohl Exzellenz v. Leu alles Nähere wissen.«

Werndt nickte.

»Frankreich hatte keinen Grund, diese wirksame Waffe des Weltkrieges unbenutzt zu lassen oder zu vergessen.«

Er wandte sich an den greisen Innenminister.

»Würden Exzellenz die Freundlichkeit haben –?«

v. Leu legte die schmalen, weißen Hände auf die Lehne des Sessels. Sie zitterten sichtbar.

»Ich halte es für meine Pflicht, meine Herren, ganz rückhaltlos und ohne Beschönigung zu sprechen. Sie wissen, wie sehr ich Herrn Werndts geniale Erfindung begrüßte. Ich sah in ihr, – wie Sie wohl alle – die Rettung für Deutschland. Heute –«

Er stockte verlegen.

In Werndts Züge trat ein gütiges Lächeln.

Fahren Sie bitte fort, Exzellenz. Heute zweifeln Sie, ob diese Tat nicht ein Fluch war.«

In v. Leus Gelehrtengesicht trat langsame Röte. Er hielt in peinlicher Bewegung die Lider gesenkt.

»Ja,« sagte er endlich. »Nehmen Sie es nicht als Zeichen mangelnden Vertrauens, lieber Herr Doktor. Ihre Leistung bleibt genial für alle Zeiten. Solange Menschen leben. Aber sie war nicht politisch durchführbar. Auch Sie konnten diese furchtbare, diese entsetzliche Entwicklung nicht voraussehen. Es geht über menschliche Fassungskraft, das alles zu schauen und mit zu erleben!«

Werndt antwortete nicht. Er wartete ruhig, bis v. Leu hastig fortfuhr.

»Ich brauche Ihnen nichts mehr über die Ereignisse zu berichten, die Sie alle selbst sahen. Über den Wahnsinn der Börsen, die Goldgier der Massen, über die Angst, die Verzweiflung des ratlosen Volkes, das nirgends ein Ufer zum Landen mehr sieht. Es treibt in den Wellen. Kein Mensch kann mehr sagen, wie das alles ausgeht. Berechnungen anzustellen und zu prophezeien wäre Torheit, wo alles in Aufruhr und ständigen Wechsel gestürzt ist. Die Petitionen aus allen Kreisen nehmen kein Ende. Eine Hiobsnachricht jagt stets die andere. In den Spielklubs feiert man Orgien, verschleudert das Volksvermögen in Millionen. Der Glanz des rollenden Goldgeldes reißt alles mit sich. Vom Spielklub geht es in die Höhlen des Lasters. Jeden Tag schießen neue Brutstätten der Unzucht und der Sünde aus dem Boden wie Pilze. Die Polizei hebt drei, vier Lokale aus. Zehn neue entstanden. Und überall wütet der Dämon des Goldes. In unseren Beamtenkörper frißt sich das Goldgift. Bestechungen sind an der Tagesordnung. Man kann dem verlässigsten Mann nicht mehr trauen. Der Kommunismus hält eine furchtbare Ernte. Die Grenze zwischen den Parteien ist über den Haufen geworfen. Mit den Verhältnissen wechselten die Interessen. Menschlichstes, Allzumenschlichstes, krassester Egoismus zeigte sich unverhüllt. Jeder ist heute ein halber Kommunist, und Breitner erscheint allen als Halbgott. Seine Vorträge sind belagert, seine Zeitschriften werden verschlungen, als könne man sich nur durch sein Wort noch erlösen. Die Unzufriedenheit, die Verzweiflung des Volkes sucht nach einem Ventil. Die Gefahr eines kommunistischen Putsches ist dauernd gegeben.«

Der greise Minister erhob sich wankend aus seinem Sessel.

»Ich bin zu alt, meine Herren, um diese Bürde noch länger zu tragen. Die Lage verlangt eine jüngere Kraft. Ich lege mein Amt in die Hände der Regierung und bitte –«

Die Stimme versagte ihm vor innerer Bewegung.

Werndt drückte ihm herzlich die Hand. Der Reichskanzler sprach beruhigend auf ihn ein.

Der Kriegsminister Graf Zieten hatte sich bisher merkwürdig stumm verhalten. Jetzt kam er schnell vor.

»Soll ich unserem Doktor Werndt jetzt durch meinen Bericht auch noch den Kopf heiß machen? Schönes habe ich gewiß nicht zu berichten. Die Erkundungen und Truppenverschiebungen der Franzosen im Rheinland sind so offenkundig, daß ein Blinder sie sehen kann, wenn er es wollte. Der Angriff von drüben wird in aller Gemütsruhe vorbereitet. Man fühlt sich zu sicher, weil Deutschland kein Heer hat. Aber was soll das? Wir sind doch keine Memmen und Schlafmützen, Leute! Der ganze Fehler liegt nicht an dem Gold, sondern nur an dem Schluß, den wir daraus zogen. Wir glaubten, daß wir nun einfach bezahlen brauchten und alles in Ordnung sei. Daß wir keinen Krieg mehr nötig hätten, um glücklich zu werden. Darin haben wir uns geirrt. Also führen wir eben den Krieg, wenn es anders nicht geht! Besser, als ewig die Schmach, wie sie war. Schlimmer als jetzt kann es auch nicht mehr werden.«

Zum ersten Male zuckte es flüchtig um Werndts schmalen Mund. Diese letzten Worte zeigten ihm, daß auch in Zietens Herz die Verzweiflung schon saß. Trotzdem blieb er stark und hielt bei ihm aus. Das dankte er ihm.

Sekundenlang herrschte lautlose Stille. v. Leu saß mit gesenkten Augen im Lehnstuhl. Zieten lief erregt durch das Zimmer. Freiherr v. Saldern stand kühl und lässig wie immer am Fenster und sah auf das hastende Leben der Straße.

»Was nun?« fragte Brettscheid. Es war in dem Ton etwas wie ein stiller Vorwurf gegen Werndt, daß er noch immer schweige.

»Was nun? Sie werden sich nicht darüber beklagen können, lieber Kollege, daß wir Ihnen zu wenig Vertrauen geschenkt hätten. Sie werden deshalb auch unsere Sorgen verstehen. Wir haben uns neidlos Ihren Plänen untergeordnet, Sie als den eigentlichen Führer betrachtet in einer Lage, die beispiellos ist in der Menschheitsgeschichte, und die Sie durch Ihre Erfindung erzwangen ...«

Er unterbrach sich mit einem Blick auf Werndt. Dieser stand vor dem Schreibtisch.

»Ich danke Ihnen für das große Vertrauen, das Sie mir bisher geschenkt haben, meine Herren. Und ich hoffe, daß Sie es mir auch wieder zurückgeben werden. Lassen Sie nur, meine Herren!« fügte er schnell hinzu, als man sich leicht abwehrend ihm zuwandte – »ich verdenke Ihnen nicht, daß Sie in diesen Kämpfen einen Augenblick irre wurden, werden mußten. Es konnte nicht ausbleiben. Auch ich selbst hatte ja Tage und Nächte des Zweifels.«

Er strich sich mit der schlanken Hand über die Schläfe.

»Die Welt hat ein Fieber durchgemacht. Und mit ihr die Menschheit. Aber die Krise ist jetzt überwunden.«

Die Minister sahen ihn überrascht an.

»Die Krise ist überwunden,« wiederholte er sicher. »Das Gold liegt im Sterben. Sie haben sich entsetzt über die unerhörten Veränderungen, die das Erscheinen des Goldes hervorrief. Alle Wertbegriffe waren in wenigen Stunden auf den Kopf gestellt. Uferlos ergoß sich der Strom neuer Werte über das Land. Ich wundere mich nur, liebe Freunde, daß keiner von Ihnen erkannte, daß diese Umwertung nur eine vorübergehende sein konnte, und ein ganz verzerrtes Bild gab. Das Gift des zu Tode getroffenen Goldes verwirrte Sie alle. Denken Sie jetzt einen Augenblick nach! Wodurch erhielt auf der Erde das Gold seinen Wert? Weshalb galt es weit mehr als die anderen Metalle? Nur seines verführerischen, leuchtenden Glanzes wegen? Nein! Dann könnte das Platin nicht wertvoller sein als das Gold, denn an Schönheit und Zauber steht es ja noch hinter Silber zurück. Nein. Der Wert des Goldes beruhte allein in seiner verhältnismäßigen Seltenheit. In seinem geringen Vorkommen auf Erden. Die Binsenwahrheit, der Fundamentalsatz von Angebot und Nachfrage bestimmte den Wert des Metalls. Je häufiger ein Metall vorkommt, desto geringer sein Wert. Je seltener es vorkommt, desto höher sein Preis. Gold war bisher selten, deshalb war es begehrt. Heute wurde die Welt mit rund zweihundert Milliarden Gold überschwemmt. Infolge meiner Erfindung, die eine Herstellung des Goldes aus jedem schweren Metall gestattet, kann die Erde künftig mit Gold überschwemmt werden. Gold kann das verbreitetste Metall der Erde werden. In dem Wirbel der letzten Tage hat man dies übersehen. Der französische Zweifel an der Tatsache meiner Erfindung mag dabei mitgewirkt haben. Inzwischen kamen einzelne Köpfe aber schon zu der Erkenntnis. Was wird die Folge sein, wenn plötzlich alle Welt klar sieht, wenn das Fieber zurückgeht –?«

Graf Zieten stand mit offenem Munde. Er dachte angestrengt nach. Sein Gehirn war im Rechnen von Börsenwerten zu wenig geübt. Er fühlte nur, was der andere meinte. Freiherr v. Saldern hatte sich mit einem Ruck in das Zimmer gedreht.

Der Reichskanzler kam seinen Worten zuvor.

»Dann müßten die Goldwerte also mit einem Schlage sinken, die Sachwerte steigen, und langsam eine Rückkehr zu richtiger Einschätzung kommen.«

Werndt nickte und wies auf das neueste Kursblatt.

»Der Preis des Goldes ist heute um fünfundzwanzig Prozent gefallen. Das ist der Anfang. Der kranke Körper hat begonnen, das Gift auszuscheiden. In längstens zwei Wochen ist Deutschland in diesem wirtschaftlichen Endkampf der Sieger.«

v. Saldern blieb kühl, überlegend.

»Vorausgesetzt, daß Frankreich und die Kommunisten uns bis dahin nicht gemütlich erdrosseln.«

Zietens Gesicht war gerötet und wütend.

»Diese Wehrlosigkeit! Diese Schmach der Entwaffnung nach außen und innen!«

Wieder lächelte Werndt ihm zurück.

»Ich sehe, es ist doch etwas anderes, wenn man die neue Lage in wenigen Tagen übersehen und beherrschen muß, als wenn man – wie ich, Muße hatte, sie in vielen einsamen Jahren voraus zu erleben und auf jede Möglichkeit hin zu berechnen. Sie sind noch zu sehr durch das Gold geblendet und vergessen, daß wir nicht wehrlos sind. Erlauben Sie mir, Ihnen nun auch meinen Bericht zu erstatten.«

Er ging mit schnellen Schritten auf eine Seitentüre zu und öffnete sie. Auf der Schwelle stand eine schlanke Gestalt, jung, sportlich trainiert, sonnverbrannt und gestählt, in eleganter Flugtracht. Das blonde Haar war nach hinten gelegt. Die Blauaugen blickten sonnig und klar.

»Mein junger Freund und Assistent, Doktor Nagel, den Sie bisher nur durch seine Rekordflüge kannten. Er war zugleich in den letzten Jahren mein treuester Mitarbeiter und Bote.«

Doktor Nagel trat mit einer leichten Verbeugung gegen die Herren ins Zimmer. Der Reichskanzler reichte ihm freundlich die Hand.

»Herr Nagel bringt neue Nachrichten?« fragte er mit einem Blick auf Walter Werndt.

»Ja. Er hat mir soeben gemeldet, daß die neueste Arbeit meines Laboratoriums programmgemäß beendet ist, und daß der Besieger des Goldes bereit steht. Aber davon später, meine Herren. Heute muß ich zuerst unsere Freunde Graf Zieten und Freiherrn v. Saldern bemühen. Nach den mir vorliegenden Nachrichten des von Doktor Nagel geleiteten Agentenbureaus ist mit dem Angriff Frankreichs in wenigen Tagen zu rechnen. Man scheint die Kriegserklärung ganz vermeiden zu wollen.«

»Ganz meine Meinung,« knurrte Graf Zieten. »Mit uns können sie es ja machen.«

v. Saldern blieb abwartend.

»Ich weiß nicht, was Frankreichs Mobilmachung so verzögert hat. Wahrscheinlich Verhandlungen mit den Neutralen, Widerstand bei den Bundesgenossen. Ich habe mich über das langsame Tempo gewundert. Es war mir sehr wertvoll und mußte uns nützen. Ich freue mich, Ihnen melden zu können, daß wir seit gestern gegen jeden Angriff gerüstet sind.«

Er beobachtete belustigt die verblüfften Gesichter der Herren.

»Ja, meine Herren, das Gold ist ein scheußlicher Giftstoff. Er hat auch Sie alle so heftig durchfiebert, daß Sie ganz meine andere Erfindung vergaßen, die ich Ihnen zeigte.«

Graf Zieten schlug sich platt vor die Stirne.

»Herrgott, ja, die Masten!«

»Ja, meine Elektrizität. Ich habe in der letzten Woche durch Herrn Doktor Nagel die Grenzen gesichert. Durch dreihundert Masten. Im Siebengebirge, im Schwarzwald, im Taunus, im Riesengebirge, im bayrischen Hochland, überall ist alles gerüstet und längst vorbereitet. Ein Druck auf den Taster, und unsere Grenzen passiert keine Maus mehr.«

Die anderen suchten vergebens nach Worten. Doktor Nagels Augen flammten vor Stolz und Bewunderung nach ihrem Meister. Werndt nahm eine Rolle Papier aus dem Wandschrank.

»Die Vorarbeiten begann ich schon vor vielen Wochen. Doktor Nagel kannte meine Pläne genau aus langen Gesprächen in russischen Nächten. Ich glaube, er hätte sie im Traume hersagen können. Tüchtige Mitarbeiter fanden wir genügend. Es klappte vorzüglich. Bei dem Bau der elektrischen Bahnen in allen Teilen des Reiches fiel die Aufstellung der verdeckten Mäste nicht auf. Auch nahmen wir gerne die einsamsten Stellen. Unterirdische Einbauten brauchten wir nur an drei Zentralen. Die benötigten Strommengen sind ja ganz wesentlich kleiner als die gigantischen Kräfte, die meine Goldherstellung erfordert. Außerdem brauchte ich diesmal die Entwicklung starker Luftwirbel durch überirdische Anlagen nicht mehr zu verbergen. – Hier ist unser Plan. Bitte, sehen Sie zu!«

Er breitete die Rolle über dem großen Eichentisch aus. Eine Unzahl von schwarzen und bunten Strichen und Punkten, Städtenamen, Zahlen, Markierungen bedeckte die Fläche. Werndt fuhr mit dem Finger die Linien ab.

»Sie sehen, daß die Rheinübergänge besonders geschützt sind. Die Grenze ist doppelt und dreifach bestückt. Die Mastenbatterien sind in Etappen angeordnet. Für einfachen Grenzschutz hätte ein Mast für je fünfhundert Kilometer genügt. Wir dürften sie aber noch anders verwerten, als nur in der Abwehr. Sie werden das alles ja nächstens erleben.«

Er wandte sich an den Kriegsminister.

»Herr Graf, darf ich Sie bitten, noch heute die Leitung des Heeres zu übernehmen. Es besteht zwar noch nicht aus ganz zehntausend Mann, aber –«

Der Reichskanzler legte die Hand auf die Karte.

»Und unsere Reichswehr?«

»Benötigen wir für das innere Deutschland. Unser Grenzheer besteht nur aus Freiwilligen, und ist nach genauem Plan organisiert. Hier die Liste der Stationen, Abteilungsführer und Teilzentralen. Sie werden bekannte Namen darunter finden. Nur die Besten wurden als würdig befunden. Und jeder hat eine Armee zur Verfügung an furchtbarer Wirkung.«

Zieten strahlte über das ganze Gesicht. Mit seinen riesigen Fäusten umklammerte er Werndts durchgeistigte Hand.

»Ich wäre schon vorher mit Ihnen durch Dick und Dünn gegangen, Sie prachtvoller Zauberer – von heute ab lasse ich mich für Sie vierteilen und fressen, weil ich das noch erlebte!«

Seine breite Brust atmete schwer und seine Äugelchen zuckten. Auch die anderen Herren waren sichtlich bewegt.

Doktor Brettscheid gab den Gefühlen zuerst klaren Ausdruck.

»Ich kann Ihnen immer nur wieder danken, mein lieber Herr Doktor. Sie brachten uns heute zum zweiten Male die Erlösung. Bestimmen Sie, was geschehen soll. Sie haben das Recht dazu, denn Sie führen uns alle.«

Freiherr v. Saldern sah über die Karte. Eine ungewohnte Nervosität zuckte in seinen Fingern. Werndt betrachtete ihn fragend von der Seite.

»Sie haben noch ein Bedenken?«

Saldern drehte sich um.

»Ja. Ich traue dem Glück nicht. Es wäre so märchenhaft, wenn alles klappte. Doch was wird, wenn das Volk hier in Deutschland nicht mitmacht? Oder wenn Ihnen, als dem geistigen Träger, etwas zustoßen würde. Verzeihen Sie, wenn ich auch dies erwähne, aber Sie wissen ja selbst, auf welch unsicherem Boden wir heute stehen, und wie zahlreich die Drohbriefe sind, die Ihnen täglich zugehen. Breitner hetzt alles auf und die Leute sind ratlos. Je mehr ich erkenne, wie wunderbar alles werden könnte durch Ihre Erfindung, desto stärker packt mich die Angst, daß wieder einmal das deutsche Volk selbst versagen und seine Macht noch ein zweitesmal selber entwaffnen könne. Jeden Tag sitzen wir auf einem Pulverfaß. Bricht die zu erwartende Revolution einen Tag zu früh aus, nützt uns alles nichts mehr. Nicht das Gold und nicht die Elektrizität. Gewinnen wir vor diesem Breitner die acht, vierzehn Tage Vorsprung, dann ist Deutschland befreit. Das zu wissen und die Nerven zu wahren, ist nicht eben leicht.«

»Ich stimme Ihnen vollkommen zu. Es muß deshalb etwas getan werden, um diesen Vorsprung zu sichern. Breitner muß dazu gebracht werden, den Termin für den Putsch, den er sicher im Sinne hat und deutlich vorbereitet, zu verschieben. Nötigenfalls müssen die Führer beseitigt werden, auf einige Wochen. Ich lasse Breitner schon lange bewachen. Doch das genügt heute nicht mehr. Wir werden einen neuen Weg gehen müssen. Und ich glaube, ihn schon gefunden zu haben.« –

* * *

In den Abendstunden des gleichen Tages verließen Walter Werndt und Doktor Nagel, äußerlich vollkommen verändert, als zwei elegant gekleidete Großstadtbummler das Haus des Finanzministers. Der Ältere trug sorgsam gepflegte Bartkoteletten mit ausrasiertem Kinn. Die buschigen Brauen drängten sich über den oberen Rand der mächtigen Hornbrille. Man hätte wetten mögen, einen der ausländischen Bankiers vor sich zu haben, die in den letzten Jahren an den deutschen Börsen eine gewohnte Erscheinung geworden waren. Sein Begleiter war erheblich jünger. Das glattrasierte Gesicht, die trainierte Figur, Gang und Kleidung, der kühle hochmütige Blick der kalten Augen, die Gleichgültigkeit gegenüber den Passanten, die er fast über den Haufen rannte, wenn sie ihm nicht auswichen, verrieten unverkennbar den herrschgewöhnten jungen Engländer.

Sie sprachen nur wenig miteinander und bummelten durch die beleuchteten Straßen, wie Leute, die Zeit zuviel haben, und noch ohne Ziel sind.

»Elektrizität in der Luft,« meinte Nagel nach einer Weile.

Das immer schon lebhafte Tempo der Straßen war bemerkbar nervöser. Die Plakatsäulen waren mit bunten Zetteln von oben bis unten beklebt. Vorträge, Versammlungen, Aufrufe. Darunter in doppelter Größe die Anklagen Breitners. Die Menschen hatten etwas Unsicheres, Haltloses, das sofort auffiel. Jeder hastete mit scheuem und gehetztem Blick an dem anderen vorüber. Die zahllosen Bogenlampen, die noch bis vor kurzem aus Sparsamkeitsgründen meist unbenutzt waren, blendeten durch ihr weißgrelles Licht. In den Hauptverkehrsstraßen jagte ein Auto das andere. Aus jedem zehnten Hause klang laute Jazz-Band-Musik und peitschte den Rhythmus der Großstadt nach draußen.

Die beiden scheinbaren Ausländer bogen in eine Seitenstraße ein. Der Ältere prüfte flüchtig die Fassade des Hauses.

»Es ist richtig, Herr Doktor,« meinte der junge auf Deutsch.

Der Ältere nahm seine Hornbrille ab und prüfte die Gläser. Der scharfe, klare Blick der Adleraugen paßte wenig zu den grauen Koteletten. Einige Sekunden später blickten sie wieder gemütlich und matt durch die grünlichen Linsen.

»Well,« gab er zurück. »Go on, Sir.«

Sie gingen durch einen endlosen Gang. Das Haus mußte eine ungewöhnliche Tiefe haben. Der Korridor hatte keine einzige Türe, und endete vor einer mächtigen Treppe. Der Lärm hinter zwei breiten, mit Vorhängen verhängten Flügeltüren ließ den Betrieb eines Restaurants oder eines Cafés vermuten.

Doktor Werndt zögerte, als sei er noch fremd hier.

»Gerade aus!« sagte der andere und übernahm schnell die Führung.

Sie stiegen zwei Stockwerke hoch. Der junge Engländer ging geradenwegs auf eine seitliche Wand los und klopfte dreimal in besonderem Rhythmus. Man hörte ein leises Schlürfen, dann öffnete sich eine Türe, die man vorher nicht sehen konnte, weil sie glatt in die Mauer eingelassen war und keine Ritze aufwies. Sie schloß sich sofort wieder nach Eintritt der Herren. Ein gedämpft beleuchteter Vorraum diente offenbar als Garderobe und Empfangsraum.

Der Türöffner sah die beiden leicht mißtrauisch an.

»Cherry brandy,« sagte der Jüngere lässig.

Es schien ein Kennwort zu sein. Die Miene des Portiers glättete sich sofort zu einem freundlich sein sollenden Grinsen. Dann nahm er die Mäntel der Gäste und öffnete eifrig die Türe zum Hauptsaal.

Der Ältere stockte unwillkürlich einen Augenblick. Sie standen in einem kleinen, gemütlichen Zimmer, mit abgebrauchten Teppichen und bequemen, aber altmodischen Lehnsesseln. Das Zimmer diente offenbar als Leseraum einer Leihbücherei. Mehrere würdige Männer und ältliche Matronen saßen um den runden Tisch und unter der Lampe. Alle waren so in ihre Lektüre vertieft, daß keiner beim Eintritt der Ausländer aufsah.

Der Jüngere schien etwas Ähnliches erwartet zu haben. Über seine glatten Züge huschte ein flüchtiges Lächeln.

»Come on!« sagte er heiter. »Es ist nur der Vorraum. Er dient als Attrappe.«

Mit sicherem Schritt ging er quer durch das Zimmer auf eine andere Türe zu.

»Bon!« brummte der dicke Portier, der sie immer noch etwas mißtrauisch beobachtet hatte. »Sie wissen Bescheid.« – Dann verschwand er nach vorne.

Die beiden Gäste öffneten langsam die Türe. Das Bild änderte sich mit einem Schlage. Ein riesiger Saal in rosaroter Lichtflut sprang vor ihnen auf. Dicke, kostbare Smyrnateppiche dämpften jeden Schritt unhörbar ab. In den Seidentapeten spiegelte sich das verschleierte Licht. Orientalische und maurische Einbauten teilten den Raum in zahlreiche Abteile und lauschige Winkel. Die Architektur war wie eine Nachahmung eines Saales der berühmten Alhambra Granadas, doch wärmer, gedämpfter, heimlicher durch die Bedeckung des Bodens und durch die vielen Diwans und Sessel und Lampen. Alle paar Meter stand ein kunstvoller Tisch mit grüner Stoffdecke. Für je vier Personen. Kaum ein Tisch war noch frei. Herren im Frack und Damen in kostbaren, tiefausgeschnittenen Abendtoiletten saßen in diesen Nischen verteilt. Einige hielten Karten in der Hand, andere hatten ein kleines Roulette vor sich stehen. Wie ein niedliches, harmloses Spielzeug. Es waren mindestens hundert Personen im Saal. Trotzdem hörte man kein lautes Wort. Alles sah wie gebannt auf die schillernden Kreise der Tische hinab.

»Sehen Sie sich einmal den Tischbezug an!« flüsterte Nagel dicht an Werndts Ohr. Erst jetzt sah dieser, daß die grüne Farbe der Tische nicht durchging. Jeder Bezug hatte das Muster eines Sterns, dessen vier Spitzen genau auf die Sessel der Spielenden zeigten. Der Blick wurde hierdurch fast mit Gewalt nach der Mitte gezogen, als gleite er auf glatten Schienen hinein in ein Zentrum.

»Massensuggestion!« meinte Werndt. Er fühlte, daß es ihm fast Mühe machte, den Blick von dem Sternbezug eines noch leerstehenden Tisches loszureißen und vorüberzugehen.

»Wirkt wie Fliegenleim!« brummte Nagel. »Eine ganz gefährliche Bande. Raffiniert ausgetüftelt. Riechen Sie diesen Duft hier?«

»Odaleika! Das neue exotische Parfüm.«

»Es wirkt auf das Hirn und regt das Herz an.«

Sie traten einen Augenblick in eine Nische zurück und beobachteten scharf jeden einzelnen Gast.

»Waren Sie früher schon in dem Lokal?« fragte Werndt.

»Nein, aber ich kannte es genau aus dem Bericht meiner Spitzel. Übrigens der Vorraum mit der Altweiberbücherei scheint geändert zu sein. Die Regie wechselt offenbar nach kurzer Zeit. Einmal war er als Küche frisiert, dann als Schneideratelier.«

Werndt strich sich über die Stirne. Der Duft der fremden, exotischen Blumen wirkte betäubend. Das lautlose Spiel dieser zahlreichen Menschen, das Rollen der zierlichen, silbernen Kugeln, das stimmlose Flüstern, die gedämpfte Beleuchtung hatte etwas Unheimliches, Unwirkliches, Traumhaftes an sich. Dazu faszinierte ein leises, metallisches Klingen, ein hellkalter Laut, wie ein fremder Gesang, unablässig, ohne Pause. Er kam von den Tischen, aus Wänden und Ecken, lief über den Teppich und sprang von der Decke. Er sang aus den Lichtern und zirpte im Kelchglas, elfenfein, alles durchdringend, überredend, unwiderstehlich, nervenzerrend ... Das Klirren des rollenden, springenden Goldes, das Klingen der Münzen, der singende Dämon ...

Nagels Augen suchten vergeblich die Tische entlang.

»Ist er schon da?« fragte Werndt.

»Nein. Aber ich weiß genau, daß er jede Nacht herkommt. Der Spielteufel soll ihn gepackt haben in den letzten acht Tagen.«

»Könnte er nicht das Lokal gewechselt haben?«

»Glaube ich nicht. Zufallsspieler wie Breitner pflegen an ihren Spielklubs mit geradezu abergläubischer Treue zu hängen. Ich glaube, daß er nicht einmal seinen Tisch wechseln wird.«

»Gibt es noch andere Zimmer auf diesem Stockwerk?«

Nagel kniff ärgerlich die Lippen zusammen.

»Pschakreff! Natürlich. Er soll ja im dritten Saal spielen. Diese verdammte Gespensterumgebung macht einen ganz blöde. Wie konnte ich das nur vergessen.« Sie gingen in gemächlichem Schritt durch den Spielsaal zur seitlichen Türe. Sie führte in einen weit kleineren Raum. Er war ganz in Märchenblau gehalten und hatte keine Stühle und Tische. Die Gäste lagen auf großen, weichen Kissen, rings an den Wänden. Männer und Frauen durcheinander. Oft in schamloser Vertrautheit. Auf kleinen Hockern standen bunte Liköre und schäumende Sektkelche.

Auch hier sprang den Eintretenden sofort der helle verführerische Goldglanz entgegen. Aber weit aufdringlicher, lauter, brutaler, sinnlicher.

»Sehen Sie das Spiel dort!« flüsterte Nagel.

Quer durch den Raum lief eine hellere Fläche. Scharf gespannt, wie ein Billardbezug, aber lang gestreckt, wie eine Kegelbahn. Die Gäste lagen seitlich auf den Kissen und sahen zu, oder drängten sich kniend vor dem vorderen Ende. Alle hatten kleine Haufen Goldstücke vor sich gestapelt. Einer nach dem anderen griff hinein und warf mit einer Münze nach einer silbernen Schale, die etwa acht Meter entfernt stand. Die meisten erreichten das Ziel nicht, oder warfen seitwärts vorbei. Dutzende Goldstücke lagen auf der Spielbahn verstreut. Ab und zu gelang einem Spieler der Wurf. Das Goldstück fiel aufklingend in die Schale hinein. Dann entstand jedesmal ein Gelächter und der glückliche Schütze heimste alle umherliegenden Goldstücke ein. Gerade, als Werndt und Nagel weitergehen wollten, gab es ein großes Gekreische. Ein schlankes, rothaariges Mädel hatte eine ganze Hand voll Münzen geworfen und mit einer die silberne Schale getroffen. Nun kugelte sie sich, halb betrunken, unter dem Gewieher der Gäste, wie ein Kreisel über die Wurfbahn.

Werndt sah im Vorbeigehen einen Augenblick hinüber.

»Man wirft schon mit Gold. Die Leute fühlen instinktiv den gesunkenen Goldwert. Das Goldgift stirbt ab.«

»Es ist Maud Gigg, die sich da kugelt,« meinte Nagel. »Sie tritt im Variété auf. Ihr Bild hängt an jeder Plakatsäule.«

Dann öffnete er die nächste Türe. Dieser Saal war gegen die beiden vorhergehenden fast nüchtern gehalten. Aber er fiel auf durch seine achteckige Form. In der Mitte des Zimmers stand ein länglicher Tisch, an dem offenbar Roulette gespielt wurde. Ein noch junger Mensch drehte die Kugel. Etwa dreißig Personen saßen schweigend beim Spiel. Auch sie hatten blitzendes Gold vor sich liegen.

Man hörte nur das singende Werben der klingenden Münzen und das leise Surren der laufenden Kugel. Dazwischen die eintönigen Worte des Croupiers:

»Mes dames, messieurs, faites vot' jeu! – – Rien ne va plus! – rouge – noir – neuf gagne – –«

Immer wieder, im gleichen Rhythmus. Einschläfernd, und doch aufpeitschend im Zusammenklang mit dem Fallen des Goldes, und durch die vervielfachte Erregung der Spieler, die wie eine körperliche Wolke in der Luft lag.

Nagel blickte unbefriedigt und ärgerlich über den Tisch.

»Nichts!« brummte er leise. »Er ist noch nicht da.«

Plötzlich faßte ihn Werndt am Arm und zog ihn aus dem Lichtschein des Spieltisches zurück. Auf der einen Seite des Raumes hatte sich lautlos eine bisher unsichtbare Tapetentüre geöffnet und ließ jetzt eine junge, ungewöhnlich schöne Dame ins Zimmer. Die gedrückte und linkische Haltung ihres wenig eleganten Begleiters stand in auffallendem Gegensatz zu ihrer faszinierenden Erscheinung. Der Mann machte eher den Eindruck eines verlegenen Bürgers der alten Schule. Seine kleinen Augen funkelten unsicher unter der niedrigen Stirne. Die modische Kleidung suchte vergeblich den Eindruck des Rohen zu verbergen, der dieser ganzen Figur anhaftete.

»Breitner!« flüsterte Werndt. »Wie hat dieser Mann sich verändert, seitdem ich ihn das letztemal im Reichstage sah!«

»Er hat etwas Krankhaftes, Gehetztes, Fiebriges an sich. Kennen Sie die Dame?«

»Nein. Sie ist blendend!«

Die neuen Ankömmlinge hatten sich zwei leere Plätze gewählt. Die Nächstsitzenden wandten kaum flüchtig die Köpfe. Breitner und seine Begleiterin folgten ohne weiteres dem Beispiel der anderen und legten einen Haufen Gold vor sich hin. Aber nur er machte Einsätze. Sie reichte ihm immer das Geld, wenn er verloren hatte. Vom ersten Augenblick sah man, wie Breitner vom Spielen gepackt war. Er saß, wie unter einem Bann, vorgebeugt, mit fiebernden Augen. Seine plumpen Hände zitterten, wenn er nach dem Golde griff.

»Ihn hat der Spielteufel!« sagte Nagel.

Im gleichen Augenblick traf ihn ein klarer, forschender Blick der schönen Begleiterin.

»Come on!« sagte Werndt deutlich und fügte leiser auf russisch hinzu: »Wir fallen auf, wenn wir nicht mitspielen. Setzen wir zum Schein eine Zeitlang.«

Sie nahmen die letzten Plätze gegenüber Breitner und seiner Dame. Werndt setzte ein Goldstück, den kleinsten Einsatz. Nagel das Zweifache. Werndt sah ihn fragend an.

»Denken Sie an meinen Dusel!« lächelte der Jüngere. »Wo ich doch stets gewinne.«

Aber sie verloren beide. Nagel verdoppelte seinen Einsatz und gewann. Trotzdem verdoppelte er weiter und gewann immer wieder. Ab und zu nahm er den ganzen Gewinn fort und begann ganz von neuem mit dem niedrigsten Einsatz. Dann verlor er fast regelmäßig.

»Ihr berühmter Dusel!« meinte Werndt, ihm belustigt zuschauend.

»Mein Opfer an den Neid der Götter,« lächelte Nagel. Sein Blick begegnete den feurigen Augen der schönen Fremden. Es war etwas Werbendes, Überraschtes, Forschendes in diesem Blick. Er lachte ihr zu. Sie nickte kaum merklich, wie in einem geheimen Einverständnis, und errötete plötzlich, als ihr Begleiter unwillig nach ihrem Gold griff.

Nagel machte die Einsätze ganz mechanisch. Das Spiel und sein dauerndes Glück fesselten ihn nicht im geringsten. Um so mehr interessierte ihn das Verhalten des merkwürdigen Paares auf der anderen Seite des Tisches.

Die reizvolle Fremde hatte sich wieder ausschließlich Breitner zugewandt und schien ihr Gegenüber ganz vergessen zu haben.

»Wie eine schöne Pantherkatze!« dachte Nagel und ließ unter den gesenkten Lidern keinen Blick von den beiden.

Breitner verlor unablässig. Mit einer unheimlichen Regelmäßigkeit. Das Gold seiner Begleiterin wanderte, wie von einer Schnur gezogen, nach der Seite des Croupiers. Seine Augen hatten einen rötlichen Glanz.

»Sehen Sie das Gesicht der Frau!« meinte Werndt, der das Spiel nur zum Schein mitgemacht hatte. Für ihn hatte das Gold seine giftige Wirkung schon lange verloren. Er war sein Besieger.

Auch Nagel hatte die Haltung der Fremden mit Staunen bemerkt.

Trotz des Pechs ihres Begleiters war sie in angeregtester Stimmung. Sie ließ keinen Blick mehr von Breitner, strich ihm zärtlich die zitternden Hände und nötigte ihn fast zu neuen Einsätzen.

»Sie hat irgend etwas vor mit dem Manne.«

Werndt nickte kaum merkbar. Nagel lag auf der Lauer wie ein Jäger im Anstand.

Plötzlich legte sich Breitner im Sessel zurück. Er tupfte erschöpft mit dem Taschentuch über die Stirne. Seine Begleiterin redete lebhaft, aber gedämpft auf ihn ein und zog eine Banknotentasche aus ihrem kostbaren Beutel. Er wies sie fast heftig zurück, aber sie ließ ihn nicht los. Er kämpfte sichtbar schwer gegen ihre Worte und gegen den werbenden Zauber ihrer blendenden Schönheit.

Plötzlich drehte sie den Kopf überrascht zu Nagel hinüber. Der junge Assistent zuckte leicht zusammen. Also hatte sie ihn doch beobachten können! Er sah, daß die Augen aller Spielenden auf ihn gerichtet waren. Werndt warf ihm einen warnenden Blick zu.

Im Eifer der Beobachtung hatte Nagel das Spiel übersehen und den Einsatz nicht beachtet. Er mußte offenbar wiederholt gewonnen haben. Vor seinem Platze hatte sich ein kleiner Berg von Goldstücken und Tausendmarkscheinen gesammelt. Der Croupier sah fragend und gespannt zu ihm hinüber. Nagel fing sich sofort. Mit einer lässigen Handbewegung schob er den ganzen Haufen auf eine beliebige Zahl. Es war die Zahl sieben. Der Einsatz ergab eine ganz unsinnige Summe. Unwillkürlich hörten die anderen Spieler auf und starrten gebannt auf die springende Kugel. Sie raste im Kreise herum wie ein Irrlicht. Dann wurde ihr Lauf immer schwächer und schwächer. Sie taumelte zitternd die Zahlen vorüber und blieb endlich liegen.

»Sieben gewinnt!« schnarrte der Croupier. »Sept gagne – zwölffacher Einsatz.«

Mit zusammengekniffenen Augen und künstlicher Ruhe warf er Nagel einen ganzen Haufen Banknoten zu. Der junge Ingenieur schob sie gleichgültig zu dem anderen Gelde und setzte nur mäßig. Das Glücksspiel ging weiter. Werndt schaute dem Freunde fast ängstlich zu.

»Ihr Dusel in allen Lebenslagen hat fast etwas Unheimliches an sich.«

»Finde ich gar nicht – – attention!« gab Nagel zurück. Er ließ keinen Blick von dem Paar gegenüber.

Breitners Erregung hatte offenbar ihren Höhepunkt erreicht. Er hatte noch immer nicht neu gesetzt, aber er starrte mit geradezu gequältem Blick auf Nagels Goldhaufen und auf die Sieben, die eben gewonnen hatte. Seine Freundin sprach hastig und drängend auf ihn ein. Ihre Hand lag auf der Brieftasche, die sie ihm auf seinen Platz schob. Er wehrte sich noch immer, sie anzunehmen, aber seine Widerstandskraft war sichtbar erschüttert.

Als Nagel noch einmal einen kleinen Einsatz gewann, zeigte die Fremde schnell auf die Zahl sieben. Im gleichen Augenblick verzog sich das Gesicht Breitners zu einer Grimasse. Kalter Schweiß perlte auf seiner kantigen Stirne. Seine Blicke liefen wie Flüchtlinge über die Goldhaufen der anderen Spieler. Dann faßte er plötzlich mit einem wütenden Griff die Brieftasche und setzte sie ungeöffnet auf die eine Zahl sieben.

»Faites votre jeu – rien ne va plus – –« kam die Stimme des Croupiers. Nur Werndt und Nagel hatten den Vorgang beachtet. Mit heimlicher Spannung verfolgten sie das Verhalten der beiden. Breitner ließ keinen Blick von der rollenden Kugel. Um den Mund des Weibes stand ein triumphierendes Lächeln.

»Kling!« machte die silberne Kugel.

Fast gleichzeitig kam es eintönig von oben:

»Sero – tout perd – Null – alles verliert.«

Breitners Hand fuhr einen Augenblick nach der Zahl sieben, als wolle er seinen Einsatz zurückreißen. Dann sank seine Hand kraftlos auf den Tisch. Über sein Gesicht lief eine fahle Blässe. Sein breitnackiger Kopf zuckte zusammen, als habe er einen Schlag von hinten erhalten.

Nagel fühlte fast Mitleid mit seiner Lage.

»Darf ich Ihnen aushelfen?« fragte er höflich, einen Bund seiner Banknoten auf den Tisch schiebend.

Einen Augenblick sah ihn Breitner verständnislos an. Dann ging ein Zittern durch seine gedrungene Gestalt. Hastig und unsicher, fast entsetzt, wie erwachend, erhob er sich von seinem Stuhle. Seine Lippen mühten sich vergeblich um eine Antwort. Dann ging er, wie gehetzt, nach dem heimlichen Ausgang.

»Il est malade« – sagte seine Begleiterin wie entschuldigend zu Nagel hinüber. Dann verließ auch sie mit kokettem Neigen des herrlichen Kopfes den Spielsaal.

Nagel raffte sein Geld hastig zusammen. Walter Werndt stand schon an der Türe.

»Ihm nach!« sagte er hastig. »Wir müssen wissen, wo er hingeht.«

»– und wer diese Frau ist,« setzte Nagel hinzu.

* * *


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