Marie von Ebner-Eschenbach
Unsühnbar
Marie von Ebner-Eschenbach

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XVI.

Im Laufe des Winters hatte Gräfin Agathe öfters den Wunsch ausgesprochen, ihre Kinder und Enkel unmittelbar nach ihrem Aufenthalt in der Stadt bei sich zu sehen. Sie kamen, und die Gräfin verlangte immer von Neuem eine Verzögerung der Abreise ihrer Gäste. Erich's wegen, – das Kind hatte es ihr angethan. Oft blickte Hermann ihr nach, wenn sie, viel älter aussehend, als sie war, steif und feierlich dahinschritt, den Kleinen an der Hand, den sie ins Herz geschlossen, und dem gegenüber sie es so bitter empfand, daß ihr die Gabe, mit Kindern umzugehen, versagt geblieben.

Dem Kinde war unheimlich zu Muthe bei dieser stummen Liebe. Was sollten die Spaziergänge, die nirgends hinführten, und während welcher nicht einmal eine Geschichte erzählt wurde? Erich machte schwache Versuche, seine Hand aus der der Großmutter zu lösen, aber dann sagte sie:

»Bist Du nicht gern bei mir, Erich?«

Er unterdrückte aus Angst das Nein, das ihm auf den Lippen schwebte, und fragte nach einer Weile ganz verlegen: »Und was werden wir jetzt spielen?« worauf die alte Dame, nach einigen unbeholfenen Versuchen, sein Interesse auf einen vorbeischwirrenden Vogel oder auf eine Blume am Wege zu lenken, ihn zur Kinderfrau zurückführte.

Es war schon Sommer, als die Familie endlich in Dornach eintraf. Auf den Wiesen trocknete die erste Mahd. Betäubend fast dufteten die blühenden Linden; die Saaten standen hoch, die Vögel flogen zu Neste.

Aus dem Wagen, in dem die letzte Strecke zurückgelegt wurde, riefen die Kinder jedem Vorübergehenden jubelnd zu: »Wir sind da, wir sind wieder da!«

Ein eggendes Bäuerlein riß sein Gespann zusammen, daß die Kummete den Pferden bis an die Köpfe rutschten, und schwenkte freudig den Hut. Weiber, die Gras sichelten am Raine, richteten sich auf und grüßten unbeholfen:

»Kommt Ihr einmal nach Haus? – Wir haben schon geglaubt, wir sehen Euch nimmer,« sprach eine Kleine, Schiefe, mit langen Armen. Und eine Bildhübsche, Schlanke zog das Kopftuch über die Augen, stemmte die Fäuste in die Seiten und wand sich vor Lachen – aus lauter Vergnügen. Die Schule spie eben ihren ganzen Inhalt an männlichen und weiblichen Besuchern aus. Ein ohrenzerreißendes Geschrei erhob sich, Mützen flogen in die Luft, am Ausgange des Vorgärtchens entstand ein großes Gedränge. Der Herr Katechet fuhr aus der Hausthür wie aus der Mündung einer Pistole mitten hinein in die lärmende Schar. Mit geübter Hand theilte er rechts und links Klapse aus und grüßte dazwischen auf das Ehrerbietigste zu den Herrschaften hinüber.

Hermann befahl anzuhalten, man wechselte einige Worte, die ganze Schule wurde für den nächsten Sonntag zu einem Kinderfeste im Parke geladen, und die Equipage fuhr davon. In ihrer Begleitung ritt seit der Ankunft auf der Bahnstation ein Einjährig-Freiwilliger vom zwölften Dragonerregimente. Ein schöner, großer Mensch, hellblond, blauäugig, mit gutmüthigem Kindergesicht. Es war Willy, Wilhelm's Aeltester, auf einem mächtigen Braunen, einem Geschenk Hermann's.

Der junge Mann hatte im Vorjahre ein glänzendes Zeugniß der Reife erworben, stationirte jetzt in der Nachbarschaft und sollte im Herbst unter der strengen väterlichen Zucht von der Pike auf anfangen, in der Wirthschaft zu dienen. Ihm kam es zu, einzuspringen für seinen Vater, im Falle diesem, heute oder morgen, die Kraft versagen sollte, den Unterhalt zu schaffen für die Seinen. Und mehr als den Unterhalt, nach Wilhelm's Begriffen, sogar den Wohlstand. Immer waren seine Kinder satt vom Tische aufgestanden, immer ward jedem der acht Rangen Gelegenheit geboten zu lernen, von früh an schon in die Bahn einzulenken, auf die seine Neigung und sein Talent ihn trieben. Und die Urheberin der Möglichkeit, ihnen so viel zu bieten, das war die gute heimathliche Erde, die Alles hergab, was ein getreuer Sohn und Pfleger von ihr verlangen durfte.

In schweren Zeiten, die dem Landwirth nicht erspart bleiben, hatte sich Wilhelm manchmal dazu bequemen müssen, die mit erfinderischer Delicatesse dargebotene Hülfe seines Vetters anzunehmen. Aber es geschah so widerstrebend, daß Hermann immer die Geduld verlor:

»Was soll das? Du beleidigst mich . . . Meine brüderliche Liebe nimmt er an, ja; meine armseligen Groschen – ah, Gott bewahr's, nein, die nicht! da wird protestirt. Warum, möcht' ich doch wissen, warum?«

»Weil ich Den nicht mag, dem ich etwas schuldig bin,« antwortete Wilhelm und bekam einen blau-rothen Kopf. »Nicht mag, hol' ihn der Kuckuck, ich sag's, wie's ist! Wenn mir einer unter die Arme greift, komm' ich mir vor wie ein Bub'. So bin ich. Mach' mich anders, wenn Du kannst.«

Das allerdings konnte Hermann nicht, und ganz gut und herzlich wurde Wilhelm erst wieder, nachdem er die bei seinem nächsten Verwandten und besten Freund eingegangene Schuld abgetragen hatte. Ja, er war unverbesserlich und Hermann der Letzte, der zum Prediger in der Wüste, zum Prediger überhaupt taugte. Wenn etwas seinen Spott reizte, war's der Hang zur Hofmeisterei, von dem die meisten Leute erfüllt sind, den sie aber ins Gewand einer Tugend kleiden und für Theilnahme ausgeben. Hermann vermochte nicht einmal einen Fehler, unter dem er litt, an Menschen, die er werth hielt, zu rügen.

So schwieg er auch lange dazu, daß Maria ihr liebliches zweites Söhnchen auffallend gegen den älteren, den selbständigen, von Kraft strotzenden Knaben zurücksetzte, und verbarg ihr sein schmerzliches Befremden bei jedem Zeichen der Ungleichheit in ihrer Empfindung für ihre Kinder.

Sie ahnte vielleicht nichts davon. Die Veränderung in ihrer ganzen Art und Weise, wenn sie sich von dem Kinde zu jenem wandte, ging vor, ihr selbst unbewußt. – Wenn aber unbewußt, warum geschah es dann, daß Maria eine manchmal vom Kleinen erzwungene Zärtlichkeit wie einen an ihren Erstgeborenen begangenen Raub anzusehen schien, den sie ihm hundertfach zu vergüten suchte?

Danach fragte er sie endlich doch, und ihre Antwort war ein so peinlich verwirrter Blick, daß Hermann dachte: Sie gibt sich Rechenschaft von ihrer Ungerechtigkeit, bekämpft gewiß das Gefühl, das sie dazu treibt, und wird es auch besiegen.

Um diese Zeit übersiedelte Fee, die sich kürzlich im Gefolge Tante Dolph's in Dornach eingenistet, zu ihren Freunden Wonsheim.

»Prächtige Leut', die da drüben,« sagte sie, »es is' aber vor Langerweil' bei ihnen nicht auszuhalten. Immer nur die Familie Wilhelm, immer nur Eintracht, immer nur Liebe – und noch dazu eine, bei der man nicht betheiligt is' . . . Nein, ich dank'!«

Die Brüder gaben zu überlegen, ob es nicht »recht praktisch« wäre, abermals »aufzumischen«. Ein Versuch, der gemacht wurde, fand jedoch wenig Anklang. Es stellte sich bald heraus, daß die amüsanteste Person im Hause Dornach, in diesem Augenblicke, »die alte Dolph« war. Sie hatte wenigstens eine gehörige Leidenschaft für das Lawn-Tennis, den einzigen Sport, den die »fad« gewordenen Nachbarn nicht aufgehört hatten zu pflegen. Ihre Kopfschmerzen quälten sie auf dem Lande weit mehr als in der Stadt; unter allen Dingen, die sie anfeindete, nahm die Zugluft einen hervorragenden Platz ein, trotzdem aber konnte sie beim Tennis stundenlang ausdauern in ihrer Rolle als Schiedsrichter, als drakonisch strenger Umpire.

– »Weil sie dabei Gelegenheit findet, zu sekiren,« dachte Fräulein Nullinger.

Wenn die Gesellschaft Wonsheim in ihrer Stage-coach zum Spiel nach Dornach fuhr, mußte sie sich's nicht selten gefallen lassen, der unwissenden Bevölkerung zum Gegenstande einer nicht schmeichelhaften Aufmerksamkeit zu dienen. Die Herren in ihren hohen, weißen Filzhüten, weißen Jongleuranzügen, weißen Zwirnhandschuhen, die Damen schürzenumgürtet wie die kleinen Schmiede vom Demavend, den Brustlatz geschmückt mit grellfarbigen, heraldischen Emblemen, wurden oft für eine Truppe Seiltänzer gehalten.

Natürlich waren sie sammt und sonders im Tennis von einer Stärke, welche sie berechtigt hätte, die englische Partie mitzuspielen. Hermann und Maria gaben ihnen wenig nach, und da kamen denn Serien vor, die kein Ende nahmen. Sogar die Gegner mußten einander bewundern, nur der Umpire war nie ganz zufrieden zu stellen.

Trotzdem mit unvergleichlicher Grazie haarscharf über das Netz servirt, mit fast nie fehlender Sicherheit aufgenommen wurde, ein Ball oft dreißigmal hin- und herflog, bevor er zu Boden fiel, ließ sich Tante Dolph dennoch nur zu einem bedingten Lobe herbei.

»Recht gut, meine Kinder; für eine einheimische Leistung gar nicht übel. Im Auslande würdet Ihr abblitzen . . . Schreit nur, ich kann Euch nicht helfen. Ganz kürzlich hatte ich den Besuch eines Fräulein van Nieuwenhuis-Kabeljau, die erste Tennisspielerin der Welt. Die trägt einen Handschuh Nr. 6½ an der linken, einen Handschuh Nr. 8 an der rechten Hand, und ist, sage ich Euch, so schief, wie eine im Umkippen begriffene Treckschuite, vor lauter Raketenschwingen. Das nenn' ich Uebung, und nur so erlangt man die Meisterschaft.«

»Und einen Buckel,« erwiderte Fee; »der möcht' mich doch geniren.«

»Dilettantin! diese Jufvrouw ist stolzer auf ihn als ein Held auf seine Narben.«

»Hat' auch alle Ursach',« erklärte Betty Wonsheim, betrachtete ihre rechte Hand und schmeichelte sich im Stillen: »Etwas größer als die linke ist sie, Gott sei Dank, doch schon.«

Vor der Abfahrt der Gäste wurde noch Verabredung für den morgigen Nachmittag genommen, an welchem ein Waldfest stattfinden sollte. Gräfin Dolph gab es am Marienfeiertage im August.

Sie fand nöthig, sich dankbar zu erweisen für die vielen Freundlichkeiten, die sie bereits in der Gegend genossen hatte. »Meine Einladung zu einem Plaisirchen, wie man vor Zeiten in Wien sagte, ist nichts Anderes als eine Retourchaise, meine Herrschaften Wilhelm und Wonsheim; sie soll Euch einen kleinen Theil des Vergnügens wieder hereinbringen, das mir Eure Liebenswürdigkeit schon bereitet hat.«

Groß und Klein versprachen sich Wunder. Das Waldfest (Fee hatte der guten Nullinger das Geheimniß herausgelockt) bildete nur einen Vorwand, um Hermann und Maria für eine Weile vom Schlosse zu entfernen. Bei der Rückkehr wartete ihrer eine großartige Ueberraschung, zauberhafte Beleuchtung des Schlosses und des Gartens, Feuerwerk, von Stuwer in Person angeordnet.

Ort und Stunde des Stelldicheins werden bestimmt. Man beschloß, um vier Uhr Nachmittags beim ehemaligen Vogelherd zusammenzutreffen. Die Meisten wollten einen Umweg durch den Wald nehmen und zuerst die Burgruine ersteigen. Tante Dolph und Helmi zogen es vor, bei den Kindern zu bleiben, die mit ihrer Begleitung direct zum »Uhuhaus« geschickt werden sollten.

Es war ihr Lieblingsplatz im Walde, und zu Wagen in einer halben Stunde leicht erreichbar. Die verlassene, von Schlingpflanzen überwucherte Vogelhütte erweckte das große Interesse Hermann's und Erich's. Sie rüttelten an der verschlossenen Thür, sie guckten mit heißer Neugier und leisem, köstlichem Gruseln durch die winzigen, hinter Drahtgittern halb erblindeten Fensterscheiben. Wer recht lange und recht aufmerksam schaute, wer den Augenblick erwischte, in dem der Wind das Gezweige der Bäume bewegte, und ein Sonnenstrahl durch das geborstene Dach in den dunkeln Raum dringen konnte – der sah etwas: die Trümmer eines Ofens und eines Lerchenspiegels, Netze, von Mäusen zernagt; sah ein Wiesel, das von einem Loch in der Wand zum anderen huschte, und auf einer morschen Stange einen Uhu. Und der böse Raubvogel hatte nur noch einen Flügel und ein Glasauge, und das war fürchterlich und sandte gelbe Blitze aus, so oft ein Streiflicht darüber hinglitt . . . O, die Hütte unter den Erlen barg Erstaunliches! – nur Gottlob keine Gefahr mehr für Finken und Meisen und Rothkehlchen, und wie sie alle heißen, die kleinen Sänger. Getrost durften sie sich jetzt niederlassen auf die Zweiglein, die auf- und abschaukelten unter der leichten Last. Singt, trillert, jubelt und schwingt euch wieder auf, durchschneidet die Lüfte und kehrt heim zu euren Jungen. Ihr habt nicht mehr den Tod oder die Gefangenschaft zu fürchten.

Die Hütte lag wunderschön, von Waldungen umringt und nur gegen Morgen frei. Da breitete sich ein grüner Wiesengrund, da sah man den klaren, breiten Bach erschimmern, und durch die Felsschlucht als Wildbach toben: da stiegen rechts von der Schlucht die bemoosten Steinriesen empor, deren einer die alte Burg trug. Heute noch, in ihrem Zerfall, erhob sie sich stolz und herrschend.

Die Wonsheim waren bereits fortgefahren, als Fräulein Nullinger müde und abgehetzt erschien. Sie war zweimal zur Post gelaufen, hatte im Auftrage ihrer Gräfin neun Telegramme gewechselt mit Sacher und Demel und eben erst die Versicherung erhalten, daß alles Bestellte aufgegeben sei und morgen pünktlich eintreffen müsse. Als sie erfuhr, daß eine Partie nach der Burg stattfinden werde, erklärte sie, an derselben theilnehmen zu wollen.

»Ich habe mich längst gesehnt, das Schloß zu besuchen,« sprach sie zu ihrer Gebieterin, »Sie kennen meine Vorliebe für das Mittelalter.«

»Sagen Sie doch: Schwärmerei. Sie stellen sich das so poetisch vor, wie die edlen Ritter mit wehenden Helmbüschen über reisende Kaufleute herfielen, sie erschlugen und beraubten. Wie sie sengend und brennend das Land durchzogen, dem Bauer die Pferde vom Pfluge wegstahlen und ihm, wenn er sich wehrte, die Haut über den Kopf zogen. Wie sie das Haus des schwächeren Nachbarn zerstörten, sein Weib an den Thürpfosten hingen, seine Töchter entführten, wenn sie schön waren natürlich, und in ihr verruchtes . . . hm, hm,« sie räusperte sich, »schleppten. – Sie wären vielleicht auch entführt und geschleppt worden. Nulle.«

»Frau Gräfin,« fiel ihr diese ins Wort, »ich muß mir verbitten . . .«

»Nichts da! Sie hätten sich nichts verbeten. Sie hätten Schärpen gestickt für ihren schwarzgelockten Ritter und hätten an seiner Seite, der Minne pflegend, gesessen vor dem Burgverließ, aus dem das Gewinsel der auf faulem Stroh verfaulenden Gefangenen zu Ihnen gedrungen wäre.«

Das Fräulein erhob sich: »Es ist genug, Frau Gräfin, ich sage sogar, es ist zu viel.«

»Da haben wir's, jetzt ist sie beleidigt,« seufzte Dolph. »Ja, meine Liebe, Sie dürfen nicht schwärmen für die Ritterzeit. Dazu ist die Haut Ihres Herzens zu fein gerathen.«

Bei Einbruch dieser Nacht wurde in Dornach und in dessen Umgebung gar heiß gebetet.

»Lieber Gott,« flehte Fee, auf den Knieen liegend vor ihrem Bette, »lieber Gott, Du weißt Alles, Du weißt auch, daß Tante Dolph heute einen Brief von Tessin bekommen hat. Gib, lieber Gott, daß in dem Briefe steht: ›Ich hab' immer eine Schwäche für die Kleine gehabt und will sie heirathen‹.«

»Lieber Gott,« murmelte Fräulein Nullinger, knüpfte ihre Nachthaube fest und zog die Decke über die Ohren, »lieber Gott, heilige Jungfrau, alle heiligen Märtyrer, gebt mir Geduld mit meiner Gräfin.« Sie ging noch weiter und verlangte sogar etwas Liebe für ihre Peinigerin empfinden zu können. Aber diese Bitte wurde selbst im Himmel indiscret gefunden und blieb unberücksichtigt.

Inbrünstig gestaltete sich das Abendgebet der Jüngsten im Hause Wilhelm. Der sechsjährige Rudi sprach es vor: »Du bist so gut für die Kinder, lieber Gott gib, lieber Gott, weil Du so gut bist, daß morgen ein schöner Tag ist.«

Bis in die Nacht hatte drückende Hitze geherrscht; jetzt erhob sich, erst sanft, dann immer kräftiger, eine kühle nördliche Strömung. In den Wipfeln der Bäume begann es zu rauschen, allerlei Stimmen sprachen durcheinander; es stöhnte wonnig und lachte im Geäst und stieß laute Schreie aus. Labung, Labung! flüsterten die wehenden Zweige. Massige Wolken, die sich bequem hingelagert hatten, rings am Horizont, stoben plötzlich aus ihrer Ruhe auf. Aus dicken Knäueln in lange Strähne verwandelt, jagten sie zuletzt ganz dünn und durchsichtig davon.

In unbestrittener Herrlichkeit stand der Mond am Himmel, als Willy sich, einige Stunden nach Mitternacht, der elterlichen Behausung näherte. Er ritt im Schritt über den gepflasterten Hof. In den niederen, mit Schindeln gedeckten Stallungen zu beiden Seiten desselben schliefen noch Menschen und Thiere. Ein Hund, der auf einer Schwelle ganz zusammengerollt lag, knurrte im Traume; dann schwieg wieder Alles; sogar das Brünnlein vor dem sogenannten Schlosse hatte sein Rauschen eingestellt. Das that dem jungen Soldaten weh. Hatte er doch die Zulage, die sein Onkel Hermann ihm gab, auf die Anschaffung einer neuen schönen steinernen Muschel für das Brünnlein verwendet. Und jetzt war's versiegt. – »Die Wasserleitung einmal wieder schadhaft worden,« sagte er zu sich selbst, »und kein Geld da, um sie herstellen zu lassen.«

Armes Brünnlein, armes, geliebtes Vaterhaus! Selbst im Alles verklärenden Mondlicht wollte sich's nicht hübsch machen mit seinen kahlen Mauern, dürftigen Bogenfenstern und dem steilen, Wellenlinien bildenden Dach. Als einziger Schmuck diente ein hölzerner Balkon, dessen schiefe Säulen und wackeliges Geländer sich unter üppig wucherndem, wildem Wein verbargen.

Leise pochte Willy ans Thor, um Niemanden, außer den auch Portiersdienste versehenden Gärtner, zu wecken, übergab ihm das Pferd und trat ein.

Am nächsten Morgen begrüßten seine jubelnden Brüder einen Tag von unerhörter Pracht und wußten wohl, wem zu Liebe er so geworden war.

In Dornach lief der kleine Hermann vom Vater zur Mutter und von der Mutter zum Vater. Er hatte nirgends Ruhe und war entzückend in seinem Eifer und seiner Ungeduld. »Weißt Du, Erich,« sprach er, ihn stürmisch umarmend, »wir gehen heut' so spät schlafen wie die großen Menschen. Wir gehen zum Uhu.«

»Und was wirst Du dort thun?« fragte Tante Dolph.

»Ich werd' halt schauen.«

»Und dann?«

»Dann werd' ich laufen, laufen auf der Wiese, so geschwind, daß man mich gar nicht sieht . . . so geschwind –« er machte große Augen, hob die Arme über den Kopf und strengte sich an, einen drastischen Vergleich zu finden, »so geschwind –«

»Wie der Teufel,« kam ihm die Tante zu Hülfe, er aber machte eine geringschätzige Gebärde und sagte:

»O, viel schneller!«

Sie klopfte ihm lachend die Wange; sie, die Kinder nicht leiden konnte, weil sie Lärm machen und die Thüren offen lassen, hatte eine Schwäche für diesen Großneffen: »Das echte Aristokratenkind,« erklärte sie. »Aus reiner, gesunder Rasse, vom ersten Athemzuge an gut genährt, gut bewohnt, gut gewaschen, weiß nicht, was Furcht ist, und nicht, was Geiz ist, schlägt drein, wenn's gilt, und gibt, wenn's gilt, das Hemd vom Leibe. Muth, Wohlwollen, Güte – er hat alle Tugenden, die mir fehlen – darum lieb ich ihn.«

Fräulein Nullinger blickte sie ganz verdutzt an und dachte: »Merkwürdig, sie hat doch bisher kein Herz gehabt; sollte ihr eines gewachsen sein?«



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