Marie von Ebner-Eschenbach
Das Gemeindekind
Marie von Ebner-Eschenbach

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7

In der Nacht vom Samstag auf den Sonntag schloß Pavel kein Auge. Er lag wie in Fieberhitze und meinte immer, jetzt und jetzt komme jemand, ihm den Brief abzufordern, den ihm die Baronin am Abend überschickt hatte und der ihm Einlaß ins Kloster verschaffen sollte. Sie konnte sich's anders überlegt, ihre Güte konnte sie gereut haben... Pavel kauerte sich zusammen auf seiner elenden Lagerstätte und faßte wilde Entschlüsse für den Fall, daß seine Besorgnisse in Erfüllung gehen sollten.

Indessen graute der Morgen, und Pavels eigene Hirngespinste blieben seine einzigen Bedränger. Dennoch verließ die Unruhe ihn nicht. Schon um vier Uhr stand er am Brunnen und wusch sich vom Kopf bis zu den Füßen, zog Hemd und Hose an und den Rock, der eine bedeutende Verschönerung erfahren hatte. Auf dessen schleißigster Stelle, gerade über dem Herzen, prangte ein bunter Flicken, ein handgroßes Stück Zeug, das beim Zuschneiden von Vinskas neuem Leibchen übriggeblieben war. Pavel nahm sich vor, es herabzutrennen und der kleinen Milada zu schenken, wenn es ihr so gut gefiele wie ihm.

Und so zog er rüstig und freudig aus und begegnete keiner lebenden Seele im ganzen Dorf. An der Mauer des Schloßgartens schlüpfte er besonders eilig vorbei, und nun ging's bergab und bergauf, immer mit der stillen Besorgnis: Wenn mir nur keiner nachläuft, um mich zurückzurufen.

Auf der Höhe angelangt, von welcher aus er vor fast zwei Jahren dem Wagen nachgeblickt, der seine Schwester entführte, atmete er freier. Er besann sich, wie schön er damals die Türme der Stadt hatte glänzen gesehen. Heute lagerten Herbstnebel über ihnen und verbargen sie seinen Augen. Und auf dem Feld, das zu jener Zeit im Grün der jungen Halme geprangt, lagen große harte Schollen, vom Pfluge umgelegt, dessen Schaufel einen Metallglanz auf ihnen hinterlassen hatte. Er schritt weiter, verlor sein Ziel oft aus den Augen, verfolgte es aber mit dem Instinkt eines Tieres; es fiel ihm nicht ein, daß er's verfehlen könnte.

Drei Stunden war er gewandert, da hörte er zum ersten Male deutlich den Schlag der Uhr von einem der Kirchtürme schallen und langte bald darauf bei den kleinen Häuschen der Vorstadt an.

Die Brücke, von welcher er oft sprechen gehört hatte, lag vor ihm, und unter ihr rauschte ein so gewaltiges Wasser, wie er nicht gewußt hatte, daß es auf Erden gibt. Und das Wunder, das er anstaunt, Milada sieht es alle Tage, denkt Pavel; und Stolz auf die Schwester und Ehrfurcht vor ihr ergreifen ihn.

Am Brückenpfeiler sitzt ein altes Weib und hat Äpfel feil. Gewiß ißt Milada Äpfel noch ebenso gern wie früher – wie wär's, wenn er ihr ein paar mitbrachte? Die Hökerin kehrt ihm den Rücken zu; sie kramt eben in ihrer Vorratskiste; ihr ein paar Äpfel wegzumausen wär eine kleine Kunst... Soll er? soll er nicht? – Eine innere Stimme warnt ihn: Gestohlenes Gut taugt nicht mehr für Milada... Er steht und zaudert.

Da wendet sich die Alte, sieht ihn, rühmt ihre Ware und lädt ihn zum Kaufe ein.

»Ich hab kein Geld«, sagt Pavel zögernd.

Mit der Freundlichkeit der Hökerin ist es sogleich vorbei, und ihre Aufforderung lautet jetzt: »Wenn du kein Geld hast, so pack dich!«

Das ist wieder gewohnter Klang, Pavel fühlt sich angeheimelt, er fragt nun fast zutraulich nach dem nächsten Weg zum Fräuleinstift.

»Was willst du im Fräuleinstift?« brummt das Weib. »Wärst gestern gekommen. Am Samstag wird dort ausgeteilt.«

Pavel lügt, er weiß selbst nicht warum, und behauptet, das sei ihm wohl bekannt, wiederholt seine Erkundigung und wandelt, nachdem er sie erhalten, einem Hause zu, das sich wie eine riesige gelbgetünchte Schachtel am Ende des Platzes erhebt. Es hat auffallend kleine Fenster und an der Seite ein schmales Pförtchen, zu dem einige Stufen hinunterführen. Ratlos steht er lange davor, pocht, rüttelt an der Klinke, aber sie bleibt unbeweglich und sein Pochen ungehört. Eine Schar kleiner Jungen kommt daher; einer von ihnen springt die Treppe zur Klosterpforte hinab, hängt sich an den Glockenstrang, läßt ihn plötzlich zurückschnellen und läuft davon. Ein Geläute, das gar nicht enden wollte, drang aus dem Innern des Hauses; das Pförtchen öffnete sich, Pavel trat ein und stand wieder vor einer geschlossenen Tür; doch hatte diese ein Glasfenster und gewährte den Einblick in eine Halle, deren ziemlich niedriges Gewölbe von freistehenden Säulen getragen wurde und deren Wände mit Feuchtigkeitsflecken bedeckt waren. Eine Nonne erschien, musterte den Besucher und fragte mit strenger Miene: »Warum schellst du so stark? Was willst du?«

»Meine Milada«, stammelte Pavel. Es überkam ihn plötzlich, daß er sich unter einem Dache mit seiner Schwester befand, und unleidlich wurde seine Ungeduld. »Wo ist sie?« rief er.

»Wen meinst du?« fragte die Klosterfrau. »Es gibt hier keine Milada, du bist wohl fehlgegangen.«

Schon wollte sie ihn abweisen, da erinnerte er sich des Talismans, den er bei sich trug, und überreichte den Brief.

Die Nonne betrachtete eine Weile die Aufschrift: »Ja so«, sagte sie. »Liebes Kind, deine Schwester heißt bei uns Maria. Du kannst sie jetzt nicht sehen, sie ist in der Kirche.«

Pavel erklärte, er wolle auch in die Kirche, und dabei nahm sein Gesicht einen so entschlossenen und bösen Ausdruck an, daß der Pförtnerin angst wurde. Sie bemühte sich, ihm begreiflich zu machen, daß er warten müsse, bis die Messe aus sein werde, führte ihn zu dem Ende in ein an die Halle anstoßendes Zimmer, ließ ihn dort allein und verschloß hinter ihm die Tür.

Da war er ein Gefangener. Der düstere Raum, in dem er sich befand, hatte keinen zweiten Eingang, dafür aber drei mit schweren bauchigen Gittern versehene Fenster. Sie öffneten sich auf einen mit Obstbäumen bepflanzten Rasenplatz, in dessen Mitte, altersgrau und verwittert, eine Muttergottesstatue stand, ein buntes Kränzlein auf dem Haupte, und Pavel dachte gleich, niemand anders als Milada habe das geflochten... Wenn sie doch käme, bald käme, wenn doch die Messe schon vorüber wäre!... Glockenklang erhob sich, es wurde zum Sanktus geläutet; nun folgte die Wandlung, Pavel sank auf die Knie und betete inbrünstig: Lieber Gott, schick mir meine Schwester! Er sehnte sich, er hoffte, er wartete – die Glocken hatten längst zum letzten Segen geläutet, die Kleine erschien immer noch nicht. Und still war's ringsum wie in einer leeren Kirche. Kein Mensch im Garten zu erblicken, in der Halle kein Laut, kein Schritt zu hören. Pavel warf sich gegen die Tür und polterte mit Händen und Füßen, solange er konnte. Umsonst, niemand kam, ihn zu erlösen. – Erschöpft und verzweifelt sank er auf den Boden, zu Füßen eines großen Tisches, der nebst einigen an die Wände gerückten Stühlen die ganze Einrichtung der Stube bildete.

Sie kommt nicht, kommt nicht, und mich hat man eingesperrt und vergessen – das sagte er sich, anfangs mit zorniger Empörung über etwas Abscheuliches und Unerhörtes, zuletzt mit stumpfer Ergebung in das Unabänderliche. Sein Kopf wurde immer schwerer, seine Augen fielen zu, er schlief ein. So fest, so tief schlief er, daß ihn das Geräusch der plötzlich aufgerissenen Tür nicht weckte, daß er erst zum Bewußtsein kam, als ein Paar kleine Arme ihn umklammerten, eine liebe, geliebte Stimme jauchzte: »Pavel, Pavel, bist du endlich da?«

Er riß die Augen auf, sprang empor – schaute, wurde feuerrot, hätte auch gern etwas gesagt und konnte nicht brannte danach, sie an sein Herz zu ziehen, und wagte es nicht. – Ach, schön, schön hatte er sich seine Schwester vorgestellt, aber so schön, wie sie ihm in Wirklichkeit erschien, doch nie und nimmermehr!

- Sie trug ein dunkelblaues Kleid, das im Schnitt ein wenig an einen priesterlichen Talar mahnte, und auf der Brust ein silbernes Kreuz. Ihre blonden Haare waren in einen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken hing bis zum Gürtel; an der Stirn, den Schläfen, im Nacken aber kräuselten sich, der glättenden Hand eigensinnig entschlüpft, kleine, feine goldige Löckchen und umgaben den Kopf wie ein Heiligenschein.

Immer scheuer wurde die Bewunderung, mit der Pavel das Kind betrachtete, plötzlich trübten sich seine Augen, er hob den Arm empor und preßte ihn an sein Gesicht.

Diesem seltsamen Empfang gegenüber blieb die Kleine eine Weile ratlos, umfing ihren Bruder aber bald von neuem, und unter ihren Liebkosungen wich der entfremdende Bann, der ihn bei ihrem Anblick ergriffen hatte. Er setzte sich, nahm sie auf seinen Schoß, küßte und herzte sie und ließ sich von ihr erzählen, wollte auf das genaueste wissen, wie sie lebte, was sie tat, was sie lernte, vor allem jedoch was sie zu essen bekam. Er staunte, wie geringen Wert sie auf diese so wichtige Sache legte, wie ihr um nichts so sehr zu tun war als darum, das bravste Kind im ganzen Kloster zu sein, und um die Anerkennung dieser Tatsache.

»Es ist schwer, die Bravste zu sein, weil so viele gute Kinder da sind; aber ich bin's doch!« sagte sie, richtete sich freudig auf und rief mehr im Ton der Überzeugung als der Frage: »Du bist es auch?«

»Ich?« entgegnete er, voll ehrlicher Verwunderung – »wie soll denn ich brav sein?«

Ohne die verschränkten Finger von seinem Nacken zu lösen, streckte sie die Arme aus, bog sich zurück, sah ihm in die Augen und sprach: »Wie du brav sein sollst? – So halt – wie man halt brav ist; man tut nichts Unrechtes... Du wirst doch nichts Unrechtes tun?«

Er schüttelte den Kopf, suchte sich von ihr loszumachen, besonders aber ihren Blick zu vermeiden: »Warum soll ich nichts Unrechtes tun?« murmelte er – »es geht nicht anders.«

»Und welches Unrecht tust du zum Beispiel?«

»Zum Beispiel?... Ich nehme den Leuten Sachen weg...«

»Was für Sachen?«

»Wie du fragst? – Was soll ich denn nehmen? was ich immer genommen habe, Obst – oder Rüben oder Holz...«

Mit steigender Angst, aber noch zweifelnd, schrie die Kleine auf: »Dann bist du ja ein Dieb!«

»Ich bin auch einer.«

»Das ist nicht wahr! sag, daß es nicht wahr ist, daß du nicht schlecht bist! um Gottes willen, sag es...«

Sie drohte, schmeichelte und geriet in Bestürzung, als er die Entschuldigung vorbrachte: »Wie soll ich nicht schlecht sein? Die Eltern sind ja auch schlecht gewesen.«

»Just deswegen!« rief sie, »begreifst du's nicht? – just deswegen bin ich die Bravste im ganzen Kloster und mußt du der Bravste sein im ganzen Dorf... damit der liebe Gott den Eltern verzeiht, damit ihre Seelen erlöst werden... Denk an die Seele des Vaters, wo die jetzt ist...«

Eine fliegende Blässe überzog wie ein Hauch ihre rosigen Wangen. »Wir müssen immer beten«, fuhr sie fort, »beten, beten und gute Werke tun und uns bei jedem guten Werke sagen: Für die arme Seele, die im Fegefeuer brennt.«

Mit tiefster Durchdrungenheit stimmte Pavel bei: »Ja, die brennt gewiß.«

»O Gott im Himmel!... und weißt du, was ich glaube?« flüsterte die Kleine – »wenn wir schlimm sind, da brennt sie noch ärger, weil der liebe Gott sich denkt, das kommt von dem bösen Beispiel, welches die Kinder bekommen haben von...« Sie hielt inne, schluckte einigemal nacheinander, ihre Augen öffneten sich weit und starrten den Bruder voll leidenschaftlichen Schmerzes an. Plötzlich faßte sie seinen Kopf mit beiden Händen, drückte ihr Gesicht an das seine und fragte: »Warum stiehlst du?«

»Ach was«, erwiderte er, »laß mich.«

Sie umklammerte ihn fester und rief wieder ihr beschwörendes: »Sag! sag!« und da er durchaus nicht Rede stehen wollte, begann sie zu raten: »Stiehlst du vielleicht aus Hunger... Bist du vielleicht manchmal hungrig?«

Er lächelte gelassen: »Ich bin immer hungrig.«

»Immer!«

»Ich denk aber nicht immer dran«, suchte er sie zu beruhigen, als sie in Jammer ausbrach über diese Antwort; doch hörte die Kleine ihn nicht an, sondern rannte, unter heftigen Vorwürfen gegen sich selbst, aus dem Zimmer.

Bald erschien sie wieder, gefolgt von einer Laienschwester, die einen reichlich mit Brot und Fleisch besetzten Teller trug. Der wurde auf den Tisch gestellt und Pavel eingeladen, sich's schmecken zu lassen.

Er machte der Aufforderung Ehre, aß hastig, war aber erstaunlich bald satt.

»Ist das dein ganzer Appetit?« fragte die Klosterdienerin und sah ihn mit jungen hellen Augen freundlich an. »Bist nicht gewohnt ans Essen, hast gleich genug, ich kenn das schon. Woher kommt er denn, wer ist er?« wandte sie sich an Milada.

»Von zu Hause«, antwortete diese, »er ist mein Bruder.«

»Nun ja, in Christus, jeder Arme ist unser Bruder in Christus.«

»So mein ich's nicht, er ist mein wirklicher Bruder!« beteuerte Milada und wurde böse, als die Schwester sie ermahnte, sich erstens nicht zu ärgern und zweitens nicht einmal im Scherz eine Unwahrheit zu sagen.

»Aber ich sag ja keine Unwahrheit, Schwester Philippine! Fragen Sie die ehrwürdige Mutter, fragen Sie das Fräulein Pförtnerin!...« eiferte das Kind. Die Klosterdienerin aber erwiderte gutmütig verweisend: »Seien Sie ruhig, Fräulein Maria, seien Sie nicht schlimm, Sie waren schon so lange nicht mehr schlimm. Nur nicht wieder in den alten Fehler verfallen, sonst müßt ich's melden; Sie wissen recht gut, daß ich's melden müßt.«

Damit nahm sie rasch den Teller vom Tisch, nickte den Kindern einen munteren Abschiedsgruß zu und ging.

»Sie will nicht glauben, daß ich dein Bruder bin«, sprach Pavel nach einer Weile.

Milada legte wieder ihre Wange an die seine und flüsterte ihm ins Ohr: »Vielleicht glaubt sie's doch.«

»Glaubt's doch?... Warum tut sie dann so?... Und warum hast du ihr's nicht besser gesagt? Warum warst du gleich still?... Ich bin still, wenn ich recht hab, weil's mich freut, wenn die Leut so dumm sind, und ich mir dann so gut denken kann: Ihr Esel! – Aber du brauchst das nicht.«

»Ja ich! ich bin auch still, nicht aus Trotz und Hochmut wie du – aus Demut und Selbstüberwindung.« Sie warf sich in die Brust, und ihr Gesichtchen leuchtete vor Stolz: »Damit die Engel im Himmel ihre Freude an mir haben.«

Nachdem sie sich an der Bewunderung geweidet, mit der er sie ansah, fuhr sie fort: »Pavel, ich darf unserer Mutter nicht schreiben, aber du schreibe ihr; schreibe ihr, daß ich immerfort für sie bete und nichts anderes werden will als eine Heilige... Ja!... und daß ich auch für sie sorge, schreibe ihr, und mir alle Tage etwas abbreche für sie und alle Tage wenigstens ein gutes Werk tue für sie... Und du, Pavel«, unterbrach sie sich, faßte ihn an beiden Schultern und fragte: »Was tust du für unsere Mutter?«

»Ich?« lautete die Antwort, »- ich tu halt nichts.«

»Ach geh! du wirst schon etwas tun...«

»Was soll ich tun? – ich weiß nicht was.«

»So sag ich dir's! – Du sollst dran denken, was die Mutter anfangen wird, wenn sie heimkehrt: Wohin soll sie gehen, wo soll sie wohnen, die arme Mutter?« -

Und nun kam Milada mit einem ganz fertigen Plan, der darin bestand, daß Pavel einen Grund kaufen und für die Mutter ein Haus bauen müsse.

Er ärgerte sich: »Wie soll denn ich ein Haus bauen? Ich hab ja kein Geld.«

»Aber ich habe!« rief das Kind. »Wart, ich bring dir's... bleib ruhig sitzen und wart.«

Eilends flog sie davon; lange jedoch dauerte es, eh sie wiederkam. Die Pförtnerin folgte ihr und hielt einen Gegenstand, den Milada in der Hand trug, scharf im Auge. »Halt«, sprach die Klosterfrau, »was wollen Sie damit tun?«

»Ich schenk es meinem Bruder, ich hab Erlaubnis von der ehrwürdigen Mutter.«

Die Pförtnerin betrachtete das Kind mißbilligend, fragte gedehnt: »Wirklich?« und zog sich langsam mit leise gleitenden Schritten zurück.

Milada schwang triumphierend einen gestrickten Beutel, durch dessen weite Maschen es hell und silbern blinkte. Er enthielt ihre Ersparnisse, das von der Frau Baronin erhaltene und gewissenhaft zurückgelegte Wochengeld, im ganzen vierunddreißig Gulden. Daß man damit noch keinen Grund kauft und noch kein Haus baut, leuchtete sogar dem geschäftsunkundigen Pavel ein; aber es war doch ein Anfang, es war doch ein Eigentum, an das sich die Hoffnung, es zu vergrößern, knüpfen ließ. Die Kinder berieten, wie das geschehen solle, und Milada kam bald darauf, daß ihr Bruder fleißig arbeiten und etwas verdienen müsse.

Pavel aber meinte: »Wie soll denn ich etwas verdienen? Solang ich beim Hirten bin, kann ich nichts verdienen... Ja!« rief er – »ja wenn...« Ein Gedanke war in ihm aufgetaucht, und dieses ungewöhnliche Ereignis versetzte ihn in fieberhafte Erregung – »wenn ich hierbleiben dürft, sie haben ja eine Wirtschaft, die Klosterfrauen... wenn sie mir etwas zu tun geben möchten in der Wirtschaft...«

»In der Wirtschaft?« fragte Milada und machte große Augen.

»Wenn sie mir einen Dienst geben möchten«, fuhr er fort, »bei den Ochsen, bei den Pferden, bei den Kühen oder so etwas, daß ich hierbleiben könnt, daß ich nur nicht ins Dorf zurück müßt.«

Er faßte ihre Hände und beschwor sie, seine Fürsprecherin bei den Klosterfrauen zu sein. Nachdem seine träge Phantasie einmal begonnen hatte, ihre Schwingen zu entfalten, flog sie beharrlich fort und trug ihn immer höher empor. Ein so ausgezeichneter Knecht wollte er werden, daß die Beförderung zum Aufseher und dann zum Meier nicht lange auf sich warten lassen könnte. Von dem Geld, das er verdiente, wollte er daheim im Dorf ein Haus für die Mutter bauen. Die sollte nur dort wohnen, er blieb in der Nähe seiner Schwester, und wie er sie heute sah und sprach, so würde er sie dann sehr oft sehen und sprechen, und wenn das sein könnte, dann wäre er glücklich, wäre brav, aus wäre es mit der Schlechtigkeit, mit der Dieberei, aus mit der – Pavel ballte die Faust gegen ein unsichtbares Wesen: mit der Vinska, wollte er sagen, doch überkam es ihn, als dürfe er den Namen in Gegenwart seiner Schwester nicht aussprechen. Das Kind schmiegte sich an ihn, machte keine Einwendung, hörte seiner Erzählung wie der des schönsten Märchens zu und setzte manchmal noch ein Licht auf in dem freundlichen Bilde, das er entwarf.

»Ja, du wirst der Meier sein und ich die Heilige!« hatte die Kleine eben freudig ausgerufen... da ertönte laut und lange fortgesetzt, aus der Ferne erst, dann näher und näher der Schall einer Glocke. Milada seufzte tief auf.

»Das Zeichen«, sagte sie.

»Was für ein Zeichen?«

»Daß du fortgehen mußt.«

»Ich geh aber nicht! Du hast ja selbst gesagt, daß ich hierbleiben kann«, rief Pavel, und die Kleine erwiderte bestürzt: »Was fällt dir ein? Ich darf so etwas nicht sagen.«

Nun begann es dicht vor der Tür zu schellen, sie wurde geöffnet, die Pförtnerin ließ sich blicken, sprach nicht, setzte aber die Glocke, die sie in der Hand hielt, immer heftiger in Bewegung.

Zugleich erschien eiligen Schrittes Schwester Philippine und rief Pavel zu: »Die Sprechstunde ist aus, höchste Zeit, empfiehl dich, vorwärts, vorwärts!«

Er gab keine Antwort und gehorchte auch nicht. Die Klosterdienerin wiederholte ihre Mahnung; Pavel aber, den Kopf gesenkt, mit den Fingern einer Hand die der anderen pressend und zerrend, blieb auf seinem Sessel sitzen. Die Pförtnerin rief eine zweite Laienschwester herbei, gab auch ihr Befehl, den zudringlichen Burschen fortzuschaffen, und winkte Milada, das Zimmer zu verlassen. Die Kleine zögerte. Da kam die Nonne auf sie zu und ergriff sie beim Arme: »Sie gehen hinauf in die Klasse«, sprach sie, mit äußerstem Bemühen, das Beben ihrer Stimme zu verbergen und den schüchternen Widerstand des Kindes mit Sanftmut zu besiegen. Doch funkelte Unwillen aus ihren dunklen Augen, und die leisen Worte, die sie dem Klosterzögling zuflüsterte, schienen, nach dem Eindruck, den sie hervorbrachten, zu schließen, nicht eben gütige zu sein. Die Kleine lauschte ihnen mit gespannter, angstvoller Aufmerksamkeit, rief plötzlich: »Leb wohl, Pavel! leb wohl!« und eilte hinweg.

Da sprang er auf, stieß die Laienschwestern, die ihn festhalten wollten, zur Seite und stürmte Milada in die Halle nach. »Bleib!« schrie er – »hast du vergessen, was wir tun wollen, was geschehen muß? Bleib da und sag's den Klosterfrauen!«

Er wurde immer ungebärdiger und bedrohte die Dienerinnen, die sich anschickten, ihn mit Gewalt fortzuschaffen. Die friedliche Klosterhalle stand in Gefahr, der Schauplatz eines kleinen Handgemenges zu werden, als die aus dem Garten hereinführende Tür geöffnet wurde und einem langen Zuge von Nonnen Einlaß gewährte, an dessen Spitze die Oberin zwischen den zwei nächsten Würdenträgerinnen schritt. Ein mildes Lächeln auf dem schönen Gesichte, die großen klaren Augen mit dem Ausdruck leisen Staunens auf die erregte Pförtnerin gerichtet, kam sie bis zum Eingange des Sprechzimmers und blieb vor demselben stehen. Die Pförtnerin war plötzlich wie versteinert, die Laienschwestern knixten bis zur Hälfte ihrer natürlichen Größe zusammen, Milada neigte sich in tiefer Verbeugung, lehnte das Köpfchen auf die Schulter, errötete und erbleichte.

»Was gibt es denn? was geschieht hier?« fragte die Oberin, und so wohl dem Auge der Anblick ihrer edlen Züge, so wohl tat dem Ohr der reine Metallklang ihrer Stimme: »Warum ist unsere kleine Maria noch nicht in die Klasse zurückgekehrt?«

Die Pförtnerin gab eine etwas verworrene Erklärung dessen, was sich eben zugetragen; sie schonte dabei Pavels nicht, und die hohe Vorgesetzte hörte ihr zu, mit nicht mehr Ungeduld, als ein Engel hätte verraten dürfen, und ließ mit der Teilnahme eines solchen ihren Blick auf dem verklagten Übeltäter ruhen.

»Mit den Klosterfrauen willst du sprechen?« sagte sie zu ihm; »so sprich, mein Kind, da sind die Klosterfrauen.«

Pavel erbebte vor Entzücken und Hoffnungsfreudigkeit bei diesen gütigen Worten; aber zu tun, wie sie ihn geheißen, vermochte er nicht. Zagend blinzelte er zu der Ehrwürdigen empor, die vor ihm stand, so licht und hehr in ihren dunklen Gewändern. Ihm war, als hätte er in das Antlitz der Heiligen Jungfrau geschaut... und als sein Blick im Niedergleiten ihre Hände streifte, da meinte er zwischen den schlanken, über dem Gürtel gefalteten Fingern den Schlüssel zum Himmel blinken zu sehen... Wie gepackt und niedergeworfen von einer gewaltigen Faust lag er mit einemmal auf seinen Knien, und seine Lippen murmelten leise und inbrünstig: »Erlösen! Erlösen!«

Im nächsten Augenblick kniete seine Schwester neben ihm und begann auch zu rufen, nur lauter, nur kühner als er: »Erlösen!... Erlösen!... Ehrwürdige Mutter, erlösen Sie ihn!«

Die Angeflehte machte eine Bewegung der Abwehr. Sie reichte Milada beide Hände, zog sie in die Höhe und sprach: »Ich weiß nicht, was ihr wollt, und so bittet man nicht. Auch du, Bursche, steh auf und sage vernünftig, was du zu sagen hast.«

Pavel erhob sich sogleich; seine Wangen glühten braunrot, Schweißtropfen perlten an den Wurzeln seiner Haare; er wollte sprechen, brachte aber nur ein heiseres und undeutliches Gemurmel hervor.

»Sprich du für ihn, was will er?« wandte die Oberin sich an Milada.

»Er möchte so gern hierbleiben« erwiderte das Kind bewegt und kleinlaut; »er möchte ein Knecht sein bei den Kühen oder bei den Pferden.«

Die Ehrwürdige lächelte, und ihr Gefolge, die großen und die kleinen Nonnen, die breiten und die schmalen, die freundlichen und die strengen lächelten gleichfalls.

»Wie kommt er auf den Gedanken? hat ihn jemand hergewiesen?... Fräulein Ökonomin, ist eine Stelle frei in der Wirtschaft?«

»Keine«, antwortete die Angeredete.

Pavel bildete sich ein, zwischen den beiden Frauen sei es hin- und hergeflogen wie ein Blick stillen Einverständnisses, als die Oberin von neuem gefragt: »Vielleicht denkt aber der Meier daran, einen der Knechte zu entlassen? Der Bursche kann früher davon gehört haben als wir; wäre das nicht möglich?«

»Nein. Ich weiß ganz bestimmt, daß der Meier nicht daran denkt, einen Knecht zu entlassen.«

»So – so«, versetzte die Oberin; »nun denn, mein Kind, da ist nichts zu tun, da waren diejenigen, die dich zu uns geschickt haben, falsch berichtet. Geh denn heim, mein Kind, geh mit Gott, und du, kleine Maria, in die Klasse! -in die Klasse!«

Sie wollte sich abwenden und ihren Weg weiterverfolgen. Pavel warf sich ihr entgegen; ehrfurchtsvolle Scheu hatte bisher seine Zunge gebunden, die Angst der Verzweiflung löste sie.

»Um Gottes willen, gütige, gebenedeite Klosterfrau«, rief er und faßte die Oberin am Kleide, »um Gottes willen, behalten Sie mich! Schicken Sie mich nicht ins Dorf zurück... Meine Milada sagt, daß ich brav werden soll, im Dorf kann ich nicht brav werden... Hier will ich's sein, behalten Sie mich hier... Im Dorfe bin ich ein Dieb und muß ein Dieb sein...«

»Kind, Kind, was sprichst du?« entgegnete die Ehrwürdige; »niemand muß ein Dieb sein, jeder Mensch kann sich sein Brot redlich verdienen.«

»Ich nicht!« schrie Pavel und wehrte sich mit allen Kräften gegen zwei Nonnen, die vorgetreten waren und das Gewand der Oberin aus seinen Händen zu lösen suchten, »ich nicht!... Was ich verdiene, nimmt der Virgil und versauft's, und ich muß auch seine ganze Arbeit tun und bekomme nichts... Die Gemeinde sollte mir Kleider geben und gibt mir nichts... Und wenn die Virgilova hingeht und sagt: Der Bub hat kein Hemd, der Bub hat keine Jacke, sagen sie: Und wir haben kein Geld... aber wenn sie auf die Jagd gehen wollen und ins Wirtshaus, dann haben sie immer Geld genug...«

Ungläubig schüttelte die Oberin den Kopf und machte Einwände, die Pavel widerlegte. Der wortkarge Junge sprach sich in eine wahre, derb zutreffende Beredsamkeit hinein. Was er vorbrachte, war nicht die Frucht langen Nachdenkens; die Erkenntnis seines ganzen Elends kam ihm zugleich mit derjenigen, daß es eine Rettung geben könne aus diesem Elend, und jede neue Anklage gegen seine schlechte Adoptivmutter, die Gemeinde, und jeden neuen Ausbruch der Entrüstung und des Jammers schloß er mit dem leidenschaftlichen Beschwören: »Behalten Sie mich! Schicken Sie mich nicht ins Dorf zurück!« Allein – ob seine Augen sich angst- oder hoffnungsvoll auf die hohe Frau richteten, welcher er die Macht zuschrieb, sein trostloses Schicksal in ein glückliches zu verwandeln, immer begegneten sie demselben Ausdruck sanfter Unerbittlichkeit. Und wie sie vor sich hinblickte, unendlich fromm, unendlich teilnahmslos, so tat ihr ganzes Gefolge, und der schwer begreifende Pavel begriff endlich, daß er umsonst gebeten hatte.

»Geh, mein Kind«, sprach die Oberin, »geh mit Gott und bedenke, wo immer du wandelst, wandelst du unter seinen Augen und unter seinem Schutz. Und wenn er mit uns ist, was vermögen die Menschen wider uns? Was vermag ihr böses Beispiel und was die Versuchung, in welche ihr böses Beispiel uns führt? Geh getrost, mein Kind, und der Herr geleite dich.«

Sie gab der Pförtnerin einen Wink; diese eilte, die Tür der Halle zu öffnen. Stumm, ohne Gruß schritt Pavel dem Ausgang entgegen. Da ertönte plötzlich ein durchdringender Schrei. Milada, die bisher regungslos dagestanden, ohne den Blick, ohne das ein wenig heuchlerisch zur Seite geneigte Köpfchen auch nur einmal zu erheben, rannte ihrem Bruder nach: »Warte, ich geh mit dir!« rief sie, hing sich an seinen Hals, küßte ihn und schluchzte: »Armer Pavel! Armer Pavel!« Ganz außer sich schlug sie mit den kleinen Fäusten nach den Nonnen, die an sie herantraten und sie in sanft beschwichtigender Weise zur Ruhe ermahnten. Sie keuchte, sie wimmerte: »Lassen Sie mich! Ich will mit ihm gehen, weil er arm ist, weil er ein Dieb ist... Sehen Sie! sehen Sie! er hat Lumpen, er hat nichts zu essen, ich will auch Lumpen haben, ich will auch nichts zu essen haben, ich will nicht eine Heilige sein und in den Himmel kommen, wenn er in die Hölle kommt!«

Sie schrie, als ob sie sich mit Gewalt die Brust zersprengen wollte, und er, kämpfend zwischen seiner Bestürzung über die Heftigkeit und seiner Freude über diese unerwartete Äußerung ihrer Liebe, starrte sie an, beschämt, beglückt – und völlig ratlos und rührte sich nicht, als die Klosterfrauen einen dichten Kreis um ihn und Milada schlossen, die Arme der Kleinen von seinem Nacken lösten und sie, festgehalten an Händen und Füßen, emporhoben. Es geschah mit größter Schonung, ohne das geringste Zeichen von Ungeduld; ein tiefes Leid, ein inniges Bedauern war alles, was sich in den Mienen der frommen Frauen aussprach, als ihr Zögling auch jetzt noch seinen Widerstand fortsetzte.

»Pavel!« kreischte das Kind, »Pavel, reiß mich los!... Gehen wir fort, weit weg... gehen wir zusammen in die Arbeit, in den Ziegelschlag wie früher, wie damals, wo wir klein waren... ich will achtgeben auf dich, daß du kein Dieb mehr bist... Reiß mich los!... Nimm mich mit... Geh nicht allein... ich seh dich nie mehr, wenn du allein weggehst... Sie lassen dich nie mehr zu mir... Nie mehr!«

Ihr Schreien endete in nicht unterscheidbaren Lauten, in einem heiseren Husten. Pavel stöhnte; der Hilferuf der Kleinen schnitt ihm ins Herz, und doch blieb er unbefangen genug, um zu denken: Was sie verlangt, ist unmöglich, was sie sich zutraut, geht weit über ihre Kräfte. Sie schwieg endlich – gewiß vor Erschöpfung. Pavel konnte sie nicht sehen – drei- und vierfach waren allmählich die Reihen geworden, welche die Klosterfrauen zwischen ihr und ihm bildeten. Statt der überangestrengten Stimme seiner Schwester vernahm der Bursche eine reine, glockenhelle, die ermahnte, zusprach, gleichmäßig, eindringlich und immer leiser... Pavel hielt den Atem an und horchte – die Kleine blieb ruhig. – Nur aufseufzen hörte er sie manchmal aus tiefster, schmerzzerrissener Brust, und scheinen wollte ihm, als nenne sie dabei seinen Namen. Und er hielt sich nicht länger, er stürzte vor, den Kreis zu durchbrechen, der ihm den Anblick seiner Schwester entzog. Er hatte Widerstand erwartet und fand keinen; wie auf ein gegebenes Zeichen wichen die Klosterfrauen zu beiden Seiten aus, und er sah Milada vor sich stehen, an der Hand der Oberin, bleich, zitternd, das Köpfchen wieder schief geneigt, die rotgeweinten Augen gesenkt – die um ihn rotgeweinten Augen!... Eine fast unüberwindliche Lust ergriff ihn, sie in seine Arme zu nehmen und mit ihr zu entfliehen. Die Tür war offen, ein paar Sätze, und er hätte das Freie erreicht, und einmal draußen, sollten sie ihm nur nachlaufen, die Klosterfrauen!... Aber dann? Wohin führst du das Kind? fuhr es ihm durch den Kopf, und die Antwort lautete: Ins Elend! und er überwand die rasch und heiß auflodernde Versuchung.

»Tritt näher«, sprach die Oberin, »sage deiner Schwester Lebewohl.«

Er folgte dem Geheiß und setzte aus eigener Machtvollkommenheit hinzu: »Am nächsten Sonntag komm ich wieder.«

Die Kleine brach von neuem in Tränen aus und flüsterte, ohne aufzublicken: »Darf er?«

»Das kann ich nicht im voraus sagen«, erwiderte die Ehrwürdige: »es hängt ja nicht von mir ab, sondern von dir, von deiner Aufführung. Dein Bruder darf immer kommen, wenn du gut, gehorsam und« – sie legte besonderes Gewicht auf diese Worte – »nicht ungeduldig bist.«

»So schau!« rief Pavel fröhlich aus. Die Bedingnis, an welche sein Wiedersehen mit der Schwester geknüpft worden, enthielt für ihn die trostreiche Verheißung. Er begriff nicht, warum Milada traurig und ungläubig den Kopf schüttelte, als er, sie küssend und umarmend, versprach, sich in acht Tagen gewiß wiedereinzufinden. Und als die Kleine hinweggeführt worden, und als er, dem Befehl der Pförtnerin gehorchend, die Halle verlassen hatte und nun draußen stand auf dem Platz vor dem Kloster, lachte er vor sich hin. Er lachte über das törichte Kind, das die Trennung von ihm jahrelang guten Mutes ertragen und das sich nun, da es einen Abschied für eine Woche galt, so bitter grämte. Die arme Kleine, wie liebte sie ihn! Wann hätte er sich's träumen lassen, daß sie ihn so sehr liebe! –Alles wäre sie bereit gewesen um ihn aufzugeben, das schöne Haus, in dem sie wohnte, ihre guten Kleider, das gute Essen... Ja sogar die sichere Aussicht auf das Himmelreich...

Das will er ihr lohnen, er weiß schon wie; er wird sich ihrer Liebe würdig machen. Wonniger Stolz, die herrlichste Zuversicht erfüllten ihn; etwas Köstliches, Unbegreifliches schwellte sein Herz. Er gab sich keine Rechenschaft davon, er hätte es nicht zu nennen gewußt, es war ihm ja so neu, so fremd, es war ja – Glück. Unter dem Einfluß des Wunders, das sich in ihm vollzog, meinte er auch von außen kommende Wunder erwarten zu müssen. Und wie er so langsam dahinschritt, gestaltete sich aus seinen webenden Träumen immer deutlicher die Überzeugung, daß er einer großen Veränderung seines Schicksals entgegengehe, dem geheimnisvollen Anfang zu einem schöneren, besseren Leben.

Eine Stunde wanderte er bereits und hatte kaum den vierten Teil des Weges zurückgelegt, da überholte ihn ein Bote, der gleichfalls aus der Stadt kam und nach dem Dorfe ging; ein alter Bekannter, der Nachtwächter Wendelin Much. Der Mann wurde jeden Sonntag am frühen Morgen von der Baronin nach dem Kloster geschickt. Er überbrachte das Taschengeld für Milada, einen Brief für die Oberin und Geschenke für ihre Armen und hatte den Wochenbericht über den Schützling der gnädigen Frau in Empfang zu nehmen. Demjenigen, den die Ehrwürdige heute sandte, waren in Eile folgende Zeilen hinzugefügt worden:

»- Die Zusammenkunft der beiden Kinder hat den erwarteten Erfolg nicht gehabt. Dieselbe gab vielmehr dem Tropfen Vagabundenblut, der leider in den Adern unseres Lieblings rollt, Gelegenheit, sich wieder zu regen. Wir fürchten, es werde lange Zeit bedürfen, bevor es uns gelingt, den üblen Eindruck, den dieses erste und, wenn Frau Baronin unseren Rat befolgen, auch letzte Wiedersehen der Geschwister auf Maria hervorgebracht hat, zu verwischen.«


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