Marie von Ebner-Eschenbach
Das Gemeindekind
Marie von Ebner-Eschenbach

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6

Die nächste Woche brachte viele Regentage, und an jedem trüben Morgen packte Pavel seine Schulsachen zusammen und ging zum Gelächter aller, die ihm auf dem Wege dahin begegneten, in die Schule. Dort saß er, der einzige seines Alters, unter lauter Kindern und immer auf demselben Platz, dem letzten auf der letzten Bank. Anfangs tat der Lehrer, als ob er ihn nicht bemerkte; erst nach längerer Zeit begann er wieder, sich mit ihm zu beschäftigen. Einmal, als die Stunde beendet war, die Stube sich geleert hatte, Pavel aber fortzugehen zögerte, fragte ihn der Lehrer: »Was willst du eigentlich? In deinem Beruf kannst du dich bei mir nicht ausbilden.«

Pavel machte verwunderte Augen, und der Lehrer fuhr fort: »Hast du mir nicht gesagt, daß du ein Dieb werden willst? Nun, Unglücksbub – Unterricht im Stehlen geb ich nicht.«

Dem Pavel schwebte schon die Antwort auf der Zunge: Darum ist mir's auch nicht zu tun, versteh's ohnehin. Aber er bezwang sich und sagte nur: »Lesen und schreiben möcht ich lernen.«

»Zur Not kannst du's ja.«

»Just zur Not kann ich's nicht.«

»Mußt dir halt Müh geben.«

»Geb mir Müh, kann's doch nicht.«

»Gib dein Buch her.«

Pavel schüttelte den Kopf: »Aus dem Buch kann ich's schon, aber da –« er fuhr mit der Hand, die heftig zitterte, zwischen sein Hemd und seine Brust und zog einen zerknitterten Brief hervor, »da hat mir der Bote etwas von der Post gebracht...«

»Geschriebenes? Ja so! das ist freilich eine andere Sache, da würde ich wohl selber Mühe haben.«

Sein Scherz reute ihn, als Pavel denselben für Ernst nahm und zum ersten Male im Leben demütig sprach: »Ich möcht den Herrn Lehrer doch bitten, daß er's probiert.«

Pavel küßte, wenn man so sagen darf, das Blatt mit den Augen und reichte es dem Alten hin, sorgfältig, ängstlich, wie ein leicht zu beschädigendes Kleinod.

Der Lehrer entfaltete es und überflog die Zeilen: »Es ist ein Brief, Pavel – und weißt du von wem?«

»Er wird von meiner Schwester Milada sein, aus dem Kloster.«

»Nein, er ist nicht von deiner Schwester aus dem Kloster.«

»Nicht?«

»Er ist von deiner Mutter aus dem –« er stockte, und der Bursche ergänzte mit plötzlich veränderter Miene und rauher Stimme: »Aus dem Zuchthaus.«

»Willst du ihn hören?«

Pavel hatte den Kopf sinken lassen und antwortete durch ein stummes Nicken.

Der Lehrer las:

 

»Mein Sohn Pavel!

Vor drei monat habe ich Meine feder an das papier gesetzt und meiner Tochter Milada einige Parzeilen in das Kloster geschrieben meine Tochter Milada hat sie aber nicht bekommen die Klosterfrauen haben Ihr ihn nicht gegeben sie haben Mir sagen lassen das beste ist wenn sie von der mutter nichts hört so weiß Ich nicht ob Ich recht tu wenn Ich dir schreibe Pavel mein lieber sohn mit der bitte daß du mir antworten sollst ob meine Parzeilen dich und Milada deine liebe schwester in guter Gesundheit antreffen was Mich betrifft ich bin gesund und so weit zu frieden in meinem platz.

deine Mutter.

Meine zwei kinder tag und nacht Bete Ich für euch zum Liebengott glaube auch daß meine tochter Milada eine kleine klosterfrau werden wird wenn es die Zeit sein wird und arbeite fleißig hier imhause was mir zurückgelegt wird für meine kinder...

In sechs Jahren mein lieber sohn Pavel werde ich wieder Nachhaus kommen und bitt euch noch daß ihr manchesmal inguten an die Mutter denkt die ärmste auf der welt.«

 

Die Lettern des Briefes waren steif und ruhig hingemalt, bei der Nachschrift hatte die Hand gezittert; große matte Flecken auf dem Papier verrieten, daß sie unter Tränen geschrieben worden waren. Mit Mühe entzifferte der Vorleser die halbverwischten Züge, und ihn ergriff die Fülle des Leids und der Liebe, die sich in dieser armseligen Kundgebung aussprach.

»Pavel«, sagte er, »du mußt deiner Mutter sogleich antworten.«

Der Junge hatte sich abgewendet und starrte finster zu Boden. »Was soll ich ihr antworten?« murmelte er.

»Was dein Herz dir eingibt für die unglückliche Frau.«

Pavel verzog den Mund: »Es geht ihr ja gut.«

»Gut, du dummer Bub? gut im Kerker?«

Der alte Mann geriet in Eifer, er wurde warm und beredsam; die schönen und vortrefflichen Dinge, die er sagte, ergriffen ihn selbst, ließen Pavel jedoch kühl. Er hatte auf die Vorstellungen des Lehrers zwei Antworten, die er hartnäckig wiederholte, ob sie paßten oder nicht: »Sie sagt ja selbst, daß es ihr gut geht«, und: »Die Schwester schreibt ihr nicht, warum soll ich ihr schreiben?«

»Hast du denn gar kein Gefühl für deine Mutter?« fragte der Lehrer endlich.

»Nein«, erwiderte Pavel.

Der Alte schüttelte sich vor Ungeduld: »Ich denk der Zeit, wo du ein Kind warst«, sprach er, »und brav unter der Obhut deiner braven Mutter, die dich zur Arbeit angehalten hat... Glotz du nur! – Brav und rechtschaffen, sag ich. Das war sie; aber leider gar zu geschreckt und immer halb närrisch aus Angst vor dem niederträchtigen... Na!« unterbrach er sich – »jeder Mensch hat Mitleid mit ihr gehabt, sogar den Richtern hat sie Erbarmen eingeflößt, nur du, ihr Sohn, bist mitleidslos gegen sie. Warum denn, warum? Ich frage dich, gib Antwort, sprich!« Er schob die Brille in die Höhe und näherte die kurzsichtigen Augen dem Gesichte Pavels. In den Zügen desselben malte sich ein eiserner Widerstand; aus den düsteren Augen funkelte ein Abglanz jener Entschlossenheit, die, auf eine große Sache gestellt, den Märtyrer macht. -

Der Alte seufzte, trat zurück und sagte: »Geh, mit dir ist nichts anzufangen.« Als Pavel schon an der Tür war, rief er ihm aber doch Halt zu: – »Eins nur will ich dir sagen. Es ist dir nicht alles eins; ich hab es bemerkt, wenn die Leute dich schimpfen; eine Zeit kann kommen, in welcher du froh wärst, gut zu stehen mit den Leuten, und gerne hören möchtest: In seiner Jugend war der Pavel ein Nichtsnutz, aber jetzt hält er sich ordentlich. Für den Fall merk dir, merk dir, Pavel«, wiederholte er nachdrücklich, und eine schwache Röte schimmerte durch das fahle Grau seiner Wangen: »Mach dich nicht zu deinem eigenen Verleumder. Das Schlechte, das die andern von dir aussagen, kann bezweifelt, kann vergessen werden; du kannst es niederleben. Das Schlechte, ja sogar das Widersinnige und Dumme, das du von dir selbst aussagst, das putzt sich nicht hinweg, das haftet an dir wie deine eigene Haut – das überlebt dich noch!«

Er erhob die Hände über den Kopf, huschte so planlos und unbeholfen im Zimmer umher wie ein aus dem Schlafe gescheuchter Nachtfalter und wimmerte und stöhnte: »Vergiß meinetwegen alles, was ich dir gesagt habe; aber den Rat vergiß du nicht, den geb ich dir aus meiner eigenen Erfahrung!«

Pavel betrachtete den Schullehrer nachdenklich; der alte Herr tat ihm leid und kam ihm zugleich unendlich töricht vor. Worüber kränkte er sich? Konnte es darüber sein, daß die Leute ihn einen Hexenmeister nannten?... Das wäre auch der Mühe wert!

Für sein Leben gern hätte er sich erkundigt, wußte aber nicht, wie die Frage stellen. Er nahm so lange keine Notiz von des Lehrers entlassenden Winken, bis dieser ihn heftig anließ: »Was willst du noch?« Dann gab er zur Antwort: »Wissen, was den Herrn Lehrer kränkt.«

Habrecht bog sich zurück, tat einen tiefen Atemzug und schloß die Augen. »Später, Pavel, später, jetzt würdest du mich nicht verstehen.«

Da platzte Pavel heraus: »Das wegen der Hexerei?«

Ein unwillkürlicher Aufschrei: »Ja, ja!« und der Lehrer packte ihn an den Schultern und schob ihn aus der Tür.

Also richtig! der Alte grämte sich über den Verdacht, in dem er im Dorfe stand. – Unbegreiflich kindisch erschien das dem Pavel; sein Gönner wurde von Stunde an ein Schwächling in seinen Augen, und er schlug dessen eindringlichste Warnung in den Wind. Ja, sie reizte ihn sogar, ihr zuwiderzuhandeln. Die Leute sollen ihn nur für schlechter halten, als er ist, er will's – nach Lob und Liebe geizen die Feiglinge; sich sagen zu dürfen: Ich bin besser, als irgendeiner weiß – das ist die herbe, die rechte Wonne für ein starkes Herz.

Den Brief der Mutter bemühte sich Pavel nachzubuchstabieren, und jetzt, wo er dessen Inhalt kannte, gelang es ihm so ziemlich. Vinska überraschte ihn bei der Beschäftigung, wollte wissen, was er las, und als er ihr eine Auskunft darüber verweigerte, suchte sie ihm das Blatt zu entreißen.

»Was?« zürnte sie, da er ihr wehrte, »du willst mir verbieten, daß ich mit dem Peter gehe, hast aber Geheimnisse vor mir? kriegst Briefe und versteckst sie?« Ihre hübschen Brauen zogen sich zusammen, um den Mund zuckte ein unbezwingliches Lächeln. »Meinst denn, daß ich nicht eifersüchtig bin?«

Sie scherzte, sie verhöhnte ihn, er wußte es und – war beseligt, daß sie so mit ihm scherzte. »Ja, just – eifersüchtig! Du wirst just eifersüchtig sein«, brummte er, und ein Himmel tat sich vor ihm auf bei dem Gedanken, wie es denn wäre, wenn aus dem Spiel, das sie jetzt mit ihm trieb, einmal Ernst werden sollte. Einmal! in der weiten unabsehbaren Zukunft, die noch vor ihm lag und welcher er, wenn auch sonst nichts, doch ein festes Vertrauen auf die eigene Kraft entgegentrug.

Die Vinska hatte eine Hand auf die schlanke Hüfte gestemmt und streckte die andere nach ihm aus: »Von wem ist der Brief, Pavlicek?« fragte sie schmeichelnd und schelmisch, »der Brief, den du an deinem Herzchen versteckst?«

»Von meiner Mutter«, antwortete er rasch und wandte sich ab.

Vinska tat einen Ausruf des Erstaunens: »Wenn's wahr ist! Ich hätt nicht geglaubt, daß die im Zuchthaus Briefe schreiben dürfen. Was könnten sie auch schreiben? – gute Lehren vielleicht, wie man's anstellen soll, um zu ihnen zu gelangen ins freie Quartier.«

Pavel nagte gequält an den Lippen.

»Wirf den Brief weg«, fuhr Vinska fort, »und sag niemandem, daß du ihn gekriegt hast; es soll nicht heißen, daß zu uns Briefe kommen aus dem Zuchthaus. Die Leute sagen uns ohnehin genug Übles nach.«

»Noch immer weniger, als ihr verdient!« rief Pavel heftig aus, und Vinska errötete und sagte verwirrt und sanft: »Ich hab dein Bestes im Sinn; ich hab gestern den ganzen Tag für dich genäht; ich hab dir ein ganz neues Hemd gemacht.«

»Ein Hemd – so?«

»Aber glaub mir, mit der Mutter sollst du nichts zu tun haben; glaub mir, sie hat den Galgen mehr verdient als dein Vater, und er hat gewiß recht gehabt, wie er immer ausgesagt hat vor Gericht: das Weib hat mich verführt... Er hat nichts von sich gewußt, er war ja immer besoffen; aber sie – oh, sie hat's hinter den Ohren gehabt!... und es war halt wie im Paradies mit dem Adam und der Eva.«

Sie sah ihn lauernd von der Seite an und begegnete in seinen Zügen dem Ausdruck einer außerordentlichen Überraschung.

»War denn der Adam besoffen?« fragte er mit ehrlicher Wißbegier.

Vinska faßte ihn an beiden Ohren, rüttelte ihn und lachte: »O wie dumm! nicht vom Adam, von deinem Vater ist die Rede, und daß deine Mutter ihn verleitet hat, den Geistlichen umzubringen.«

»Schweig!« rief Pavel, »du lügst.«

»Ich lüg nicht, ich sag, was ich glaube und was andere glauben.«

»Wer, wer glaubt das?«

Sie antwortete ausweichend, aber er packte ihre Arme mit seinen großen Händen, zog sie an sich und wiederholte: »Wer sagt das, wer glaubt das?« bis sie geängstigt und gefoltert hervorstieß: »Der Arnost.«

»Mir soll er's sagen, mir; ich schlag ihm die Zähn ein und schmeiß ihn in den Bach.«

»Dir wird er's nicht sagen, vor dir fürchtet er sich – laß mich los, ich fürcht mich auch; laß mich los, guter Pavel.«

»Aha, fürcht'st dich, fürcht dich nur!« sprach er triumphierend und – entwaffnet. Zum Spaß rang er noch ein wenig mit ihr und gab sie plötzlich frei. Reicher Lohn wurde ihm für seine Großmut zuteil: die Vinska sah ihn zärtlich an und lehnte einen Augenblick ihren Kopf an seine Schulter. Ein Freudenschauer durchrieselte ihn, aber er rührte sich nicht und bemühte sich, gleichgültig zu scheinen.

»Pavel«, begann Vinska nach einer Weile, »ich hätt eine Bitte, eine ganz kleine. Willst sie mir erfüllen? – Es ist leicht.«

Sein Gesicht verdüsterte sich: »Das sagst du immer, ich weiß schon. Was möcht'st du denn wieder?«

»Der alte Schloßpfau hat noch ein paar schöne Federn«, sagte sie, »rupf sie ihm aus und schenk sie mir.«

Sie bat in so kindlichem Ton, ihre Miene war so unschuldig und er völlig bezaubert. Er ließ sich's nicht merken, brummte etwas Unverständliches und schob sie sachte mit dem Ellbogen weg. Dann nahm er die Peitsche vom Herd und ging zur Schwemme, die Pferde zusammenzuholen, mit denen er auf der Hutweide übernachten sollte.

Die Hutweide lag in einer Niederung vor dem Dorfe, nicht weit vom Kirchhof, der ein längliches Viereck bildete und sich, von einer hohen weißgetünchten Mauer umgeben, ins Feld hineinstreckte. Es war eine Nacht, so lau wie im Sommer; in unbestrittenem Glanz leuchtete der Mond, und die von seinem Licht übergossene Wiese glich einem ruhigen Wasserspiegel. Still weideten die Pferde. Pavel hatte sich in seiner Wächterhütte ausgestreckt, die Arme auf den Boden, das Gesicht auf die Hände gestemmt, und beobachtete seine Schutzbefohlenen. Die Fuchsstute des Bürgermeisters, die weißmähnige, war früher sein Liebling gewesen; seitdem er aber den Sohn des Bürgermeisters haßte, haßte er auch dessen Fuchsstute. Sie kam, auf alte Freundschaft bauend, zutraulich daher, beschnupperte ihn und blies ihn an mit ihrem warmen Atem. Ein Fluch, ein derber Faustschlag auf die Nase war der Dank, den ihre Liebkosung ihr eintrug. Sie wich zurück, mehr verwundert als erschrocken, und Pavel drohte ihr nach. Er hätte alles von der Welt vertilgen mögen, was mit seinem Nebenbuhler in Zusammenhang stand. Das Versprechen der Vinska flößte ihm kein Vertrauen ein; es war viel zu rasch gegeben worden, viel zu sehr in der Weise, in welcher man ein ungestümes Kind beschwichtigt.

Sie will kein Geschrei, kein Aufsehen; sie tut ja seit einiger Zeit so ehrbar, hat ihr früheres übermütiges Wesen, ihre Gleichgültigkeit gegen die Meinung der Leute abgelegt. Die Angst und Hast, mit der sie ausgerufen hatte: »Es soll nicht heißen, daß zu uns Briefe kommen aus dem Zuchthaus«, klang dem Pavel noch im Ohr. Er meinte, das Blatt an seiner Brust brenne; er griff danach und zerknüllte es in der geballten Faust. Was brauchte sie ihm aber auch zu schreiben, die Mutter? Hatte sie noch nicht Schande genug über ihn gebracht? Sie stand zwischen ihm und allen andern Menschen. Zwischen ihn und die Vinska, die so viel bei ihm galt, sollte sie ihm nicht treten... In seinem tiefsten Innern glaubte, ja wußte er: seine Mutter hat das nicht getan, dessen man sie beschuldigt, und dennoch trieb ihn ein dunkler Instinkt, sich selbst zu überreden: Es kann wohl sein... Und aus dem schwankenden Zweifel wuchs ein fester Entschluß hervor: Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben. Ihren Brief zerriß er in Fetzen. Auf dem letzten, den er in der Hand behielt, waren noch die Worte zu lesen: »Deine Mutter die ärmste auf der Welt...« Das bist du, mußte er doch etwas wehmütig berührt zugestehen, das bist du, von jeher gewesen... Ihre große Gestalt tauchte vor ihm auf in ihrem Ernst, in ihrer Schweigsamkeit. Abends erliegend unter der Last der Arbeit, der Not, der Mißhandlung, am Morgen wieder rastlos am Werke. Er sah sich als Kind an ihrer Seite, von ihrem Beispiel angeeifert, schon fast so still und so vertraut mit der Mühsal wie sie. Er erinnerte sich mancher derben Zurechtweisung, die er durch seine Mutter erfahren, und keiner einzigen Äußerung ihrer Zärtlichkeit... vieler jedoch ihrer stummen Fürsorge, ganz besonders der alltäglich vorgenommenen ungleichen Teilung des Brotes. Ein großes Stück für jedes Kind, ein kleines für sie selbst...

Pavel begann die Fetzen des Briefes zusammenzulegen, legte sie aufeinander und betrachtete das Päckchen, ungewiß, was er damit anfangen sollte. Endlich trug er's zum Friedhof und begrub es dort zu den Füßen der Mauer, unter den herüberhängenden Zweigen einer Traueresche.

In seine Hütte zurückgekehrt, legte er sich hin und schlief ein und träumte von dem schönen Hemde, das Vinska für ihn genäht und das eine große Frau mit verhülltem Antlitz, in dunkle Sträflingsgewänder gekleidet, ihm streitig zu machen suchte. Das Bild dieser Frau verfolgte ihn fortan; und wenn er in mondhellen Nächten nur eine Weile unverwandt nach dem Friedhof blickte, ballte es sich zusammen aus Nebel und Dunst und glitt an der schimmernden Mauer vorbei. Pavel starrte die Erscheinung mit tiefem Grauen an und dachte: Meine Mutter ist vermutlich gestorben und »meldet« sich bei mir.

Der Vinska erzählte er von diesem Erlebnis nichts, hätte auch keine Gelegenheit dazu gehabt. Sie war unfreundlich mit ihm, guckte immer nach seinen Händen, wenn er heimkam, sagte spitz: »Schön Dank für die Federn!« – und ging ihm übrigens schmollend aus dem Wege. – Er sah wohl ein, das würde nicht anders werden, bevor er ihr den Willen getan, und so bequemte er sich zur Erfüllung ihres kindischen Wunsches, die ihm eine leichte Sache schien. Seit Miladas Abreise stand die Pforte des Schloßgartens wieder offen von früh bis abends, und der alte Pfau stelzte unzählige Male im Tag an ihr vorbei.

Er hatte in der Tat nur Reste seines sommerlichen Federschmucks übrigbehalten, drei Prachtexemplare an lächerlich langen, von Nachwuchs noch unbedeckten Kielen. Eines Tages lauerte Pavel ihm auf, und als er ihn kommen sah, schlich er ihm nach in den Garten. Längs eines schmalen Weges, den Bäume und Büsche gegen das Haus deckten, schritt der Vogel gemächlich hin und pickte aus purer Jagdlust hie und da ein Insekt vom Boden auf. Plötzlich mußte er, so leise Pavel auch auftrat, dessen Schritte vernommen haben; denn er blieb stehen, reckte mit einer raschen Wellenbewegung den Hals und wandte den Kopf seinem Nachfolger zu, wie fragend: Was willst du von mir? – Wirst gleich sehen, dachte der Bursche, und als Meister Pfau ein schnelleres Tempo einschlug, machte Pavel ein paar Sätze, glitt aus und fiel nieder, verlor aber die Geistesgegenwart nicht, sondern streckte die Hand aus und entriß mit festem, glücklichem Griff dem Vogel auf einmal seine letzte Zier. Der stieß ein rauhes Alarmgeschrei hervor, machte kehrt, schnellte halb fliegend, halb springend empor, und ehe der noch am Boden Liegende sich besann, saß ihm das zornige Tier im Nacken und hackte mit dem harten, scharfen Schnabel auf seinen Kopf, seine Schläfen los. Es tat weh, kam dem Pavel jedoch sehr komisch vor, daß ein Vogel sich in einen Kampf mit ihm einließ. Er lachte – wohl etwas krampfhaft – und machte eine heftige Anstrengung, das Tier abzuschütteln. Aber es krallte sich mit unheimlicher Stärke fester, spreizte die Flügel, hielt sich im Gleichgewicht, und immerfort kreischend, streckte es den kleinen Kopf weit vor, die Augen seines Feindes suchend und bedräuend...

Da wurde diesem angst... Mit beiden Händen griff er nach dem langen blauen Hals, dessen Gefieder sich unter seinen Fingern sträubte, und drehte ihn zusammen wie zu einem Knoten. Das Tier gab noch einen schrillen, verzweiflungsvollen Laut und glitt über Pavels Schulter zur Erde, wo es auf dem Rücken liegenblieb mit zusammengezogenen zuckenden Füßen. Ob tot, hatte der Sieger nicht mehr Zeit, sich zu überzeugen; denn er sah aus dem Schlosse Leute herbeikommen, raffte die Federn vom Grase auf und war wie der Blitz aus dem Garten. Draußen auf der Straße mäßigte er seine Schnelligkeit, um nicht durch sie die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erregen. Das Herz pochte ihm heftig, und er dachte an den Lärm, den es im Schlosse bei der Auffindung der zappelnden Pfauenbestie absetzen würde. An der Spitze der Schar, die auf deren Geschrei nach dem Kampfplatz geeilt war, meinte er die Frau Baronin erkannt zu haben.

Eine Weile ging Pavel unbehelligt seines Weges und hoffte schon, dem Verdacht und der Gefahr entronnen zu sein, als die Rufe: »Galgenstrick, schlechter Bub!« an sein Ohr schlugen und ihn eines anderen belehrten. Hinter ihm her waren, wie er sich durch einen raschen Blick überzeugte, der schmächtige rundrückige Gärtner und zwei alte Arbeiter: »Greif aus, elendes Krüppelvolk!« höhnte Pavel und schoß vorwärts im leichten wegverschlingenden Lauf.

Er hatte einen guten Vorsprung vor seinen Verfolgern, und als er zu rennen begann, wurde ein noch viel besserer daraus. An dem Aufsehen, das er erregte, lag ihm jetzt nichts mehr, sondern nur daran, seinen Raub in Sicherheit zu bringen. Glühend, mit funkelnden Augen stürmte er in die Hütte. Vinska stand allein im Flur und errötete vor Freude, als Pavel ihr die Federn hinreichte. Bei seinen hastig hervorgestoßenen Worten: »Versteck sie! versteck dich!« erschrak sie jedoch sehr und fragte: »Was gibt's mit ihnen? Ich mag sie gleich nicht, wenn's was mit ihnen gibt.« Er drang ihr das gestohlene Gut auf, schob sie in die Stube und trat selbst zum Eingang der Hütte zurück, wo er sich an den Türpfosten lehnte, die Arme kreuzte und trotzigen Mutes die Häscher erwartete.

Der Anführer derselben war so aufgeregt, daß er nur abgebrochen seine Befehle erteilen konnte: »Packt ihn! Packt den Hund! Ins Schloß mit ihm!« rief er seinen Begleitern zu, zweien preßhaften und friedfertigen Menschen, die einander ansahen und dann ihn und dann wieder einander. – Packen? war das ihre Sache?... Sie hielten sich für verdienstvolle Gärtnergehilfen, weil sie zum Rechen griffen und mit ihm auf den Wegen herumscharrten, sobald sie die Schloßfrau erblickten. Den Rest des Tages lagen sie im Gras, tranken Schnaps und rauchten zuweilen; meistens jedoch schliefen sie.

Dem Pavel wäre es nur ein Spiel und zugleich ein wahres Genügen gewesen, die Guardia anzurennen und zu Boden zu schlagen, aber um Vinskas willen und ihrer Angst vor einem Skandal verzichtete er auf diese Ergötzlichkeit und ließ sich ruhig beim Kragen nehmen, was die beiden Alten zaghaft und ohne innere Überzeugung taten. Indessen wuchs ihnen der Kamm bei der Widerstandslosigkeit, mit der Pavel sich in sein Schicksal ergab, und ein großer Stolz erwachte ihnen, als sie den wilden Buben, dem sie sonst von weitem auswichen, als Gefangenen durch das Dorf führten. Der Gärtner, der Zeter und Mordio schrie, bildete die Nachhut, und die Straßenjugend lief mit. »Was hat er getan?« fragten die Leute. Er soll etwas erwürgt haben... Was? weiß vorläufig niemand; aber das weiß man: Der kommt ins Zuchthaus wie die Mutter, der stirbt am Galgen wie der Vater. Fäuste erhoben sich drohend, Steine flogen und fehlten, aber Worte, schlimmer als Steine, trafen ihr Ziel. Pavel blickte keck umher, und das Bewußtsein unauslöschlichen Hasses gegen alle seine Nebenmenschen erquickte und stählte sein Herz.

Gelassen trat er in den Schloßhof und wurde sogleich ins Haus und in ein ebenerdiges Zimmer mit vergitterten Fenstern gebracht, dessen Tür man hinter ihm absperrte.

Es war eines der Gastzimmer, in dem Pavel sich befand, und seine Augen hatten, solange sie offenstanden, eine Pracht wie diejenige, die ihn hier umgab, nicht erblickt. Seidenzeug, grün schillernd wie Katzenaugen, hing an Fenstern und Türen in so reichen Falten, wie der neue Sonntagsrock Vinskas sie warf, und mit demselben Stoff waren große und kleine Bänke, die Lehnen hatten, überzogen. An den Wänden befanden sich Bilder, das heißt eingerahmte dunkelbraune Flecken, aus denen an verschiedenen Stellen ein weißes Gesicht hervorschimmerte, eine fahle Totenhand zu winken schien... Ein großer Schrank war da, dem Altar in der Kirche sehr ähnlich, und am Fensterpfeiler ein Spiegel, in dem Pavel sich sehen konnte in seiner ganzen lebensgroßen Zerlumptheit. Als er hineinblickte und dachte: So bin ich? gewahrte er über seinem Kopf ein seltsames Ding. Ein flacher eiserner Kübel schien's, aus dem goldene Arme herausragten und der mit einem äußerst dünnen Seilchen an der Decke befestigt war. Pavel sprang sogleich davon und betrachtete das böse Ding mißtrauisch aus der Entfernung. Es schien keinen anderen Zweck und auch keine andere Absicht zu haben, als auf die Leute, die so unvorsichtig waren, in sein Bereich zu treten, niederzustürzen und sie zu erschlagen.

Nach kurzer Zeit ließen Schritte auf dem Gang sich hören; die Tür wurde geöffnet, und die Baronin trat ein. Sie ging mühsam auf den Stock gestützt, war sehr gebeugt und blinzelte fortwährend. Fast auf den Fersen folgte ihr, tief bekümmert, die spärlichen Haare so zerzaust, als hätte er eben in ihnen gewühlt – der Schulmeister. Sein ungeschickt fahriges Benehmen fiel sogar dem schlechten Beobachter Pavel auf.

»Wohin belieben Euer Gnaden sich zu setzen?« fragte der Alte, schoß dienstfertig umher und rückte die Sessel auseinander, um der Frau Baronin den Überblick und somit die Wahl zu erleichtern.

»Lassen Sie's gut sein, Schullehrer«, sagte sie ärgerlich, nahm gerade unter dem Kronleuchter mit dem Rücken gegen die Fenster Platz, legte den Stock auf ihren Schoß und gab Pavel Befehl näher zu treten.

Er gehorchte. Der Lehrer jedoch stellte sich hinter den Sessel der gnädigen Frau, und über ihren Kopf hinweg bedrohte er abwechselnd den Delinquenten mit Blicken des Ingrimms oder suchte ihn durch Mienen, welche die tiefste Wehmut ausdrückten, zu erschüttern und zu rühren.

Die Baronin hielt die Hand wie einen Schirm an die Stirn und sprach, ihre rotgeränderten Augen zu Pavel erhebend: »Du bist groß geworden, ein großer Schlingel. Als ich dich zum letztenmal gesehen habe, warst du noch ein kleiner. Wie alt bist du?«

»Sechzehn Jahre«, erwiderte er zerstreut. Das eiserne Ding an der dünnen Schnur nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Im Geist sah er's herunterfallen und die Frau Baronin auf ihrem Richterstuhl zu einem flachen Kuchen zusammenpressen.

Diese nahm wieder das Wort: »Schau nicht in die Luft, schau mich an, wenn du mit mir redest... Sechzehn Jahre!... Vor drei Jahren hast du mir meine Kirschen gestohlen, heute erwürgst du mir meinen guten Pfau, der mir, das weiß Gott, lieber war als mancher Mensch.«

Der Lehrer erhob seine flehend gefalteten Hände und gab dem Burschen ein Zeichen, diese Gebärde nachzuahmen. Pavel ließ sich aber nicht dazu herbei.

»Warum hast du das getan?« fuhr die Baronin fort. »Antworte!«

Pavel schwieg, und der alten Frau schoß das Blut ins Gesicht. Erregten Tones wiederholte sie ihre Frage.

Der Junge schüttelte den Kopf; aus seinem dichten Haargestrüpp hervor glitt sein Blick über die Zürnende, und ein leises Lächeln kräuselte seine Lippen.

Da wurde die Greisin vom Zorn übermannt.

»Frecher Bub!« rief sie, griff nach ihrem Stock und gab ihm damit einen Streich auf jede Schulter.

Nun ja, dachte Pavel, wieder Prügel, immer Prügel... und er richtete einen stillen Stoßseufzer an das eiserne Ding: Wenn du doch herunterfallen, wenn du ihr doch auf den Kopf fallen möchtest!

Habrecht machte hinter dem Rücken der Baronin ein Kompliment, in dem sich Anerkennung aussprach: »Euer Gnaden haben dem Holub Pavel eine spürbare Zurechtweisung gegeben«, bemerkte er. »Das war gut; eine sehr gute Vorbereitung zum Verhör, das ich jetzt mit Euer Gnaden Erlaubnis vornehmen will.«

Der alten Frau war nach ihrer Gewalttat nicht wohl zumute. Sie hatte ihren Zorn auf einmal ausgegeben und lag nun im Bann eines viel unleidigeren Gefühls: einer grämlichen, sentimentalen Entrüstung. »Was ist da zu verhören?« sprach sie; »der schlimme Bub hat mir meinen Pfau erwürgt und will nicht sagen warum, weil er sonst sagen müßte: aus Bosheit.«

»So ist es! O gewiß!« bestätigte der Lehrer. »Dem armen Pfau fehlten, als man ihn tot auffand, seine letzten Schwanzfedern, die hat der schlechte Bub ihm gewiß ausgerupft – aus Bosheit!«

»Das ist nun wieder albern, Schulmeister!« fiel die Baronin ärgerlich ein. »Wenn der Junge – wie schon viele andere dumme Jungen vor ihm – meinem armen Pfau nur Federn ausgerupft hätte, wäre das noch kein Zeichen von Bosheit – Dummheit wäre es gewesen und Dieberei.«

»O wie wahr!« entgegnete Habrecht, »- Dummheit und Dieberei. So ist es und nicht anders, Euer Gnaden.«

»Ist es so? Wer weiß es?«

»Ganz recht, wer... außer – Euer Gnaden, die sogleich Licht in die Sache gebracht haben. Federn ausrupfen? Ei, ei, ei! Um Federn war's dem Buben zu tun; dadurch hat er den Pfau gereizt und einen Kampf hervorgerufen, in dem das gute Tier gefallen ist.«

Wie der Rabe Odins an dessen Ohr neigte sich Habrecht an das Ohr der Baronin und flüsterte: »Nicht ohne an dem Feind Spuren seiner Tapferkeit zu hinterlassen. Geruhen sich zu überzeugen, die Stirn des Buben ist zerhackt und voll Blut.«

»So? Ja – mir scheint so...«

»Sprich, Holub Pavel!« rief der Lehrer, sich wieder aufrichtend, »entschuldige dich. Um die Federn war's dir dummem Jungen zu tun, eine böse Absicht hast du nicht gehabt.«

»Sprich!« befahl auch die Baronin. »Hat dich jemand zum Raub der Federn angestiftet? Denn im Grund«, setzte sie nach kurzer Überlegung hinzu, »was solltest du mit ihnen?«

»Freilich, was? ein solcher Bettler mit Pfauenfedern...«

Jedesmal, wenn das Wort »Federn« ausgesprochen wurde, überrieselte es den Burschen; als ihm aber der Lehrer nun mit der bestimmten Frage zu Leibe ging: »Wer hat dich angestiftet? war's nicht die saubere Vinska?«, da überkam ihn eine Todesangst vor den schlimmen Folgen, welche dieser Verdacht für die Tochter des Hirten haben könnte, und fest entschlossen, ihn abzuwenden, sprach er mit dumpfer Stimme: »Es hat mich niemand angestiftet; ich hab's aus Bosheit getan.«

Die Baronin stieß ihren Stock heftig gegen den Boden und erhob sich: »Da haben Sie's«, sprach sie zum Schullehrer, »da hören Sie ihn... den geben Sie auf, der ist verloren.«

»Erbarmen sich Euer Gnaden!« flehte der Alte. »Glauben ihm nicht. Der unsinnige Tropf lügt sich zum Schelm; der Tropf weiß nicht, was er tut, Euer Gnaden!«

Sie winkte ihm zu schweigen und trat dicht an Pavel heran. Ihre müden Augen maßen den Wildling mit traurigem Ausdruck: »Und das ist der Bruder meines lieben Kindes«, sagte sie tief aufseufzend. »Sooft das Kind an mich schreibt und sooft ich es sehe, fragt es: ›Wie geht's meinem Pavel? Wann wird mein Pavel zu mir kommen?‹... Es weiß, daß ich mit ihm nichts zu tun haben will, ich habe es erklärt und bleibe dabei, aber es fragt doch, das Kind...«

Pavel war zusammengefahren, er riß die Augen weit auf, seine Nasenflügel bebten: »Welches Kind? – die Milada?«

»Wann wird mein Pavel zu mir kommen?« wiederholte die Baronin erregt und gerührt und mit den Tränen kämpfend. »Aber kann ich dich zu ihr schicken, Dieb, schlechter Bub, schlechtester im Dorfe!... kann ich denn?«

»Schicken Sie mich«, sagte Pavel leise.

Der Lehrer zog die Schultern in die Höhe, schob die Kinnlade vor und machte ihm die eindringlichsten Zeichen: »Haben Euer Gnaden die Gnade, ich bitte untertänigst, Euer Gnaden! So spricht man.«

Pavel aber zermarterte seine verschränkten Finger; seine Brust hob sich keuchend; mit einem trockenen Schluchzen sprach er noch einmal: »Schicken Sie mich.«

Die Baronin wandte sich dem Lehrer zu: »Es scheint ihm Eindruck zu machen.«

»Es macht ihm einen außerordentlichen Eindruck. Euer Gnaden haben das Rechte getroffen mit diesem weisen Beschluß...«

»Beschluß? Von einem Beschluß ist noch gar nicht die Rede.«

Den Einwand überhörend, fuhr der Lehrer fort: »Das unschuldige Kind wird besser als irgendwer auf sein Gemüt zu wirken verstehen, das Kind...«

»Das Kind«, fiel die Baronin ein, »ist der Stolz und der Liebling des Klosters.«

»Sehen Euer Gnaden!... Und was könnte für den verwahrlosten Jungen heilsamer und aneifernder sein als der Anblick seiner wohlgeratenen Schwester, als ihr Beispiel, ihre Ermahnungen?«

»Vielleicht«, entgegnete die alte Dame nachdenklich. »Und so wollen wir es denn in Gottes Namen versuchen... Ein letztes Mittel. Schlägt das fehl, dann – mein Wort darauf: bei seiner nächsten Übeltat kommt er nicht mehr vor mein – sondern vor das Bezirksgericht.«

»Hörst du's?« rief der Lehrer, und Pavel murmelte ein ungerechtfertigtes »Ja«. In Wirklichkeit wußte er nicht, was und ob überhaupt gesprochen worden, seitdem man ihm Hoffnung gemacht hatte, daß er seine Milada wiedersehen solle. Das unerreichbare Ziel seiner jahrelangen Sehnsucht stand plötzlich nahe vor ihm; sein heißester, in tausend Schmerzen aufgegebener Wunsch war ihm auf das unerwartetste erfüllt. Das Herz hüpfte ihm im Leibe; ein Jauchzen, das er nicht unterdrücken konnte, drang aus seiner Kehle; er wandte sich auf den Fersen: »Und jetzt geh ich zur Milada!« sagte er.

»Halt!« rief die Baronin, »bist närrisch? So ohne weiteres geht man nicht zur Milada. Jetzt trollst du dich nach Hause, und am Samstag kommst du ins Schloß und holst einen Brief für die Frau Oberin ab. Den wirst du ins Kloster tragen und bei der Gelegenheit vielleicht deine Schwester zu sehen bekommen.«

»Gewiß! ich werde sie gewiß zu sehen bekommen – wenn ich nur einmal dort bin!« sprach Pavel und schürzte mit einer unwillkürlichen Bewegung die Ärmel auf.

»Nicht gar zuviel Zuversicht«, versetzte die Baronin. Sie war müde geworden und schickte sich an, ihren früheren Platz wieder einzunehmen. Da sprang Pavel auf sie zu, schob sie hastig zur Seite und den Lehnsessel aus dem Bereich des Kronleuchters hinaus: »So«, rief er, »jetzt setzen Sie sich.«

Die Greisin war nahe daran gewesen, umzusinken, als sie statt des Stützpunktes, den sie suchte, einen Stoß erhielt. Mit einem Schrei der Angst klammerte sie sich an den in tiefster Ehrfurcht dargereichten Arm des Lehrers, der die gnädige Frau zu ihrem Sitz geleitete und dann bebend vor Unwillen die Faust gegen Pavel erhob: »Was tust? was fällt dir ein – Spitzbube?«

Pavel deutete ruhig nach der Schnur des Lüsters: »Wenn das Strickerl reißt, ist sie ja tot«, sprach er.

»Esel! Esel! – fort! hinaus!« rief Habrecht, und der Junge gehorchte, ohne mit Abschiednehmen Zeit zu verlieren.

Die Baronin beruhigte sich allmählich und sagte: »Er ist blitzdumm, aber er hat wenigstens eine gute Absicht gehabt.«

»Das weiß Gott«, rief der Lehrer, »- wenn Euer Gnaden nur nicht so erschrocken wären!«

»Ach was! Daran liegt nichts.« Sie zog das Taschentuch und drückte es an ihre Stirn. »Viel schlimmer ist, viel schlimmer, daß ich einmal wieder inkonsequent gewesen bin... Wie oft habe ich mir vorgenommen: Es bleibt dabei, meine Milada darf ihren Bruder nicht mehr sehen – und jetzt schicke ich ihn selbst zu ihr!... Keine Willenskraft mehr, keine Energie – der geringste Anlaß, und – mein festester Vorsatz ist wie weggeblasen.«

»Kommt vom Alter, Euer Gnaden«, fiel Habrecht in liebenswürdig entschuldigendem Tone ein – »da können Euer Gnaden nichts dafür... Der Mensch ändert sich. Bedenken nur, Euer Gnaden! auch die Zähne, mit denen man in der Jugend die härtesten Nüsse knackt, beißt man sich im Alter an einer Brotrinde aus.«

»Ein unappetitlicher Vergleich«, erwiderte die Baronin; »verschonen Sie mich, Schullehrer, mit so unappetitlichen Vergleichen.«


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