George du Maurier
Trilby
George du Maurier

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Sechster Teil.

»Vraiment, la reine auprès d'elle était laide
        Quand, vers le soir,
Elle passait sur le pont de Tolède
        En corset noir!
Un chapelet du temps de Charlemagne
        Ornait son cou . . . . .
Le vent qui souffle à travers la montagne
        Me rendra fou!
 
»Dansez, chantez villageois! la nuit tombe . . .
        Sabine, un jour,
A tout donné – sa beauté de colombe,
        Et son amour –
Pour un anneau du Comte de Saldagne,
        Pour un bijou . . .
Le vent qui souffle à travers la montagne
        M'a rendu fou!«
       

Eines Tages finden wir unsere ›trois mousquetaires‹ des Pinsels wieder zusammen in Paris.

Sagen wir: ›cinq ans après‹, nach dem Vorbild des guten Dumas.

Taffy stellt Porthos und Athos in einer Person vor, denn er ist groß, gutmütig und stark genug, ›pour assommer un homme d'un coup de poing‹, aber nicht zu dick, zu 276 engbongpoäng, wie der Laird sagen würde. Sein Auftreten verrät etwas Würdevolles, etwas aristokratisch Romantisches; man möchte wetten, daß er eine Herzensgeschichte hinter sich hat.

Der Laird ist natürlich d'Artagnan, denn er verkauft Bilder zu guten Preisen und ist schon Mitglied der königlichen Kunstakademie.

Der kleine Billy aber, der Freund edler Herzoginnen, wird, fürchte ich, Aramis vorstellen müssen. Näher möchte ich übrigens auf den Vergleich nicht eingehen, denn ich habe kein so weites Gewissen wie der gute Dumas, wo es sich um geschichtliche Thatsachen und Persönlichkeiten handelt. Und wer wird wohl leugnen wollen, daß Athos, Porthos und Co. längst historisch geworden sind?

Aber auch Taffy, der Laird und der kleine Billy sind – tout ce qu'il y a de plus historiques!

Die drei Freunde, geschniegelt und gebügelt, in schwarzen Röcken, steifgestärkten Kragen, mit schönen Krawatten und Vorstecknadeln, hohen Hüten, tadellosen Beinkleidern, Stiefeln und Gamaschen, sitzen an einem kleinen runden Tische beisammen. Sie verzehren ihr Frühstück, in dem Hofe einer ungeheuern Karawanserei, deren hohes Glasdach den Sonnenschein einläßt, aber Regen – und Luft – ausschließt.

Auf der obersten Stufe der breiten Marmortreppe steht ein stattlicher alter Mann in Kniehosen, schwarzem 277 Sammetrock und schwarzseidenen Strümpfen, und blickt mit Herrschermiene auf die Umgebung herab. Er ist ebenso groß wie Taffy, trägt eine schwere Goldkette um Hals und Brust und begrüßt würdevoll die Gäste, welche vom Boulevard her durch eine Riesenpforte angefahren kommen. Wollen sie weiter ziehen, so entläßt er sie durch eine kleine Thür, die nach einer Seitenstraße führt.

»Bon voyage, messieurs et dames!«

An zahllosen anderen kleinen Tischen frühstücken ebenfalls Reisende aus allen Nationen, plaudern und schauen sich um. Es geht sehr heiter, geschäftig und gesellig zu an diesem kostspieligsten aller Pariser Versammlungsorte, wo das reiche Europa und Amerika eine Atmosphäre von Gold und Banknoten verbreitet; auch herrscht eine babylonische Sprachverwirrung.

Schon hat Taffy ein halbes Dutzend alter Kriegskameraden aus der Krim erkannt, und drei wackere Schotten haben dem Laird verstohlen zugenickt. Der kleine Billy springt fortwährend vom Frühstück auf, um bald nach diesem, bald nach jenem Tisch zu eilen, wo ihm das unwiderstehliche Lächeln einer überraschten Landsmännin winkt: »Was, Sie hier? Das ist ja reizend!«

Wer die Marmorstufen hinaufsteigt, gelangt auf eine breite Terrasse, wo alle Plätze besetzt sind und die Gäste sich drängen. Hohe geschnitzte und vergoldete Glasthüren führen zu den prachtvoll ausgestatteten Lese-, Gesellschafts- 278 und Speisesälen, oder nach den Post- und Telegraphenbureaus und den Ankleidezimmern des Hotels. Rings umher stehen ungeheure, viereckige Kübel mit immergrünen tropischen Gewächsen, deren schöne Namen mir entfallen sind. Überall, wohin man blickt, sieht man Anschlagtafeln, welche verkünden, was für Theatervorstellungen oder Konzerte man an jenem Tage oder Abend zu hören bekommen kann. Auf der größten dieser Tafeln, die am phantastischsten ausgeschmückt ist, steht zu lesen, daß Madame Svengali punkt neun Uhr zum erstenmal in Paris auftreten wird, und zwar im Zirkus der Baschi-Bozuks in der Rue St. Honoré.

Unsere Freunde waren zwar erst am vergangenen Abend angekommen, hatten aber ihre Plätze schon vor einer Woche bestellt. Jetzt waren keine mehr zu haben, weder für Geld noch gute Worte. Viele von den Anwesenden mochten nur nach Paris gekommen sein, um die Svengali zu hören, berühmte Musiker aus England und aus der ganzen Welt – aber sie mußten sich einstweilen in Geduld fassen.

Der Ruhm der Sängerin glich einem ins Rollen gekommenen Schneeball. Seit zwei Jahren rollte er in Europa herum, überall wo Schnee in Gestalt von Goldstücken zu finden war, und er wuchs zusehends in seinem Siegeslauf.

Nach beendetem Frühstück schlenderten Taffy, der Laird 279 und der kleine Billy Arm in Arm, der große Taffy in der Mitte (comme autrefois) über den sonnenbeschienenen Boulevard. Sie gingen die Rue de la Paix auf der Schattenseite hinunter, quer über den Vendômeplatz, durch die Rue Castiglione und die Rue de Rivoli. Ihre erhöhte Stimmung wuchs, ihr Schritt wurde immer leichter und sie atmeten mit wahrer Lust.

Vor dem wohlbekannten Eckladen des Konditors rauchten sie ihre Zigarren fertig und besahen die schönen Schaufenster. Dann traten sie ein und ließen sich Kuchen geben: Taffy aß eine Madeleine, der Laird eine Baba und der kleine Billy einen Savarin; leider tranken sie noch jeder ein Gläschen rhum de la Jamaïque hinterdrein.

Nun führte sie ihr Weg weiter durch den Tuileriengarten und am Quai entlang nach ihrem geliebten Pont des Arts. Dort blieben sie stehen und sahen den Fluß hinunter und hinauf – comme autrefois! Unter allen Umständen und zu jeder Zeit ist die Aussicht entzückend; aber an einem schönen Oktobermorgen, wenn man noch jung ist, sie fünf Jahre lang nicht gesehen hat, und alle Töne und Düfte auf Schritt und Tritt irgend eine geheime süße Erinnerung wachrufen, ja dann – –!

Doch der Leser braucht nicht bange zu werden. Ich will gar keinen Versuch machen, den Eindruck zu schildern; wüßte ich doch weder wo ich anfangen, noch wo ich aufhören sollte.

280 Freilich bemerkten sie auch mancherlei Veränderungen; viel Liebes und Bekanntes war nicht mehr da; sogar die gute alte Morgue war verschwunden. Vom gardien de la paix, den sie darum befragten, erfuhren sie, daß eine neue Morgue –»une bien jolie Morgue, ma foi!« – viel geräumiger und bequemer als die alte, hinter Notre Dame, ein wenig nach rechts, gebaut worden sei.

»Messieurs devraient voir ça - on y est très bien!«

Notre Dame selbst stand noch am alten Platze, La Sainte-Chapelle ebenfalls und Le Pont Neuf mit der Reiterstatue von Henri IV. C'est toujours ça!

Sie konnten sich kaum satt sehen, und verglichen das alles im Geist mit dem guten alten Themseufer, das sie eben verlassen hatten, mit London, der Waterloo-Brücke und der Paulskirche – aber Heimweh hatten sie gar nicht und wünschten sich nicht über den Kanal zurück.

Als sie den Fluß hinunter nach Westen sahen, fanden sie alles fast unverändert.

Nach links hin erstreckten sich die Terrassen und Gärten des alten Hotels de la Rochemartel; ihre hohen Bäume überragten die benachbarten Häuser, beschatteten den Quai, und ließen, wie schon seit hundert Jahren, die gelben Herbstblätter leise auf das Straßenpflaster herabrieseln. Hier war aber nur die Rückseite des Hotels; das vordere Eingangsthor mit dem steinernen Schnitzwerk lag in der Rue de Lille.

»Ich möchte wohl wissen, ob l'Zouzou schon sein 281 Herzogtum geerbt hat,« sagte Taffy. Amaury de Brissac de Roncesvaulx de la Rochemartel-Boisségur, wie großartig und erhaben das klingt. Fühlt man sich nicht schon bei dem bloßen Klang dieser herrlichen, französischen Adelsnamen in das zwölfte Jahrhundert zurückversetzt? Sie sind viel romantischer und poetischer, als die englischen. Nicht einmal Howard von Norfolk läßt sich damit vergleichen!«

So schwärmte Taffy, der Realist, der Modernste der Modernen. Er hatte die kahle Nüchternheit der Neuzeit herzlich satt bekommen und schmachtete nach allem, was alt, verfallen, vergessen oder übel berüchtigt war, um es getreu nach der Natur zu malen.

Sie beschlossen, ihre Karten bei Zouzou abzugeben und ihn zu Mittag einzuladen, falls er noch nicht Herzog geworden war, auch Dodor sollte dabei sein, wenn sie ihn ausfindig machen konnten.

Nun ging es weiter, den Quai entlang, die Rue de Seine hinauf und durch allerlei verborgene Nebengäßchen, an die sie sich noch erinnerten, nach dem alten Atelier auf dem Platz St. Anatole des Arts.

Dort sah alles ganz anders aus. Auf der Nordseite ließ Baron Hausmann – der seinen Namen mit Recht trug – gerade am ganzen Platz entlang einen neuen Boulevard anlegen. Aber das liebe alte Haus war verschont geblieben. Als sie zu dem großen Atelierfenster hinaufsahen, das ihnen vorhanglos, öde und schwarz entgegenstarrte, 282 bemerkten sie einen weißen Zettel mit den Worten: A louer. Un atelier et une chambre à coucher.

Sie traten durch die kleine Pforte in der großen Thorfahrt und sahen im Hof Madame Vinard, die Arme in die Seiten gestemmt, auf der Treppenstufe vor ihrer Wohnung stehen. Ihr Mann sägte Brennholz, wie gewöhnlich um diese Jahreszeit, und sie hielt ihn mit freundlichen Worten zur Arbeit an, indem sie ihn ermahnte, er solle sich doch nicht so hilflos anstellen, als ob er selber ein Holzklotz wäre. Sie erkannte die Freunde auf den ersten Blick, stürzte ihnen entgegen und hob die Arme gen Himmel. Ah, mon Dien! les trois Angliches! rief sie und begrüßte sie aufs herzlichste. Auch Monsieur Vinard empfing sie mit der größten Freude.

»Ah! mais quel bonheur de vous revoir! Et comme vous avez bonne mine tous. Et Monsieur Kleinerbili donc! il a grandi ect. ect. - Mais vous allez boire la goutte avant tout - vite, Vinard! Le ratafia de cassis, que Monsieur Durien nous a envoyé la semaine dernière!«

Sie wurden ins Zimmer genötigt, wo sie Platz nehmen und sich bewirten lassen mußten wie verlorene Söhne. Eine frisch entkorkte Flasche Johannisbeerschnaps diente statt des gemästeten Kalbes. Die Empfangsfeierlichkeit machte ordentliches Aufsehen im ganzen Quartier:

Le Retour des trois Anglichescinq ans après!

Dabei erstattete Madame Vinard Bericht über alles, 283 was sich inzwischen ereignet hatte. Über Bouchardy, Papelard, Jules Guinot, der jetzt im Kriegsministerium war; Barizel hatte die Kunst an den Nagel gehängt und war in seines Vaters Geschäft getreten (Regenschirme); Durien war seit einem halben Jahr verheiratet, hatte ein prachtvolles Atelier in der Rue Taitbout und verdiente Geld wie Heu. Was ihre eigene Familie betraf, so war Aglaë mit dem Sohn des Kohlenhändlers im Eckhaus der Rue de la Canicule verlobt – »un bon mariage; bien solide.« Niniche bildete sich am Konservatorium im Klavierspiel aus und hatte die silberne Medaille erhalten; Isidore war leider auf Abwege geraten – »perdu par les femmes! un si joli garçon, vous concevez! ça ne lui a pas porté bonheur, par exemple!« Und doch war sie stolz darauf und meinte, sein Vater hätte nicht das Zeug dazu gehabt.

»A dixhuit ans, pensez donc!

»Und der gute Monsieur Carrel; ach, der ist tot! – Ah, messieurs savaient ça! Ja, er ist leider in Dieppe, seiner Vaterstadt, gestorben, letzten Winter, an einem Magenleiden – que voulez-vous! Er konnte nie viel vertragen. Ach, der wunderschöne Leichenzug! Fünftausend Leidtragende, trotz dem Regen – es strömte nur so vom Himmel. Monsieur le Maire und sein Adjunkt gingen gleich hinter der Bahre, dann kam die Gendarmerie, die Douaniers und ein Bataillon der douzième chasseurs à pied mit Musik, und die Feuerwehr en grande tenue, in ihren schönen 284 blanken Helmen. Die ganze Stadt gab ihm das Grabgeleit, es war niemand mehr übrig, der den Zug sehen konnte; q'c'était beau! Mon Dieu q'c'était beau! c'que j'ai pleuré d'voir ça! n'est-ce pas, Vinard?«

»Dame, oui, ma biche! j'crois bien! Es war als wollte man Monsieur le Maire in eigener Person zu Grabe tragen.«

»Ah ça! voyons, Vinard! Ich glaube wahrhaftig, du willst den Maire von Dieppe mit einem Maler wie Monsieur Carrel vergleichen!«

»Gewiß nicht, ma biche! Aber M. Carrel war doch in seiner Art auch ein großer Mann. Übrigens war ich nicht dabei, und du auch nicht, so viel ich weiß.«

»Mon Dien, comme il est idiot, ce Vinard – man könnte Wände mit ihm einrennen. Wer weiß, ob man dich nicht noch einmal selbst zum Schultheißen macht – dumm genug wärst du dazu!«

Nun erhob sich ein heftiger Wortstreit zwischen Mann und Frau über die beiderseitigen Verdienste eines Bürgermeisters und eines berühmten Malers. Sobald Madame Vinard ihren Gatten zum Schweigen gebracht hatte, was schnell geschehen war, wandte sie sich wieder zu den trois Angliches und teilte ihnen mit, sie habe einen Laden mit bric-à-brac eröffnet, »vous verrez ça!«

Ja, das Atelier stand seit drei Monaten leer. Ob sie es sehen wollten? Hier wären die Schlüssel. Natürlich würden sie lieber allein hinaufgehen; »Je comprends ça! et vous verrez ce que vous verrez!« Dann aber sollten sie noch einen Augenblick hereinkommen, einen Schluck trinken und ihr bric-à-brac ansehen.

So stiegen sie denn alle drei zusammen die Treppe hinauf und betraten den alten Raum wieder, in dem sie so fröhliche Tage verlebt hatten, und wo einer von ihnen eine Zeitlang so unglücklich gewesen war.

Wie fanden sie hier alles verändert!

Leer, abgeschabt und ungefegt, verfallen, beraubt, entweiht, lag ihr früheres Künstlerheim da; ein muffiger Geruch verriet den Mangel an Lüftung; das Fenster starrte vor Schmutz, so daß man kaum die neuen Häuser gegenüber erkennen konnte; und wie erst der Fußboden aussah – es war eine Schande!

Allerlei Karikaturen in Kohle und weißer Kreide bedeckten die Wände; es waren zum Teil sehr rohe und gemeine Zeichnungen, mit witzigen Anspielungen, welche die trois Angliches nicht verstanden.

Unter einer Glastafel, die durch einen eichenen Rahmen an der Wand festgehalten wurde, entdeckten sie mit großer Rührung die alte Kreideskizze, welche der kleine Billy damals von Trilbys linkem Fuß gemacht hatte. Sie sah so frisch aus, als sei sie erst gestern fertig geworden; »Souvenir de la grande Trilby par W. B. (Kleinerbili)« lautete die Überschrift und darunter standen, auf 286 Pergament geschrieben und auf das Glas geklebt, die folgenden Verse:

   »Pauvre Trilby - la belle et bonne et chère!
   Je suis son pied. Devine qui voudra
   Quel tendre ami, la chérissant naguère,
   Encadra d'elle (et d'un amour sincère)
Ce souvenir charmant qu'un caprice inspira -
             Qu'un souffle emportera!

   »J'étais jumeau: qu'est devenu mon frère?
   Hélàs! Hélàs! l'Amour nous égara.
   L'Éternité nous unira, j'espère;
   Et nous ferons comme autrefois la paire
Au fond d'un lit bien chaste où nul ne troublera
             Trilby - qui dormira.

   »Ô tendre ami, sans nous qu'allezvous faire?
   La porte est close où Trilby demeura.
   Le Paradis est loin . . . et sur la terre
   (Qui nous fut douce et lui sera légère)
Pour trouver nos pareils, si bien qu'on cherchera -
             Beau chercher l'on aura!«

Taffy wurde es zu enge in der männlichen Brust und er mußte mehrmals tief Atem holen, während er diese eigenartigen französischen Knittelverse las, (denn so nannte er das rührende kleine Reimgedicht auf ère und ra. Die zärtlichsten Regungen, die süßesten Erinnerungen durchschauerten ihn. »Du liebe, liebe Trilby!« dachte er bei sich. »Ach, hättest du mir doch dein Herz geschenkt; für nichts in der Welt würde ich dich aufgegeben haben. Wir beide hätten auf immer vereinigt sein sollen!«

287 Und dies war Taffys ›Herzensgeschichte‹, wie sich der Leser wohl längst gedacht haben wird.

Der Laird war gleichfalls tief gerührt und konnte nicht sprechen. Ob er Trilby auch geliebt, oder überhaupt schon einmal geliebt hatte, wußte er nicht; aber er dachte an Trilbys Güte und Selbstlosigkeit, an ihren Frohsinn, ihre unschuldigen Küsse und Liebkosungen, ihre drolligen Scherze. Hatte nicht ihr sonniges Wesen und der Wohllaut ihrer Stimme jeden Raum erfüllt und verwandelt, sobald sie nur zur Thür hereintrat? Wahrlich – ihr, der armen Heimatlosen, der cancan-tanzenden Grisette, der blanchisseuse de fin, und weiß der Himmel was sie sonst noch gewesen – kam kein anderes weibliches Wesen gleich, das er je gekannt hatte.

»Eine verfluchte Geschichte!« murmelte er vor sich hin, »warum habe ich sie nur nicht selbst geheiratet!«

Der kleine Billy war ganz stumm. Bei dem Gedanken, daß er ein solches Erinnerungszeichen, etwas ihn persönlich so nahe Berührendes, mit trockenen Augen und ruhigem Pulsschlag betrachten könne, fühlte er sich unglücklicher als jemals in den fünf langen Jahren. Mit kaltem Blut und ohne Leidenschaft wünschte er sich wohl zum hunderttausendstenmale tot und begraben zu sein.

Verschiedene Abgüsse von Trilbys Füßen und Photographien von ihr selbst, besaßen sie alle drei, aber nichts hätte ihr Andenken so lebhaft und unmittelbar zurückrufen 288 können, wie dieses kleine Meisterwerk von echter Künstlerhand. Es war – wie der Laird meinte – die verkörperte Trilby, und müßte durchaus erhalten bleiben.

Schweigend brachten sie Madame Vinard die Schlüssel wieder.

»Vous avez vu - n'est-ce pas, messieurs?« sagte sie, »le pied de Trilby! c'est bien gentil. C'est Monsieur Durien qui a fait mettre le verre quand vous êtes partis; et Monsieur Guinot qui a composé l'épitaphe. Pauvre Trilby! qu'est-ce qu'elle est devenue! comme elle était bonne fille, hein? et si belle! et comme elle était vive, elle était vive, elle était vive! Et comme elle vous aimait tous bien - et surtout Monsieur Kleinerbili - n'est-ce pas?«

Dann bestand sie darauf, daß jeder von ihnen noch ein Gläschen von Duriens ratafia de cassis trinken müsse und führte sie über den Hof, in ihre Sammlung von bric-à-brac. Sie hatte klein angefangen, wollte aber das Geschäft nach und nach vergrößern.

»Voyez cette pendule! ans der Zeit von Louis onze, der sie Madame de Pompadour (!) geschenkt hat. Ich habe sie auf der Auktion in –«

»Combiäng?« fragte der Laird.

»C'est cent cinquante francs, Monsieur - c'est bien bon marché - une véritable occasion, et -«

»Je prong!« sagte der Laird, was so viel heißen sollte als: »ich kaufe die Uhr«.

289 Dann zeigte sie ihnen ein schönes Kleid von Brokat, das man ihr für billigen Preis überlassen hatte, bei –

»Combiâng?« fragte der Laird.

»Ah ça, c'est trois cents francs, monsieur. Mais -«

»Je prong,« sagte der Laird.

»Et voici les souliers qui vont avec, et que -«

»Je pr -«

Aber hier nahm Taffy den Freund beim Arm und zog ihn mit Gewalt aus der Höhle dieser allzu verführerischen Sirene.

Nachdem der Laird noch gesagt hatte, wohin man ihm die gekauften Sachen schicken solle, trennten sie sich unter vielen liebevollen Abschiedsworten von Monsieur et Madame Vinard.

Der Laird kam jedoch noch einmal zurückgelaufen, um Madame eilig zuzuflüstern: »Oh - er - le play de Trilby - sur le mur, vous savvy - avec le verre et tout le reste - coupy le mur - compreny? . . . Combiäng?«

»Ah, monsieur!« sagte Madame Vinard, »c'est un peu difficile, vous savez - couper un mur comme ça! On parlera au propriétaire si vous voulez, et ça pourrait peut-être s'arranger, si c'est en bois! seulement il faut -«

»Je prong!« rief der Laird und winkte ihr rasch noch ein Lebewohl zu.

Als sie nun die Rue Vieille des Mauvais Ladres hinaufgingen, gewahrten sie, daß die hohe Mauer niedergerissen war – gerade an der Biegung der Straße, wo Trilby sich zum letztenmal nach dem Laird umgewandt und 290 ihm eine Kußhand zugeworfen hatte. Man konnte jetzt in einen altmodischen und sehr vernachlässigten Garten hineinsehen. Schwarze Flechten und Pilze bedeckten die Rinde der hohen Bäume; feuchte, moosbewachsene Wege verloren sich unter den Haufen brauner und gelber Blätter, die sich mit Dung und Moder dort seit langen Jahren angesammelt hatten. In der Mitte lag ein versengter Rasenplatz mit eingefallenen Lauben, steinernen Bänken und verwitterten Faunen und Dryaden ohne Nasen, Arme und Ohren; und ganz im Hintergrund stand ein noch bewohntes aber sehr baufälliges Häuschen mit elenden Läden und zerbrochenen Fensterscheiben, die mit braunem Papier ausgeflickt waren. Dieser Pavillon de Flore war wohl vor hundert Jahren sehr schön gewesen, als er noch lustigen Abbés, hochedeln Herren und feinen gepuderten Damen mit roten Hackenschuhen und Schönpflästerchen zum geheimnisvollen Stelldichein diente. Wie leichtsinnig und sittenlos war das, aber ach, wie anziehend für die Phantasie des neunzehnten Jahrhunderts! Quer über den verwilderten Grasplatz, wo noch die Trümmer eines Puppenwagens neben einem zerfetzten Hanswurst lagen, gingen die Spuren von Karrenrädern und Pferdehufen, denn man stand im Begriff, hier eine neue Straße durchzuführen; vielleicht, wie Taffy vorschlug: »La Rue Neuve des Mauvais Ladres: Die neue Straße der schlimmen Aussätzigen.«

»Ach Taffy,« meinte der Laird und blinzelte einmal 291 wieder dem kleinen Billy verständnisvoll zu; »die alten schlimmen Aussätzigen sind doch gewiß viel besser gewesen!«

»Ohne allen Zweifel,« erwiderte Taffy mit dem Brustton unerschütterlicher Überzeugung. »Ich wollte nur, ich könnte einen malen – ganz wie er wirklich war.«

Wie oft hatten sie sich den Kopf zerbrochen, was wohl hinter der hohen Lehmmauer verborgen sein könne; nun hatten Haue und Spitzhammer ihnen mit wenigen Schlägen die frühere, festfrohe Vergangenheit in ihrem heutigen verkommenen Zustand bloßgelegt. Der trübselige Einblick, den sie gewonnen, paßte so recht zu ihrer jetzigen Stimmung, die vor einer Stunde noch so heiter gewesen war. Ganz niedergeschlagen schritten sie weiter, um einen Gang durch den Garten und die Galerie des Luxembourg zu machen.

Die nämlichen Leute schienen noch immer dieselben Bilder in dem langen, stillen Saal zu kopieren, der so angenehm nach Oelfarbe roch: Rosa Bonheurs ›Labourage Nivernais‹ Héberts ›Malaria‹, Coutures ›Romains de la Décadence‹. Und in dem steifen, staubigen Garten spazierten dieselben pioupious und zouzous, mit denselben nounous, oder saßen neben ihnen an den Goldfischteichen, und die nämlichen alten Ehepaare streichelten die nämlichen toutous und loulousPioupiou (alias pousse-caillou, alias tourlourou – ein gemeiner Infanterist. Zouzou – ein Zuave. Nounou – eine Amme mit zierlichem Häubchen und langen Bändern. Toutou – ein greulicher, kleiner, französischer Schoßhund von unbestimmter Rasse. Loulou – ein Spitz, der jenem an Häßlichkeit nicht nachsteht..

292 Sie beschlossen nun, zum père Trin zu gehen, dem Restaurant in der Rue du Luxembourg, um dort, zur Erinnerung an alte Zeiten, ihr zweites Frühstück einzunehmen. Als sie aber das kleine Speisezimmer betraten, in dem es ihnen früher so gut geschmeckt hatte, wurde ihnen ganz übel und weh zu Mut von den wohlbekannten Gerüchen, die ihnen entgegenströmten. Sie begnügten sich deshalb damit, den père Trin aufs herzlichste zu begrüßen, obgleich dieser in seiner Freude am liebsten das Unterste zu oberst gekehrt hätte, um solche Gäste nach Verdienst zu bewirten.

Der Laird erinnerte nun an die Omeletten im Café de l'Odéon; aber Taffy sagte auf seine herrische Art: »Zum Henker mit dem Café de l'Odéon.«

Sie riefen eine vorüberfahrende Droschke an, ließen sich bei Ledoyen in den Champs Elysées absetzen und speisten dort, wie es sich für drei wohlhabende Briten schickt, die zum Vergnügen einen Ausflug nach Paris gemacht haben. Dann fuhren sie im offenen Wagen durch das Bois de Boulogne nach der Fête de St. Cloud, die noch nicht ganz vorüber war, denn sie dauert sechs Wochen. Hier, wo Dodor und Zouzou in vergangenen Zeiten so viele ihrer tollsten Streiche ausgeführt hatten, fanden sie es unterhaltender, als im Garten des Luxembourg. Es ist und bleibt doch ein unwiderstehlich anziehendes Schauspiel, die jungen Franzosen in blauen Blusen und die Töchter des Volkes mit den weißen Häubchen und dem zierlichen 293 Schuhwerk bei ihrer Lustbarkeit zu sehen. Der Laird, welcher wohl an den Ostermontag in Hampstead Heath denken mochte, ließ auch diesmal die Gelegenheit nicht vorübergehen, seine Lieblingsredensart anzubringen. Es sind dieselben Worte, mit denen Yorick, der berühmte Humorist, seine sentimentale Reise anfängt: »So etwas versteht man in Frankreich am besten!«

Auf dem Rückweg nach ihrem Hotel, wo sie speisen und sich zum Konzert ankleiden wollten, fiel dem Laird auf einmal ein, daß er noch ein Paar weiße Handschuhe zum Abend brauche. ›Ung pair de gong blong‹, wie er sagte. Sie gingen deshalb auf dem Boulevard weiter, bis sie an einen Kurzwarenladen kamen, der reich und geschmackvoll ausgestattet war. Der patron, ein wohlhäbiger kleiner Bourgeois, empfing sie sehr freundlich und wies sie mit einer würdevollen Handbewegung an einen schlanken, feingekleideten Kommis von aristokratischem Aussehen, der hinter dem Ladentisch stand: »Une paire de gants blancs pour monsieur!«

Wie erstaunten die drei Freunde, als sie Dodor erkannten!

Der lustige, unwiderstehliche Dodor, dem es durchaus keine Verlegenheit bereitete, daß er den Ladendiener spielen mußte, strahlte förmlich vor Entzücken über dies Wiedersehen. Er machte sie mit Monsieur, Madame und Mademoiselle Passefil bekannt, und es war leicht ersichtlich, in wie hoher Gunst er bei der Familie, besonders bei Mademoiselle stand, trotz seiner untergeordneten Stellung im 294 Hause. Monsieur Passefil lud sogar unsere drei Helden gleich ein, zu Mittag dazubleiben, aber sie zogen vor, Dodor aufzufordern, mit ihnen im Hotel zu speisen, was dieser mit großer Bereitwilligkeit annahm.

Daß es bei Tische sehr lebhaft zuging, und sie die schwermütigen Eindrücke des Tages bald vergaßen, war allein Dodors Verdienst.

Er erzählte ihnen, daß er nicht einen roten Heller besitze, das Soldatenleben aufgegeben habe und seit zwei Jahren bei père Passefil die Bücher führe und seine Kunden bediene. Da die Eltern ihm wohlwollten und die Tochter ihm ihre Neigung geschenkt hatte, sollte er nächstens nicht nur Geschäftsteilhaber, sondern auch Schwiegersohn des patron werden; denn trotz seiner Mittellosigkeit war es ihm gelungen, die Familie zu überzeugen, daß sie es sich zu hoher Ehre anrechnen könne, ihre Tochter mit einem Rigolot de Lafarce zu verheiraten.

Dodors Schwager, der ehrenwerte Jack Reeve, hatte sich schon längst von dem leichtsinnigen Menschen losgesagt. Aber seine Schwester mochte wohl einsehen, daß er noch weit schlimmere Dinge thun könnte, als Mademoiselle Passefil zu heiraten; England war dann wenigstens vor ihm sicher. So hatte sie denn bei der Durchreise einmal der Familie Passefil in Paris einen Besuch gemacht und sie völlig durch ihren Glanz geblendet. Das war auch nicht zu verwundern, denn Mrs. Jack Reeve galt für eine 295 der schönsten, feinsten und vornehmsten Damen in ganz London.

»Was macht denn aber l'Zouzou?« fragte der kleine Billy.

»Meinen Sie den alten Gontran? Den sehe ich nur wenig. Wir verkehren nicht mehr in denselben Gesellschaftskreisen, wissen Sie. Nicht etwa weil er stolz geworden wäre, bewahre – und ich bin es auch nicht. Aber er ist Offizier – Sekondelieutenant bei den Guiden. Auch ist er nach dem Tode seines Bruders Herzog geworden und erfreut sich besonderer Gunst bei der Kaiserin; er versteht es besser als irgend jemand, sie zum Lachen zu bringen. Jetzt sieht er sich nach der reichsten Erbin um, die er finden kann. Bei seinem großen Namen wird er nicht lange zu suchen brauchen. Man sagt sogar, er habe schon eine aufs Korn genommen – Miß Lavinia Hunks von Chicago. Zwanzig Millionen Dollars. Wenigstens behauptet das der Figaro.«

Auch von andern alten Freunden wußte Dodor mancherlei zu erzählen und sie blieben beisammen bis es Zeit war nach dem Zirkus der Baschi-Bozuks zu gehen. Zuvor aber mußten sie noch versprechen, am folgenden Tage mit ihm bei seinen künftigen Schwiegereltern zu speisen.

 

In der Rue St. Honoré bewegte sich eine Doppelreihe von Droschken und Wagen langsam nach der Eingangsthür des Zirkus der Baschi-Bozuks. Ob der 296 ungeheure Saal wohl noch da ist? Ich möchte fast das Gegenteil wetten. Zur Zeit des zweiten Kaiserreichs plante man so viele Neubauten, daß eine förmliche Zerstörungswut eingerissen war. Ich fürchte daher, meine Pariser Leser würden heute in der Rue St. Honoré vergebens nach dem Saal der Baschi-Bozuks suchen.

Unsere Freunde nahmen ihre Plätze ein und sahen sich überrascht um. Sie hatten nie zuvor einen Konzertsaal von so riesigem Umfang und so kaiserlicher Pracht gesehen, denn damals war die Albert-Halle noch nicht gebaut. Alles in Weiß und Gold und mit feuerrotem Sammet ausgeschlagen; strahlende Helle überall; der ganze Raum, bis unter das Dach hinaus, dicht gedrängt voll Menschen, die noch fortwährend herzuströmten.

Wo früher die Zirkuspferde hereinkamen mit ihren schönen Reiterinnen, die beiden lustigen englischen Clowns und der feine Herr in Stulpenstiefeln mit der langen Reitpeitsche in der Hand, war jetzt die Plattform für die Sängerin errichtet. Den Hintergrund verhüllten schwere rote Vorhänge, die von zwei Pagen fortgezogen werden sollten, wenn die Diva erschien. Eine kleine Thür unter der Plattform führte in das Orchester, in welchem sich etwa vierzig, für die Musiker bestimmte Stühle und Notenpulte befanden, nebst dem erhöhten Tritt des Kapellmeisters.

Den ganzen Zirkus füllten Sitzplätze, und ringsum erhob sich eine Zuschauerreihe über der andern, in dem 297 sich immer erweiternden Kreise, so hoch hinauf, daß man die Leute auf den obersten Bänken in dem ungewissen Licht nicht mehr zu unterscheiden vermochte.

Der kleine Billy schaute umher und erkannte viele seiner Landsleute und eine ganze Anzahl musikalischer Berühmtheiten, die er häufig in London getroffen hatte. In der kaiserlichen Loge saß der englische Gesandte nebst Frau und Töchtern, und vorn in der Mitte, mit dem breiten blauen Ordensband über der Brust, ein königlicher Prinz, der sein Opernglas nicht vom Auge ließ.

Noch nie war der kleine Billy so voll freudiger Aufregung und gespannter Erwartung gewesen. Er las auf seinem Zettel, daß die ungarische Kapelle (die erste, glaube ich, die sich im westlichen Europa hören ließ), statt der Ouvertüre verschiedene Zigeunertänze spielen würde. Dann sollte Madame Svengali ›un air connu, sans accompagnement‹ singen und andere Lieder, darunter den ›Nußbaum‹ von Schumann (den man in Paris noch nicht gehört hatte). Nach einer Pause von zehn Minuten kamen abermals Czardas, worauf die Diva noch ›Malbrouck s'en va-t-en guerre‹ vortragen wollte – welche sonderbare Wahl – und zum Schluß ein ›Impromptu von Chopin ohne Worte‹.

Ein wunderlich zusammengestelltes Programm, das muß man sagen!

Etwas vor neun Uhr nahmen die Musiker ihre Plätze ein. Sie trugen die ungarische Husarenuniform, welche 298 jetzt für uns nichts Neues mehr ist. Sobald die erste Violine eintrat, sahen unsere Freunde, daß es niemand anders als ihr alter Bekannter, der kleine Gecko war.

Mit dem Glockenschlag erschien Svengali am Dirigentenpult. Er nahm sich höchst stattlich aus in dem tadellosen Gesellschaftsanzug, trotz seiner langen schwarzen Mähne (die er sich hatte kräuseln lassen). Die glänzenden Verhältnisse, in denen er lebte, hatten seinen äußeren Menschen auf ganz wunderbare Weise verändert; das hinderte jedoch die Freunde nicht, ihn auf den ersten Blick zu erkennen.

Als man ihn mit donnerndem Applaus empfing, verbeugte er sich dankend nach rechts und links, schlug dreimal mit dem Taktstock auf das Pult, und die zauberhafte Musik begann. Wir haben uns in den letzten zwanzig Jahren an diese wilden Melodien gewöhnt, aber damals waren sie neu, und ihre verführerischen Klänge überraschten und entzückten das Ohr der Zuhörer.

Über den wunderbaren Leistungen von Svengalis Kapelle vergaß die lauschende Menge, daß dies nur zur Vorbereitung diente und das große, musikalische Ereignis des Abends erst folgen sollte. Man rief laut da capo; aber Svengali wandte sich nur um und verbeugte sich – Wiederholungen waren in diesem Konzert ausgeschlossen.

Alles schwieg; es entstand ein Moment atemloser Erwartung – die Neugier war aufs höchste gespannt.

Jetzt zogen die kleinen Pagen an der seidenen Schnur: 299 der Vorhang teilte sich in der Mitte und drapierte sich zu beiden Seiten in kunstvollen Falten. Eine hohe Frauengestalt trat hervor. Sie war in ein mit Granatblüten und Käferflügeln gesticktes, golddurchwirktes klassisches Gewand gekleidet, ihre schneeweißen Arme und Schultern waren unverhüllt, auf dem Haupt trug sie ein Sternendiadem, ihr dichtes, hellbraunes Haar war zurückgebunden und fiel ihr fast bis zu den Knieen lose den Rücken hinunter.

Langsam schritt sie bis an die Rampe, ließ die Arme ungezwungen am Körper herabhängen, verbeugte sich leicht gegen die kaiserliche Loge und dann nach rechts und links. Ihre Lippen und Wangen waren geschminkt, die dunkeln, geraden Augenbrauen stießen fast über dem hohen Nasenrücken zusammen; in dem etwas geöffneten Munde glänzten blendend weiße Zähne und der Blick ihrer grauen Augen war fest auf Svengali gerichtet.

Ihr mageres Gesicht hatte einen etwas müden Ausdruck, trotz der künstlichen Frische der Farbe, aber jeder Zug, jede Linie war göttlich schön, und dabei sprach so viel Freundlichkeit und Bescheidenheit, eine so rührende Einfachheit und Güte aus ihren Mienen, daß sie alle bezauberte.

Das ganze Haus erhob sich von den Sitzen, um diese anziehende Erscheinung zu begrüßen; sie lächelte ein wenig, legte die Hand aufs Herz und verneigte sich mit dem etwas linkischen, aber liebenswürdigen Ungeschick eines 300 Schulmädchens, das von gemachter, theatralischer Haltung nicht den leisesten Begriff hat.

Es war Trilby.

Aber war denn Trilby nicht ganz unmusikalisch – Sie konnte ja keinen richtigen Ton singen, nicht das C vom F unterscheiden! Was hatte sich nur mit ihr zugetragen? – Die drei Freunde saßen da, wie vom Donner gerührt. Der große Taffy zitterte vor Überraschung an allen Gliedern, dem Laird stand der Mund weit offen und der kleine Billy starrte sich fast die Augen aus dem Kopf. Wie seltsam und unheimlich war das alles – es überwältigte, bedrückte und ängstigte sie auf ganz unbeschreibliche Weise.

Endlich hörte die Menge auf zu klatschen. Trilby legte die Arme auf den Rücken und stützte den linken Fuß auf einen niedrigen Schemel, den man eigens für sie hingestellt hatte. Ihr Blick war auf Svengali gerichtet, welcher das Zeichen zum Anfang geben sollte.

Dreimal schlug er mit dem Taktstock auf, das Orchester gab den Ton an. Dann hob er den Stock in Trilbys Richtung und fuhr fort den Takt zu schlagen, während sie ohne die geringste Anstrengung und ohne alle Begleitung zu singen begann

»Au clair de la lune
  Mon ami Pierrot!
Prête-moi ta plume
  Pour écrire un mot.
Ma chandelle est morte...
  Je n'ai plus de feu!
Ouvre-moi ta porte
  Pour l'amour de Dieu!
«

301 Dieser einfache kleine Gassenhauer war das Erste, was die Svengali zum Besten gab, womit sie vor dem kritischsten Publikum der Welt auftrat. Sie wiederholte denselben Vers dreimal. Es giebt nur den einen.

Das erstemal sang sie ganz ausdruckslos – nur die Worte und die Melodie, in den Mitteltönen, und nicht einmal laut; gerade wie ein Kind vor sich hinsingt und dabei an etwas anderes denkt; oder wie eine junge französische Mutter, die nähend an der Wiege ihres Kleinen sitzt, sie mit dem Fuß in Bewegung setzt und dazu singt, um ihn einzuschläfern.

Aber ihre Stimme war von so ungeheurem Umfang und solcher Weichheit, Fülle und Frische, daß sie den ganzen Saal zu erfüllen schien; der Ansatz vollkommen rein, tadellos, unfehlbar; der Klang zauberhaft, noch nie dagewesen, wunderbar zum Herzen sprechend!

Wären ihr plötzlich Flügel gewachsen und hätten sie hoch in die Lüfte getragen, es würde kaum größeres Aufsehen erregt haben. Wohl hatte die Welt schon manche große Sängerin bewundert – die Catalani, Jenny Lind, die Grisi, Alboni, Patti, aber eine solche Stimme war noch nie dagewesen und wird auch nicht wieder gehört werden. Einer der Erzengel hätte so singen können, oder vielleicht irgend eine Märchenprinzessin.

Der kleine Billy hielt sich das Taschentuch vor die Augen und verbarg sein Gesicht in den Händen. In Taffys Backenbart glänzte ein heller Tropfen und der Laird gab sich vergeblich Mühe, die Thränen zurückzuhalten.

302 Sie sang den Vers zum zweitenmal; nicht viel lauter, aber mit etwas mehr Ausdruck. Ihre Stimme schien zu wachsen und sich zu dehnen, als wolle sie den weiten, lachenden Himmel, die väterliche Fürsorge, die das All umfaßt, in Tönen wiedergeben. Pierrots und Columbinens zierliche Anmut und neckische Ausgelassenheit verwandelten sich mit einemmale in heilige Unschuld und harmlosen Frohsinn, als spielten sie wie zwei Kinder vor den Engeln des Paradieses. Es schien ein Traumbild, das plötzlich zur Wirklichkeit geworden war – die Offenbarung eines beglückenden goldenen Zeitalters – eine unschätzbare, unvergeßliche Erinnerung.

Der kleine Billy hatte alle Fassung verloren; sein ganzer Körper bebte vor unterdrücktem Schluchzen – und er hatte doch seit fünf langen Jahren keine Thräne vergossen. Die meisten Zuhörer weinten, aber es waren Thränen des Entzückens, der innersten Herzenslust.

Als sie den Vers zum drittenmal begann, hatte ihre Stimme einen verschleierten, dumpfen, gramvollen Klang angenommen; sie kam zur Erde zurück. Es war ein großes, düsteres Trauerspiel, vor dem jede Thräne versiegte. Man glaubte die arme Columbine zu sehen, draußen in der Kälte, um Mitternacht, verlassen, betrogen, im Sterben – vielleicht zur Hölle herabsinkend. Dies war ihr letztes, verzweiflungsvolles Flehen. Konnte das denn aber noch Columbine sein und Pierrot? War es nicht Gretchen – 303 und Faust. – Die furchtbarste und zugleich rührendste aller menschlichen Tragödien, aber ohne jede theatralische Leidenschaft, durch den bloßen Ton, durch kaum merkliche Veränderungen in der Klangfarbe ausgedrückt; zu flüchtig und schattenhaft für die klare Vorstellung, aber dem tief erschütterten Gefühl nur allzu verständlich!

Als das Lied zu Ende war, folgte der Beifall nicht sogleich. Trilby stand ruhig lächelnd da, als sei sie dies Warten schon gewohnt. Dann aber brach der Sturm los; er wuchs, breitete sich aus, brüllte und tobte – alle Kehlen, Hände, Füße, Stöcke und Schirme wurden in Bewegung gesetzt. Blumensträuße kamen herabgeflogen und die kleinen Pagen eilten herzu, sie aufzuheben, während Trilby sich ganz einfach und débonnaire nach allen Seiten verneigte. Ein solcher Triumph war für sie nichts neues; er blieb nie aus, sie mochte singen in welchem Lande, vor welchem Publikum und welches Lied sie wollte.

Der kleine Billy klatschte nicht. Er verbarg das Gesicht in den Händen und es wogte in seiner Brust. Gewiß war das alles nur ein Traum: er glaubte im Schlaf zu liegen und that sein möglichstes, um ja nicht aufzuwachen, sondern sein großes Glück festzuhalten. Das war eine Nacht, die im Kalender rot angestrichen werden mußte!

Als die ersten Takte des Liedes dem Munde entströmten, dessen Linien er so genau kannte, und ihre Taubenaugen nach seiner Richtung – nach ihm hinblickten, da 304 zerschmolz auf einmal das starre Eis seines Herzens und die alte Liebeskraft war ihm zurückgegeben.

Es erging ihm dabei wie einem Menschen, der jahrelang an Taubheit gelitten hat. Der Arzt bläst durch einen kleinen Gummischlauch in die Eustachische Trompete; es erfolgt ein leichter Knall, irgend ein Hindernis wird beseitigt und von dem Moment an hört der Patient besser als je zuvor – oft sogar allzu gut – und es fängt ein neues Leben für ihn an.

Endlich richtete sich der kleine Billy wieder auf; die Svengali hatte den ›Nußbaum‹ schon zur Hälfte gesungen. Er sah sie und sah auch Taffy und den Laird, die neben ihm saßen, den Blick unverwandt auf Trilby gerichtet. Nun wußte er, es war kein Traum, und seine Freude darüber that ihm förmlich weh.

Sie sang den ›Nußbaum‹ zu der himmlischen Begleitung ebenso einfach wie das erste Lied. Ihre Töne glichen köstlichen Perlen, von denen jede einzelne sich mit einer Zauberschnur an die nächste reiht. Wer diese Stimme hörte, verfiel unweigerlich ihrem Bann und wäre er auch kein Freund der Musik gewesen. Das Tonstück an und für sich kam dabei wenig in Betracht, denn ihre Wiedergabe der musikalischen Gedanken war bei aller Vollendung so einfach wie die eines Kindes.

Es war, als sagte sie den Zuhörern: »Glaubt ihr etwa, daß die Komposition etwas mit diesem Eindruck zu 305 thun hat? Hier ist eins der schönsten Lieder von der Welt; die Worte sind ebenso herrlich, wie die Melodie; ein großer Dichter hat sie ins Französische übersetzt, aber Worte, Melodie, Sprache – auf das alles kommt es nicht an. Ob ich den ›Nußbaum‹ singe oder ›Mon ami Pierrot‹ gilt ganz gleich, denn ich bin die Svengali, und ihr sollt nichts hören, nichts sehen, nichts denken, als Svengali, Svengali, Svengali!«

Einen herrlicheren Triumph hätten Sangeskunst und Stimme gar nicht feiern können. Es war il bel canto, wiedererstanden auf Erden nach hundert Jahren – der bel canto des Vivarelli zum Beispiel, welcher fünfundzwanzig Jahre lang dasselbe Lied vor demselben König von Spanien singen mußte, und zum Lohn ein Herzogtum und ungezählte Reichtümer erhalten hat.

Ein seltsames Schauspiel! Diese ungeheure Zuhörermenge – Kritiker, Spötter, Deutschenhasser – sie alle saßen mit überströmenden Augen, berauscht von Entzücken da, und sahen im Geist unter dem Nußbaum, in dem Garten einer Vorstadt – in Berlin – ein einfaches, deutsches Mädchen, eine Verlobte und künftige Hausfrau im Kreise ihrer Verwandten und Freunde – die vielleicht Bier tranken, lange Pfeifen rauchten, von Politik und Geschäften sprachen, oder über harmlose alte deutsche Witze lachten. Und das Publikum hielt den Atem an, um nur des Mädchens jungfräulichen Liebestraum nicht zu stören; gerade als ginge 306 das alles im Elysium vor sich, als wäre die Braut eine Nymphe des quellenreichen Ida und ihre Verwandten lauter Götter und Göttinnen des Olymps.

Und doch war das alles wirklich so, während Trilby den ›Nußbaum‹ sang.

Als sich der nun folgende rasende Beifallssturm gelegt hatte, wandte sie sich mit einer anmutigen Verneigung nach dem königlich britischen Opernglas, das ihr Gesicht fortwährend im Auge behalten hatte, und sang ›Ben Bolt‹ in englischer Sprache.

Da dachte der kleine Billy an Svengali mit seiner Jahrmarktsflöte; er meinte, seine Worte zu hören: »Auf die Art unterrichte ich la betite Honorine im Singen; so hat Gecko bei mir sein Spiel gelernt; so lehre ich il bel canto.... er war verloren gegangen, der bel canto; aber ich habe ihn wiedergefunden – ich, Svengali, ich und niemand anders!«

Und wieder war es ihm, als gewänne er einen tieferen Einblick in die Welt der Schönheit und des Schmerzes, in das innerste Wesen der Dinge und die Flüchtigkeit alles Irdischen. Er glaubte den Schleier sich lüften zu sehen, der die Ewigkeit verhüllt. Zu dieser himmlischen Offenbarung gesellte sich aber das wahrhaft erdrückende Gefühl seiner eigenen Richtigkeit im Vergleich mit jenem großen Künstlerpaar. Er hatte ihn einst seiner Freundschaft gewürdigt, und sie – die Geliebte seines Herzens – hatte 307 ihm als Magd, als Sklavin dienen wollen, weil sie sich für zu gering hielt, seine Frau zu werden.

Der Gedanke überwältigte ihn; er glühte vor Scham und hätte vor Trilby im Staube knieen mögen voll demütigster Liebe und Verehrung.

Sie sang nun noch Gounods Chanson de Printemps (der Komponist war selbst zugegen und tief ergriffen). Damit endigte der erste Teil des Konzerts, und die Zuhörer hatten nun Zeit, Atem zu schöpfen und sich über diese wunderbare Kunstleistung auszusprechen. Ein tausendstimmiges Gebrause und Gemurmel erfüllte den ganzen Raum – Wonne, Entzücken, Staunen und Begeisterung wurden laut.

Nur unsere drei Freunde hatten nicht viel zu sagen – für das, was sie fühlten, fanden sie noch keine Worte.

Taffy und der Laird sahen den kleinen Billy an, der mit bleichem Gesicht und roten Augen in sich versunken dasaß. Ein Traum von ganz überirdischer Glückseligkeit schien ihm vorzuschweben, denn obgleich seine Augen noch in Thränen schwammen, lächelte er doch wie verzückt und bezaubert.

Der zweite Teil des Konzerts war kürzer als der erste; der Donner des Beifalls aber womöglich noch wilder.

Trilby sang nur zwei Nummern; zuerst das Lied ›Malbrouck s'en va-t-en guerre‹.

Sie begann ganz leicht und lustig, im Marschtempo; noch hatte sie in der Mittellage keine außergewöhnliche 308 Kraft oder Fülle verraten. Das Publikum lachte ganz unbefangen bei dem ersten Vers:

»Malbrouck s'en va-t-en guerre -
  Mironton, mironton, mirontaine!
Malbrouck s'en va-t-en guerre . . .
  Ne sais quand reviendra!
  Ne sais quand reviendra!
  Ne sais quand reviendra!
«

Das mironton, mironton, mirontaine drückte die höchste kriegerische Tapferkeit und heldenkühnes Selbstvertrauen aus. Es weckte in allen, die es hörten, den Entschluß, mutig jeder Gefahr zu trotzen.

»Il reviendraz à Pâques -
  Mironton, mironton, mirontaine!
Il reviendra-z à Pâques...
  Ou.. à la Trinité!
«

Man lachte noch, obwohl sich in dem mironton, mirontaine bereits eine unbestimmte Ahnung verriet; allerlei Zweifel und Befürchtungen dämmerten auf.

»La Trinité se passe -
  Mironton, mironton, mirontaine!
La Trinité se passe...
  Malbrouck ne revient pas!
«

Hier machte sich schon, besonders in dem mironton, mirontaine, eine entsetzliche Spannung bemerkbar; eine so quälende, echt menschliche und natürliche Angst, daß jedes Herz sie persönlich mitempfand und lauter zu schlagen begann. Den Hörern verging der Atem in der Brust. 309

»Madame à sa tour monte -
  Mironton, mironton, mirontaine!
Madame à sa tour monte -
  Si haut qu'elle peut monter!
«

O, mit welchen Gefühlen man sie zum Turm hinauf begleitete! Was würde sie dort oben erspähen? –

»Elle voit de loin son page -
  Mironton, mironton, mirontaine!
Elle voit de loin son page,
  Tout de noir habillé!
«

Immer drohender naht das Unglück – die Spannung erscheint unerträglich.

»Mon page - mon beau page!
  Mironton, mironton, mirontaine!
Mon page - mon beau page!
  Quelle nouvelles apportez?
«

Der kleine Billy zerfließt wieder in Thränen; auch andere Zuhörer weinen. Das mironton, mirontaine ist ein jammervolles Klagegestöhn – o du arme Herzogin – du unglückliche, trostlose Gattin – hast du es alles so hören müssen?

Bis dahin war die Begleitung ganz einfach gewesen; sie hatte sich nur auf ein paar Akkorde beschränkt. Jetzt aber, ganz plötzlich, ohne Übergang, ohne Modulation, ging sie in der großen Terz von E nach C, zwei volle Oktaven herunter, in Trilbys tiefe Altstimme – feierlich, unheilverkündend. Die Thränen versiegen; dem Hörer stockt das Blut in den Adern. Die Begleitung nimmt ein immer 310 langsameres Tempo an, bis sie in einen gedämpften Trauermarsch übergeht:

»Aux nouvelles que j'apporte -
  Mironton, mironton, mirontaine!
Aux nouvelles que j'apporte,
  Vos beaux yeux vont pleurer!
«

Reicher und voller tönen die Saiten. Das mironton, mirontaine wird zur Totenklage:

»Quittez vos habits roses -
  Mironton, mironton, mirontaine!
Quittez vos habits roses -
  Et vos satins brochés!
«

Hier scheint sich eine große Glocke unter die Instrumente zu mischen – mit mächtigen Klängen, ganz langsam, aber so eindrucksvoll, daß die Nachricht, die sie verkündet, für alle Zeiten in den Herzen derer widerhallen wird, welche sie aus dem Munde der Svengali vernehmen:

»Le Sieur Malbrouck est mort -
  Mironton, mironton, mirontaine!
Le Sieur - Malbrouck - est - mort!
  Est mort - et enterré!
«

Damit brach der Gesang urplötzlich ab.

 

Über diese herzzerreißende Tragödie, dieses große historische Epos in zwei Dutzend Zeilen, hatten fünf- oder sechstausend lustige Franzosen geweint oder geschluchzt zum Gotterbarmen, und es ist doch im Grunde nichts weiter311 als ein altes, komisches Volkslied, mit dem die Mütter ihre Kleinen in den Schlaf singen.

Es folgte eine bedrückende, schauerliche Stille, wie wenn bei einem Begräbnis die letzte Handvoll Erde auf den Sargdeckel fällt. Dann brach der rasende Applaus wieder los, und die Svengali stand wohl fünf Minuten lang, sich verneigend mitten in einem Blumenregen. Die Da capo-Rufe verhallten jedoch unbeachtet . . . .

Nun kam zum Schluß ihre größte Leistung.

Das Orchester spielte schnell die ersten vier Baßtakte von Chopins Impromptu in Cis-moll, und wie ein Wirbelwind fiel die Svengali ein, ohne Worte, leicht und anmutig wie eine Nymphe, die sich im Tanze wiegt, oder in den Lüften schaukelt, solfeggierte sie dies wunderbare Musikstück, das nur wenige Pianisten imstande sind zu spielen. So aber hat es noch keiner gespielt, denn welches Klavier könnte solche Töne hervorbringen?

Jeder musikalische Gedanke ward hier zu einer Kette der prachtvollsten Edelsteine, die ein loser Goldfaden zusammenhält. Je höher und heller sie singt, um so köstlicher ist der Ton; bis zu solcher Höhe hat sich vor ihr noch keine Frauenstimme verstiegen.

Glockenhelles, fröhliches Lachen, wie es nur aus einer unschuldigen, heitern Mädchenseele kommt, die mit lebhaftem Gefühl die ganze Natur umfaßt – die Kühle des Morgens, die sich kräuselnde Welle, das rauschende Mühlrad, 312 den Wind in den Bäumen, das Lerchenlied im wolkenlosen Himmel – die Sonne, den Tau, den Duft der Frühlingsblumen in Wiese und Wald – oder den Flug von Vogel, Biene und Schmetterling; die hüpfenden Lämmer im Grünen – alle Farben, Töne und Wohlgerüche, an denen sich Kinderherzen und glückliche Naturkinder in gesegneten Himmelsstrichen erfreuen – die schuldlosesten Freuden, die seligsten Erinnerungen, die der Mensch besitzt.

Das alles ruft Trilbys Stimme in ihren Hörern wach und zaubert es lebendig vor sie hin, während sie dies wunderbare Lied ohne Worte, diesen langen, wiegenden, frohlockenden Tanz trillert und singt. Der Eindruck ist unwiderstehlich, unauslöschlich; weder Worte noch Bilder können etwas Ähnliches bewirken. Thränen der Freude, des reinsten Entzückens fließen aus allen Augen. (Möglich, daß Chopin etwas ganz anderes malen wollte – vielleicht ein Treibhaus mit Tuberosen, Orchideen, Kallas und Hortensien; aber darauf kommt es nicht an).

Nun folgt ein langsames Tempo, das Adagio, mit seinen merkwürdigen Verzierungen – das Erwachen des jungfräulichen Herzens, das Aufsteigen des Saftes, der Liebe Morgenlicht; ihr Zweifeln, Fürchten, Fragen. Die weichen, mächtigen Brusttöne klingen wie Glockengeläut, und dazwischen rieseln silberhelle, funkelnde Tauperlen, welche die gewaltige Stimme leicht von sich abschüttelt.

313 Jetzt kommt wieder das erste Tempo, aber rascher, voller Eile und Hast, doch klar, wie immer. Laut, durchdringend und köstlich sind die Töne – sie überschallen das Orchester, greifen bis ins innerste Herz, verkünden namenlose Freude. Ein krystallreiner Strom rieselt, schäumt und sprudelt über sonnbeglänzte Steine – es ist zauberhaft, wonnevoll, entzückend!

Kein Zeichen der Anstrengung oder irgend welcher Schwierigkeit! Mit demselben himmlischen Lächeln öffnet Trilby die Lippen, wiegt das Haupt leise hin und her zu Svengalis Taktschlägen, und immer rascher und höher entströmen die Töne ihrem Munde . . .

In wenigen Minuten ist alles vorüber, wie beim Schluß eines glänzenden Feuerwerks die Raketengarben versprühen. Langsam verhallen die Klänge, wie das letzte Glimmen einer bengalischen Flamme verlöscht – ihre Stimme tönt nur noch aus weiter Ferne, sie hallt wie ein Echo von allen Seiten ringsum – ganz leise – kaum noch ein Hauch – und doch voll Wohllaut. Noch eine letzte Rakete, ein chromatisches Aufsteigen, panissimo, bis zum E im Alt – dann Dunkel und Schweigen. –

Nach kurzer Pause bricht der Sturm los. Die vielköpfige Zuhörerschaft erhebt sich wie ein Mann, Hüte, Stöcke, Tücher werden geschwungen; man stampft, man brüllt . . . »Vive la Svengali! Vive la Svengali!«

Svengali steigt zu seiner Frau auf die Plattform; er 314 küßt ihr die Hand, und zusammen ziehen sie sich nun unter fortwährenden Verbeugungen nach dem Vorhang zurück, welcher fällt, um immer wieder und immer wieder aufgezogen zu werden vor dem wunderbaren Künstlerpaar.

Das erste Konzert der Svengali in Paris war zu Ende. Es hatte wenig über eine Stunde gedauert, von welcher für die Beifallsrufe der Menge noch mindestens eine Viertelstunde abgerechnet werden muß.

Leider ist Schreiber dieses kein Musiker (was der musikalische Leser gewiß längst gemerkt hat), aber jede nicht allzu schwere Musik fesselt ihn unbeschreiblich. Er beklagt es sehr, daß sein vielleicht allzu kühner Versuch, den mächtigen Eindruck zurückzurufen, den er vor mehr als dreißig Jahren empfangen hat, so plump und mangelhaft ausgefallen ist. Ihm bleibt das Andenken an jenen Abend im Zirkus der Baschi-Bozuks unvergeßlich.

Könnte ich nur Berlioz' berühmte zwölf Abhandlungen aus La Lyre Eolienne, die unter dem Titel ›La Svengali‹ im Druck erschienen sind, hier folgen lassen – aber sie sind leider vergriffen!

Oder Théophile Gautiers herrliche Rhapsodie: ›Madame Svengali – Ange ou femme?‹ in welcher er beweist, daß man kein musikalisches Gehör braucht (er hatte keins), um sich von solcher Stimme berauschen zu lassen, und auch keinen Schönheitssinn (den hatte er), um für ihr Gesicht und ihre himmlische Gestalt zu schwärmen. In 315 welcher Zeitschrift diese beredte Lobpreisung erschien, ist mir nicht mehr erinnerlich; in den gesammelten Werken habe ich vergebens danach gesucht.

Oder die vernichtende Schmähschrift, in der Herr Blagner (so will ich ihn nennen) gegen die Tyrannei der Primadonna, den ›Svengalismus‹, wie er sich ausdrückt, zu Felde zieht. Er versucht zu beweisen, daß das Virtuosentum, wenn es so übertrieben wird wie hier, eine förmliche Versündigung ist – elende Seiltänzerkunststücke mit den Stimmitteln, nichts als eine krankhafte Überreizung der gallischen Sentimentalität. Solche unerhörte Entwicklung eines phänomenalen Kehlkopfs, solche maßlose Ausbildung einer rein körperlichen, abnormen Eigentümlichkeit (sagt er), sind der Tod und Untergang aller wahren Musik; denn sie stellen Mozart, Beethoven und sogar ihn selbst, Blagner, auf dieselbe Stufe mit Bellini, Donizetti, Offenbach und jedem italienischen Melodienklimperer und Balladensinger des Pariser Pflasters. Das gewöhnliche französische Publikum würde am Ende auch die herrlichste Musik, die es zum erstenmal hört, mit der gleichen Begeisterung aufnehmen, wie den ersten besten Gassenhauer im Café chantant.

So äußerte sich der Blagnerismus versus Svengalismus.

Ich fürchte jedoch, es ist in dieser einfachen Erzählung kein Raum für derartige Meisterwerke der musikalischen Kritik.

316 Und das ist nicht der einzige Grund, der mich zwingt, hier abzubrechen.

Unsere drei Helden gingen nach den Boulevards zurück. Sie allein schwiegen mitten in der lauten, aufgeregten Menge, welche aus dem Zirkus der Baschi-Bozuks auf die Rue St. Honoré hinausströmte.

Der kleine Billy hatte seine beiden lieben alten Freunde untergefaßt, um sich so recht eins mit ihnen zu fühlen. Ihm war, als hätte er sie nach langer, langer Trennung auf einmal wiedergefunden, und sein Herz floß über von Zärtlichkeit, obgleich er vor innerer Bewegung noch kein Wort über die Lippen brachte. Die alte Liebesfülle war in ihm aufs neue geboren, die Liebe zu Welt und Menschen im Leben und Sterben, ein unendliches, unerschöpfliches Meer von Liebe, ganz wie er es früher besessen.

Er hätte sie beide auf offener Straße, vor aller Welt ans Herz drücken mögen; und dies köstliche Gefühl war kein Traum, es war volle, wahre Wirklichkeit. Sein altes Ich war endlich zurückgekehrt, nach fünf langen Jahren; er hatte sich selbst wiedergefunden – und das alles verdankte er Trilby.

Was er für sie empfand, wußte er selbst noch nicht. Es schien so groß und unermeßlich und ach, so vermischt mit Schmerz und Reue, daß er den Gedanken daran noch eine Weile von sich schob, um sich erst seines neuen Glückes zu freuen. Er glich einem Mann, der lange taub war 317 und bei seiner Heilung zuerst im Genuß des wiedergeschenkten Sinnes schwelgen will, statt gleich auf eine unheilvolle Nachricht zu hören, die ihn schon lange erwartet und ihn noch immer früh genug ereilen wird.

Taffy und der Laird schwiegen gleichfalls. Trilbys Stimme klang ihnen noch in den Ohren, immer sahen sie ihre Gestalt vor sich, und es ward ihnen beklommen zu Mute.

Im ersten Café auf dem Boulevard nahmen sie an einem der kleinen Tische im Freien Platz, dem einzigen, den sie unbesetzt fanden, und ließen sich ein Glas Bockbier geben. Es war eine balsamische Nacht und sommerlich warm; lebhaftes Gespräch schallte von allen Seiten: ›die Svengali‹ war in aller Munde.

Der Laird trank sein Glas auf einen Zug aus, rief nach einem zweiten, zündete sich eine Zigarre an und sagte mit fester Stimme: »Schließlich glaube ich gar nicht, daß es Trilby gewesen ist.«

Bisher hatte noch keiner von ihnen gewagt ihren Namen auszusprechen – es war das erstemal seit fünf Jahren.

»Gerechter Himmel!« rief Taffy, »kannst du daran zweifeln?«

»Freilich war es Trilby,« sagte der kleine Billy.

Der Laird erinnerte sie daran, daß Trilby ja nie den richtigen Ton hätte treffen können und wie verhaßt ihr Svengali gewesen sei. Aber auch abgesehen davon, hatte 318 er durch sein Opernglas mehr als einen Unterschied entdeckt, trotz der wunderbaren Ähnlichkeit. Das Gesicht der Sängerin war länger und schmaler, die Augen größer, und der Ausdruck anders; auch war sie viel stärker und breitschulteriger als Trilby und dergleichen mehr.

Die andern aber meinten, das sei alles Unsinn, und wollten nichts davon hören. Sie hatten sogar manchen eigentümlichen Laut ihrer Sprache in der Singstimme wieder erkannt. – Nun das Eis einmal gebrochen war, sprachen sie über ihre wunderbare Leistung wie alle übrigen Leute. Der kleine Billy war am eifrigsten dabei, er geriet in solches Feuer und zeigte so viel Musikverständnis, daß sie ordentlich staunten und sich froh und erleichtert fühlten. Sie waren recht ernstlich besorgt gewesen, welche Wirkung Trilbys so völlig unerwartete Erscheinung auf ihn haben würde.

Offenbar hatte er seine Leidenschaft für sie gänzlich überwunden, das war eine große Beruhigung. Er schien überselig, freudetrunken, und sah sie beide mit so strahlenden Blicken an, als habe ihn das Anhören der herrlichen Musik mit doppelter Lebenslust erfüllt, als gewähre ihm das Zusammensein mit den alten Kameraden den höchsten Genuß.

Aber der kleine Billy wußte wohl, wie es mit ihm stand. Er wußte, daß seine Liebe zu Trilby mit aller Glut und Kraft zurückgekehrt war, aber er fühlte sich jetzt noch außer stande, sie in ihrer ganzen unendlichen Tiefe zu empfinden und zugleich alle Qualen einer Eifersucht 319 durchzukosten, die das Mark seines Lebens verzehren mußte. Noch vierundzwanzig Stunden ließ er sich Zeit.

Aber er hatte die Frist zu lang bemessen. Aus einem kurzen, unruhigen Schlummer schreckte er in der Nacht auf und sah, daß die Flut ihn schon zu verderben drohte. Er erkannte, mit welcher hoffnungslosen, sündhaften, verzweifelten, wahnsinnigen Liebe er an dieser Frau hing, die sein eigen hätte werden können und nun einem andern gehörte – einem Manne, der größer war als er und dem sie es verdankte, daß sie jetzt das herrlichste Weib auf Erden war, eine Königin, eine Göttin! Denn, welcher irdische Thron ließ sich mit dem Herrschersitz vergleichen, der ihr in den Herzen aller Menschen bereitet ward, sobald sie sich nur hören und sehen ließ. – Wie schön sie war, o über alle Begriffe schön! Und wie mußte sie den Mann lieben, der ihr wunderbares Genie entdeckt, es ihr selbst und der Welt offenbart hatte; den Lehrmeister, welcher ihr alles, alles geschenkt hatte! Wie stattlich und Ehrfurcht gebietend, wie glorreich war er selbst – ein großer Künstler, vom Scheitel bis zur Sohle.

Wieder sah er die beiden im Geiste vor sich, Hand in Hand, der Meister mit der Schülerin, der Gattin! Lächelnd verbeugten sie sich, umrauscht von dem Beifallssturm, den sie entfesselt hatten und nicht wieder zu stillen vermochten. Das Bild verfolgte, quälte, marterte ihn, und wollte nicht weichen. Wie rasend sprang er auf und lief 320 verzweifelt in dem engen, schwülen Schlafzimmer hin und her. Wäre nur sein altes Gehirnleiden zurückgekehrt, um den Schmerz zu betäuben und ihn bis zum Tode nicht mehr zu verlassen. Er würde es als Wohlthat begrüßt haben.

Wohin sollte er fliehen vor allen neuen Gefühlen, die auf ihn einstürmten, und vor den alten Erinnerungen, die in wonnigem Glanz so plötzlich aus dem Grabe aufstiegen? Es gab kein Entrinnen! Täglich, stündlich würde er jetzt nach ihrem Anblick, nach dem Ton ihrer Stimme hungern und dürsten, wie ein in der Wüste Verschmachtender nach einem Labetrunk!

Wieder und wieder sah er den alten, lieblich wechselnden Ausdruck ihres Gesichts, und die Töne ihrer unvergleichlichen Stimme, dieser ganz neuen Errungenschaft, klangen in seinen Ohren, bis er hätte laut aufschreien mögen vor Qual und Pein.

Ihm war, als umfinge er sie mit den Armen, Gift und Galle saugend aus ihren Küssen, auf die er kein Recht hatte. Eine rein physische Eifersucht, dieses entsetzliche Erbteil aller Adamssöhne, die mit schöpferischer und plastischer Einbildungskraft begabt sind, hielt ihn in ihren Krallen, malte ihm das Verlorene in den entzückendsten Farben und daneben die öde, graue Wirklichkeit. Nachdem er drei oder vier Stunden auf solche Weise mit sich selber gekämpft und gerungen hatte, ertrug er es nicht länger; er war nahe daran, den Verstand zu verlieren. Rasch 321 entschlossen eilte er auf den Gang hinaus und klopfte an Taffys Thür.

»Großer Gott, was ist denn geschehen?« rief der gute Taffy, als der kleine Billy ins Zimmer stürzte.

»O Taffy, Taffy, ich glau – glaube, ich werde wahnsinnig,« schrie er, schüttelte sich wie im Fieberfrost und fing an, in unzusammenhängenden Worten und mit stotternder Zunge dem Freunde zu berichten, was er erduldet hatte.

Taffy erschrak heftig; rasch schlüpfte er in die Beinkleider, legte den kleinen Billy in sein Bett, setzte sich neben ihn und ergriff seine Hand. Er war auf einen ähnlichen Anfall gefaßt, wie vor fünf Jahren, und wagte in seiner namenlosen Angst nicht, sich einen Augenblick zu entfernen, um den Laird zu wecken und ihn nach einem Arzt zu schicken.

Plötzlich verbarg der kleine Billy das Gesicht in den Kissen und fing an, bitterlich zu schluchzen. Taffy atmete erleichtert auf: er fühlte unwillkürlich, daß dies günstig sei. Der Junge war von jeher ein so leicht erregbares, empfindsames, zart besaitetes und verzogenes Muttersöhnchen gewesen und nie in die Schule gegangen. Man mußte ihm etwas nachsehen. Es gehörte vielleicht mit zu seinem Genius, zu seiner liebenswürdigen Natur. Jedenfalls that es ihm gut, einmal recht nach Herzenslust zu flennen und sich auszuheulen.

Nach einer Weile wurde der kleine Billy ruhiger; dann sagte er plötzlich:

»Du mußt mich doch für einen recht jämmerlichen Kerl und Schwachmatikus halten!«

322 »Wieso, lieber Freund?«

»Weil ich mich so ganz dumm und albern benehme. Aber ich hielt es wirklich nicht mehr aus. Ich sage dir, ich war wie verrückt. Die ganze Nacht bin ich im Zimmer hin und her gelaufen, bis alles sich mit mir im Kreise drehte.«

»Ganz wie ich.«

»Du? Weshalb?«

»Aus dem nämlichen Grunde.«

»Was sagst du?«

»Ich habe Trilby gerade so lieb gehabt wie du; aber sie hat dich vorgezogen.«

»Was?« rief der kleine Billy, »du hast Trilby geliebt!«

»Jawohl, mein Junge!«

»Geliebt? wirklich von Herzen?«

»Jawohl, mein Junge!«

»Das hat sie wohl nie erfahren?«

»O doch. Sie wußte es.«

»Aber gesagt hat sie es mir nicht.«

»Wirklich? Das sieht ihr ähnlich. Jedenfalls habe ich es ihr gesagt und sie gebeten, meine Frau zu werden.«

»Ist es möglich! – wann denn?«

»Damals in Meudon, beim Garde Champêtre, als wir Jeannot mitgenommen hatten und sie dann mit Sandy den Cancan tanzte.«

»Wahrhaftig? – und sie hat nicht gewollt?«

»So scheint es.«

323 »Ja aber weshalb denn nicht in aller Welt?«

»Vermutlich hattest du ihr schon das Herz gestohlen. Il y en a toujours un autre!«

»Was? mich – mich hat sie dir vorgezogen?«

»Nun ja doch. Es scheint seltsam, nicht wahr, alter Freund? Aber der Geschmack ist ja verschieden. Wer so groß ist wie sie, dem gefällt gerade etwas ganz Kleines; zum Gegensatz, weißt du. Es liegt etwas so echt Mütterliches in ihrem Wesen. Auch bist du ein kluger kleiner Kerl und gar nicht so übel. Du hast Verstand, Talent, auch die nötige Dreistigkeit. Ich dagegen bin wohl eine etwas zu gewichtige, zu schwerfällige Persönlichkeit.«

»Ja – aber – um des Himmels willen –«

»C'est comme ça! Ich mußte mich ins Unabänderliche fügen.«

»Weiß der Laird darum?«

»Nein; er braucht es auch nicht zu wissen – es geht niemand etwas an.«

»Taffy, du bist doch ein prächtiger, ein ganz kapitaler Mensch!«

»Meinst du? Sehr verbunden! Jedenfalls stecken wir beide in der gleichen Not und müssen es tragen, so gut wir können. Sie ist die Frau eines andern, den sie wahrscheinlich sehr lieb hat. Ein unausstehlicher Mensch – aber, er hat's um sie verdient. Also damit ist's ein für allemal aus.«

»Für mich nicht, nein, niemals, niemals! Großer 324 Gott – sie wäre ja mein geworden, wenn sich meine Mutter nicht hineingemischt hätte und der alte Unheilstifter, mein Onkel. Stelle dir nur vor – sie zur Frau zu haben! Was für ein Herz, was für eine Seele muß sie sein, um so singen zu können! Und dann diese Schönheit – diese Stirn, dies Kinn, diese Wangen! Hast du je etwas so Göttliches gesehen? Hätte ich damals meiner Mutter nichts von der Heirat geschrieben, so wären wir jetzt schon seit fünf Jahren Mann und Frau; wir lebten in Barbizon, das Malen wäre eine Lust! O welcher Himmel auf Erden! – Es ist schändlich, abscheulich, wie man mich behandelt hat! Was brauchten sie sich um meine Sachen zu kümmern! O niemals – niemals –«

»Da fängst du schon wieder an! Es hilft ja doch nichts! Und was hätte mir das wohl genützt? Ich wäre um kein Haar besser daran gewesen, sondern ganz im Gegenteil, alter Freund.«

Beide schwiegen eine Weile.

Endlich sagte der kleine Billy: »Taffy, du bist ein Kapitalkerl. Ich habe immer viel von dir gehalten, aber das war gar nichts im Vergleich zu der Meinung, die ich jetzt von dir habe.«

»Das freut mich, mein Junge!«

»Nun bin ich, glaube ich, wieder einigermaßen bei Besinnung; wenigstens auf einige Zeit. Ich will zur Ruhe gehen und mich schlafen legen. Gute Nacht! Wie dankbar ich dir bin, dafür giebt es keine Worte!«

Nachdem der kleine Billy auf solche Weise seine verlorene Fassung wiedergewonnen hatte, schlüpfte er, kurz vor Tagesanbruch, in sein eigenes Bett zurück.

 


 


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