George du Maurier
Trilby
George du Maurier

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Zweiter Teil.

»Dieu! qu' il fait bon la regarder,
La gracieuse, bonne et belle!
Pour les grands biens qui sont en elle
Chacun est prêt de la louer.«
       

Niemand hätte genau angeben können, wie Svengali eigentlich lebte, und nur sehr wenige wußten wo (oder warum). Er bewohnte im sechsten Stock eines Hauses der Rue Tire-Liard eine geräumige, aber sehr baufällige Dachkammer, in welcher außer einem Bett auf Rollen und dem Klavier nicht viel zu sehen war. Trotz seinem Talent hatte er in Paris noch kein Glück gehabt und war blutarm. Daran trug er aber höchst wahrscheinlich ganz allein die Schuld, mit seinem bald kriechenden, bald großsprecherischen Wesen. Er konnte entsetzlich spöttisch und unverschämt sein; selbst sein Scherz war mehr beleidigend als belustigend, denn er lachte meist am unrechten Ort, zur unrechten Zeit, über das unrechte Ding und auf so boshafte, höhnische Art, daß es jedermann empören mußte. Unerträglich war auch seine Selbstsucht und sein 60 Eigendünkel, und unleidlich die Schäbigkeit und Unsauberkeit seiner Person.

Er war ein unangenehmer Mensch und verdiente auch kein Mitgefühl wegen seiner Armut, die ihm wenig Ehre machte. Denn er erhielt fortwährend Zuschüsse aus der Heimat, von seinen alten Eltern, seinen Schwestern, Tanten, Vettern oder sonstigen Angehörigen, die weit hinten in Österreich bei harter Arbeit äußerst sparsam lebten, sehr stolz auf ihn waren und ihm jedes Opfer brachten.

Die einzige Tugend, die er besaß, war die Liebe zu seiner Kunst. Aber auch hier liebte er eigentlich nur den Meister in seiner Kunst – sich selbst; von allen andern lebenden oder toten Musikern sprach er mit Verachtung. Er spielte ihre Werke und bedauerte sie dabei aufs tiefste, daß sie nicht Svengalis göttliche Wiedergabe ihrer Schöpfungen hören konnten, denn keiner von ihnen wäre doch je imstande gewesen, solche Musik zu machen.

Unter seinen Zeitgenossen am Konservatorium zu Leipzig war er der beste Klavierspieler gewesen – und daher stammte seine maßlose Eitelkeit; auch verstand er wirklich, jedem Musikstück, das er vortrug, einen besonderen individuellen Reiz zu verleihen. Nur an die größten Meister durfte er sich nicht wagen; Chopin war seine höchste Leistung. Bei Händel, Bach und Beethoven wäre jener individuelle Reiz nicht angebracht gewesen.

Sein glühender Wunsch, Sänger zu werden, sollte 61 sich nicht erfüllen. Er hatte in Deutschland, Italien und Frankreich eifrige Studien getrieben, mit der vergeblichen Hoffnung, es werde sich doch noch bei ihm irgend eine Stimme entwickeln lassen. Aber die Natur war in diesem Punkte unerbittlich gewesen; er hatte wirklich keinen Ton in der Kehle, außer dem rauhen, heisern, krächzenden Laut, mit dem er sprach. Konnte er es aber auch trotz aller Anstrengung nicht zu einer Singstimme bringen, so erwarb er sich doch eine so gründliche Kenntnis der menschlichen Stimmwerkzeuge, wie sie vielleicht kein Mensch vor und nach ihm je besessen hat.

In seinem Innern aber sang und sang und sang er ohne Unterlaß, so himmlisch schön, wie wohl noch nie eine menschliche Nachtigall zur Wonne und zum Entzücken anderer Sterblicher gesungen hat. Das alltäglichste, abgedroschenste Lied aus dem Kaffeehaus, dem Kinderzimmer, der Schule, der Schenke, der Wachtstube, der Gasse, verwandelte sich ihm zu einer göttlichen Melodie. Selbst das Unbedeutendste und Geringste wußte er durch seine Zauberkunst zur höchsten Schönheit zu entwickeln, ohne auch nur eine Note zu ändern. Ich weiß, das klingt unglaublich, aber das soll es auch, sonst wäre ja kein Zauber dabei. Sein Herz, sein Gewissen, seine Mannesehre, sein Mut – alle Gefühle der Ehrfurcht, des Mitleids, der Liebe und Zärtlichkeit, die man sonst zu haben pflegt, waren bei ihm von dem einen Talent verschlungen worden, so daß ihm 62 zum täglichen Gebrauch keine Spur mehr davon übrig blieb. Alles, alles ergoß er in sein kleines Blasinstrument. – Wenn Svengali auf dem Klavier Chopin spielte, oder Ben Bolt auf seiner Jahrmarktsflöte, so glaubte man einen Engel des Himmels zu hören. Aber Svengali, der auf Erden wandelte und suchte wen er betrügen, verraten, ausbeuten, anpumpen konnte, oder verspotten, ärgern und plagen, – sei es Mann, Weib, Kind oder Hund – falls er sich nicht gezwungen sah zu kriechen und sich zu bücken – war wohl ein erbärmlicher Kerl.

Um ein paar Groschen zu verdienen, wenn er nichts mehr geborgt bekommen konnte, übernahm er dann und wann die Begleitung von Kaffeehauskonzerten. Aber selbst hierbei gab es häufig Ärgernis. Die Sänger flößten ihm Verachtung ein, und um sich Luft zu machen, spielte er zu laut, oder durchwob die Begleitung mit glänzenden Läufen und Verzierungen eigener Erfindung. Er fuhr wohl auch plötzlich mit den Händen in die Höhe und ließ sie bei den gefühlvollsten Stellen mit einem vollen Akkord auf die Tasten fallen; oder er schüttelte seine zottige Mähne, zuckte die Achseln, grinste die Zuhörer an und that, was er konnte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Musikstunden, welche er gab (hoffentlich nicht in höheren Töchterschulen), wurden ihm wahrscheinlich schlecht bezahlt, denn er hatte selten einen roten Heller in der Tasche und borgte überall Geld, ohne es je zurückzugeben, so daß er zuletzt den Beutel und die Geduld seiner sämtlichen Bekannten erschöpft hatte.

Gecko, Svengalis einziger Freund, wohnte nicht weit von ihm in einer kleinen Dachkammer im Impasse des Ramoneurs, und war als zweite Violine im Orchester des Gymnase angestellt. Er teilte seinen geringen Verdienst redlich mit dem Meister, dem er seine große, der Welt noch verborgene Kunst verdankte. Außer ihm hatte Svengali noch eine Freundin (gehabt), nämlich die geheimnisvolle Honorine, über die er gern allerlei Andeutungen fallen ließ. Er prahlte, daß sie ›une jeune femme du monde‹ sei; das war aber nicht der Fall. Mademoiselle Honorine Cahen (oder wie sie im Quartier latin hieß: Mimi la Salope), eine kleine schmutzige und schlampige Jüdin mit einem Puppengesicht, erwarb ihr Brot als Modell und stand in gesellschaftlicher Beziehung auf einer sehr niederen Stufe – tout ce qu'il y a de plus canaille.

Doch besaß sie ein lebhaftes Gemüt, eine wunderhübsche Stimme und natürliche Sangesgabe, so daß man über ihren süßen Tönen den abscheulichen Accent vergaß. Während sie in Carrels Atelier Modell stand, pflegte sie ihre Lieder zu singen. Als der kleine Billy sie dort zum erstenmal hörte, war er ganz entzückt, und doch zugleich entsetzt bei dem Gedanken, daß sie ein berufsmäßiges Modell sei. Wenn ein solches besonders anziehend war, wurde sein Zartgefühl dadurch immer verletzt, denn er 64 verehrte das weibliche Geschlecht und hätte jede Sängerin anbeten können, die eine volle, schöne Altstimme besaß. Am meisten schwärmte er für eine Stimme, die in den Mitteltönen umschlägt und dann aufwärts schwebt, wie ein engelgleicher Knabendiskant; sie fesselte ihn unwiderstehlich, traf ihn mitten in's Herz und brachte sein ganzes Innere in Aufruhr.

Er hatte einmal die Alboni singen hören, und das war ein Ereignis in seinem Leben; die Sirenen hätten mit ihm leichtes Spiel gehabt. Selbst die Schönheit wirkte nicht so mächtig auf ihn wie die Gewalt der Töne – die Nachtigall trug den Sieg davon über den Paradiesvogel.

Daß die arme Mimi la Salope weder die Stimme noch die Schule der Alboni hatte, brauche ich wohl kaum zu sagen, aber ihr Gesang war ganz rein und allerliebst. Ja ordentlich berückend in seiner kunstlosen Art.

Sie sang kleine Lieder von Béranger. ›Grandmère; parlez-nous de lui!‹ oder ›T'en souviens-tu? disait un capitaine!‹ oder ›Enfants' c'est moi qui suis Lisette!‹ und ähnliche hübsche Sachen, bei denen dem kleinen Billy leicht das Auge feucht wurde. Aber bald stimmte sie auch andere Weisen an, zu denen Béranger die Worte nicht gemacht hatte. Das Französisch des kleinen Billy reichte nicht aus, um sie zu verstehen, doch erriet er leicht aus dem schallenden Gelächter, mit welchem die ›rapins‹ in Carrels Atelier die witzigen Stellen begleiteten, daß es recht gemeine 65 kleine Lieder sein mußten, trotzdem die Stimme der Sängerin noch ebenso rührend und engelgleich klang. Das machte ihm große Pein; er schämte sich an ihrer Stelle und war völlig entzaubert.

Svengali hatte sie in der Brasserie des Porcherons, einer Schenke der Rue du Crapaud-volant singen hören und ihr vorgeschlagen, sie zu unterrichten. Sie kam zu ihm in die Dachkammer, wo er ihr vorspielte, mit ihr liebäugelte, sie angrinste und anblitzte mit den stechenden schwarzen Augen, die sie zu durchbohren schienen. Bald wußte sie nicht mehr, wie ihr geschah und warf sich in Gedanken voll Ehrfurcht und Anbetung vor diesem glorreichen Sohn ihres Volkes in den Staub.

Ihre erbärmliche, gemeine, schmutzbefleckte kleine Seele sah in ihm einen hohen, herrlichen Helden und Propheten, der mit Schalmeien und Cymbelklang den Gott Israels pries und seinen Ruhm verkündete – David und Saul in einer Person.

Nun fing er an sie zu lehren; zuerst war er freundlich und geduldig, nannte sie mit allerlei Schmeichelnamen, seine ›Rose von Saron‹, seine ›Perle von Babylon‹, seine ›gazellenäugige kleine Jerusalemer Lerche‹, die er zur Königin aller Nachtigallen machen werde.

Bevor er ihr aber irgend etwas beibringen konnte, mußte sie erst alles vergessen, was sie wußte. Das Atemholen, die Stimmbildung, der Ansatz – alles war 66 verkehrt. Sie arbeitete unermüdlich, um ihm zu gefallen und hatte bald alle die hübschen kleinen Eigenheiten und anmutigen Kunststückchen verlernt, die ihrer Stimme natürlich waren.

Es fehlte ihr jedoch, trotz ihres scharfen Gehörs, an musikalischem Verständnis, überhaupt an allem Verständnis, außer für Sous und Centimes. Sie war so dumm, wie ein kleiner Vogel, der eben aus dem Ei gekrochen ist, und ihre Stimme war weiter nichts als ein angeborenes Gezwitscher, wie Lerchenklang und Drosselschlag, nur durch Kopf, Nase und Kehle erzeugt (gerade eine Stimme, die er gar nicht zu behandeln verstand). Es gehörte ihre Jugend dazu, ihre blühende Gesundheit und ausgelassene Fröhlichkeit – das war auch ihr ganzer Reiz, nur eine beauté du diable, beauté damnée. –

Mit Anstrengung aller ihrer Kräfte übte sie sich in der neuen Methode so viel sie irgend konnte, bis sie heiser war, kaum daß sie sich Zeit zum Essen und Schlafen gönnte. Er wurde nun rauh und ungeduldig, kalt und strenge, aber sie liebte ihn nur um so mehr. Je mehr sie ihn aber liebte, desto ängstlicher wurde sie, und von Tag zu Tag sang sie schlechter. Ihre Stimme schnappte über, das Gehör versagte ihr, die Töne, die sie hervorbrachte, klangen fast so absonderlich wie Trilbys. Da verlor er ganz die Geduld, schimpfte fürchterlich, kniff und puffte sie mit seinen großen, knochigen Händen, bis sie jämmerlich schluchzte und ganz 67 in Thränen zerfloß. Er borgte auch Geld von ihr, Fünffrankstücke, Franken, selbst halbe Franken, die er nie zurückbezahlte; er schrie sie an, zankte und fluchte, bis sie ganz wahnsinnig wurde vor lauter Liebe und mit Freuden sechs Stock hoch aus dem Fenster gesprungen wäre, hätte er es verlangt.

Das that er jedoch nicht; es kam ihm nicht in den Sinn, hätte ihm auch nicht einmal viel Spaß gemacht. Aber an einem schönen Sabbatmorgen (einem Samstag, meine ich) packte er sie bei den Schultern und warf sie ein für allemal zu seiner Dachkammer hinaus. Dabei schwur er hoch und teuer, daß er sie auf der Polizei verklagen würde, wenn sie sich je wieder vor ihm blicken ließe – eine furchtbare Drohung für die arme Mimi la Salope und ihresgleichen.

»Da würde sich ja zeigen, wo alle die Fünffrankstücke hergekommen seien – Nein – mit denen sie ihm die vielen Singstunden hätte bezahlen wollen, die sämtlich an ihr weggeworfen waren. – Doch nicht etwa von den Malern, denen sie Modell gestanden – Nein?«

So kehrte denn die kleine gazellenäugige Jerusalemer Lerche wieder in den Staub der Pariser Straßen zurück, dem sie durch ihre Geburt angehörte; die Flügel waren ihr beschnitten, Kraft und Mut gebrochen und mit ihrem Singen war es auf immer vorbei; sie hatte kaum noch so viel Ton in der Kehle wie ein gemeiner Gartensperling.

68 Darum hören wir auch nichts weiter von ›la betite Honorine‹.

Als Svengali am Morgen nach diesem Ereignis in seiner Dachkammer erwachte, fühlte er die unbezwingliche Sehnsucht, sich einen guten Tag zu machen, denn es war Sonntag und wunderschönes Wetter.

Er streckte den Arm lang aus nach Beinkleidern und Weste, die am Boden lagen, erfaßte sie und leerte den Inhalt sämtlicher Taschen aus seiner zerlumpten Wolldecke aus: kein Silber, kein Gold, nur wenige Sous und Centimes, die gerade zu einem magern ersten Frühstück reichten!

Gecko hatte er tags zuvor rein ausgebeutelt und den Ertrag (mindestens zehn Franken) an einem einzigen Abend verpraßt, ohne Gecko an seinen Freuden teilnehmen zu lassen; er wußte niemand mehr, bei dem er borgen konnte, außer dem kleinen Billy, Taffy und dem Laird, die er seit einigen Tagen vernachlässigt und nicht angepumpt hatte.

Nachdem er in seine Kleider geschlüpft war, betrachtete er sich in einem kleinen Spiegelscherben und fand, daß seine Stirn wenig zu wünschen übrig ließ, Augen und Schläfen aber eine entschiedene Schmutzfarbe zeigten. Er goß daher ein wenig Wasser aus einem kleinen Krug in ein kleines Waschbecken, drehte den Zipfel seines Taschentuchs um den Zeigefinger, tauchte ihn ein und entfernte die störenden Flecken. Seine Hände, dachte er, könnten gut noch einen oder zwei Tage bleiben wie sie waren; er fuhr sich mit 69 den Fingern durch die verwirrte Mähne und strich sich die Haare hinter das Ohr, wobei er ihnen den gewissen Schwung gab, den er so sehr liebte und der seinen englischen Freunden ein Greuel war. Dann setzte er sein Barett auf, hing den Sammetmantel um und schlenderte hinaus in die sonnenbeschienenen Straßen, wo ihn ein gewisses Gefühl von Freiheit und Lust überkam, dessen sich kein Mensch an einem hellen Sonntagmorgen des Maimonats in Paris erwehren kann.

Er fand den kleinen Billy mit Seife und Schwamm in einer Zinkwanne sitzend, und der Anblick belustigte und interessierte ihn so sehr, daß er darüber den Zweck seines Besuchs fürs erste ganz vergaß.

»Himmel! Warum zum Henker thun Sie das?« fragte er in seinem polnischen Deutsch-Französisch.

»Natürlich doch, weil ich mich rein waschen will!«

»Ach! und wie zum Kuckuck haben Sie sich denn schmutzig gemacht?«

Auf diese Frage fand der kleine Billy nicht gleich eine Antwort, und so setzte er denn seine kräftigen Abwaschungen nach Art der Engländer mit Sprudeln, Spritzen und Prusten fort. Svengali lachte laut und lange über den kleinen Engländer, der sich rein waschen wollte – tâchant de se nettoyer!

Als er so sauber war, wie es die Umstände zuließen, bat ihn Svengali um zweihundert Franken auf Borg, worauf ihm der kleine Billy ein Fünffrankstück gab.

70 Das genügte dem Deutschpolen einstweilen, faute de mieux, und er fragte ihn, wann er sich wieder rein waschen würde, da er sehr gern dabei sein wollte, um zuzusehen.

»Demaing mattaing, à votre service!« sagte der kleine Billy mit höflicher Verbeugung.

»Was!! Am Montag auch!! Gott im Himmel! Waschen Sie sich denn alle Tage rein?«

Er lachte und lachte, bis er aus dem Zimmer und aus dem Hause war; immerfort lachend ging er über den Platz de l'Odéon und die Rue de Seine hinunter, wo der Vollblutmensch wohnte, den er durch die Schilderungen der sonderbaren Waschungen des kleinen Billy so günstig für sich zu stimmen hoffte, daß er noch ein Fünffrankstück – oder auch zwei – von ihm entlehnen könnte.

Wie sich der Leser bereits denken wird, fand er Taffy gleichfalls im Bade, worauf er in ein schallendes Gelächter ausbrach, förmliche Krämpfe kriegte, sich die Seiten hielt, sich wand und krümmte und mit seinem schmutzigen Zeigefinger auf den großen, splinternackten Briten deutete, bis Taffys Geduldsfaden riß und er die Sache krumm nahm.

»Was zum Teufel soll denn das Gegacker, Sie Schafskopf! Wollen Sie etwa zum Fenster hinaus in die Rue de Seine befördert sein! Warten Sie nur, ich will Ihnen einmal den Kopf waschen!«

Mit einem Sprung war Taffy aus der Wanne heraus. 71 Vor seiner herkulischen Gestalt und seinem gerechten Zorn erschrak Svengali so sehr, daß er die Flucht ergriff.

»Donnerwetter,« rief er, die enge Treppe des Hotel de Seine hinunterstolpernd, »was für ein Dickkopf, was für ein Schweinehund, was für ein grober, niederträchtiger, verfluchter Kerl von einem Engländer!«

Dann stand er nachdenklich still.

»Jetzt gehe ich zu dem Schottländer, auf dem Platz St. Anatole des Arts und hole mir mein zweites Fünffrankstück. Aber eine Weile will ich doch noch warten, damit er mit dem Waschen auch sicher fertig ist.«

So frühstückte er denn in der crêmerie Souchet in der Rue Clopin-Clopant, und da er jetzt keine Angst mehr vor Taffy hatte, fing er wieder von vorne an zu lachen, als ob er bersten wollte.

An einem Tage zwei Engländer zu sehen, die versuchen sich rein zu waschen, einen kleinen und einen großen, das war doch wirklich zu komisch. Die beiden hatte er ordentlich zum Besten gehabt, meinte er, sie würden an ihn denken!

Von seinem Standpunkt aus hatte er eigentlich Recht. Man kann, wenn man will, in einer Woche ebenso schmutzig werden, wie in einem ganzen Menschenleben; wozu soll man sich also so viele Mühe geben mit täglichen Waschungen? Auch braucht man wirklich nicht reiner zu sein als die Leute, mit denen man umgeht, man wird sonst 72 leicht für eingebildet und pedantisch gehalten und erregt das Mißfallen seiner Bekannten.

Gerade als Svengali bei dem Laird anklopfen wollte, kam Trilby die Treppe herunter aus Duriens Wohnung. Sie sah sehr verändert aus, hatte große, schwarze Ringel um ihre vom Weinen geröteten Augen, und die Sommersprossen machten die Blässe ihrer Wangen noch auffallender.

»Fous afez tu chacrin, matemoiselle?« fragte er.

Sie erwiderte, daß sie neuralgische Schmerzen in den Augen habe, woran sie zuweilen leide. Der Anfall dauere gewöhnlich vierundzwanzig Stunden; es sei ein Schmerz, um wahnsinnig zu werden.

»Vielleicht kann ich Sie heilen; kommen Sie mit mir herein.«

Der Laird war mit seinen Waschungen offenbar fertig (wenn er sich an jenem Morgen überhaupt den Genuß gegönnt hätte). Er verzehrte sein Frühstück, das aus einer Buttersemmel und selbstgebranntem Kaffee bestand. Als er die arme Trilby so leiden sah, war er tief bekümmert und bot ihr Branntwein, Kaffee und Pfeffernüsse an, doch wollte sie weder essen noch trinken.

Svengali hieß sie sich auf den Divan setzen, nahm ihr gegenüber Platz und sagte, sie solle unverwandt auf das Weiße in seinen Augen sehen.

»Recartez-moi pien tans le planc tes yeux.«

Dann strich er ihr über Stirn und Schläfen, Wangen 73 und Hals, leise hin und her. Bald schloß sie die Augen, und der Ausdruck ihrer Züge wurde ruhiger. Nach einer Weile, etwa einer Viertelstunde, fragte er, ob sie den Schmerz noch fühle.

»Oh! presque plus du tout, monsieur - c'est le ciel!«

Einige Minuten darauf erkundigte er sich bei dem Laird, ob er Deutsch könnte.

»Nur genug, um es zu verstehen,« entgegnete dieser (er hatte ein Jahr in Düsseldorf studiert).

»Sie schläft nicht,« versicherte ihn nun Svengali auf Deutsch, »aber doch soll sie die Augen nicht öffnen können. Versuchen Sie es einmal.«

»Miß Trilby,« fragte der Laird auf Englisch, »schlafen Sie?«

»Nein.«

»Wollen Sie nicht die Augen aufmachen und mich ansehen?«

Sie bemühte sich vergebens es zu thun und sagte, es ginge nicht.

»Jetzt soll sie den Mund nicht aufmachen können,« fuhr Svengali fort. »Versuchen Sie.«

»Warum konnten Sie die Augen nicht öffnen, Miß Trilby?«

Sie wollte sprechen, aber ihre Lippen blieben geschlossen.

74 »Nun kann sie nicht vom Divan aufstehen. Versuchen Sie!«

Aber Trilby war wie durch Zauberkraft gebunden und vermochte sich nicht zu rühren.

»Jetzt löse ich den Bann,« sagte Svengali.

Und siehe da! – sie sprang auf, reckte die Arme in die Höhe und rief: »Vive la Prusse! me v'là guérie!« Sie küßte Svengali vor Dankbarkeit die Hand, und er lachte, fletschte seine großen braunen Zähne, rollte die Augen und fauchte wie ein Kater.

»Jetzt will ich zu Durien gehen und ihm sitzen. Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, monsieur. Sie haben mir den Schmerz ganz und gar vertrieben!«

»Jawohl, matemoiselle. Jetzt habe ich ihn; gerade hier im Ellenbogen. Aber ich liebe ihn, weil er von Ihnen herrührt. So oft Sie Schmerzen haben, kommen Sie nur zu mir. Nummer 12 Rue Tire-Liard au sixième, an dessus de l'entresol; ich werde Sie heilen und Ihren Schmerz selber leiden –«

»O, Sie sind zu gütig!« In ihrer Freude drehte sie sich ein paarmal auf dem Absatz herum und ließ den gewohnten Kriegsruf ertönen: »Die Milch ist da!« Er hallte mächtig durch den ganzen Raum, und aus dem Klavier kam ein feierlicher Widerklang.

»Was bedeutet denn das, matemoiselle?«

»So ruft der Milchmann in England.«

75 »Ein herrlicher Ton, matemoiselle, wunderschön! Er geht mitten durchs Herz, wurzelt tief im Magen und erblüht in Harmonie auf den Lippen, wie Madame Albonis Stimme – vortrefflich – c'est un cri du coeur!«

Trilby wurde rot vor Stolz und Freude.

»Ja, matemoiselle, bei meiner Ehre! Ich kenne nur einen Menschen auf der Welt, der den Ton so gut erzeugen kann wie Sie!«

»Wer denn, monsieur – vielleicht Sie selbst?«

»Ach nein, matemoiselle, so bevorzugt bin ich nicht. Ich besitze leider gar keine Stimme . . . . Es ist ein Kellner vom Café de la Rotonde, im Palais Royal; wenn man Kaffee bestellt, ruft er: Bumm! in Basso profundo Tiefstimme – Contra Fes. – Es ist phänomenal – ganz wie eine Kanone – die versteht sich auch auf Tonerzeugung. Man bezahlt ihm tausend Franken dafür im Café de la Rotonde, wo der Kaffee nicht sehr gut ist. Wenn er stirbt, wird man ganz Frankreich nach so einem durchsuchen, und dann ganz Deutschland, wo die großen Kellner zu Hause sind – und die großen Kanonen – aber man wird keinen Ersatz für ihn finden, und das Café de la Rotonde muß Bankrott machen, wenn Sie nicht die Stelle annehmen. Bitte, erlauben Sie, matemoiselle, daß ich einmal in Ihren Mund sehe.«

Sie machte den Mund weit auf und er schaute hinein.

»Himmel! Die Höhlung Ihres Mundes ist oben 76 gewölbt wie der Dom des Pantheons, es ist übrig Raum darin für ›toutes les gloires de la France;‹ die Öffnung des Kehlkopfes ist so weit wie die mittlere Pforte von St. Sulpice, wenn an Allerheiligen die Menge hereinströmt. Und kein einziger fehlt von den zweiunddreißig großen, milchweißen britischen Zähnen. Ihr Züngelchen ist muldenförmig vertieft wie das Blütenblatt einer Pfingstrose, und Ihr Nasenrücken gleicht dem Bauch einer Stradivarius-Geige – ein prachtvoller Resonanzboden! Die Lunge in Ihrem schönen weiten Brustkasten ist wie von Leder so stark, Ihr Atem hat einen balsamischen Duft, wie der Atem einer schönen, weißen, jungen Milchkuh, die sich von Frühlingsblumen auf der Wiese nährt. Und Ihr Herz, matemoiselle, ist weich, lebhaft, empfänglich – ein goldenes Herz! Das liest man in Ihrem Gesicht beim ersten Blick!

Votre coeur est un luth suspendu!
Aussitôt qu'on le touche, il résonne...

Wie schade daß Sie nicht auch musikalisch beanlagt sind!«

»Aber das bin ich doch, monsieur! Haben Sie mich denn nicht ›Ben Bolt‹ singen hören? Wie kommen Sie darauf, das zu sagen?«

Svengali geriet einen Augenblick in Verlegenheit.

»Wenn ich die ›Rosamunde‹ von Schubert spiele, rauchen Sie eine Zigarette und schauen sich um . . . Sie sehen den großen Taffy an, den kleinen Billy und die 77 Bilder an den Wänden; oder Sie sehen zum Fenster hinaus, nach dem Himmel, den Schornsteinen und Notre Dame de Paris. Svengali aber sehen Sie nicht an, und er blickt doch einzig und allein auf Sie, und spielt für Sie die ›Rosamunde‹ von Schubert!«

»Oh, maïe, aïe!« rief Trilby »wie wunderschön Sie das sagen.«

»Aber es thut nichts, matemoiselle, wenn Sie wieder Schmerzen haben, kommen Sie nur zu Svengali; er wird sie Ihnen fortnehmen und selber behalten, als ein soufenir.. Sind Sie dann wieder wohl, so spielt er die ›Rosamunde‹ von Schubert für Sie ganz allein, und dann: ›Messieurs les étudiants, montez à la chaumière...‹ weil das lustiger ist. Und Sie sollen nichts sehen, nichts hören, nichts denken, als nur Svengali, Svengali, Svengali!«

Nach diesem großartigen Schluß seiner Rede hielt er für das beste, sich schleunig zu entfernen, um die Wirkung nicht abzuschwächen. Er bückte sich über Trilbys wohlgeformte Hand mit den Sommersprossen, küßte sie, verneigte sich rasch und verlies das Zimmer, ohne erst noch das Fünffrankstück zu entlehnen.

»Ein närrischer Kauz,« meinte Trilby. »Mir ist, als wäre er eine große, hungrige Spinne und ich die Fliege im Netz. Aber mein Schmerz ist fort; er hat ihn vertrieben. Sie können sich gar nicht vorstellen, was das für eine Qual ist, wenn der Anfall kommt.«

78 »Ich würde mich aber doch nicht zu viel mit dem Menschen einlassen,« sagte der Laird. »Lieber möchte ich den ärgsten Schmerz ertragen, als mich auf solche unnatürliche Weise kurieren lassen. Svengali ist ein schlechter Mensch, davon bin ich überzeugt. Er hat Sie magnetisiert, das ist die ganze Geschichte. Ich habe schon oft davon reden hören, es aber noch nie mit angesehen. Mesmerismus nennt man es. Die Leute bekommen Gewalt über einen und man muß alles thun, was sie wollen – lügen, morden, stehlen; man kann nicht anders. Das Ende vom Liede aber ist, daß sie einen umbringen, wenn sie ihren Zweck erreicht haben. Es ist ganz schauderhaft; man mag gar nicht daran denken.«

So ernst und feierlich hatte der Laird noch nie gesprochen; er war kaum wieder zu erkennen. Seine eindringliche Rede verfehlte ihre Wirkung auch auf ihn selber nicht; sie klang wie eine prophetische Weissagung, und erhöhte noch das Grauen, welches er ohnehin empfand.

Der armen Trilby wurde es ganz unheimlich, und kalte Schauer rieselten ihr durch die Glieder. Sie war eine höchst empfängliche Natur, sonst wäre sie auch durch Svengalis hypnotische Kraft nicht so leicht zu beeinflussen gewesen. Den ganzen Tag über, während sie Modell stand bei Durien (dem sie nichts von ihrem Erlebnis erzählt hatte), konnte sie die Erinnerung an Svengali nicht los werden; sie sah seine großen Augen unverwandt auf sich 79 gerichtet und fühlte, wie er mit den weichen, unsaubern Fingerspitzen ihr Gesicht berührte. Angst und Widerwillen stürmten immer heftiger auf sie ein. ›Svengali, Svengali, Svengali!‹ dröhnte und klang es ihr fort und fort in den Ohren und im Gehirn, wie Glockengeläute und Totenklage, bis sie es kaum mehr ertragen konnte, und die Pein fast schlimmer war, als der Schmerz in ihren Augen.

»Svengali, Svengali, Svengali!«

Endlich fragte sie Durien, ob er ihn kenne.

»Parbleu! Si je connais Svengali!«

»Qu'est-ce que t'en penses?«

»Quand il sera mort, ça fera une fameuse crapule de moins!«

* * *

»Chez Carrel.«

Carrels Atelier (oder Malerschule) befand sich in der Rue Notre Dame des Potirons St. Michel, am Ende eines großen Hofes, auf den viele nach Norden gelegene Fenster hinausgingen. Durch jedes dieser Fenster schaute das Himmelslicht in ein großes, unsauberes Atelier. Das größte und schmutzigste von allen aber war Carrels, wo zwischen dreißig und vierzig Schüler sich täglich, mit Ausnahme des Sonntags, im Aktzeichnen und Malen übten; morgens von acht bis zwölf, und noch zwei Stunden jeden Nachmittag; nur nicht am Samstag, da dieser für die 80 nötige Reinigung des Augiasstalles durch fegen und scheuern bestimmt war. Eine Woche stellte man ihnen ein männliches Modell, die nächste ein weibliches; es wurde das ganze Jahr hindurch regelmäßig damit abgewechselt.

Ein Ofen, ein erhöhter Tritt für das Modell, eine Menge Schemel und Kisten, etwa fünfzig starke, niedrige Stühle mit Lehnen, eine Anzahl Staffeleien und viele Zeichenbretter bildeten die ganze Einrichtung.

Die kahlen Wände waren über und über mit Karrikaturen bedeckt – des charges – in Kohle und Kreide, auch mit den abgekratzten Farben vieler Paletten – eine in ihrer bunten Mannigfaltigkeit dem Auge wohlgefällige Verzierung.

Für Benutzung des Ateliers und des Modells zahlte jeder Schüler zehn Franken monatlich an den massier, den ältesten Schüler und verantwortlichen Leithammel der Herde. Außerdem erwartete man noch von jedem Neueintretenden, daß er dreißig, vierzig oder fünfzig Franken springen ließ, um die ganze Gesellschaft mit Kuchen und Punsch zu bewirten.

An jedem Freitag kam der große Künstler, Monsieur Carrel, ein stattlicher, wohlgekleideter, ausnehmend höflicher Herr (der, wie sich gebührte, die Rosette der Ehrenlegion im Knopfloch trug) auf zwei oder drei Stunden ins Atelier und verweilte einige Minuten bei jedem Zeichenbrett, jeder Staffelei; sogar zehn oder zwölf Minuten, wenn es einem fleißigen und vielversprechenden Schüler galt.

Er that dies nicht für Geld, sondern aus Liebe zur 81 Kunst, und verdiente in hohem Maße die Ehrerbietung, welche ihm diese (im übrigen höchst unehrerbietige und unbändige) Genossenschaft zollte, die aus den verschiedensten Elementen zusammengesetzt war.

Es gab Graubärte darunter, die dort mehr als dreißig Jahre gearbeitet hatten, noch vor Carrels Zeit. Einen Torso konnten sie beinah so gut wie Tizian oder Velasquez malen – beinah, aber nicht ganz so gut; zu etwas anderem brachten sie es jedoch nie und blieben stehende Größen bei Carrel ihr Leben lang.

Auch jüngere Leute sah man da, die in zwei, drei, vier, fünf, zehn oder zwanzig Jahren berühmt werden und in die Fußstapfen ihres Meisters treten würden; andere hinwieder, von denen sich ebenso sicher annehmen ließ, daß Unglück und Mißerfolg in Zukunft ihrer harrten – daß sie im Spital, der Dachkammer, dem Fluß, der Morgue enden würden, oder, was noch schlimmer war, mit dem Reisesacke herumziehen, auf der Straße liegen, vielleicht gar hinter dem väterlichen Ladentische stehen.

Unmündige Knaben zählten dazu, die reinen ›rapins‹ voller Ausgelassenheit, Unfug und Mutwillen – blague et bagout parisien – kleine Aufrührer und Tumultuanten, Witzbolde, Eisenfresser, Opferlämmer; fleißige und faule Lehrlinge, gute und schlechte, saubere und schmutzige (besonders letztere). Alle waren mehr oder weniger von einem gewissen esprit de corps erfüllt und im ganzen sehr 82 glücklich und lustig bei der Arbeit, immer offenherzig und bereit, jedem mit künstlerischem Rat unter die Arme zu greifen, der ernstlich danach verlangte. Die Redewendungen freilich, deren sie sich dabei bedienten, klangen für die Eigenliebe des Betreffenden oft nicht allzu schmeichelhaft.

Ehe der kleine Billy Mitglied dieser Brüderschaft wurde, hatte er drei oder vier Jahre lang in der Londoner Kunstschule nach dem lebenden Modell und im Britischen Museum nach der Antike gezeichnet und gemalt – er war also kein Anfänger mehr.

Als er an einem Montag Morgen sein Debüt bei Carrel machte, war ihm etwas ängstlich und unbehaglich zu Mute. Er hatte die französische Sprache zwar eifrig daheim in England betrieben und konnte ziemlich gut lesen, auch einigermaßen schreiben und sprechen, aber letzteres wurde ihm sehr schwer. Er fand auch, daß das Atelier-Französisch gar keine Ähnlichkeit mit der glatten, höflichen Sprache hatte, die zu erlernen ihn so viel Mühe kostete. Ollendorff will nun einmal mit dem Quartier latin nichts zu schaffen haben. Auf Taffys Rat – denn Taffy war auch Carrels Schüler gewesen – händigte der kleine Billy dem massier sechzig Franken als bienvenue ein – eine Riesensumme. Diese Freigebigkeit machte einen sehr günstigen Eindruck und trug viel dazu bei, etwaige Vorurteile zu besiegen, die sein zierlicher Anzug, sein sauberes Äußere und sein höfliches Wesen erzeugt haben mochten. Es wurde 83 ihm ein Platz angewiesen, ein Reißbrett und eine Staffelei; er arbeitete gern im Stehen und wollte mit einer Kreidezeichnung anfangen.

Jetzt war das Modell gestellt und alle machten sich schweigend an die Arbeit. Am Montagmorgen geht es ja überall in der Christenheit meist recht flau und grämlich zu. Während der Freiviertelstunde traten einige Schüler an die Staffelei des kleinen Billy, um seine Leistungen zu begutachten. Sie sahen auf den ersten Blick, daß er seine Sache verstand, und das flößte ihnen Achtung ein.

Er besaß von Natur eine sehr leichte Hand, oder vielmehr zwei, denn seine linke war ebenso geschickt wie die rechte. Auf der Londoner Kunstschule hatte er schon nach den ersten Monaten die Unsicherheit des Striches verloren, welche der angehende Maler oft in Jahren nicht los wird, während sie dem Dilettanten lebenslang anhaftet. Selbst seine flüchtig hingeworfenen Bleistiftskizzen zeigten eine unnachahmliche Bestimmtheit, und die ihm eigentümliche Anmut ließ sich in jeder Linie wiedererkennen. Sein Pinselstrich auf Leinwand oder Papier war wie Svengalis Anschlag – einzig in seiner Art.

Im Laufe des Vormittags wurden nun allerlei kleine Annäherungsversuche gemacht. Der erste, welcher das Eis des Schweigens brach, war Lambert, ein junger Mensch mit höchst komischem Gesichtsausdruck. Im schlechtesten Englisch warf er plötzlich und ganz unvermittelt die Frage auf:

84 »Habt ihr meines Vaters alten Schuh gesehen?« die er selbst beantwortete:

»Nein, ich habe nicht meines Vaters alten Schuh gesehen.«

Dann nach einer Pause:

»Habt ihr meines Vaters alten Hut gesehen?«

»Nein, ich habe nicht Ihres Vaters alten Hut gesehen.«

»Ich finde den Kopf des Engländers sehr hübsch. Meinst du nicht auch, Barizel?«

»Ja, aber warum sehen seine Augen wie zwei Feuerkugeln aus?«

»Weil er ein Engländer ist.«

»Und warum ist denn sein Rücken so gerade und steif, als hätte er die Vendômesäule verschluckt bis zur Schlacht bei Austerlitz?«

»Weil er ein Engländer ist.«

So ging es weiter, bis es an der Außenseite des kleinen Billy nichts mehr zu beschreiben gab. Dann hieß es:

»Papelard!«

»Was denn?«

»Ich möchte wissen, ob der Engländer auch sein Gebet nicht vergißt, wenn er zu Bette geht.«

»Frage ihn doch.«

»Frage du ihn lieber!«

»Ich möchte gern wissen, wie der Engländer sein Herz 85 verloren hat, und möchte die Geschichte seiner ersten Liebe ganz genau und umständlich erzählen hören.«

»Frage ihn doch.«

»Frage du ihn lieber.«

»Ich möchte wissen, ob der Engländer Schwestern hat, und wie viele; auch wie alt sie sind und wie sie heißen.«

»So frage ihn doch!« u. s. w. u. s. w.

Dem kleinen Billy, der wohl merkte, daß er der Gegenstand der Unterhaltung sei, war dies unbehaglich. Nicht lange, so redete man ihn direkt an.

»Ditesdonc, l'Anglais?«

»Quoa?« sagte der kleine Billy.

»Avez-vous une soeur?«

»Wui.«

»Est-ce qu'elle vous ressemble?«

»Nong.«

»C'est bien dommage! Est-ce qu'elle dit ses prières, le soir, en se couchant?«

Der kleine Billy wurde puterrot und schaute so wild um sich, daß man für gut hielt, die Bekanntschaft auf eine andere Weise zu eröffnen.

Nicht lange, so äußerte Lambert: »Si nous mettions l'Anglais à l'échelle?«

Der kleine Billy war im voraus gewarnt worden und wußte, was das zu bedeuten hatte. Man wurde auf eine Leiter gebunden und in feierlichem Zuge auf dem Hof hin und her getragen. Sträubte man sich, so kam man unter die Pumpe.

In der nächsten Zwischenpause ward ihm eröffnet, daß er sich, wie gebräuchlich, der unwürdigen Behandlung zu unterwerfen habe, und die Leiter (man brauchte sie im Atelier, um die höchsten Wandbretter erreichen zu können) war schon zur Stelle.

Aus den Mienen des kleinen Billy strahlte die herzgewinnendste Freundlichkeit, und er ließ sich so gutmütig festbinden, daß man einstimmig äußerte, es sei kein Witz dabei und ihn wieder frei gab. So entkam er der Leiterprobe.

Taffy war ihr auch entgangen, aber auf andere Weise: Als man sich seiner bemächtigen wollte, hatte er den ersten ›rapin‹, der ihm unter die Hand kam, ergriffen und als eine Art Streitkolben benutzt. Er schwang ihn so hoch in die Luft und schlug so viele Schüler, Staffeleien und Zeichenbretter zu Boden, daß ein fürchterlicher Wirrwarr entstand und man allgemein nach ›Frieden‹ rief. Hierauf gab er so erstaunliche und wunderbare Kraftproben zum besten, daß das Andenken daran noch jahrelang in Carrels Atelier fortlebte. Er wurde zur Legende, zur Mythe! Wo sich Überreste des damaligen Quartier latin erhalten haben, erzählt man noch heute, daß er sieben Fuß hoch war und den massier samt dem Modell wie zwei Billardkugeln in die Höhe werfen und auffangen konnte – alles nur mit der linken Hand.

Doch kehren wir zu dem kleinen Billy zurück. Als 87 es zwölf schlug, wurde Punsch und Kuchen hereingebracht. Ein herzerfreuender Anblick, der alle in die beste Laune versetzte. Es gab dreierlei Kuchen: Babas, Madeleines und Savarins – das Stück zu drei Sous. Sie waren im Quartier latin gerade so gut wie an anderen Orten, und ich weiß in ganz Frankreich, ja in der ganzen Welt, keine Kuchen, die sich mit diesen vergleichen ließen! Mit Madeleine muß man anfangen, weil es ein ziemlich schweres, sättigendes Backwerk ist; dann kommt Baba an die Reihe, und zuletzt Savarin, ein sehr leichter, ringförmiger Kuchen, der nach Rum schmeckt. Hat man den gegessen, so wird man gut daran thun, aufzuhören.

Der Punsch war süß, warm und durchaus nicht zu stark.

Auf den erhöhten Tritt, den man in die Mitte geschoben hatte, wurde ein Stuhl für den kleinen Billy gesetzt, damit er seine Gaben austeilen konnte. Er besorgte die Bewirtung mit liebenswürdiger Höflichkeit; zuerst bot er dem massier an, dann den übrigen Graubärten, je nach Alter und Würde, bis zum Modell herab.

Eben wollte er nun auch selbst zulangen, als man ihn bat, der Gesellschaft ein englisches Lied vorzusingen. Nach einigem Zögern stimmte er eine Romanze an, das einzige halbwegs komische Lied, das er kannte. Es handelte von einem lustigen Kavalier, welcher der Herrin seines Herzens ein Ständchen bringt; auch eine Strickleiter und ein paar Reiterhandschuhe kommen darin vor, doch sind sie 88 nicht das Eigentum des lustigen Kavaliers; er findet sie nur im Gemach seiner Schönen. Dies armselige Erzeugnis hatte vier ziemlich lange Verse; eine französische Zuhörerschaft konnte aber die Komik unmöglich herausfinden, und eine englische wäre wohl der Ansicht gewesen, daß der kleine Billy kein Talent habe, komische Lieder zu singen.

Man spendete ihm jedoch lauten Beifall am Schluß eines jeden Verses, und als der Gesang zu Ende war, fragte man, ob er denn auch ganz gewiß aus sei, und äußerte das tiefste Bedauern darüber. Hierauf setzten sich sämtliche Kunstschüler rittlings auf ihre kleinen kurzbeinigen Stühle, umfaßten die Lehne mit den Händen und galoppierten auf diesen Pferden mit der größten Ernsthaftigkeit um den Thron des kleinen Billy rund herum. Es war der sonderbarste Reiterzug, den er je gesehen hatte, er mußte lachen, daß ihm die Thränen über die Backen liefen und er weder essen noch trinken konnte.

Dann ließ er den Punsch und die Kuchen noch einmal herumgehen und gerade, als er sich selbst bedienen wollte, sagte Papelard:

»Wißt ihr, ich finde, es liegt etwas wirklich Vornehmes in der Stimme des Engländers, etwas höchst Ansprechendes und Rührendes, so ein gewisses Je ne sais quoi!«

»Jawohl, jawohl,« rief Bouchardy, »ein gewisses je ne sais quoi! Das ist gerade der richtige Ausdruck. Meint ihr nicht auch, daß Papelard den Nagel auf den Kopf getroffen hat, er ist wirklich ein kluger Junge!«

89 »Bravo, bravo,« fiel der Chor ein, »wir sind ganz seiner Meinung; Papelard hat das richtige Verständnis für die Sache. Dites donc, l'Anglais! singt uns das schöne Lied noch einmal – hein? Nous vous prions tous.«

Der kleine Billy ließ sich nicht lange bitten, und sein Vortrag fand diesmal noch lauteren Beifall. Wieder galoppierten sie in der Runde, aber anders herum und weit schneller, so daß der kleine Billy fast Lachkrämpfe bekam und sich die Seiten halten mußte.

Nun hob Duboc an:

»Mir scheint die englische Musik sehr ansprechend und aufregend, nicht wahr, Bouchardy?«

»O ja,« entgegnete dieser, »aber ich bewundere vor allem die Worte; es liegt so viel Leidenschaft, so viel Romantik darin. Verstehen kann ich sie gar nicht, aber schon der bloße Laut übt einen mächtigen Reiz durch sein – sein – kurz sein je ne sais quoi! Nun noch einmal, l'Anglais, bitte noch einmal, alle vier Verse.«

Er sang das Lied zum drittenmal, von Anfang bis zu Ende, während sie behaglich aßen, tranken, rauchten, einander zunickten und verständnisvolle Blicke tauschten. Très bien, très bien, klang es fortwährend. »Ah, voilà qui est bien réussi!« – »Epatant ça!« – »Très fin! etc. etc.« Dann, angefeuert durch den Erfolg, steigerte der kleine Billy seinen Ausdruck und sein Gebärdenspiel immer mehr, ohne zu bedenken, daß kein einziger seiner 90 Zuhörer die leiseste Ahnung hatte, um was es sich in dem Liede eigentlich handelte.

Es war ein klägliches Possenspiel.

Erst nachdem er sämtliche vier Verse zum viertenmal gesungen hatte, entdeckte er, daß man ihn zum Besten gehabt und einen Scherz in Szene gesetzt, dem er gründlich zum Opfer gefallen war. Von dem ganzen reichen Gastmahl blieb auch nicht ein Krümel, auch nicht ein Tropfen mehr für ihn übrig.

Es war die alte, alte Fabel von dem Fuchs und dem Raben! Doch muß ich, um dem kleinen Billy Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, noch erwähnen, daß er ebenso herzlich über den gelungenen Spaß lachte, wie alle übrigen, und sich das größte Vergnügen darauf zu machen schien. Wenn man einen Scherz so aufzufassen weiß, verlieren die Leute bald alle Lust einen zum Narren zu halten. Es kommt fast auf dasselbe heraus, als wenn man, wie Taffy, riesengroß ist und zornsprühende blaue Augen hat.

Dies waren die ersten Erlebnisse des kleinen Billy in Carrels Atelier, wo er in der Folge viele glückliche Stunden und Tage verlebte und sich manchen guten Freund erwarb.

So weit die Erinnerung des grauesten Graubarts zurückreichte, war dort noch nie ein Kunstschüler so allgemein beliebt gewesen. Keiner war aber auch liebenswürdiger, heiterer, rücksichtsvoller und höflicher wie er. Und 91 schwerlich hatte schon je einer so große Anlagen für die Kunst besessen.

Carrel blieb oft eine volle Viertelstunde bei ihm sitzen und forderte ihn häufig auf, ihn in seinem Privatatelier zu besuchen. Auch sah man meist in den letzten Tagen der Woche bewundernde Gruppen seiner Gefährten die Staffelei umstehen und ihm bei der Arbeit zuschauen.

»C'est un rude lapin, l'Anglais! au moins il sait son orthographe en peinture, ce coco-là'.«

So lautete das Urteil über den kleinen Billy in Carrels Atelier; es war fast das höchste Lob, das sich ausdenken läßt.

* * *

Obgleich Trilby noch so jung war, etwa siebzehn oder achtzehn Jahre und so zärtlich von Gemüt (wie der kleine Billy), hatte sie doch ein außerordentlich rasches und sicheres Gefühl für alles, wobei es sich um ihren Geschmack, ihre Gunst oder Neigung handelte; sie wußte immer genau, was sie wollte und brauchte nicht lange Zeit zur Entscheidung.

Bei ihrem ersten Besuch im Atelier auf dem Platz St. Anatole des Arts war sie schon nach fünf Minuten überzeugt, daß es der freundlichste, behaglichste, angenehmste und lustigste Ort innerhalb und außerhalb des ganzen Quartier latin sei, und daß seine drei Insassen, sowohl 92 zusammen als einzeln, ihr von allen Menschen, die sie bisher kennen gelernt hatte, am besten gefielen. Erstens waren es Engländer und sie konnte ihre Muttersprache hören und sprechen. Das rief in ihr allerlei zärtliche Erinnerungen wach, an ihre Kindheit, ihre Eltern, die alte Heimat – oder vielmehr ihre vielen, oft wechselnden Heimstätten, denn die O'Ferralls waren stets von einer Wohnung zur andern gezogen, wie ein Vogel von Ast zu Ast.

Sie hatte ihre Eltern innig geliebt, und diese besaßen bei ihren vielen Fehlern auch wirklich alle liebenswerten Eigenschaften, die sich so häufig gerade zu jenen Fehlern gesellen: große Herzenswärme, ein einnehmendes frohgemutes Wesen, den Wunsch, andern Freude zu bereiten und die Großmut, der es nicht auf Gerechtigkeit ankommt, denn sie verschenkt ihren letzten Heller und vergißt ihre Schulden zu bezahlen.

Trilby kannte auch andere englische und amerikanische Künstler, die ihre Hände und ihren Kopf häufig als Modell benutzten. Keiner von allen hatte jedoch, nach ihrer Meinung, ein so ansprechendes Äußere wie der tapfere, herrliche Taffy, der dicke, lustige Laird von Cockpen, und der feingebildete, zierliche, empfindsame kleine Billy. So beschloß sie denn so viel wie möglich, mit ihnen zu verkehren, in dem reizenden Atelier heimisch zu werden, und sich seinen ›locataires‹ unentbehrlich zu machen. Obgleich nicht im geringsten eitel oder selbstbewußt, zweifelte sie doch keinen 93 Augenblick an ihrer Macht zu gefallen, zu nützen und zu erfreuen, wo es ihr darauf ankam.

Sie that den ersten Schritt zur Erreichung dieses Zweckes, als sie vom père Martin Korb, Laterne und Haken entlehnte (er hatte dergleichen Handwerkszeug noch mehr), um sie Taffy zu bringen; denn sie fürchtete ihn durch ihre offenherzigen Bemerkungen über sein Bild beleidigt zu haben.

Von da ab kam sie so oft als sie konnte, ohne unbescheiden zu sein, ließ ihren Kriegsruf vor der Atelierthür erschallen, trat ein und setzte sich, nach einigen höflichen Fragen, mit untergeschlagenen Beinen auf den hohen Tritt, verzehrte ihr Frühstück, rauchte eine Zigarette und verplauderte ein Stündchen. Sie berichtete ihnen sämtliche Neuigkeiten aus dem Quartier latin, die ihr zu Ohren kamen, nebst allerlei kleinen Geschichten, von denen sie stets einen großen Vorrat hatte. Was sie erzählte, war immer gutmütig und meistens wahr – so viel an ihr lag gewiß bis aufs Titelchen, denn sie nahm es mit der Wahrheit sehr genau. Sie trug alle die ragots, cancans und potin's d'atelier ganz unbefangen und auf höchst unterhaltende Art vor; machte aber einer von den dreien ein ernsthaftes Gesicht, oder entdeckte sie auch nur einen Schatten von Langeweile in ihren Mienen, so verzog sie sich auf der Stelle.

Bald fand sie auch Gelegenheit ihnen von Nutzen zu sein. Wurde zum Beispiel ein Kostüm gebraucht, so wußte sie genau, wo man es borgen oder mieten könne, und so 94 billig wie sie, verstand niemand einzukaufen. Sie schaffte Stoffe zum Kostenpreis herbei, verarbeitete sie zu verschiedenen Frauengewändern, mit kunstvollem Faltenwurf, je nach Bedarf, und stand darin Modell als Geliebte des Toreadors (die Mantille hatte sie selbst gemacht), als Taffys arme Nähterin, die sich eben in der Seine ertränken will, oder als Studie für das schöne französische Bauernmädchen, in dem später so berühmt gewordenen Gemälde des kleinen Billy: ›der Krug geht zu Wasser‹.

Sie stopfte ihnen auch die Strümpfe, besserte ihre Kleider aus und sorgte dafür, daß sie ihre Wäsche ordentlich und billig in der Rue des Cloîtres Ste-Petronille bei Madame Boisse gewaschen bekamen, mit der sie befreundet war.

Zuweilen, wenn ihnen das Geld ausging und sie gerade eine gute runde Summe brauchten, um irgend einen Ausflug zu machen, z. B. eine Vergnügungsfahrt nach Fontainebleau oder Barbizon auf zwei oder drei Tage, dann war sie es, die ihre Uhren, Vorstecknadeln und dergleichen ins Leihhaus trug, um die nötigen Mittel herbeizuschaffen.

Sie leistete ihnen diese kleinen Dienste mit der größten Freude und Bereitwilligkeit und wurde natürlich gut dafür bezahlt – viel zu reichlich nach ihrer Ansicht. Wie froh wäre sie gewesen, alles nur aus Freundschaft thun zu dürfen!

So kam es, daß sie in kurzer Zeit eine persona gratissima in dem Atelier wurde – eine sonnige und stets 95 willkommene Erscheinung, strahlend vor Gesundheit, Anmut, Lebhaftigkeit und unerschöpflicher guter Laune, die sich keine Mühe verdrießen ließ und stets bereit war, ihren geliebten ›Angliches‹ jeden Gefallen zu thun. So wurden die drei nämlich von Madame Vinard genannt, der hübschen concierge mit der gellenden Stimme, die fast eifersüchtig zu werden anfing, denn sie war den Angliches auch sehr ergeben, und Monsieur Vinard war es nicht minder und die kleinen Vinards ebenfalls.

Trilby wußte immer, wann es an der Zeit sei zu lachen, zu reden oder zu schweigen. Es war ein so hübscher Anblick, wenn sie auf dem Tritt saß, beschäftigt, des Lairds Socken zu stopfen, ihm Knöpfe an die Hemden zu nähen oder die eingebrannten Löcher in seinen Beinkleidern auszubessern, daß alle drei sie in dieser Stellung malten. Eine dieser Skizzen (in Wasserfarben, vom kleinen Billy), das Werk eines Nachmittags, wurde erst kürzlich bei Christie für eine so hohe Summe verkauft, daß ich sie gar nicht nennen will.

Manchmal, an einem Regentag, wenn sie beschlossen hatten, zu Hause zu speisen, besorgte sie die Einkäufe, kochte das Essen, deckte den Tisch und machte sogar den Salat. Sie kaufte besser ein als der kleine Billy, kochte besser als der Laird und mischte den Salat besser als Taffy. Man lud sie auch ein, an der Mahlzeit teil zu nehmen, und dann zitterte sie förmlich vor Vergnügen und schien so über alle 96 Maßen glücklich, daß es ganz rührend, fast schmerzlich war, es mit anzusehen. Die Herzen der drei Briten wurden weich bei dieser kindlich warmen, anschmiegenden Dankbarkeit. Sie dachten an Trilbys Verlassenheit, an den Verlust ihrer Stellung in der Gesellschaft, den sie selbst nur halb zu ahnen schien, und daß sie keine Heimat mehr habe. Vielleicht war dies Mitgefühl auch der Grund, daß trotz ihres so vertraulichen Verkehrs niemals die leiseste Andeutung einer Liebelei irgend welcher Art oder Form unter ihnen vorkam – bonne camaraderie, voilà tout. Wäre sie des kleinen Billy Schwester gewesen, sie hätte nicht mit mehr wahrer Hochachtung behandelt werden können. Ihr Gefühl herzlicher Erkenntlichkeit für diese, ihr ungewohnte Rücksicht war weit stärker als irgend eine Leidenschaft, die sie vordem empfunden. Der gute Lafontaine drückt das auf anmutige Weise aus, wenn er sagt:

»Ces animaux vivaient entre eux comme cousins
Cette union si douce, et presque fraternelle,
Édifiait tous les voisins!
«

Und mit welcher Wonne lauschte sie ihren Gesprächen, die herrlich waren, wie die Reden der olympischen Götter, und doch leichter zu verstehen. Sie konnte ihnen immer folgen, denn sie hatte trotz ihrer arg vernachlässigten Erziehung einen scharfen, natürlichen Verstand und neuerdings ein eifriges Streben zu lernen, so viel sie konnte.

Die Freunde borgten ihr englische Bücher – Dickens, 97 Thackeray, Walter Scott – die sie auf ihrer einsamen kleinen Dachkammer in der Rue des Pousse-Cailloux bei nachtschlafender Zeit gierig verschlang. Neue Welten offenbarten sich ihr; sie wurde immer englischer von Tag zu Tag, und das war von großem Wert.

Wenn Trilby englisch sprach, war sie eine ganz andere Person, als wenn sie französisch sprach. Sie hatte ihr Englisch größtenteils von ihrem Vater gelernt, einem studierten, wohlunterrichteten Mann; ihre Mutter war zwar eine Schottin aus niederem Stande gewesen, doch hatte sie sich nie so plump und ungeschliffen ausgedrückt, wie viele ungebildete Engländerinnen es thun.

Trilbys Französisch dagegen paßte genau zum Quartier latin, es war drollig, eigentümlich, ausdrucksvoll, scharf und witzig – ganz und gar nicht plump, und doch kam kein Satz über ihre Lippen, der nicht klar und deutlich bekundet hätte, daß sie keine ›Dame‹ sei. Ihre Sprache war komisch, ohne gemein zu sein; aber sie war vielleicht etwas zu komisch.

Messer und Gabel handhabte sie auf so zierliche Weise, wie es ohne Zweifel in ihres Vaters Familie Sitte gewesen; auch benahm sie sich gewöhnlich, wenn sie mit den drei Freunden allein war, so ganz wie eine Dame, daß die Grisettentracht mit Häubchen und Schürze, die ihr doch so gut stand, auf einmal gar nicht für sie zu passen schien. Das verdankte sie ihrer englischen Erziehung.

98 Traten aber ein paar Franzosen zur Thür herein, so ging urplötzlich eine Verwandlung mit ihr vor – eine neue Trilby kam zum Vorschein, die so drollig und unterhaltend war, daß sich schwer entscheiden ließ, welche von beiden, ob die alte oder die neue, anziehender sei.

Freilich muß man zugeben, daß Trilby auch ihre Fehler hatte – wie der kleine Billy.

Zum Beispiel war sie entsetzlich eifersüchtig auf jedes weibliche Wesen, das ins Atelier kam, um zu sitzen, zu fegen, zu scheuern oder dergleichen; sogar auf die schmutzige, trunksüchtige alte Hexe, die Taffy für seine ›Ertrunkene‹ benutzte– als ob er sie nicht ebensogut dazu hätte brauchen können.

Sie ward dann böse und schmollte, aber nicht lange. Die beleidigte Dulderin zeigte sich schnell wieder zur Versöhnung bereit.

Wenn sie ihren drei englischen Freunden sitzen sollte, machte sie jede andere Verabredung rückgängig; selbst Durien hatte ernstliche Ursache zur Klage.

Die Ansprüche, welche sie selbst an die Freundschaft stellte, waren durchaus nicht gering. Immer verlangte sie zu hören, daß man ihr gut sei, und alles sollte nach ihrem Kopfe gehen; sogar Socken stopfen und Hemdenknöpfe annähen wollte sie auf ihre Weise. Das war freilich von wenig Belang, aber wenn das Zuschneiden und Drapieren der Gewänder für die Geliebte des Toreadors an die Reihe kam, wurde die Sache schon ernster, ja völlig unerträglich.

99 »Was sie sich wohl einbildete von der Braut eines Toreadors und ihren Hochzeitskleidern zu wissen,« fragte der Laird, so entrüstet, als wäre er selbst der Toreador. – Das war wirklich eine recht verdrießliche Seite ihres unbezähmbaren Trilbytums.

Oft strömte sie über von zärtlichen, einschmeichelnden Freundschaftsergüssen und warf dabei allen dreien ohne Unterschied die liebevollsten Blicke zu. Allein zuweilen, wenn der kleine Billy von seiner Arbeit aufschaute, während sie gerade Taffy oder dem Laird zu einem Bilde saß, begegnete er ihren freundlichen grauen Augen, die mit der größten Innigkeit auf ihm ruhten. Ihr Ausdruck war dabei so unaussprechlich sanft und gut, so rührend und eindringlich, und aus ihrem Blick leuchtete ihm solche warme, liebreiche Fürsorge entgegen, daß er fühlte, wie ihm das Herz erbebte und seine Hand zu zittern begann, so daß er nicht weiter malen konnte. Wie im wachen Traum dachte er daran, daß seine Mutter ihn oft so angeblickt, als er noch ein Kind war, und sie eine schöne junge Frau, unberührt von Sorge und Kummer. Er mußte sich tüchtig zusammennehmen, um die Thräne, die ihm so leicht ins Auge trat, zurückzuhalten, damit sie nicht überfloß.

In solchem Moment schnitt ihm der Gedanke, daß Trilby ein berufsmäßiges Modell sei, wie ein scharfes Messer durch die Seele. Zwar saß sie nicht allen, die sie haben wollten, aber doch Durien, dem großen Gérôme und 100 Monsieur Carrel, der sie fast ausschließlich in seinen Bildern benutzte.

Für das Auge des echten Künstlers, der sich in seine Arbeit vertieft, hat die Schönheit kein Geschlecht; er sucht sie beim Manne, beim Weibe, und am besten, holdesten und göttlichsten offenbart sie sich ihm im Kinde. Je vollkommener sie sich vor seinen Blicken entschleiert, um so mehr ruft sie alle seine edleren Triebe wach.

Ich habe in vieler Herren Ländern nach vielen weiblichen Modellen gemalt und habe auch Taffy gesehen, wenn er sich daheim in seiner Zinkwanne vergnügte, oder sich in einem Schwimmbad der Seine, bald nackt wie Ulysses sonnte, bald mit kühnem Anlauf den Kopfsprung machte. An Anmut der Bewegung, an vollendeter Schönheit der Form konnte sich keins jener Modelle dem Manne aus Yorkshire mit dem mächtigen Gliederbau vergleichen. Bewundernd umstanden ihn die Franzosen, wenn er, sich halb in der Luft überschlagend, stocksteif und lang ausgestreckt, wie ein Pfeil in die Tiefe schoß, ein glattes Loch in das Wasser bohrte, ohne zu sprudeln oder zu spritzen, und einige hundert Ellen davon wieder zum Vorschein kam.

»Sac à papier! quel gaillard que cet Anglais, hein?«

»A-t-on jamais vu un torse pareil!«

»Et les bras donc!«

»Et les jambes, nom d'un tonnerre!«

101 »Mâtin! J'aimerais mieux être en colère contre lui qu'il ne soit en colère contre moi!« ect. ect. ect.

Manchmal brachte Trilby ihren kleinen Bruder mit in das Atelier auf dem Platz St. Anatole des Arts. Er trug dann ses beaux habits de Pâques, Hände und Gesicht waren rein gewaschen und das Haar gut geölt und gelockt.

Der Laird stopfte dem allerliebsten Bübchen die Taschen voll Zuckerwerk und malte ihn als ›Le Fils du Toréador‹, unbekümmert darüber, daß der süße kleine Spanier mit den blauen Augen, dem krausen, hellblonden Haar und dem Gesicht wie Milch und Blut im grellsten Gegensatz zu seinem schwarzbraunen Erzeuger stand.

Der Kleine ließ sich mit Entzücken von Taffy statt der Indianerkeule oder der Hanteln gebrauchen, im Boxen unterrichten und auf dem Schwungseil schaukeln. Sein helles, fröhliches Kinderlachen, (das ganz wie Trilbys klang, nur eine Oktave höher) war so herzbewegend und ansteckend, daß Taffy eine ganz grimmige Miene machte, um nur die sonderbar zärtliche Freude zu verbergen, die seine Mannesbrust schon bei dem bloßen Laut beschlich. Der kleine Billy und der Laird hätten ihn sonst für einen Kindernarren gehalten. Allein je grimmiger Taffy dreinschaute, um so weniger fürchtete sich der kleine Wicht vor ihm.

Der kleine Billy malte ein wunderschönes Aquarell von ihm, ganz wie er war, und schenkte es Trilby, die es dem père Martin gab, welcher es seiner Frau 102 schenkte und ihr streng anbefahl, es nicht als ›alten Meister‹ zu verkaufen. Aber ach, jetzt ist es doch ein alter Meister geworden, und Gott weiß, wo es hingeraten ist!

Das waren glückliche Tage für Trilbys Brüderchen; glückliche Tage auch für sie selbst, die den Kleinen ganz unsäglich liebte und ungeheuer stolz auf ihn war. Aber der schönste Tag von allen war doch ein Sonntag, an dem die trois Angliches mit Trilby und Jeannot (so hieß das Kerlchen) nach Meudon in den herrlichen Wald fuhren. Beim garde champêtre wurde das Frühstück und Mittagsmahl eingenommen, und es gab Esel zum reiten, Schaukeln, Guckkasten und Scheiben, nach denen man mit der Armbrust und kleinen Thonkugeln schoß, wobei man Gypsfigürchen traf und die schönsten Preise gewann. Man streifte im Walde umher, fing junge Eidechsen, Frösche und Kaulquappen und blies die schönsten Melodien auf dem mirliton. Wer gehört hatte, wie Trilby auf solcher Rohrflöte ›Ben Bolt‹ zum Besten gab, vergaß es sein Lebtag nicht wieder, er mochte wollen oder nicht.

Trilby trat bei dieser Gelegenheit in einer neuen Rolle auf, en demoiselle, mit einem zierlichen schwarzen Hütchen und einer grauen Jacke, die sie selbst verfertigt hatte. Man würde sie, dem Äußeren nach, für die Tochter eines englischen Dekans gehalten haben, nur ihre weiten, hackenlosen, auf der Seite zugeschnürten Atlasstiefel mit den breiten Spitzen, paßten nicht dazu. Als sie 103 aber versuchte, dem Laird ihre schönsten cancan-Schritte beizubringen, bekam man einen ganz anderen Eindruck; auch der Laird sah dann nicht mehr wie der Sohn eines würdigen, gottesfürchtigen und den Sonntag heiligenden, königlichen Kanzleibeamten aus.

Dies geschah nach Tische, in der loge du garde champêtre, während Taffy, Jeannot und der kleine Billy die dazugehörige Musik auf ihren mirlitons bliesen. Bald nahmen noch andere am Tanze teil und auch an Zuschauern war kein Mangel, denn beim garde champêtre pflegten an Sommersonntagen viele Leute einzukehren.

Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß Trilby bei weitem die Schönste auf diesem ländlichen Balle war. Auch hat es schon viel schlimmere Bälle in viel besserer Gesellschaft und mit viel weniger hübschen Tänzerinnen gegeben.

Wenn Trilby leichtfüßig den cancan tanzte, (es giebt nämlich cancans der verschiedensten Sorte), sah sie ganz besonders reizend und anmutig aus – et vera incessu patuit dea! Auch hier streifte ihre Lustigkeit nie an Gemeinheit. Über alle Beschreibung komisch aber war es, den Laird zu sehen, wenn er ihr die Schritte nachmachen wollte. Man sagt, der allgemeine Beifall der Menge sei der beste Beweis für die Echtheit des Humors; ist dies der Fall, so hat ein größerer Humorist noch nie einen pas seul getanzt.

Es ist ganz unglaublich, was sich in den Fünfziger 104 Jahren ein Engländer alles erlauben durfte! Und er büßte dadurch weder seine Selbstachtung noch die Achtung seiner ehrenwerten französischen Freunde ein.

»Voilà l'espayce de hom ker jer swie!« sagte der Laird jedesmal mit einer Verbeugung, wenn er sich für den Applaus bedankte, mit dem die Solos, die er in den Pausen zum Besten gab – meist schottische Nationaltänze und Schwerttänze – von der Versammlung aufgenommen wurden . . . . :

 

Kurze Zeit darauf wurde der Laird eines schönen Tages krank (wahrscheinlich zur Strafe für seine Sünden). Der Doktor, welchen man rufen ließ, wollte nach einer Wärterin schicken, aber Trilby gab das nicht zu. Nicht einmal von einer barmherzigen Schwester wollte sie hören. Sie übernahm die Pflege selbst und wachte unermüdlich drei Tage und drei Nächte, ohne ein Auge zu schließen.

Am dritten Tage war der Laird außer Gefahr; das Fieber hatte aufgehört und der Doktor fand die arme Trilby fest eingeschlafen am Bette des Kranken.

Vor der Zimmerthür legte Madame Vinard den Finger auf den Mund und flüsterte: »Quel bonheur! Il est sauvé, M. le docteur; écoutez! il dit ses prières en Anglais, ce brave garçon!«

Der gute Doktor, der nur Französisch verstand, lauschte, und vernahm, wie der Laird mit leiser, schwacher 105 aber ganz deutlicher Stimme feierlich und aus tiefstem Herzen die Worte sprach:

Grünzeug und Pfeffer, Muscheln, Safran,
Lauch, Zwiebeln, Zunge und mancherlei Fisch –
Das bringt man bei Terré, dem Restaurant,
In Bouillabaisse auf den Mittagstisch.

»Ah! mais c'est très bien de sa part, ce brave jeune homme! rendre grâces au ciel comme cela, quand le danger est passé! très bien, très bien!«

Der Doktor war ein Freigeist und Anhänger Voltaires, hielt auch selbst nicht viel vom Beten; aber es rührte ihn doch, denn in höherem Alter hatte er gelernt, Nachsicht zu üben und war gütig und duldsam geworden. Auch sagte er später Trilby so viel Anerkennendes und lobte ihre ausgezeichnete Pflege seines Patienten mit so warmen Worten, daß sie vor Freude darüber zu weinen anfing – wie ›schön Alix mit dem goldbraunen Haar‹, wenn Ben Bolt sie eines Lächelns würdigte.

Das klingt alles sehr tugendhaft, aber es ist doch wahr.

Man wird sich hiernach nicht weiter verwundern, daß die trois Angliches mit der Zeit eine ganz besondere Hochachtung für Trilby hegten und voll Trauer daran dachten, daß ihr außergewöhnliches, behagliches Quartett sich über kurz oder lang auflösen müsse. Alle drei würden sie ihre Schwingen entfalten, von dannen fliegen und die arme Trilby allein zurücklassen! Sie machten schon jetzt 106 allerlei Pläne, wie man ihre Lage verbessern und sie vor den Schlingen und Fallgruben schützen könne, in die sie auf ihrem einsamen Lebenspfad im Quartier latin unfehlbar geraten würde, wenn ihre Freunde fortgezogen waren.

Trilby selbst kam so etwas nicht in den Sinn; sie pflegte nie weit in die Zukunft zu schauen und sorgte wenig um den kommenden Morgen.

Leider hatte sich aber ein Störenfried in ihr harmloses Paradies gedrängt: ein widerwärtiger unheimlicher Geselle, der fortwährend ihre Pfade kreuzte, dunkle Schatten warf und ihr die Sonne verdeckte – das war Svengali.

Er kam auch häufig in das Atelier, wo man ihm, um seiner Musik willen, mancherlei nachsah, besonders wenn er Gecko mitbrachte und die beiden zusammen sich hören ließen. Aber es ward bald offenbar, daß sie die trois Angliches nicht besuchten, um ihnen vorzuspielen; ihr einziger Zweck war, Trilby zu sehen, für die sie beide in Bewunderung entbrannt waren, und zwar jeder auf seine Weise.

Gecko nahte sich ihr mit demütiger Verehrung und der rührenden Unterwürfigkeit eines Hundes. Sein stummer Blick schien um Vergebung zu flehen, daß ein so unwürdiger Mensch es überhaupt wage, ihr vor die Augen zu treten. Er war schon überglücklich, wenn sie ihn in ihrer Nähe duldete, ihm ein Wort der gewöhnlichsten Höflichkeit oder des Wohlwollens spendete, wie man einem Hund einen Knochen zuwirft.

107 Svengali bewarb sich kühner um ihre Gunst. Die scheinbare Demut, mit der er vor ihr im Staube kroch, war lauter Hohn und Bitterkeit; sein Scherz war fürchterlich, wie das Spiel der Katze mit der Maus – eine ganz unheimliche Katze, lang, hager, schmutzig und klebrig, schwarz, gespenstisch und widerwärtig im höchsten Grade; mit dünnen, spitzen, spinnenartigen Krallen. Vielleicht ist ein solches Tier gar nicht wirklich vorhanden, sondern nur die Ausgeburt böser Träume.

Es war ihm höchst ärgerlich, daß sie ihren nervösen Augenschmerz nicht wieder bekommen hatte. Sie litt zwar nach wie vor daran, verschwieg es aber, denn sie wollte ihn lieber ertragen, als bei ihm Heilung suchen.

Wie zum Scherz pflegte er sie mit den Augen zu magnetisieren; näher und immer näher rückte er heran, den Blick mit finsterer Gewalt auf sie gerichtet; wenn er dann die Hände mechanisch vor ihrem Gesicht hin und her bewegte, zitterte und bebte sie vor Grauen am ganzen Leibe; sie fühlte, daß der Bann sich wie ein Alp auf sie niedersenkte und nur mit der größten Anstrengung gelang es ihr, sich zu befreien.

War Taffy zugegen, so legte er sich ins Mittel. »Laß das bleiben, alter Junge,« sagte er, und klopfte dabei Svengali so vertraulich auf den Rücken, daß er wohl eine Stunde lang husten mußte und seine magnetische Kraft die ganze Woche über gelähmt blieb.

108 Das Glück war Svengali damals hold. Er spielte mit Gecko in drei großen Konzerten und fand einen wohlverdienten Beifall. Dann gab er sogar ein eigenes Konzert, mit dem er furore machte, worauf er sich sofort einen wunderschönen kostbaren Anzug kaufte, dessen Farbe, Muster und Schnitt so eigentümlich waren, daß die Leute auf der Straße stillstanden und sich nach ihm umsahen, wenn er darin einherstolziert kam – das freute ihn unbeschreiblich. Er hielt sich nun für einen gemachten Mann, blieb Schneidern, Hutmachern, Schustern und Juwelieren die Bezahlung schuldig, gab aber auch nichts von dem Geld zurück, das er bei seinen Freunden geborgt hatte. Er trug die Taschen immer voll Zeitungsausschnitte, lauter Besprechungen über ihn und sein Spiel, die er aus den verschiedenen Tagesblättern sammelte und seinen Bekannten vorzulesen pflegte. Besonders oft bekam sie Trilby zu hören, wenn sie auf dem Tritt saß und Socken stopfte, während das Fechten und Boxen im Gange war. Dann legte er ihr seinen Ruhm und sein Glück zu Füßen, unter der Bedingung, daß sie ihm ihr Leben widme.

»Ach Himmel, Trilby,« rief er, »weißt du denn gar nicht, was es heißt, ein großer Musiker zu sein, wie ich? Dein kleiner Billy, der mit seinen stinkenden Oelfarben stockstumm im Winkel sitzt, den Malstock und die Palette in der einen Hand, den kleinen Schweinsborstenpinsel in der andern – was macht denn der für Lärm in der 109 Welt? Wenn sein dummes kleines Bild fertig ist, schickt er es nach London, wo man es an die Wand hängt, neben alle andern – alle in eine Reihe, wie Rekruten bei der Musterung – und die Leute gehen daran vorüber, gucken es an, gähnen und sagen: ›hol's der Henker‹ – Geht aber Svengali nach London, so erscheint er selbst. Ha! ha! Ganz allein sitzt er auf dem Podium und spielt wie kein anderer Mensch spielen kann. Und die schönen Engländerinnen kommen zu Hunderten: sehen ihn, hören ihn, und verlieben sich in ihn bis zum Wahnsinn. Alle die Baronessen, Komtessen und durchlauchtigsten hohen Prinzessinnen verlieren ihre Hoheit und Würde, wenn sie Svengali zuhören. Sie laden ihn zu sich ein in ihre Paläste und zahlen ihm tausend Franken, damit er ihnen vorspielt. Hernach ruht er bequem auf dem weichsten Armsessel aus und sie sitzen um ihn her auf Fußschemeln, bringen ihm Thee mit Rum, Kuchen und marrons glacés, beugen sich über ihn und fächeln ihm Kühlung zu, denn er ist müde, wenn er ihnen Chopin vorgespielt hat für tausend Franken. Ha! ha! ich weiß, wie es alles kommen wird – hein?

»Aber er hat für sie alle keine Augen; er schaut nur nach innen und träumt – und von wem träumt er? – Nur von Trilby – daß er sein Talent, seinen Ruhm, seine tausend Franken niederlegen will zu ihren schönen, weißen Füßen.

110 »Die dummen, großen, dicken, flachsköpfigen Ehemänner möchten vor Eifersucht platzen und sich mit ihm boxen. Aber die schönen Engländerinnen – ach, sie rechnen es sich zur Ehre, seine Hemden zu flicken, ihm Knöpfe an die Beinkleider zu nähen und seine Socken zu stopfen; gerade wie du es jetzt für den blödsinnigen Schotten thust, der in seiner heiligen Dummheit fortwährend Toreadore malt, oder für den heißblütigen, dickköpfigen Stier von einem Engländer, der immer versucht, wie er sich schmutzig machen kann, um sich dann wieder reinzuwaschen – e da capo!

»Himmel, was für Riesensocken sind das – wahre Kartoffelsäcke!

»Sieh nur 'mal deinen Taffy an! Etwas Besseres kann er nicht, als große Musiker mit seinen Bärentatzen zur Kurzweil auf den Rücken schlagen! Der Tollpatsch! . . .

»Und mit den Franzosen ist es ebenso – die eingebildeten, verfluchten Kerle – Durien, Barizel, Bouchardy und wie sie alle heißen! Wovon redet denn ein Franzose überhaupt – hein? Nur von sich selber; anderer Leute Verdienst läßt er nicht gelten. Seine Eitelkeit ist rein zum übelwerden. Immer glaubt er, die Welt dreht sich nur um ihn. Der Narr vergißt, daß Svengali noch da ist, um von sich reden zu machen! Ja, ja, Trilby, ich bin es, von dem alle Welt spricht – ich, ich ganz allein; niemand sonst als ich, ich und noch einmal ich!

»Höre nur, was der Figaro schreibt.« (Liest den Artikel.)

111 »Nun, was sagst du dazu, hein? Was gäbe wohl dein Durien darum, wenn man so über ihn schriebe?

»Aber du hörst mir ja gar nicht zu, Sapperment! Du große Närrin, du dumme Gans! Guckst nach den Schornsteinen draußen, während Svengali redet! Donnerwetter noch einmal! Sieh lieber tiefer unten nach den Häusern auf der andern Seite des Flusses. Da steht ein häßlicher kleiner Bau, und drinnen sind acht schräge Messingtafeln, alle in einer Reihe wie die Betten in einem Schlafsaal. Auf einer der Tafeln wirst du eines schönen Tages liegen und tot sein – du Trilby, die du auf Svengalis Worte nicht hören wolltest und ihn für immer verloren hast! . . . . . Eine Lederschürze wird man über dich breiten, und aus einem Messinghahn über deinen Kopf wird Tag und Nacht, fort und fort, kaltes Wasser über deinen schönen Leib rieseln; von oben herab bis zu deinen reizenden weißen Füßen, die zuletzt ganz grün werden. Drip, drip, drip, tropft das Wasser aus den nassen, ärmlichen, mit Schlamm bedeckten Lumpen, die über dir von der Decke hängen, damit dich deine Freunde wieder erkennen. Doch es kommen keine Freunde, denn du hast keine . . .

»Von außen aber schauen allerlei Leute durch die großen Spiegelfenster herein – Engländer, Lumpensammler, Maler, Bildhauer, Arbeiter; auch alte runzelige Waschfrauen, und sagen: ›Was muß das für ein schönes Weib gewesen sein! Seht sie nur an! Die sollte als vornehme 112 Dame in ihrem prächtigen Wagen durch die Straßen rollen, und nun liegt sie hier!‹ Und während sie noch reden, kommt ein schöner Wagen gefahren, mit feurigen Rossen bespannt, in dem sitzt Svengali im warmen Pelzrock und raucht eine Havanazigarre. Er springt heraus, stößt die canaille beiseite und ruft: »Ha, was sehe ich, das ist ja die große Trilby, die nicht auf Svengali hören wollte; die nach den Schornsteinen sah, wenn er ihr seine Liebe, sein ganzes Mannesherz darbot, und –«

»Zum Henker, Svengali! was reden Sie denn da Trilby für Zeug vor! Sehen Sie denn nicht, daß ihr ganz übel und weh davon wird. Hören Sie auf und gehen sie ans Klavier, sonst klopfe ich Ihnen wieder freundschaftlich auf den Rücken, daß Sie genug haben sollen.«

Auf solche Weise machte der dickköpfige Stier von einem Engländer Svengalis Liebeserklärungen ein Ende und half Trilby aus mancher Not. Denn Taffy verstand es, Svengali in Schrecken zu setzen. Ohne eine wiederholte Aufforderung abzuwarten, ging er ans Klavier, schlug ein paar schrecklich mißtönende Akkorde an und sagte: »Komm, liebe Trilby, singe mir ›Ben Bolt‹ vor! Mich dürstet danach, deine schönen Brusttöne zu hören!«

Die arme Trilby ließ sich nicht lange bitten, sondern trug das Gesangstück zum größten Unbehagen des kleinen Billy auf ihre ohrenzerreißende Weise vor. Durch Svengalis Begleitung wurde die Disharmonie noch verschärft 113 und auch sein ermunternder Zuruf: Très pien, très pien, ça y est! besserte nichts daran.

Zum Schluß versuchte er noch allerlei Proben mit ihrem Gehör. Er schlug das mittlere C an und das F derselben Oktave; dann fragte er sie, welches höher sei, aber sie erklärte, es wäre eins wie das andere. Nur wenn er eine Note im tiefen Baß und die andere oben im Diskant angab, merkte sie den Unterschied und sagte, die eine klänge wie das Gezänk des père Martin mit seiner Frau und die andere wie die Stimme ihres kleinen Paten, der Frieden zwischen ihnen stiften wollte. Ohne eine Ahnung davon zu haben, war sie vollkommen unmusikalisch. Svengali aber fuhr fort, ihr die übertriebensten Schmeicheleien zu sagen, bis Taffy es nicht länger mit anhören konnte.

»Na, warten Sie,« rief er, »nun sollen Sie uns einmal ein Lied singen!«

Dabei kitzelte er ihn so entsetzlich zwischen den Rippen, daß Svengali zu heulen und sich zu krümmen begann, als läge er in Krämpfen.

Sobald er sich wieder erholt hatte, wollte er sein Mütchen kühlen und fing an, den kleinen Billy zu necken. Er hielt ihm die Arme auf dem Rücken zusammen und drehte ihn im Kreise herum.

»Himmel!« rief er, »das soll ein Arm sein, – er hat Muskeln wie ein Mädchen!«

114 »Zum Malen ist mein Arm stark genug,« sagte der kleine Billy.

»Und das soll ein Bein sein; so dünn wie ein Malstock.«

»Sie bekommen einen tüchtigen Fußtritt, wenn Sie mich nicht loslassen.«

Der kleine Billy schlug kräftig mit den Hacken aus und traf das Schienbein des Deutschpolen; dieser wollte eben Wiedervergeltung üben, als der große Taffy ihn von hinten zu packen bekam. Die Töne, die der Musiker nun von sich gab, klangen noch weit unharmonischer als Trilbys – und daß er es nicht wagte, sich gegen Taffy zur Wehre zu setzen, versteht sich von selbst.

Svengali war wirklich unausstehlich; nur um der Musik willen konnte man seine Gegenwart dulden. Zu seinem Vergnügen ärgerte, schreckte und ängstigte er ohne Unterlaß alles was kleiner und schwächer war wie er – sei es Mensch oder Tier, Frau oder Kind; selbst eine Maus oder eine Fliege zu quälen, machte ihm Spaß.

 

 


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