Alexander Dumas d. Ä.
Die schwarze Tulpe
Alexander Dumas d. Ä.

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

19.
Frau und Blume

Allein in ihrem Zimmer eingeschlossen, konnte die arme Rosa nicht wissen, von wem und wovon Cornelius träumte.

Die Folge davon war, daß Rosa nach seinen Worten mehr zu dem Glauben geneigt war, er träume von seiner Tulpe als von ihr; und dennoch irrte sich Rosa.

Da aber niemand da war, um Rosa zu sagen, daß sie sich irrte, da Cornelius' unvorsichtige Worte wie Gifttropfen auf ihre Seele gefallen waren, so träumte Rosa nicht, sondern weinte.

Da Rosa ein Wesen von hohem Geiste, von gerader und tiefer Gesinnung war, so ließ sie sich wirklich Gerechtigkeit widerfahren, nicht sowohl in Bezug auf ihre geistigen und leiblichen Eigenschaften, als auf ihre soziale Stellung.

Cornelius war gelehrt, Cornelius war reich oder war es wenigstens vor Beschlagnahme seines Vermögens gewesen; Cornelius gehörte zu jenem Kaufmannsstande, der auf seine wappenartig ausgeführten Schilder stolzer war, als je der Erbadel auf seine Wappen. Cornelius konnte also Rosa wohl zu seinem Zeitvertreibe gut genug finden; wenn es sich aber um eine wirkliche Verschenkung seines Herzens handelte, so würde er sich eher in eine Tulpe, das heißt in die edelste und stolzeste unter den Blumen, als in Rosa, die niedrige Tochter eines Kerkermeisters verlieben.

Rosa verstand also diesen Vorzug, den Cornelius der schwarzen Tulpe über sie einräumte, aber sie war nur um so verzweifelter, weil sie ihn verstand.

Auch hatte Rosa während dieser furchtbaren Nacht, während dieser schlaflosen Nacht, die sie zugebracht hatte, einen Entschluß gefaßt.

Dieser Entschluß bestand darin, nicht mehr nach dem Schalter zurückzukehren.

Da sie aber den glühenden Wunsch, den Cornelius hegte, von seiner Tulpe Nachricht zu erhalten, kannte, da sie sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, einen Mann wiederzusehen, für den sie ihre Teilnahme bis zu dem Grade zunehmen fühlte, daß sie alle Stufen der Zuneigung durchlaufen hatte und schon nicht mehr weit von wirklicher Liebe entfernt war, da sie endlich diesen Mann nicht tief betrüben wollte, so beschloß sie nur den angefangenen Lese- und Schreibunterricht fortzusetzen. Zum Glück hatte sie schon eine solche Fertigkeit erlangt, daß ihr ein Lehrer nicht mehr nötig gewesen wäre, wenn dieser Lehrer nicht den Namen Cornelius geführt hätte.

Rosa begann also mit Leidenschaft in der Bibel des armen Cornelius von Witt zu lesen, auf deren zweitem Blatte, das jetzt nach Ausreißung des anderen Blattes das erste geworden war, das Testament des Cornelius van Baerle geschrieben stand.

»Ach,« murmelte sie, als sie dieses Testament wieder las, das sie nie zu Ende brachte, ohne daß eine Thräne, eine Liebesperle, aus ihren feuchten Augen über ihre blassen Wangen rollte, »ach, in jener Zeit glaubte ich doch einen Augenblick, daß er mich liebte.«

Arme Rosa, sie irrte sich. Erst in dem Augenblicke, in welchem wir uns jetzt befinden, war die Liebe des Gefangenen aufrichtig geworden, weil, wie wir mit Verlegenheit eingestanden haben, in dem Kampfe zwischen der berühmten schwarzen Tulpe und Rosa die berühmte schwarze Tulpe unterlegen war.

Aber Rosa, wir wiederholen es, kannte die Niederlage der berühmten schwarzen Tulpe nicht.

Nach Beendigung ihrer Lektüre, einer Thätigkeit, in der Rosa schon große Fortschritte gemacht hatte, ergriff Rosa die Feder und machte sich mit ebenso lobenswertem Eifer an das noch weit schwierigere Werk der Schreibekunst.

Da Rosa jedoch an dem Tage, an welchem Cornelius so unvorsichtig sein Herz hatte sprechen lassen, fast schon leserlich schrieb, so verzweifelte sie nicht daran, so schnelle Fortschritte zu machen, daß sie dem Gefangenen schon in höchstens acht Tagen Nachrichten über seine Tulpe geben konnte.

Sie hatte kein Wort der Aufträge, die ihr Cornelius gegeben hatte, vergessen. Übrigens vergaß Rosa nie ein Wort von dem, was ihr Cornelius sagte, sogar wenn er das, was er ihr mitteilte, nicht in die Form eines Auftrages kleidete.

Er seinerseits erwachte verliebter denn je. Die Tulpe war in seinen Gedanken zwar noch hell und lebhaft, aber er erblickte in ihr doch nicht mehr einen Schatz, dem er alles, selbst Rosa opfern mußte, sondern nur eine kostbare Blume, eine herrliche Verbindung der Natur und Kunst, die ihm Gott zum Schmucke seiner Geliebten gewährte.

Den ganzen Tag verfolgte ihn jedoch eine unbestimmte Unruhe. Er glich jenen Menschen, deren Geist stark genug ist, um auf einen Augenblick zu vergessen, daß sie am Abend oder am nächsten Tage eine große Gefahr bedroht. Ist die Befangenheit einmal überwunden, so leben sie das gewöhnliche Leben. Nur erfaßt diese vergessene Gefahr ihr Herz von Zeit zu Zeit mit ihrem scharfen Zahne. Sie zittern, sie fragen sich, weshalb sie zittern, und sagen dann, wenn ihnen einfällt, was sie vergessen hatten: »Ach ja, das ist es.«

Bei Cornelius war es die Furcht, daß Rosa diesen Abend nicht wie gewöhnlich käme.

Und je nachdem die Nacht weiter vorrückte, wurde die Besorgnis lebhafter und gegenwärtiger; je mehr die Dunkelheit zunahm, desto klarer traten ihm die Worte, die er den Abend vorher zu Rosa gesagt, und welche das arme Mädchen so sehr betrübt hatten, vor die Seele, und er fragte sich, wie er seiner Trostspenderin hatte sagen können, sie sollte ihn seiner Tulpe opfern, das heißt sie sollte im Notfalle auf seinen Besuch verzichten, da ihm doch Rosas Anblick zu einer notwendigen Lebensbedingung geworden war.

In Cornelius Zimmer vernahm man das Schlagen der Turmuhr in der Festung. Es schlug sieben, acht, neun Uhr. Nie fand der Klang der Glocke in seinem Herzen einen tieferen Widerhall, als die Schläge, welche die neunte Stunde angaben.

Darauf trat wieder tiefe Stille ein. Cornelius legte die Hand auf sein Herz, um sein Klopfen zu unterdrücken, und lauschte.

Der Ton der Schritte Rosas, das Rauschen ihres Gewandes auf den Treppenstufen waren ihm so bekannt, daß er, sobald sie die erste Stufe betrat, sagte:

»Da kommt Rosa.«

Heute Abend störte kein Geräusch die Stille des Ganges; die Turmuhr schlug neun einviertel Uhr; dann einhalb zehn, später dreiviertel auf Zehn; endlich verkündete sie mit ihrer ernsten Stimme nicht nur den Gästen auf der Festung, sondern auch den Bewohnern der Stadt Löwenstein, daß es zehn Uhr wäre.

Um diese Zeit pflegte Rosa Cornelius zu verlassen. Die Stunde hatte geschlagen, und Rosa war noch nicht gekommen.

So hatten ihn also seine Ahnungen nicht getäuscht. Rosa blieb gekränkt in ihrem Zimmer und bekümmerte sich nicht mehr um ihn.

»O, ich habe wohl verdient, was mir widerfährt,« sagte Cornelius. »O, sie wird nicht mehr kommen, und sie thut gut daran nicht mehr zu kommen. An ihrer Stelle machte ich es sicherlich ebenso.«

Und trotzdem lauschte Cornelius, wartete und hoffte noch immer.

So lauschte und wartete er bis Mitternacht, aber um Mitternacht hörte er auf zu hoffen, und ganz angekleidet warf er sich auf sein Bett.

Die Nacht war lang und traurig, dann brach der Tag an; aber der Tag brachte dem Gefangenen keine Hoffnung.

Um acht morgens öffnete sich seine Thür: aber Cornelius wandte nicht einmal den Kopf um, er hatte Gryphus schweren Schritt auf dem Gange gehört, allein er hatte deutlich vernommen, daß sich dieser Schritt allein nahte.

Er warf dem Kerkermeister nicht einmal einen Blick zu.

Und gleichwohl hätte er ihn fragen wollen, um sich nach Rosa zu erkundigen. Er stand im Begriffe diese Frage ihrem Vater vorzulegen, so seltsam sie ihm auch hätte vorkommen müssen. Er hoffte, der Egoist Gryphus würde antworten, daß seine Tochter krank wäre.

Wenn nicht etwas Besonderes vorfiel, kam Rosa nie am Tage. So lange der Tag währte, wartete Cornelius also eigentlich nicht. Trotzdem konnte man an seinem plötzlichen Zittern, an seinem nach der Thür vorgebeugten Ohre, an seinem den Schalter schnell befragenden Blicke leicht erkennen, daß sich der Gefangene mit der schwachen Hoffnung trug, Rosa könnte von ihren Gewohnheiten abgehen.

Bei Gryphus zweitem Besuche hatte sich Cornelius im Widerspruche mit seinem früheren Verhalten bei dem alten Kerkermeister mit seiner sanftesten Stimme nach seinem Befinden erkundigt. Aber lakonisch wie ein Spartaner, hatte sich Gryphus auf die kurze Antwort beschränkt:

»Ich befinde mich wohl.«

Bei dem dritten Besuche änderte Cornelius die Form der Frage.

»Ist niemand krank in Löwenstein?« fragte er.

»Niemand!« erwiderte Gryphus noch lakonischer als das erstemal, indem er dem Gefangenen die Thür vor der Nase zumachte.

Schlecht gewöhnt an solche Artigkeiten von Seiten des Herrn Cornelius, hatte Gryphus darin bei seinem Gefangenen den Anfang zu einem Bestechungsversuche erblickt.

Cornelius befand sich wieder allein; es war sieben Uhr abends. Nun erneuerten sich in noch weit ausgedehnterem Maße als am vorigen Abende die Befürchtungen, die wir zu schildern versucht haben.

Aber wie am Abend vorher verrannen die Stunden, ohne die liebliche Erscheinung herzuführen, welche durch den Schalter das Gefängnis des armen Cornelius erhellte und bei ihrem Wiederverschwinden Licht für die ganze Zeit ihrer Abwesenheit zurückließ.

Van Baerle brachte die Nacht in einer wahren Verzweiflung zu. Am nächsten Tage kam ihm Gryphus noch häßlicher, roher und unangenehmer als gewöhnlich vor. Es war ihm der hoffnungsvolle Gedanke durch den Kopf gezogen, oder vielmehr im Herzen entstanden, daß er Rosa fern hielte.

Wilde Lust faßte ihn, Gryphus zu erwürgen. War aber Gryphus von Cornelius erwürgt worden, so verboten Rosa alle göttliche und menschliche Gesetze, Cornelius je wiederzusehen.

Deshalb entging der Kerkermeister, ohne es zu ahnen, einer der größten Gefahren, die er je in seinem Leben gelaufen war.

Der Abend kam und die Verzweiflung ging in Schwermut über; diese Schwermut war um so düsterer, weil sich van Baerle zum Trotze die Erinnerungen an seine arme Tulpe in den Schmerz, den er empfand, mischten. Man war gerade zu der Zeit des Monats April gelangt, welche die erfahrensten Gärtner als den richtigen Augenblick zum Setzen der Tulpen bezeichnen. Er hatte zu Rosa gesagt: »Ich werde Ihnen den Tag angeben, wo Sie die Brutzwiebel in die Erde legen müssen.« – Diesen Tag, den nächsten, mußte er ihr am kommenden Abend bestimmen. Das Wetter war gut, die Luft begann, obgleich noch ein wenig feucht, durch diese blassen Strahlen der Aprilsonne, die trotz ihrer Blässe die ersten angenehmen zu sein schienen, gelinde zu werden. Wenn Rosa die Zeit des Einpflanzens vorüberstreichen ließ; wenn sich zu dem Schmerze, das junge Mädchen nicht zu sehen, noch der gesellte, daß die Zwiebel keine Pflanze trieb, weil sie zu spät, oder vielleicht gar nicht gepflanzt war!

Über diesen doppelten Schmerz konnte man wahrlich essen und trinken vergessen.

Das geschah am vierten Tage.

Es mußte wirklich Mitleid erregen, wenn man sah, wie Cornelius, stumm vor Schmerz und blaß vor Erschöpfung, sich aus dem Gitterfenster herauslehnte, auf die Gefahr hin, den Kopf nicht wieder durch die Stäbe zurückziehen zu können, bloß um den Versuch zu machen, ob er nicht auf der linken Seite den kleinen Garten sehen könnte, von dem Rosa gesprochen hatte, und dessen Zaun, wie sie ihm gesagt hatte, an das Ufer reichte. Dies that er in der Hoffnung, bei diesen ersten Strahlen der Aprilsonne das junge Mädchen oder die Tulpe, seine doppelte gebrochene Liebe, zu entdecken.

Am Abend nahm Gryphus das Frühstück und das Mittagsessen des Herrn Cornelius wieder mit fort; kaum hatte er es angerührt.

Am nächsten Tage rührte er es gar nicht an, und Gryphus trug sämtliche Lebensmittel völlig unversehrt hinab.

Cornelius war am Tage nicht aufgestanden.

»Gut,« sagte Gryphus, als er nach dem letzten Besuche wieder hinabkam, »gut, ich glaube, wir werden den Gelehrten bald los werden.«

Rosa zitterte.

»Wie meinen Sie das?« fragte Jakob.

»Er trinkt nicht mehr, er ißt nicht mehr und steht nicht mehr auf,« erwiderte Gryphus. »Wie Herr Grotius wird er in einem Kasten von hier fortgehen, nur wird dieser Kasten ein Sarg sein.«

Rosa wurde bleich wie der Tod.

»O,« murmelte sie, »ich verstehe: er ist wegen seiner Tulpe besorgt.«

Ganz bekümmert erhob sie sich und kehrte nach ihrem Zimmer zurück, wo sie eine Feder und Papier nahm und sich die ganze Nacht im Malen der Buchstaben übte.

Als er am nächsten Tage aufstand, um sich bis nach dem Fenster zu schleppen, gewahrte er ein Papier, das man unter der Thür hineingeschoben hatte.

Er stürzte sich auf dieses Papier zu, öffnete es und las in einer Schrift, die er kaum als die Rosas erkennen konnte, so sehr hatte sie sich in dieser siebentägigen Trennung gebessert, folgende Worte:

»Seien Sie unbesorgt, Ihrer Tulpe geht es gut.«

Obgleich diese wenigen Worte Rosas einen Teil seines Kummers beruhigten, so war er doch für die darin enthaltene Ironie nicht weniger empfänglich. So war Rosa also nicht krank, Rosa fühlte sich beleidigt; Rosa wurde nicht zwangsweise zurückgehalten, sondern blieb freiwillig von Cornelius fern.

So fand also Rosa, vollkommen frei, in ihrem Willen die Kraft, den nicht zu besuchen, der aus Kummer darüber, daß er sie nicht gesehen hatte, sterben wollte.

Cornelius besaß Papier und einen Bleistift, welches ihm Rosa gebracht hatte. Er sah ein, daß das junge Mädchen eine Antwort erwartete und es diese Antwort nur des Nachts holen würde. Deshalb schrieb er auf ein Papier von derselben Form, wie er es erhalten hatte:

»Nicht die Besorgnis um meine Tulpe macht mich krank, sondern der Kummer, den ich darüber empfinde, daß ich Sie nicht sehe.«

Nachdem Gryphus fortgegangen und der Abend gekommen war, schob er das Papier unter der Thür hinaus und lauschte.

Aber so gespannt er auch aufmerkte, so vernahm er doch weder ihren Schritt noch das Rauschen ihres Gewandes.

Nur hörte er eine Stimme, schwach wie ein Hauch und zärtlich wie eine Liebkosung, die ihm durch den Schalter zuflüsterte:

»Morgen.«

Morgen, – es war der achte Tag. – Acht Tage lang hatten sich Cornelius und Rosa nicht gesehen.

 


 << zurück weiter >>