Alexander Dumas d. Ä.
Der Graf von Monte Christo. Sechster Band.
Alexander Dumas d. Ä.

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Die Anklageschrift.

Die Richter traten unter dem tiefsten Schweigen der Versammelten ein; die Geschworenen ließen sich auf ihren Plätzen nieder; Herr von Villefort, der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit, wir möchten beinahe sagen Bewunderung, setzte sich bedeckt in seinen Lehnstuhl und schaute ruhig umher.

Jeder betrachtete mit Erstaunen das ernste, strenge Antlitz, über dessen Unempfindlichkeit die persönlichen Schmerzen keine Gewalt zu haben schienen, und man sah mit einem gewissen Schrecken diesen Mann an, dem die Regungen der Menschlichkeit fremd zu sein schienen.

Gendarmen, sagte der Präsident, führt den Angeklagten vor.

Bei diesen Worten wurde die Aufmerksamkeit des Publikums lebhafter, und aller Augen waren auf die Tür gerichtet, durch die Benedetto eintreten sollte.

Bald öffnete sich diese Tür, und der Angeklagte erschien.

Der Eindruck war allgemein der gleiche. Seine Züge trugen nicht das Gepräge jener tiefen Aufregung, die das Blut zum Herzen zurückdrängt und Stirn und Wangen entfärbt. Seine Hände, von denen die eine zierlich den Hut hielt, die andere in der Öffnung seiner Weste von weißem Piqué steckte, wurden von keinem Schauer geschüttelt, sein Auge war ruhig und glänzend. Kaum war er im Saal, als der Blick des jungen Mannes alle Reihen der Richter und der Anwesenden durchlief und nur länger an dem Präsidenten und besonders auf dem Staatsanwalt haften blieb.

Neben Andrea setzte sich der von Amtswegen gewählte Anwalt, ein junger Mensch mit blonden Haaren und einem Gesichte, das hundertmal mehr von Aufregung gerötet war, als das des Angeklagten.

Der Präsident ordnete die Verlesung der von Villeforts geschickter und unversöhnlicher Feder abgefaßten Anklageschrift an.

Während der langdauernden Verlesung war die öffentliche Aufmerksamkeit unablässig auf Andrea gerichtet, der die Wucht der Anklagen mit der Seelenheiterkeit eines Spartaners ertrug.

Wohl niemals war Villefort so scharf, so beredt gewesen. Das Verbrechen wurde mit den lebhaftesten Farben geschildert; die früheren Verhältnisse des Angeklagten, die Verkettung seiner Handlungen seit einem ziemlich zarten Alter wurden mit der vollen Kunst dargestellt, welche der Staatsanwalt bei seinem Scharfsinn, seiner Lebenserfahrung und der Kenntnis des menschlichen Herzens zu entfalten vermochte.

Andrea schenkte dem allen nicht die geringste Aufmerksamkeit. Herr von Villefort schaute ihn oft prüfend an und setzte an ihm ohne Zweifel die psychologischen Studien fort, die er häufig an den Angeklagten machte.

Endlich war die Verlesung vorüber.

Angeklagter, sagte der Präsident, Ihr Name und Ihr Vorname?

Andrea stand auf und sagte: Verzeihen Sie, Herr Präsident, ich sehe, Sie belieben eine Ordnung der Fragen, in der ich Ihnen nicht folgen kann. Ich werde es mir später zur Aufgabe machen, die Behauptung zu rechtfertigen, daß ich eine Ausnahme von den gewöhnlichen Angeklagten bin. Wollen Sie mir also erlauben, in abweichender Ordnung zu antworten; ich werde darum doch auf alles Antwort geben.

Der Präsident schaute erstaunt die Geschworenen an, die ihrerseits den Staatsanwalt anblickten. Offenbar war die ganze Versammlung von Verwunderung ergriffen, nur Andrea schien völlig gleichmütig zu sein.

Ihr Alter? fragte der Präsident; werden Sie diese Frage beantworten?

Ich bin einundzwanzig Jahre alt, oder vielmehr ich werde es erst in einigen Tagen, denn ich bin in der Nacht vom 27. auf den 28. September im Jahre 1817 geboren.

Herr von Villefort, der eben damit beschäftigt war, sich eine Notiz zu machen, hob bei diesem Datum rasch den Kopf empor.

Wo sind Sie geboren? fragte der Präsident.

In Auteuil, bei Paris, antwortete Benedetto.

Herr von Villefort hob den Kopf abermals empor, schaute Benedetto an, als ob er das Haupt der Meduse erblickt hätte, und wurde leichenblaß.

Benedetto aber fuhr anmutig über seine Lippen mit den gestickten Zipfeln seines feinen Battisttaschentuches.

Ihre Beschäftigung? fragte der Präsident.

Anfangs war ich Fälscher, erwiderte Andrea auf das allerruhigste, dann wurde ich Dieb, und in der jüngsten Zeit habe ich mich zum Mörder gemacht.

Ein Gemurmel oder vielmehr ein Sturm der Entrüstung brach in allen Teilen des Saales los; die Richter selbst schauten ihn erstaunt an und zeigten den größten Abscheu vor solcher unerhörten Schamlosigkeit.

Herr von Villefort drückte eine Hand auf seine Stirn, die, anfangs bleich, dann plötzlich unheimlich rot geworden war; es fehlte ihm an Luft.

Suchen Sie etwas, Herr Staatsanwalt? fragte Benedetto mit seinem höflichsten Lächeln.

Herr von Villefort antwortete nicht, sondern setzte sich oder sank vielmehr auf seinen Stuhl zurück.

Und nun, Angeklagter, wollen Sie nach dieser rohen Prahlerei mit Ihren Verbrechen Ihren Namen sagen? fragte der Präsident.

Ich bin nicht im stande, Ihnen meinen Namen zu nennen, denn ich weiß ihn nicht; doch ich weiß den meines Vaters, und den kann ich Ihnen sagen.

Ein schmerzhafter Schwindel blendete Villefort und ließ von seinen Wangen rasch hintereinander schwere Schweißtropfen auf das Papier fallen, das er mit krampfhafter Hand schüttelte.

So sagen Sie den Namen Ihres Vaters, sprach der Präsident.

Kein Hauch, kein Atemzug ließ sich bei dem tiefen Schweigen der großen Versammlung hören; mit äußerster Spannung warteten alle.

Mein Vater ist Staatsanwalt, antwortete ruhig Andrea.

Staatsanwalt! rief der Präsident bestürzt und ohne die Verstörung in den Gesichtszügen des Herrn von Villefort zu bemerken; Staatsanwalt?

Ja, und da Sie seinen Namen wissen wollen, so will ich ihn nennen; er heißt Villefort.

Der so lange aus Achtung vor der Würde des Gerichtshofes zurückgehaltene Ausbruch erfolgte jetzt wie ein Donner aus der Brust aller Anwesenden; der Vorsitzende selbst dachte nicht daran, diese Bewegung der Menge zu unterdrücken. Die an Benedetto gerichteten Vorwürfe und Schmähungen, die kräftigen Gebärden, die Bewegungen der Gendarmen, das Hohngelächter jenes schmutzigen Teiles der Zuhörerschaft, der sich bei jeder Versammlung in Augenblicken der Unruhe und des Skandals bemerkbar macht, dies alles dauerte fünf Minuten, bis die Gerichtsdiener das Stillschweigen wiederherzustellen vermochten.

Mitten unter diesem Lärm hörte man den Präsidenten rufen: Sie spotten des Gerichtes, Angeklagter; sollten Sie es wagen, Ihren Mitbürgern das Schauspiel einer Verdorbenheit zu geben, die selbst in unserer lasterhaften Zeit nicht ihresgleichen hätte?

Zehn Personen drängten sich um den auf seinem Stuhle wie niedergeschmettert dasitzenden Staatsanwalt und suchten ihm auf jede Weise Trost und Ermutigung zu bieten und ihm ihr Mitgefühl zu beteuern.

Die Ruhe war im Saale wiederhergestellt, mit Ausnahme eines Punktes, wo eine Gruppe sich um eine Frau bemühte, die, wie man sagte, in Ohnmacht gefallen war; man ließ sie an Salzen riechen, und sie war wieder zu sich gekommen.

Andrea wandte während dieses ganzen Tumultes sein lächelndes Gesicht der Versammlung zu, dann stützte er sich mit der anmutigsten Haltung auf die eichene Lehne seiner Bank und sprach: Meine Herren, Gott bewahre mich, daß ich den Gerichtshof zu beleidigen und in Gegenwart dieser ehrenwerten Versammlung einen unnützen Skandal zu machen suche. Man fragt mich, wie alt ich sei, ich sage es; man fragt mich, wo ich geboren sei, ich antworte; man fragt mich nach meinem Namen, ich kann ihn nicht nennen, weil meine Eltern mich verlassen haben. Doch ohne meinen Namen zu nennen, da ich keinen habe, kann ich den meines Vaters nennen; ich wiederhole also, mein Vater ist Herr von Villefort, und ich bin bereit, es zu beweisen.

Der Ton des jungen Mannes hatte das Gepräge der Gewißheit und Überzeugung, wodurch der Aufruhr zum Stillschweigen gebracht wurde. Die Blicke richteten sich allgemein auf den Staatsanwalt, der auf seinem Sitze unbeweglich saß, wie ein Mensch, den der Blitz in eine Leiche verwandelt hat.

Meine Herren, fuhr Andrea, durch Gebärde und Stimme Stillschweigen heischend, fort, meine Herren, ich bin Ihnen den Beweis für meine Erklärung schuldig.

Aber Sie haben bei der Untersuchung erklärt, Sie hießen Benedetto, rief heftig der Präsident, Sie haben gesagt, Sie seien eine Waise, und Sie nannten Korsika als Ihr Vaterland.

Ich habe bei der Untersuchung gesagt, was mir gut schien, und habe mir die Wahrheit für diese feierliche Gelegenheit vorbehalten. Ich wiederhole Ihnen, daß ich in Auteuil in der Nacht vom 27. auf den 28. September des Jahres 1817 geboren wurde und der Sohn des Herrn Staatsanwalts von Villefort bin. Wollen Sie nun die Einzelheiten wissen? Ich werde sie Ihnen sagen: Ich wurde geboren im ersten Stocke des Hauses Nro. 30, Rue de la Fontaine, in einem mit rotem Damast austapezierten Zimmer. Mein Vater sagte meiner Mutter, ich sei tot, nahm mich in seine Arme, wickelte mich in eine mit einem H. und mit N. gezeichnete Serviette, und trug mich in den Garten, wo er mich lebendig begrub.

Ein Schauer durchlief alle Anwesenden, als sie sahen, daß die Sicherheit des Angeklagten wie der Schrecken des Herrn von Villefort zugleich wuchsen.

Doch woher wissen Sie diese einzelnen Umstände? fragte der Präsident.

Ich will es Ihnen sagen, Herr Präsident. In den Garten, wo mich mein Vater begraben, hatte sich in dieser Nacht ein Mensch geschlichen, der ihn auf den Tod haßte und seit langer Zeit auf ihn lauerte, um eine korsische Rache an ihm zu nehmen. Dieser Mensch war in einem Gesträuch verborgen; er sah meinen Vater ein Kistchen in die Erde vergraben und brachte ihm mitten in seiner Arbeit einen Messerstich bei; im Glauben, das Kistchen enthalte einen Schatz, öffnete er das Grab und fand mich noch am Leben. Dieser Mann trug mich in das Hospital der Findelkinder, wo ich unter Nummer 37 eingeschrieben wurde. Drei Monate nachher machte seine Schwägerin die Reise von Rogliano nach Paris, um mich zu holen, forderte mich als ihren Sohn zurück und brachte mich nach Hause. Deshalb bin ich, obgleich in Auteuil geboren, doch in Korsika erzogen wurden.

Es herrschte einen Augenblick ein so tiefes Schweigen, daß man den Saal hätte für leer halten sollen.

Fahren Sie fort! sprach die Stimme des Präsidenten.

Ich konnte allerdings glücklich sein bei den braven Leuten, die mich anbeteten; aber meine verkehrte Natur trug den Sieg über alle Tugenden davon, die meine Adoptivmutter in mein Herz zu pflanzen suchte. Ich wuchs im Schlechten und gelangte zum Verbrechen. Eines Tages, als ich Gott verfluchte, daß er mich so böse gemacht und mir ein so abscheuliches Geschick gegeben, kam mein Adoptivvater zu mir und sagte: Lästere nicht, Unglücklicher! Denn Gott hat dir das Tageslicht ohne Zorn verliehen, das Verbrechen kommt von deinem Vater. Von da an hörte ich auf, Gott zu lästern, aber ich verfluchte meinen Vater; und darum ließ ich hier die Worte vernehmen, die Sie mir vorgeworfen, Herr Präsident; darum habe ich den Skandal veranlaßt, über den diese Versammlung noch voll Entrüstung bebt. Ist dies ein Verbrechen mehr, so bestrafen Sie mich, habe ich Sie jedoch überzeugt, daß von meiner Geburt an mein Schicksal ein unseliges, schmerzliches, bitteres war, so beklagen Sie mich!

Doch Ihre Mutter? fragte der Präsident.

Meine Mutter hielt mich für tot; meine Mutter ist nicht schuldig. Ich wollte ihren Namen nicht wissen und kenne ihn nicht.

In diesem Augenblick ertönte ein schriller Schrei, der in einem Schluchzen endigte, mitten aus einer Gruppe, die, wie gesagt, eine Frau umgab. Diese Frau hatte einen heftigen Anfall und wurde aus dem Gerichtssaale weggetragen; während man sie forttrug, verschob sich der dicke Schleier, der ihr Gesicht verbarg, und man erkannte Frau Danglars.

Trotz des Druckes, der auf seinen geschwächten Sinnen lastete, trotz des Brausens, das sein Ohr erfüllte, trotz des Wahnsinns, der sein Gehirn durchtobte, erkannte sie Herr von Villefort ebenfalls und stand auf.

Die Beweise! Die Beweise! sagte der Präsident, Angeklagter, erinnern Sie sich, daß dieses Gewebe von Greueltaten, um Glauben zu finden, durch die untrüglichsten Beweise unterstützt werden muß.

Die Beweise? versetzte Benedetto lachend, die Beweise wollen Sie haben? Wohl! Schauen Sie Herrn von Villefort an, und verlangen Sie noch einmal Beweise.

Alle wandten sich dem Staatsanwalt zu, der unter dem Gewichte von tausend auf ihn gehefteten Blicken, wankend, die Haare in Unordnung, das Gesicht hochrot, vor den Präsidenten trat.

Die ganze Versammlung ließ ein anhaltendes Gemurmel des Erstaunens vernehmen.

Man verlangt Beweise von mir, mein Vater, sagte Benedetto; soll ich sie geben?

Nein, nein, stammelte Herr von Villefort mit gepreßter Stimme, nein, es ist unnötig.

Wie, unnötig? rief der Präsident, was wollen Sie damit sagen?

Ich will damit sagen, entgegnete der Staatsanwalt, daß ich mich vergebens unter dem tödlichen Drucke, der mich niederwirft, zerarbeiten würde. Meine Herren, ich erkenne es, ich bin in der Hand des rächenden Gottes. Keine Beweise! Es bedarf deren nicht: Alles, was dieser junge Mensch gesagt hat, ist wahr.

Ein düsteres, drückendes Schweigen, wie das, welches den Katastrophen der Natur vorhergeht, hüllte alle Anwesenden in seinen bleiernen Mantel.

Wie, Herr von Villefort, rief der Präsident. Hat Sie ein Anfall von Irrsinn gepackt? Sind Sie Herr Ihrer geistigen Fähigkeiten? Es wäre kein Wunder, wenn eine so seltsame, so unvorhergesehene, so furchtbare Anklage Ihren Geist gestört hätte! Auf, Herr von Villefort, beruhigen Sie sich!

Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf. Seine Zähne schlugen heftig aneinander, wie die eines Menschen, der vom Fieber verzehrt wird, und dennoch war er bleich wie der Tod.

Ich bin ganz und gar bei Sinnen, sagte er; der Körper allein leidet, und das läßt sich begreifen. Ich erkenne mich schuldig alles dessen, was dieser junge Mensch gegen mich vorgebracht hat, und halte mich von dieser Stunde an in meinem Hause zur Verfügung des Herrn Staatsanwalts, meines Nachfolgers.

Nachdem er diese Worte mit dumpfer, fast erstickter Stimme gesprochen hatte, ging Herr von Villefort wankend auf die Tür zu, die ihm der Gerichtsdiener mechanisch öffnete.

Die ganze Versammlung blieb stumm unter dem Eindruck dieser Erklärung und des Geständnisses, wodurch die rätselhaften Erscheinungen, die seit vierzehn Tagen die hohe Pariser Gesellschaft erregten, eine so furchtbare Entwicklung nahmen.

Man sage noch einmal, das Drama liege nicht im Leben! sprach Beauchamp.

Meiner Treu, versetzte Chateau-Renaud, ich würde noch lieber wie Herr von Morcerf endigen; ein Pistolenschuß erscheint sanft gegen eine solche Katastrophe.

Und dann tötet er auch, bemerkte Beauchamp.

Und ich dachte eine Zeitlang daran, seine Tochter zu heiraten! sagte Debray. Das arme Kind hat wohl daran getan, daß es gestorben ist.

Die Sitzung ist aufgehoben, meine Herren, und die Sache auf die nächste Session verschoben, sagte der Präsident. Der Prozeß muß aufs neue eingeleitet und einem anderen Beamten anvertraut werden.

Andrea verließ den Saal, stets gleich ruhig und noch viel interessanter als zuvor, geleitet von Gendarmen, die ihm unwillkürlich eine gewisse Achtung zollten.

Nun, was denken Sie davon, mein braver Mann? fragte Debray den Stadtsergeanten, indem er ihm einen Louisd'or in die Hand drückte.

Man wird ihm mildernde Umstände zubilligen! antwortete dieser.


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