Alexander Dumas d. Ä.
Der Graf von Monte Christo. Dritter Band.
Alexander Dumas d. Ä.

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Das Haus in Auteuil.

Monte Christo war es nicht entgangen, daß Bertuccio sich bekreuzt und im Wagen ein kurzes Gebet gemurmelt hatte, denn er ließ den Intendanten, dessen Widerwille gegen die Fahrt unverkennbar war, keinen Augenblick aus den Augen.

In zwanzig Minuten war man in Auteuil. Die Unruhe des Intendanten hatte immer mehr zugenommen, und als sie in das Dorf hineinfuhren, betrachtete er mit fieberhafter Aufregung jedes Haus, an dem sie vorüberkamen.

Sie lassen in der Rue de la Fontaine Nr. 30 halten, sagte der Graf, seinen Blick unbarmherzig auf den Intendanten heftend.

Der Schweiß trat Bertuccio aufs Gesicht, aber er gehorchte und rief, sich aus dem Wagen neigend, dem Kutscher zu: Rue de la Fontaine, Nr. 30.

Diese Nummer 30 lag am Ende des Dorfes. Während der Fahrt war es Nacht geworden, der Wagen hielt an, und der Lakai stürzte an den Schlag und öffnete.

Nun! sagte der Graf, Sie steigen nicht aus, Herr Bertuccio, Sie bleiben im Wagen? Aber zum Teufel, was ist Ihnen denn heute?

Bertuccio sprang aus dem Wagen und bot seine Schulter dem Grafen zur Stütze.

Klopfen Sie, sagte dieser, und melden Sie mich an.

Bertuccio klopfte, die Tür öffnete sich, und der Hausmeister erschien.

Was beliebt? fragte er.

Ihr neuer Herr ist hier, sagte der Diener und übergab dem Hausmeister das Schreiben des Notars.

Das Haus ist also verkauft, und der Herr wird es bewohnen? versetzte der Hausmeister.

Ja, mein Freund, sagte der Graf, und ich werde dafür sorgen, daß Sie den Verlust Ihres früheren Herrn nicht zu beklagen haben.

Oh! Herr, ich habe nicht viel zu beklagen, denn wir sahen ihn nur äußerst selten, den Herrn Marquis von Saint-Meran.

Der Marquis von Saint-Meran! versetzte Monte Christo, der Name kommt mir bekannt vor . . . Und er schien in seinem Gedächtnis zu suchen.

Ein alter Edelmann, fuhr der Hausmeister fort, ein getreuer Diener der Bourbonen. Er hatte eine einzige Tochter, die an Herrn von Villefort verheiratet war, der Staatsanwalt in Nimes und später in Versailles gewesen ist.

Monte Christo warf einen Blick auf Bertuccio, der fahler aussah, als die Mauer, an die er sich lehnte, um nicht zu fallen.

Ist diese Tochter nicht gestorben? fragte Monte Christo; es ist mir, als hätte ich davon gehört.

Ja, vor einundzwanzig Jahren.

Ich danke, sagte Monte Christo, denn der Intendant kam ihm so niedergeschmettert vor, daß er jetzt nicht weiter fragte. Nehmen Sie eine Wagenlaterne, Bertuccio, und zeigen Sie mir die Zimmer!

Der Intendant gehorchte unverzüglich, aber aus dem Zittern der Hand, welche die Laterne hielt, war leicht zu entnehmen, was ihn dieser Gehorsam kostete. Sie durchschritten ein ziemlich geräumiges Erdgeschoß und einen ersten Stock, bestehend aus einem Salon, einem Badezimmer und zwei Schlafzimmern. Durch eines von diesen Schlafzimmern gelangte man zu einer Wendeltreppe, die nach außen zu führen schien.

Ah! ein Nebenausgang, sagte der Graf, das ist sehr bequem. Leuchten Sie mir, Herr Bertuccio; gehen Sie voraus, wir wollen sehen, wohin die Treppe führt!

Herr Graf, sie geht in den Garten. – Und woher wissen Sie das? – Das heißt, sie muß wohl dahin führen. – Gut, wir wollen uns überzeugen.

Bertuccio stieß einen Seufzer aus und ging voran. Die Treppe führte wirklich nach dem Garten. An der Ausgangstür blieb Bertuccio stehen.

Vorwärts! sagte der Graf.

Doch Bertuccio war wie betäubt, wie vernichtet. Seine irren Augen suchten ringsumher die Spuren einer furchtbaren Vergangenheit, und er schien mit seinen krampfhaft zusammengepreßten Händen entsetzliche Erinnerungen zurückdrängen zu wollen.

Nun! rief der Graf.

Nein, stammelte Bertuccio, die Laterne hinstellend; nein, Herr Graf, ich gehe nicht weiter, es ist unmöglich!

Was soll das heißen? entgegnete des Grafen gebieterische Stimme.

Sie sehen wohl, Exzellenz, rief der Intendant, daß dies nicht mit natürlichen Dingen zugeht. Sie wollten ein Haus in der Gegend von Paris kaufen und kauften gerade eins in Auteuil, und das Haus, das Sie kauften, ist gerade Nummer 30 in der Rue de la Fontaine. Oh! warum habe ich Ihnen nicht schon dort alles gesagt, gnädiger Herr; Sie hätten sicherlich nicht von mir verlangt, ich solle mitfahren. Ich hoffte, das Haus des Herrn Grafen würde ein anderes sein! Als ob es nicht noch mehr Häuser in Auteuil gäbe als das, wo der Mord vorgefallen ist!

Oh! oh! rief Monte Christo, was für ein scheußliches Wort haben Sie da ausgesprochen! Teufel von einem Menschen! Eingefleischter Korse! Stets Aberglauben oder Geheimnisse! Nehmen Sie die Laterne und lassen Sie uns den Garten besehen, in meiner Gegenwart werden Sie hoffentlich keine Angst haben?

Bertuccio hob die Laterne auf und gehorchte. Als die Tür sich öffnete, wurde ein blasser Himmel sichtbar, an dem der Mond vergebens gegen ein Meer ihn meist verhüllender Wolken kämpfte. Der Intendant wollte sich nach der linken Seite wenden.

Nein, nein, sagte der Graf, wozu den Alleen folgen? Hier ist ein schöner Rasen, gehen wir geradeaus!

Bertuccio wischte den Schweiß von seiner Stirn ab, gehorchte, zielte dabei aber fortwährend nach links. Monte Christo wandte sich im Gegenteil mehr rechts; an einer Baumgruppe blieb er stehen. Der Intendant vermochte es nicht länger auszuhalten und rief: Zurück, Herr! ich bitte, halten Sie sich fern, Sie sind gerade an der Stelle.

Lieber Bertuccio, versetzte der Graf lachend, kommen Sie doch zu sich, wir sind hier in einem, ich kann es nicht leugnen, schlecht unterhaltenen englischen Garten, weiter nichts.

Gnädigster Herr, ich flehe Sie an, bleiben Sie nicht dort!

Ich glaube, Sie werden ein Narr, Bertuccio; wenn dies der Fall ist, so sagen Sie es mir, ich lasse Sie in irgend eine Heilanstalt einsperren, ehe ein Unglück geschieht.

Ach, Exzellenz, sagte Bertuccio, den Kopf schüttelnd und die Hände mit einer Bewegung faltend, die den Grafen zum Lachen gebracht hätte, wenn ihn nicht im Augenblick Gedanken von höherem Interesse gefesselt und äußerst aufmerksam auf jede Äußerung dieses von der Angst gepeinigten Gewissens gemacht hätten; ach! Exzellenz, das Unglück ist geschehen.

Bertuccio, entgegnete der Graf, ich erlaube mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie bei Ihren heftigen Gebärden sich die Arme verdrehen und die Augen rollen, wie ein Besessener, aus dessen Leib der Teufel nicht weichen will. Ich habe aber stets wahrgenommen, daß der Teufel mit der größten Hartnäckigkeit am Platze zu bleiben trachtet, wo ein Geheimnis zu Grunde liegt. Ich wußte, daß Sie ein Korse sind, ich wußte auch, daß Sie stets düster waren und eine alte Rache im Herzen trugen, und ließ dies in Italien hingehen, weil dergleichen dort gang und gäbe ist. In Frankreich aber ist man gegen Morde allgemein sehr eingenommen; es gibt Gendarmen, die sich damit beschäftigen, Richter, die verurteilen, und rächende Schafotte.

Bertuccio faltete die Hände, während die Laterne, die er hielt, sein verstörtes Gesicht beleuchtete. Monte Christo schaute ihn eine Minute lang mit demselben Blick an, mit dem er in Rom Andreas Hinrichtung angeschaut hatte, und sprach dann mit einem Tone, bei dem ein neuer Schauer den Leib des armen Intendanten durchlief: Der Abbé Busoni hat also gelogen, als er mir Sie nach seiner Reise durch Frankreich im Jahre 1829 mit einem Empfehlungsbriefe zuschickte, worin er Ihre kostbaren Eigenschaften hervorhob. Gut, ich werde dem Abbé schreiben, ich werde ihn für seinen Schützling verantwortlich machen und ohne Zweifel erfahren, wie es sich mit dieser Mordgeschichte verhält. Ich mache Sie jedoch darauf aufmerksam, Bertuccio, daß ich mich immer, wo ich meinen Aufenthalt nehme, nach den Gesetzen des Landes zu richten pflege und keine Lust habe, mich Ihnen zu Liebe mit der französischen Justiz zu entzweien.

Oh! tun Sie das nicht, Exzellenz; nicht wahr, ich habe treu gedient? rief Bertuccio in Verzweiflung, ich bin immer ein ehrlicher Mann gewesen, und habe sogar, soviel ich vermochte, gute Handlungen verrichtet.

Ich leugne das nicht, doch warum zum Teufel gebärden Sie sich so? Das ist ein schlimmes Zeichen; ein reines Gewissen bringt nicht solche Blässe auf die Wangen, solches Fieber in die Hände . . .

Aber, Herr Graf, versetzte Bertuccio zögernd, sagten Sie mir nicht selbst, es sei Ihnen vom Abbé Busoni, der mich im Gefängnis zu Nimes beichten hörte, mitgeteilt worden, ich hätte mir einen schweren Vorwurf zu machen?

Ja, doch da er Sie mit der Bemerkung, Sie würden ein vortrefflicher Intendant werden, zu mir sandte, so glaubte ich, Sie hätten gestohlen.

Oh! Herr Graf, rief Bertuccio mit Verachtung.

Oder als Korse hätten Sie der Begierde nicht widerstehn können, eine Haut zu machen, wie man in Ihrem Lande sonderbarerweise sagt, während man doch eine Haut vernichtet.

Nun ja, guter gnädiger Herr, ja, Exzellenz, so ist es, rief Bertuccio, sich dem Grafen zu Füßen werfend, ja, es ist eine Rache, das schwöre ich, nichts als eine Rache.

Ich begreife das, begreife aber nicht, warum Sie gerade dieses Haus in solche heftige Aufregung versetzt?

Ist das nicht natürlich, gnädigster Herr, da in diesem Hause die Rache vollführt wurde?

Wie, in meinem Hause?

Oh! Exzellenz, es gehörte Ihnen noch nicht.

Das ist ein seltsames Zusammentreffen. Sie befinden sich durch Zufall wieder an einem Orte, wo eine Szene vorgefallen ist, die so furchtbare Gewissensbisse bei Ihnen veranlaßt . . .

Gnädiger Herr, ich bin fest überzeugt, ein unvermeidliches Verhängnis lenkt dies so. Zuerst kaufen Sie ein Haus gerade in Auteuil. Dieses Haus ist das, wo ich einen Mord begangen habe; Sie steigen in den Garten gerade auf der Treppe herab, wo er herabgestiegen ist; Sie bleiben gerade auf der Stelle stehen, wo er den Stoß erhalten hat. Zwei Schritte von hier, unter jener Platane, war das Grab, wo er das Kind verscharrt hatte. Alles dies ist kein Zufall, sonst müßte der Zufall zu sehr der Vorsehung gleichen.

Gut, nehmen wir an, es sei die Vorsehung – ich nehme immer alles an, was man will; überdies muß man kranken Geistern entgegenkommen. Auf, Bertuccio, fassen Sie sich und erzählen Sie mir die ganze Geschichte.

Ich habe sie nur ein einziges Mal erzählt, und zwar dem Abbé Busoni. Dergleichen, fügte Bertuccio hinzu, läßt sich nur unter dem Siegel der Beichte aussprechen.

Dann werden Sie es für angezeigt halten, wenn ich Sie zu Ihrem Beichtvater schicke, mein lieber Bertuccio! Doch mir bangt vor einem Gaste, den solche Gespenster in Schrecken versetzen; mir paßt es nicht, daß meine Leute am Abend nicht in den Garten zu gehen wagen. Auch muß ich gestehen, daß mich durchaus nicht nach dem Besuche irgend eines Polizeikommissars verlangt. Denn lassen Sie sich sagen, Herr Bertuccio, in Italien bezahlt man die Justiz nur, wenn sie schweigt, in Frankreich bezahlt man sie dagegen nur, wenn sie spricht. Teufel! ich meinte, Sie seien noch ein wenig Korse, ein gut Teil Schmuggler und ein äußerst geschickter Intendant; aber ich sehe, daß Sie noch andere Saiten auf Ihrem Bogen haben. Sie sind nicht mehr in meinem Dienst!

Oh! gnädigster Herr, rief der Intendant, bei dieser Drohung vom heftigsten Schrecken ergriffen, wenn es nur hiervon abhängt, ob ich in Ihrem Dienste bleibe, so werde ich reden, so werde ich alles sagen, und wenn ich Sie verlasse, nun so mag es sein, um das Schafott zu besteigen!

Das ist etwas anderes, sagte Monte Christo, doch wenn Sie lügen wollen, überlegen Sie es sich wohl! Es wäre dann besser, Sie sprächen gar nicht.

Nein, Herr Graf, ich schwöre Ihnen bei dem Heile meiner Seele, ich werde alles sagen; denn selbst der Abbé Busoni hat nur einen Teil meines Geheimnisses erfahren. Aber ich flehe Sie vor allem an, entfernen Sie sich von dieser Platane; sehen Sie, der Mond tritt eben hervor und will jene Stelle beleuchten, und dort, wo Sie stehen, in den Mantel gehüllt, der mir Ihre Gestalt verbirgt und ganz dem des Herrn von Villefort gleicht . . .

Wie! rief Monte Christo, Herrn von Villefort? . . .

Eure Exzellenz kannte ihn? – Ja, wenn es der ehemalige Staatsanwalt von Nimes ist, der den Ruf eines der ehrlichsten und gerechtesten Beamten hatte? – Jawohl, gnädiger Herr, rief Bertuccio, dieser Mann . . . – Nun? – War ein Schurke! – Bah, unmöglich! – Es ist dennoch, wie ich Ihnen sage. – Oh! und Sie haben den Beweis dafür? – Ich hatte ihn wenigstens. – Und Sie waren so ungeschickt, ihn zu verlieren? – Ja, doch wenn man gut sucht, kann man ihn wohl wieder finden. – Wahrhaftig, erzählen Sie mir das, Bertuccio, denn es fängt wirklich an, mich zu interessieren!

Und eine Arie aus der Oper Lucia trällernd, setzte sich der Graf auf eine Bank, während ihm Bertuccio, seine Erinnerungen sammelnd, folgte. Bertuccio blieb vor Monte Christo stehen.


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