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Viertes Kapitel

Als er mit kurzen schnellen Schrittchen die Straße hinunterging, noch immer in beträchtlicher Erregung über die vielfachen häuslichen Kümmernisse, denen er soeben entronnen war, übersah er völlig seinen alten Freund Mühlberger, den Buchhändler Eugen Mühlberger von der abendlichen Skatgesellschaft, der ihm des Wegs entgegenkam.

Mühlberger war immer guter Laune, wo er stand und ging.

»Hallo, Polizeirätchen! So sehr in Gedanken? So sehr in Eile?«

Lemberger war nicht in der Stimmung zu plaudern und er suchte vorbeizukommen. »Tag, Mühlberger!« – Damit war er schon einen Schritt vorüber.

»Guter Gott, Polizeirat, welchem Verbrecher sind Sie jetzt gerade wieder auf der Spur?« – Mühlberger war ein Spaßvogel, aber manchmal zur Unzeit. – »Was gibt's, Mord oder Totschlag? Millionendiebstahl? Bankräuber?«

Nun ist der Polizeirat genötigt, einen Augenblick stille zu halten, denn man darf doch nicht unhöflich sein und man muß Wohl oder übel die alten verbrauchten Witze über sich ergehen lassen. »Arbeit, Arbeit! Wenn ich's einmal in meinem Leben so gut hätte, wie Sie, Mühlberger!«

Der Buchhändler machte plötzlich ein ernsthaftes Gesicht. »Ach,« sagte er mit der Neugier eines Menschen, der erfreut ist, aus erster Quelle eine wichtige Neuigkeit zu erfahren, »wie verhält sich denn eigentlich die Geschichte?«

Jetzt ist es an dem Polizeirat, zu erstaunen. »Welche Geschichte?«

»Nun die Geschichte, von der schon die ganze Stadt spricht.«

Eine Geschichte, von der die ganze Stadt spricht, ist allerdings etwas, das die Aufmerksamkeit eines Polizeirats in Anspruch nehmen muß. »Sie sprechen in Rätseln,« sagte der Polizeirat, »machen Sie keine Witze, he?«

»Witze? Sollten Sie noch nichts gehört haben, Polizeirat? Ich bitte Sie. Ich nehme an, ich könnte von Ihnen etwas Authentisches erfahren ...«

Dem Polizeirat prickelt es nun in allen Nerven. Was wird das geben? Das ist ja verteufelt, bis der Mensch losschlägt. Dieser Mühlberger versteht es, einen auf die Folter zu spannen. »So sagen Sie doch, können Sie nicht sprechen? Ich mag es nicht leiden, wenn man sich in Rätseln ergeht.«

Aber Mühlberger hat den Grundsatz, sich nicht zu übereilen. Er muß erst seine Zigarre anzünden, die erloschen ist.

Sie will um alle Welt nicht brennen und er muß ordentlich die Wangen hohlziehen, bis sie in Brand ist.

Endlich wirft er das Streichholz weg und schiebt umständlich die Streichholzschachtel in die hintere Rocktasche. »Man spricht ja von einer ganz ungewöhnlichen Geschichte, einer ganz rätselhaften Sache.«

Nun ist der Polizeirat wirklich auf dem Punkte, ernstlich böse zu werden. »Ach lassen Sie doch Ihre Späße, Mühlberger. Ich bin jetzt eben nicht in der Stimmung.«

»Keine Späße, keine Späße!« Mühlberger greift schon wieder nach dem Zündholz. »Wenn ich nur wüßte, was es eigentlich wäre? Und wo es passiert ist? Kein Mensch weiß, was. Es muß ganz nieder Nähe der Stadt gewesen sein ...«

Polizeirat Lemberger ist in Verzweiflung.

Der andre sieht es und beginnt selbst eifrig zu werden. »Man spricht von einem Verbrechen!«

»Verbrechen!?«

»Man sagt allerhand, aber die Leute übertreiben. Wenn etwas an der Sache wäre, müßten Sie es doch in erster Linie wissen?«

Polizeirat Lemberger beginnt zu fiebern. Nun ist seine Geduld zu Ende. »So sagen Sie mir wenigstens, woher haben Sie erfahren ...?«

Der andre überlegt. »Ja wenn ich das noch wüßte?« meint er gedankenvoll. »Es ist nun eben ein Gerücht.«

Lemberger wendet sich eilig zum Gehen. »Ich kann hier nicht mehr viel Zeit vertändeln. Adieu, Mühlberger. Ich glaube, Sie wollen mich zum Narren halten?«

»Aber gewiß nicht! Ich denke nicht daran,« ruft ihm der andre noch nach.

Lemberger hat sicherlich heute einen unglücklichen Tag.

Kaum ist er um die nächste Straßenecke, so begegnet ihm wieder ein alter Bekannter, der Syndikus Schindler.

Aber Gott sei Dank, der Mann hat selbst Eile. Er winkt dem Polizeirat freundlich zu. »Weiß man schon Näheres, Polizeirat? Sind Sie schon auf der Fährte?« Und fort ist er, wie der Wind.

Polizeirat Lemberger hat einen weiten Weg zum Amt, der ihm schon oft lästig geworden ist.

Noch ist er nur wenige Häuser weiter gegangen, so steht der Zigarrenhändler Elias unter der Tür seines Ladens.

Da er gesehen hat, daß der Polizeirat mit Syndikus Schindler einige Worte wechselte, hat er schon erraten, um was es sich handelt. »Recht guten Nachmittag, Herr Polizeirat. Wie steht's? Ist schon Genaueres bekannt? Liegt wirklich etwas vor?«

Herr Lemberger betrat den Laden, um eine Zigarre zu kaufen.

Es lag dies ja ursprünglich gar nicht in seiner Absicht, aber ein Polizeirat darf sich doch nicht derart bloßstellen und erkennen lassen, daß er etwas nicht weiß, was man in der ganzen Stadt weiß. Darum nimmt er den Vorwand und kauft einige Flor de Manila, weil er hofft, aus Elias etwas herauszukriegen.

Aber er hat die Rechnung falsch gemacht, er merkt sofort, daß er um keinen Schritt weiter kommt.

»Darf man etwas erfahren?« fragte der Neugierige. »Sie wissen, Herr Polizeirat, bei mir ist es gut aufgehoben. Ich mache keinen Gebrauch davon.«

Lemberger weiß, wenn er ihm eine Silbe anvertraut, wissen es in der nächsten Viertelstunde zwanzig andre. Aber er hat ihm ja leider nichts anzuvertrauen, er wüßte ja selbst gerne wie und was. »Zuerst muß ich wissen, was Ihnen schon bekannt ist, Elias.«

»Nicht viel, nicht viel, Herr Polizeirat. Man sagt, daß etwas passiert sei, ganz in der Nähe der Stadt. Alles spricht davon und keiner weiß etwas Sicheres.«

»Und woher haben Sie es erfahren, Elias?«

Der Zigarrenhändler machte eine schlaue Bewegung mit den Achseln und der Hand zugleich. »Ja, wenn ich das selbst noch wüßte.«

Lemberger zündete sich bedächtig eine Zigarre an, bezahlte und wandte sich zur Ladentür, mit einen recht geheimnisvollen Zuge um die Augen. Zum Zeichen des Stillschweigens behielt er seine Flor de Manila im Munde.

»Und?« fragte Elias.

Aber Lemberger ist schon unter der Tür. »Bevor ich nichts Sicheres weiß, darf ich nichts verraten, mein Bester.«

Nun beschleunigt er seine Schritte. Ich möchte nicht noch an viele hinlaufen, ist sein Gedanke. Das ist unverantwortlich, daß ich nicht benachrichtigt worden bin. Wozu habe ich Telephon im Hause? Ich muß mich ja schämen. Das ist ja eine Lotterwirtschaft ohnegleichen. Aber ich werde der Gesellschaft einheizen, ich will ihr warm machen.

Von weitem sah er nun schon das Polizeigebäude, die hohe steinerne Außentreppe und die Bogenlampe. Aber vor dem Gebäude sah er noch etwas andres, was ihm ungelegen kommt.

Es ist, als ob sich alles verschworen hätte, ihn aufzuhalten.

Dieses Etwas ist ein würdiger Herr mit weißem Backenbart, einem großen Schlapphut und ist niemand anders als der Rektor des humanistischen Lyzeums, Herr Oberstudienrat Doktor Bartenstein.

Er kann ihm aber nicht mehr ausweichen. Der alte Herr hält sogar schon seinen Schritt an und macht sich bereit, ihn auf offener Straße zu empfangen, ihm die Hand zu schütteln.

»Wie geht es, bester Herr Polizeirat?«

»Schon recht, schon recht. Danke der Nachfrage. Aber Sie wissen ja, Herr Oberstudienrat, dieser Bursche, die Sorge, die mir der Kerl macht, der Eduard ...«

»Kinder sind stets ein Gegenstand der Sorge. Aber so köstlich ist auch die Freude, die sie uns bereiten.« Der alte Herr lächelte gütig. »Ohne Finsternis kein Licht, ohne Kümmernis keine echte Freude, ohne Unart keine Tugend.«

»Von Eduards Tugenden habe ich noch wenig bemerkt,« sagte Herr Lemberger aufrichtig. Plötzlich erinnerte er sich wieder der erlittenen Unbill. Das ist ja die beste Gelegenheit, meine Beschwerde an den Mann zu bringen, dachte er. Nun will ich einmal dem Herrn Rektor ein Licht aufstecken über einen gewissen Herrn Lieberich, der sich nicht entblödet, den Sohn des Polizeirats Lemberger durchzuhauen. »Erst heute hat Eduard recht ordentlich das Wams vollgekriegt,« sagte er.

Dabei lächelte er vielsagend, denn er weiß ganz genau, daß dies der Oberstudienrat nicht sehr gerne hört, daß ihm dies peinlich ist.

Es tut auch sofort seine Wirkung. Das gütige Lächeln verschwindet, wie wenn der lichte Sonnenstrahl von einer vorübergehenden Wolke verhüllt wird. »In der Geographiestunde wohl?« klang die etwas gedehnte Frage.

»Ich denke, es war Herr Lieberich,« gab Herr Lemberger leichthin zur Antwort. »Soviel ich aus dem Burschen herausgebracht habe. Er behauptet, ein andrer hätte ihn gestoßen.«

Die Miene des Herrn Rektors verdüstert sich mehr, er sieht bekümmert aus.

»Ich weiß nicht,« sagte er, »was ich von Doktor Lieberich denken soll. Er ist seit einiger Zeit merkwürdig verändert. Merkwürdig nervös. Früher war er ein stiller, beinahe schüchterner junger Mann, und nun von einer Aufgeregtheit, die mir selbst schon aufgefallen ist.«

Man merkt, der Herr Rektor sucht abzubrechen, denn die Wendung des Gesprächs ist ihm sehr unangenehm geworden. Darum reicht er dem andern die Hand. »Sie dürfen überzeugt sein, Herr Polizeirat, ich werde danach sehen. Verlassen Sie sich darauf. Auf Wiedersehen, Herr Polizeirat.«

Er wendet sich zum Gehen. Dann lächelt er wieder freundlich. »Nebenbei gesagt, was hat sich denn eigentlich zugetragen? Man spricht davon, daß etwas passiert sei? Gar nicht weit von der Stadt?« –

Nun geht die Geschichte wieder an. Es verdüstert sich wieder das Gesicht des andern. »Ich weiß zur Stunde selbst nichts Authentisches.«

Der Herr Rektor lächelt schlau, er droht mit dem Finger. Es ist wirklich drollig, wie sich dem ehrwürdigen alten Herrn mit dem weißen Backenbart dieses schlaue Lächeln anläßt. »Ich verstehe, ich verstehe, Amtsgeheimnis!« Und mit einer tänzelnden Bewegung, die etwas rührend Eckiges hat, entfernt er sich und schwingt nachträglich seinen großen Schlapphut.

Sofort stieg nun Polizeirat Lemberger die steinerne Treppe des Polizeigebäudes empor, verschwand im Innern und betrat seine Kanzlei.

Ohne nur den Hut abzunehmen, blätterte er die neu eingelaufenen Schriftstücke durch.

Es war nur wenig, durchweg unwichtiges Zeug. In ordentlicher Erregung warf er die losen Blätter über den Tisch. Keine Meldung! Die ganze Stadt spricht davon, nur in dem Hause Bismarckstraße z6 nicht, weil es das Polizeigebäude ist.

Unwillig legte er den Hut und die Handschuhe ab, setzte sich an den Schreibtisch und läutete schrill und andauernd.

Er befahl den Herrn Polizeiinspektor.

Augenblicklich erschien der Gerufene.

Es ist ein hagerer großer Mann mit lang herabhängendem Schnurrbart und man sieht ihm den alten Feldwebel an. Er hat durchbohrende schwarze Augen und ein finsteres faltiges Gesicht, denn er ist schon ein älterer Mann und im Dienste ergraut.

Erwartungsvoll, in dienstlicher Haltung steht er da und sieht seinen Vorgesetzten an.

Aber Polizeirat Lemberger sagt kein Wort, er sitzt hinter seinem Schreibtisch, lehnt sich so, aufrecht, als er kann, in seinen Lehnstuhl zurück, spielt nervöse mit einem Bleistift, den er auf dem Tisch zittern läßt, sieht halb fragend halb strafend zu seinem Untergebenen auf und ist offenkundig in großer Spannung.

Aber Inspektor Höhnerlein handelt ganz, wie er aussieht. Wenn des Polizeirats Blick schon eine deutliche Frage ist, so ist sein Blick – bei aller Untergebenheit – eine direkte Aufforderung.

So können sie aber nicht einander gegenüber verharren.

»Nun?« sagte der Herr Polizeirat.

»Der Herr Rat wünscht?« –

Es ist ein gewisser Kampf zwischen den beiden Männern. Der eine will den andern zum Sprechen bringen und jeder glaubt sich im Recht, der Polizeiinspektor, weil er denkt, wenn man ihn kommen läßt, muß man ihm auch sagen, weshalb dies geschieht, der Polizeirat, weil er denkt, daß Höhnerlein ihm auch etwas zu sagen haben werde, wenn doch die ganze Stadt davon spricht.

»Bitte melden,« sagte der Polizeirat ziemlich militärisch und trommelte ungeduldiger mit dem Kohinoor.

Jetzt nahm Höhnerlein ebenfalls eine Art militärische Haltung an und meldete etwas verwundert und etwas spitz und deshalb recht unmilitärisch. »Nichts Neues, Herr Polizeirat!«

Darauf fiel der Polizeirat aus seiner Rolle eines Kommandeurs und er sagte in gutem, zivilem Deutsch, aber mit um so deutlicher erkennbarem Ärger: »Ihre Sache ist nichts, Höhnerlein. So oft ich Sie frage, gibt es nichts Neues.«

Nun hielt sich auch Inspektor Höhnerlein für berechtigt, aus seiner militärischen Haltung herauszutreten, zumal sie sonst ja gemütlicher miteinander zu verkehren pflegen, denn er ist doch kein Rekrut sondern die rechte Hand des Polizeirats. »Herr Polizeirat,« sagte er und man konnte trotz seiner achtungsvollen Haltung und Stimme den Ärger und Vorwurf heraushören: »Wenn nichts passiert, habe ich nichts zu melden.«

Diesmal hat sich aber Herr Inspektor Höhnerlein ordentlich verrechnet, wenn er glaubt, es handle sich um eine flüchtige Laune oder krittelige Stimmung seines Vorgesetzten. Der Herr Polizeirat wird zornig, ganz außerordentlich zornig. »Wenn nichts passiert?« sagte er und erhob seine Stimme mehr als üblich. »Und die Geschichte, von der die ganze Stadt spricht, Herr Inspektor?«

Das sitzt. Das trifft ihn wie ein Peitschenhieb. »Davon ist mir noch nichts zu Ohren gekommen, Herr Polizeirat ...«

»Wirklich? Weil die Polizei blind und taub ist.« Er redete sich mehr und mehr in Zorn. »Wozu haben Sie denn Ihre Leute, Herr Inspektor? Da heißt es immer: Wenn nichts passiert und so weiter. Ich sage Ihnen, passieren tut gerade genug, aber man muß auch den Verstand haben, das zu erkennen ... Man darf keine Schlafhaube sein, man darf nicht im bequemen Kanzleirock sitzen« – er maß die leichte, militärische Bluse des Angeredeten mit seinen Blicken – »sondern man muß Tatkraft entfalten. Tatkraft vermisse ich, Herr Polizeiinspektor, mehr Tatkraft! ... Ich wünsche baldigste Meldung, Herr Inspektor, was das für eine Geschichte ist, von der die ganze Stadt spricht! Haben Sie mich verstanden!«

So hat der Herr Polizeirat Lemberger schon lange nicht mehr gesprochen.

Seine dicken Wangen haben sich gerötet und er sieht in diesem Augenblicke aus wie ein Mann, mit dem nicht gut Kirschen essen ist.

Das denkt auch Polizeiinspektor Höhnerlein.

Vielleicht denkt er noch mehr.

Aber er sagt es nicht. Er sagt ganz einfach: »Zu Befehl, Herr Polizeirat,« wendet sich auf dem Absatze und geht mit militärischem Schritte aus dem Zimmer.


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