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Die Rechtsfrage.

»Beschwerden über polizeiliche Verfügungen jeder Art, auch wenn sie die Gesetzmäßigkeit derselben betreffen, gehören vor die vorgesetzte Dienstbehörde.« –

Preuß. Gesetzsammlung, Ges. v. 11. Mai 1842.

 

»Das ist ja eine empörende Nichtswürdigkeit!« rief die Dame vom Hause. »Und der Handwerker hatte wirklich gar nicht einmal etwas begangen?« –

»Ich habe ihn selbst vor der Amputation befragt,« sagte der junge Arzt, »und mit seiner Erzählung stimmen auch die Aussagen von Augenzeugen überein. Er war am Nachmittag mit seiner Geliebten in einem öffentlichen Garten gewesen, hatte sie bei einbrechender Nacht noch bis an ihre Hausthür geleitet, und trat dann seinen Heimweg an. Vielleicht aus Freude über den frohen Tag und in Gedanken an die Liebste, von denen sein Herz voll war, suchte er schneller aus dem Gewühl der Gassen nach seiner stillen Kammer zu gelangen und fing an zu laufen. In der Friedrichsstraße ist er eben an einem Schenklokale vorüber gekommen, als hinter ihm ein Mensch aus dem Hause springt, quer über die Straße rennt, und ohne daß der Handwerker ihn nur gesehen, in einer Nebengasse verschwindet. Gleich darauf stürzt ein Anderer, ein Gensd'arme, aus der Kneipe, sieht eine Strecke weiter unsern Handwerker laufen, und eilt ihm mit zornigem Eifer nach. Der Mann ist nicht wenig bestürzt, als er sich plötzlich durch eine brutale Faust aus seinen Träumereien geschreckt fühlt. Er sucht den Wächter der öffentlichen Ruhe umsonst zu belehren, daß er im Irrthum ist; die Faust desselben läßt seine Gurgel nicht los, sondern schüttelt ihn nur desto derber, und Schimpfwörter und Drohungen, ihn auf das Stadtgefängniß zu schleppen, schallen in sein Ohr. Dem Handwerker wird das zuletzt zu arg. Er stößt den Arm des Gensd'armen kräftig zurück und setzt sich zur Wehr. Da zieht dieser denn seine Waffe, und kaum hat der Handwerker Zeit, seinen Kopf mit dem Arm zu schützen, so fallen auch schon rasch nacheinander zwei scharfe Hiebe auf ihn herab. Der Arm ist ihm gestern abgenommen worden, aber der Oberarzt in der Klinik meinte gleich, daß er die Amputation schwerlich überstehen würde, und so wie ich ihn heute bei der Inspektion fand, wird er allem Voraussehen nach den morgenden Tag nicht mehr erleben. Vielleicht während wir sprechen, ist er todt.« –

»Abscheulich! Entsetzlich!« rief die Dame wieder. »Wer ist da noch sicher, von einem Polizeidiener nicht im eignen Hause umgebracht zu werden? Aber hoffentlich giebt es noch Gerechtigkeit im Lande! Apropos, Herr Kriminalrath, was wird wohl mit dem Gensd'armen geschehen?« –

Der Kriminalrath hatte mit dem Löffel tiefsinnig den Inhalt seiner Theetasse untersucht, indem er den zergehenden Zucker bald auf die Oberfläche brachte, bald wieder in das Getränk versenkte. Jetzt erhob er halb das Haupt, und sah über die Gläser seiner Brille zu der Fragenden auf.

»Wenig oder Nichts!« antwortete er ruhig.

»Der Kriminalrath will damit nur sagen,« nahm in dem allgemein entstehenden Lärm ein junger Maler das Wort, »daß man höheren Orts den Amtseifer immer gern sieht, und auch seine Uebertreibungen mit Rücksicht auf die veranlassende Pflichttreue stets gnädig zu beurtheilen weiß. Es ist ja bekannt, daß die uniformirten Helden des dreißigjährigen Friedens, wenn sie ihre Schutzwaffe gegen die beschirmten Unterthanen in Anwendung gebracht und pro forma ein Urtheil von einigen Monaten Festungshaft erhalten haben, später desto sicherer auf Avancement rechnen können. Auch weiß ich von einer ganz ähnlichen Polizeigeschichte zu erzählen. In einer kurhessischen Stadt hatte ein Polizeidiener einem betrunkenen Bauer das Rauchen auf der Straße untersagt, dieser dagegen, dem ein solches Verbot wahrscheinlich neu und willkührlich erschien, Gegenerörterungen gemacht. Der von Natur sehr jähzornige Beamte wurde durch den Widerstand und die vielleicht nicht sehr höflichen Ausdrücke des betrunkenen Landmannes bald in die größte Wuth versetzt, er zog seine Waffe vom Leder, und richtete den wehrlosen Mann dergestalt zu, daß derselbe nach einigen Tagen elend aus dem Leben schied. Nach langer Untersuchung wurde der Polizeidiener zu anderthalbjähriger Gefängnißstrafe verurtheilt. Als er aber seine Haft antreten sollte, erklärte die Polizeidirektion, daß er einer der brauchbarsten Leute sei, den man vorläufig nicht entbehren könne. Die Strafe wurde auch suspendirt, und er hat sie bis auf den heutigen Tag noch nicht abgesessen. Dafür wurde er jedoch einige Zeit später zum Polizeisergeanten erhoben, und erhielt die ausschließliche Bewachung des gefangenen Professor Jordan, die er mit besonderem Eifer geführt haben soll. Der Mensch heißt Schmitt und lebt noch jetzt als Sergeant in Marburg.« –

»Wenn ich sagte, daß dem Gensd'armen, der den Schneider verwundete, wenig oder nichts geschehen würde, mein junger Brausekopf,« bemerkte der Kriminalrath, »so konnte diese Antwort nur der Rechtsfrage gelten. Der Gensd'arme hat einen in seinen Augen schuldigen Menschen verhaften wollen, dieser ihm dagegen Widerstand geleistet und ihn vielleicht auch gereizt; er ist daher im vollen Rechte, wenn er von der Gewalt seiner Waffe Gebrauch macht.« –

»Aber der Gensd'arme hatte ja in diesem Fall gar nicht das Recht, den Handwerker zu verhaften!« rief die Frau vom Hause wieder. »Der Handwerker war ja gar nicht der Schuldige!« –

»Einerlei, meine Gnädige,« sagte der Kriminalrath. »Er ist in jedem Fall der administrativen Gewalt zu Gehorsam verpflichtet. War er wirklich unschuldig, so konnte er desto eher in der sichern Erwartung, alsbald wieder in Freiheit gesetzt zu werden, dem Gensd'armen folgen.« –

»Ja, nachdem er unter dem Jauchzen der versammelten Menge verhaftet worden, hätte man ihn später ganz im Stillen wieder freigelassen!« warf der Arzt mit einem geringschätzigen Seitenblick ein. »Welche Satisfaktion wird dem unschuldigen, rechtlichen Mann, dem durch die öffentliche Verhaftung ein Brandmal aufgedrückt ist, wohl je zu Theil? Kann ihm eine Klage, selbst wenn er sie gewinnt, die Schmach, vor den Augen des Publikums so behandelt worden zu sein, vergessen machen?« –

»Und – und – erlauben Sie mir noch den Einwurf auf Ihre Behauptung,« sagte die Dame ungeduldig, indem sie mit dem Zeigefinger ihrer kleinen Hand befehlend auf den Tisch klopfte und ihren Lockenkopf zurückwarf. »Sie bemerkten, daß man in jedem Falle der administrativen Gewalt zu Gehorsam verpflichtet sei; meinen Sie das auch für den Fall, daß ein Polizeibeamter etwas durchaus Ungehöriges verlangt, z. B. Jemanden ins Wasser zu springen befiehlt? Wie dann, Herr Kriminalrath?« –

Der Kriminalrath legte den Theelöffel zur Seite und schob seine Brille höher unter die Augen.

»Der Staatsbürger,« begann er bedächtig, »ist seiner Obrigkeit und jedem ihrer vollstreckenden Werkzeuge Gehorsam schuldig, und es steht ihm ein Urtheil, ob der Befehl vielleicht ungehörig sei, gar nicht zu. Sie werden mir wenigstens einräumen, daß es der Polizei im entgegengesetzten Falle gar nicht möglich sein würde, einen in der That dringend Verdächtigen oder in ihren Augen überführten Verbrecher zu verhaften, indem alsdann jeder auf seine Unschuld oder die Ungehörigkeit der Maßregel hin sich widersetzen würde.« –

»Aber, Herr Kriminalrath –«

»Erlauben Sie, meine Gnädige, daß ich das gesetzliche Verhältniß erst auseinandersetze, dann werden sich Einwürfe und Fragen am einfachsten erledigen lassen. Es kommt hier doch nur auf die Rechtsfrage an, wieweit die gesetzliche Macht der Polizei reicht, und welche gesetzlichen Mittel Ihnen dawider zustehen. Ob Sie gegen die Gesetze selbst Einwendungen zu haben glauben, ist eine andere Sache. – Ich sagte, daß Jeder der exekutiven Gewalt Folge leisten müsse. Die Untersuchung, ob die einzelnen Maßregeln ungehörig waren, fällt der vorgesetzten Behörde anheim, an welche sich der in seinem Recht vermeintlich Gekränkte oder Unschuldige mit einer Beschwerde zu wenden hat. Ihre Bemerkung daher, mein junger Brausekopf,« wendete er sich an den jungen Maler, »daß nämlich eine Klage, selbst wenn er sie gewinne, dem unschuldig Verletzten keine Satisfaktion gewähren könne, war diesmal nicht am Ort, denn eine Klage steht demselben gar nicht zu, würde vielmehr von jedem Gericht zurückgewiesen worden sein. Sein Rechtsweg ist der der Beschwerde an die vorgesetzte Behörde des veranlassenden Beamten –«

»Die alsdann die Beschwerde dem Angeklagten selbst zustellt, damit er sage, ob sich die Sache auch ganz so verhalte,« rief der Arzt lachend, »und das Resultat ist bei der natürlichen, unpartheiischen Darstellung des Befragten, dem seine Vorgesetzten ja vollen Glauben schenken, leicht vorauszusehen!« –

»Da in unserm Falle eine bloße Verwechselung vorlag,« fuhr der Kriminalrath fort, »indem der Gensd'arme den Schneider für den entlaufenen Schuldigen hielt, so zweifle ich allerdings nicht, daß der Schneider, wenn er sich hätte verhaften lassen, mit einer Beschwerde gar nichts, auch nicht einen Verweis an den Gensd'armen erreicht haben würde. Hätte der Gensd'arme den Handwerker bei einem persönlichen Zusammentreffen und nicht bei Ausübung seines Amtes verletzt, so hätte dem Handwerker der ordentliche Rechtsweg gegen ihn als Privatbeleidiger offen gestanden. Hier aber schützt denselben seine amtliche Funktion.« –

»Eine schöne Unterscheidung!« bemerkte der neben ihm sitzende rheinische Maler.

»Eine Klage gegen die exekutiven Behörden ist nur in dem einzigen Fall statthaft, daß Jemand einen Schaden an Besitz und Eigenthum nachweisen kann, der ihm durch eine außerordentliche Maßnahme erwachsen ist.« –

»Eine außerordentliche, d. h. gesetzlich nicht zu rechtfertigende,« sagte der Arzt zu der Dame des Hauses gewendet halblaut. Diese aber gab ihm ein Zeichen, an sich zu halten, und sah auf den Kriminalrath, der immer unbeirrt fortfuhr.

»Diesen Fall nämlich hat das Gesetz besonders vorgesehen, indem es dem Benachtheiligten ausdrücklich eine Entschädigungsklage gegen die Polizeibehörde zugesteht; doch ist dabei von einer Rehabilitation in die frühern Rechte nicht die Rede. Wenn es daher z. B. vorkommt, daß die Polizeibehörde Leute aus Orten, wo sie gesetzlich ein Heimathsrecht besitzen, dennoch fortweist, wie dies zuweilen höherer Rücksichten halber in Universitätsstädten geschieht: so haben diese Leute allerdings eine Entschädigungsklage auf den ihnen dadurch zugefügten Nachtheil am Eigenthum, nicht aber auf Wiedereinsetzung in ihre Rechte. Diese letztere wäre wiederum nur der Gegenstand einer Beschwerde an die vorgesetzte administrative Behörde, die dann nach Berichterstattung der Unterbehörde entscheidet, ob zu jener außerordentlichen Maßregel Veranlassung war, oder nicht.« –

»Das ist aber doch mindestens eine Inkonsequenz der Gesetze,« bemerkte eine Dame aus der Gesellschaft. »Das richterliche Erkenntniß erkennt den von einer solchen außerordentlichen Maßregel Betroffenen den Rechtsanspruch auf Entschädigung zu, spricht also damit ihre Schuldlosigkeit aus, denn Verbrechern würde man keinen Anspruch wegen des durch ihre Strafe erlittenen Schadens zuerkennen: gleichzeitig aber gestatten die Gesetze der Polizeibehörde, die Leute trotzdem als Verbrecher zu behandeln und trotz der richterlichen Ehrenerklärung doch die Maßregel gegen sie durchzuführen.« –

»Dies betrifft wieder die Frage, ob die Gesetze ausreichend sind, mein Fräulein,« erwiederte der Kriminalrath unbeirrt, »während es hier nur auf die Feststellung dessen ankommt, was die Polizei und ihre Beamten ohne Verletzung der Gesetze ausüben können. – Ich sagte, daß jeder Staatsbürger der administrativen Gewalt Folge zu leisten habe, daß ihm wegen vermeintlich ihm zugefügten Unrechts der Weg der Beschwerde, und nur wegen erlittenen Verlustes die Entschädigungsklage gegen die Polizei zustehe. Widersetzt er sich aber, so hat die Behörde sowie der exekutive Beamte das Recht, gewaltsam gegen ihn zu verfahren, und er selbst hat sich durch seine Widersetzlichkeit jedenfalls einer strafbaren Handlung schuldig gemacht. Darüber, ob die Maßregel der Behörde oder des Beamten, welche die Widersetzlichkeit hervorrief, gerechtfertigt oder ungerecht war, hat nur die vorgesetzte Behörde zu entscheiden, und die Beamten sind Niemanden sonst darüber verantwortlich, als eben nur ihrer vorgesetzten Behörde. Die Widersetzlichkeit bleibt in jedem Fall strafbar.« –

»So werden Sie uns demgemäß jetzt wohl auseinandersetzen,« bemerkte die Frau vom Hause wieder, »wie das Verhältniß in dem von mir gedachten Falle sein würde, wenn nämlich ein Polizeibeamter von Jemanden verlangte, daß er ins Wasser springen solle?« –

»Ich wollte soeben darauf kommen, gnädige Frau,« antwortete der Kriminalrath nach einigem Nachdenken. »Der einzelne Beamte hat unzweifelhaft das Recht, gegen Jedermann, weß Standes er auch immer ist, einzuschreiten. Er kann den Niedrigsten, wie den Höchsten Nachts aus seinem Bette holen und ins Gefängniß transportiren.« –

»Bei uns nicht!« rief hier der Rheinländer.

»Es ist wahr, bei Ihnen kann er es nur am Tage,« fügte der Kriminalrath lächelnd hinzu, »überall aber ist er von seinem Schritt nur seinen Vorgesetzten Rechenschaft schuldig und bis dahin kann er, wie gesagt, von Jedermann Folgsamkeit verlangen.« –

Hier machte der Redner eine kleine Pause, während welcher ihn die ganze Gesellschaft erwartungsvoll anblickte.

»Ich glaube daher,« fuhr er wieder fort, »ja, – da das Gesetz keine Ausnahme statuirt, so muß man als gewiß annehmen, daß der Unterthan jedem Organ der administrativen Gewalt Folge leisten muß, selbst wenn es von ihm verlangt, ins Wasser zu springen. Das ist nach Wortlaut des Gesetzes ganz gewiß. Ertrinkt er bei diesem Experiment, so haben seine Erben nur alsdann ein Klagerecht, wenn sie erweislich durch den Tod ihres Erblassers einen Schaden erlitten haben; im Uebrigen ist der Polizeibeamte über seinen Befehl an den Ertrunkenen gesetzlich nur seinen Vorgesetzten Erklärung schuldig. Es ist in diesem Fall nicht zu bezweifeln, daß der Beamte, der so eigenmächtig und unverantwortlich handelte, von seinen Vorgesetzten fallen gelassen würde, wahrscheinlich sogar, daß man ihn den Gerichten übergäbe; auch bezweifle ich nicht, daß man Ihnen im vorkommenden Falle die Weigerung, solchem Befehl Folge zu leisten, gewiß ungeahndet hingehen ließe: allein streng gesetzlich betrachtet, müssen Sie ihm gehorchen.« –

Die Gesellschaft sprach nunmehr über diesen Gegenstand mit großer Lebhaftigkeit hin und wieder. Die Meisten kamen darin überein, daß solchergestalt der Polizei die Ausübung großer Willkühr zustehe; daß es gar nicht darauf ankomme, ob sie vielleicht in Wirklichkeit keinen so schreienden Mißbrauch davon mache, wie das letzte Beispiel meine, daß es aber schlimm genug sei, daß solch ein Mißbrauch überhaupt nur Statt finden könne.

Der Kriminalrath hatte an dieser Diskussion keinen Antheil genommen, als ihn jetzt die Wirthin durch eine Frage ins Gespräch zog.

»Es läßt sich nicht leugnen,« sagte er am Schluß einer sehr gelehrten Erklärung über das Wesen der Polizei, »daß bei den gegenwärtigen Verhältnissen dem einzelnen Beamten sehr viel Eigenmächtigkeit und willkührliche Handhabung seiner Gewalt überlassen ist. Auch gestehe ich, daß es schlimm und mit den Rechtsbegriffen nicht ganz vereinbar erscheint, wenn diese Gewalt der Polizeibehörde so wenig normirt ist, daß sich ein Mißbrauch oder eine Ueberschreitung derselben, und also auch eine gesetzliche Verantwortung, fast gar nicht bestimmen lassen. Allein bei den gegebenen Verhältnissen muß man sich nun einmal mit dem Vertrauen behelfen, daß die Polizei behörde außerordentliche, oder wenn Sie so wollen: willkührliche und eigenmächtige Maßregeln nicht ohne dringende Veranlassung ausüben wird, dagegen wenn solche vielleicht von ihren Beamten ausgeübt werden sollten, dies zu ahnden weiß. Die Polizei ist eine Sicherheitsbehörde, und als solcher muß man ihr das Recht zu außerordentlichen Maßregeln einräumen, die vielleicht den strengen Rechtsbegriffen nicht gemäß, aber zur Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung nothwendig sind. Das ist jedoch keine Willkühr, sondern eben Notwendigkeit der Sicherheitsbehörde.« –

»Was man so öffentliche Ordnung heißt!« erwiederte der junge Arzt. »In einer Gesellschaft freilich, welche die Ungleichheit und die Gegensätze zur Bedingung ihres harmonischen Ganzen macht, sind Sicherheitsbehörden zur Aufrechthaltung dieser Ordnung nothwendig; es könnte ja sonst den privilegirten Unterdrückten und Verhungernden einmal einfallen, das Privilegium der Herren und Eigenthümer unsicher zu machen und die Unordnung der Gleichheit einzuführen. So lange Sie von der heutigen Gesellschaft ausgehen, haben Sie hierin vollkommen Recht, Herr Kriminalrath, und Sie werden dann gewiß auch so konsequent sein, die größte Despotie als die größte Garantie der Sicherheit der öffentlichen Ordnung anzuerkennen. – Wenn Sie aber der Polizei durchaus den Begriff der Willkühr nicht zugestehen wollen, so thun Sie doch Unrecht. Sie sagen, die Behörden selbst würden nur bei dringenden Veranlassungen, also zur Sicherung der bekannten öffentlichen Ordnung, sogenannte außerordentliche, mit den menschlichen und richterlichen Rechtsbegriffen nicht ganz übereinstimmende Maßregeln in Anwendung bringen. Allein wer entscheidet denn über die Veranlassung und ihre Dringlichkeit? Giebt es bestimmende Gesetze hierüber? Oder ist die Berufung der dringenden Veranlassung und höherer Rücksichten nicht vielmehr der Willkühr der Polizei überlassen, welche eben nur sich selbst verantwortlich ist? Sie vertrauen ferner, daß die Polizeibehörde dagegen wohl außerordentliche Maßregeln, die ein einzelner Beamter eigenmächtig ausgeübt, ahnden werde. Wer aber entscheidet über die Eigenmächtigkeit, die Unbefugtheit seiner Maßnahme? Der Beamte ist nur seiner Behörde gegenüber, also den Polizeibegriffen gemäß, die ihn selbst leiten, verantwortlich; es fällt daher auch hier wieder den unbegrenzten Polizeibegriffen und der Willkühr der Polizei die Bestimmung anheim, ob der Beamte seine außerordentliche Maßregel aus unbefugter Eigenmächtigkeit oder aus dringender Veranlassung ausgeübt hat. – Uebrigens weiß ich auch nicht, warum die Polizei nicht willkührlich handeln sollte. Sie ist, wie Sie selbst sagten, eine Sicherheitsbehörde, sie steht nicht auf dem Rechts- oder Gesetzes-Boden; darum kann man ihr keinen Vorwurf aus der Handhabung ihrer Unrechtmäßigkeit und Ungesetzlichkeit machen.« –

»So vertheidigen Sie also die Einrichtung der Polizei?« sagte die Frau vom Hause.

»Da schieben Sie mir, weil ich mit dem Einen nicht einverstanden bin, die entgegengesetzte, kontradiktorische Meinung unter, gnädige Frau. Ich tadelte, daß man der Polizei aus ihrer Willkühr einen Vorwurf machte, deshalb aber bin ich noch kein Freund des Polizeiverfahrens.« –

»Unser Aller Ziel muß ein geordneter Rechtszustand sein, worin die Rechte des Einzelnen möglichst geschützt sind,« sagte der Kriminalrath. »Mag man nun auch zugeben, daß in unsern Verhältnissen der Willkühr ein allerdings großer Spielraum gegönnt ist, was sich aber durch Feststellung engerer Gesetze z. B. nach Art der englischen Habeas–corpus-Akte ändern ließe: so muß man andererseits bedenken, daß ein ganz vollkommener Schutz doch nie zu erreichen ist. Die Polizei ist ein nothwendiges Uebel. Ohne sie wäre es nicht möglich, einen Verbrecher vor das Gesetz und zur Strafe zu ziehen, und wenn auch einmal, was sich selbst durch den geordnetsten Rechtszustand nicht ganz vermeiden läßt, aus Irrthum oder Versehen einem Unschuldigen zu nahe getreten wird, so muß er sich dann mit der gerichtlichen Anerkennung seiner Unschuld und dem Gedanken trösten, daß er ohne die Wachsamkeit dieser Behörde selbst keinen Schutz seiner Rechte haben würde.« –

»Sie wollen das Hühnerauge beschneiden, während es darauf ankommt, das brandige Bein abzunehmen,« sagte der Arzt. »Die Polizei ist ein nothwendiges Uebel, aber nothwendig nur in unserer heutigen Gesellschaft. Statt daher die Notwendigkeit aufzuheben, indem Sie die Bedingung der heutigen Gesellschaft aufheben, wollen Sie nur das Uebel verkleinern, indem Sie seiner Wirkung engere Grenzen setzen. Suchen Sie die Voraussetzung der Polizei: das Verbrechen, und die Voraussetzung des Verbrechens: die Ungleichheit der Erziehung und äußeren Verhältnisse in Ihrer unebenen Gesellschaft, mit Einem Wort heben Sie die Armuth auf, und Sie brauchen keine Willkühr der Polizei länger zu fürchten. – Ueberhaupt verstehe ich die Ausdrücke Gesetz und Strafe nicht. Beide setzen Unordnung und Unnatur in der Gesellschaft voraus; in einem harmonisch organisirten Ganzen sind Gesetz und Strafe überflüssig.« –

Hier wurde die Unterhaltung durch den Eintritt eines Neuankommenden unterbrochen. Es war der Oberarzt der Klinik. Als er Platz genommen hatte und die Hausfrau ihm Vorwürfe über die Verzögerung seines Kommens machte, sagte er:

»Ich bitte um Verzeihung, allein ich mußte mich nothwendig noch nach der Klinik begeben, um nach dem Schneidergesellen zu sehen, den der Gensd'arme verwundet hatte. Es ist des Zeugnisses wegen.« –

»Und wie haben Sie ihn gefunden? – Wir sprachen soeben davon,« sagte die Dame.

»Er ist todt,« erwiderte der Doktor ruhig.

In der Gesellschaft entstand eine tiefe, stille Pause, nur einigen Damen entschlüpfte ein leiser Ausruf mitleidiger Theilnahme. Der Oberarzt rührte gleichgültig mit dem Löffel in seiner Theetasse.

»Das Mädel, seine Geliebte, war da und weinte, weil sie nicht zu ihm gelassen wurde. Es ging aber auch nicht an. Er hatte sein Bewußtsein bis zum letzten Augenblick. Der arme Teufel! Er ist recht muthig gestorben, nur das Schicksal seiner alten blinden Mutter und seiner Liebsten lag ihm sehr im Sinn!« –


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