Max Dreyer
Lautes und Leises
Max Dreyer

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Mutter Thode.

Unterhalb der alten Musen- und Hansestadt fuhr von leichtem Südwest getrieben ein vollbesetztes Segelboot den breiten Fluß hinab. Es hatte fröhliche Fracht geladen: Studenten saßen darin, in grünen Mützen die meisten, doch alle in grünender Jugendlust. Nur einer, den sie das »Meerschweinchen« nannten, hatte sich teilnahmlos in sich selbst zurückgezogen. Die kurzen runden Glieder zu einer Kugel zusammengerollt, pflog er, neben dem Klüverbaum liegend, des Schlafes. Er hatte in der Nacht soviel Humpen gehoben, daß ihm alle Glieder davon weh thaten und sein Leib in dieser frühen Morgenstunde zärtlicher Schonung bedürftig war. 146

Seine Kommilitonen aber hinderte die Frühe der Zeit nicht, der Fröhlichkeit die Feuchtigkeit beizugesellen. Sie hatten ein Achtel an Bord, und sintemalen die Sonne schon merklich zu brennen anfing, Eis aber zur Kühlung des Trankes nicht geladen war, so wurde es einfach zur Pflicht, den edlen Stoff möglichst schnell seinem Berufe zuzuführen. In zehn Minuten war es denn auch gethan. Und für die weiteren fünfundzwanzig, die die Fahrt noch forderte, mußte die Fröhlichkeit allein herhalten.

Bramow war das Ziel dieser Expedition, ein »Bierdorf«, malerisch am linken Flußufer gelegen, wo zur Zeit die Mensuren ausgefochten wurden. Und daß die Grünen auch heute wieder einmal auf dem Kriegspfade waren und nicht etwa, um sich im Segeln oder auch im Frühaufstehen zu üben, die Morgenfahrt unternommen hatten, zeigte das unter den Bänken weggestaute Paukzeug zur Genüge.

Am Steuer saß ein junger Bär, Zweibändermann seines Zeichens. Aus seinem gemütlichen Gesicht leuchtete ein klarer, fester und ruhiger Blick, der den geborenen Führer verriet. Zum ersten Chargierten war er nicht form- und redegewandt genug, dafür aber trug er jetzt schon zwei Semester das verantwortungsvolle 147 Amt des Paukwarts, und der Fechtboden gedieh unter seiner Pflege und Zucht zu rühmlichster Blüte.

Das Ruder nahm ihn bei dem günstigen Wind, der sie gradaus ans Ziel brachte, nicht weiter in Anspruch. So konnte er ungestört mit seinem Nachbarn reden, einem blutjungen Fuchs von zarter Gestalt und fast mädchenhaften Zügen, einem von den wenigen im Boote, die keine Farben trugen.

»Ich hab' es so eingerichtet, Lütting,« sagte der Bär, »daß du zuerst 'rankommst.«

»Sehr freundlich – aber – das wäre doch nicht nötig gewesen!«

»Ist mir aber lieber so.«

Lütting hatte bei den Normannen Waffen belegt, um eine Contrahage gegen ein älteres Semester, das von ihm gefordert war, auszufechten, und Hans Brose, der Fechtwart, hatte beim Einpauken ihm besondere Fürsorge angedeihen lassen, der eine freundschaftliche Zuneigung entsprossen war.

»Weiß dein Vater was?« fragte Hans seinen Schützling.

»Kein Bein! Hast du eine Ahnung, wie der über die langen Messer denkt! Er hätte einfach zur Polizei geschickt.«

Lüttings Erzeuger war der pastor primarius von St. Marien. 148

»Nun, und wenn du dich blutig schneidst?«

»Nach Hause darf ich so heute nicht. Daß ich heut' Sänge beseh', ist ja ganz klar –«

»Klar ist gar nichts.«

»Und so vor den Alten kommen, ohne daß er vorbereitet ist, das geht einfach nicht! Ich hab' ihm was vorschwindeln müssen. Ich hab' ihm gesagt, daß ich mit Peter Voß nach Grabenow wollte, dessen Eltern zu besuchen. Morgen, Sonntag, blieben wir wahrscheinlich auch noch weg.«

»Und wenn du nun nicht unberührt abstichst, dann bleibst du einfach in Bramow!«

»Ja. Mutter Thode behält mich schon da. Und dann muß ich den alten Herrn auf irgend eine Weise vorbereiten.«

»Na, wollen das beste hoffen.«

Vorne im Boot wurden Stimmen laut.

»Meerschweinchen – Bierschweinchen! Aufstehn! Geldbriefträger!« Die Anlegebrücke von Bramow war schon in greifbarer Nähe.

Fauchend, prustend und schnaubend rollte der von rauhen Händen Geweckte sich auseinander und riß die possierlichen kleinen schlaf- und biergeröteten Äuglein zu starrem Glotzen auf. Dann begriff er die Lage der Dinge, und langsam richtete er sich in die Höhe. 149

»Äh! Das viele olle Wasser! Habt ihr noch 'n Schluck Bier?«

»Nee!«

»Elende Alkoholikerbande!«

Inzwischen legte das Boot an, die Insassen verließen es und stiegen lebhaften Schrittes die Anhöhe zum Wirtschaftsgarten hinauf. Das Paukzeug trugen die Füchse.

Im Garten war noch niemand zu sehen. Offenbar waren sie die ersten auf dem Kampfplatz.

Hans Brose ließ das Paukzeug ins Haus schaffen, während die andern sich an einem der großen langen Holztische niedersetzten. Dann kam er mit der Wirtin zurück.

»Morgen, Mutter Thode!« schallte es ihr munter aus den jungen Kehlen entgegen.

»Morgen, Jungs! Na seid ihr da!?«

Sie war eine große starkknochige Frau, am Ende der Fünfziger stehend, mit dichtem grauen glattgescheitelten Haar und offenen, ehrlichen und entschiedenen Zügen. Ihre Hände wußten von Arbeit zu sagen, ihre Augen von Selbständigkeit, furchtloser Sicherheit und frischem Lebenstrieb, der es mit der Jugend gut meint. Herz und Mund hatte sie auf dem rechten Fleck.

»Können wir 'n Butterbrot haben, Mutter Thode?« 150

»Ja woll.«

»Mir eins mit Wurst!« – »mir mit Käse!« ^

»Schinken möcht' ich!« – »mir auch mit Wurst!« –

»Mir eins mit Braten!« – »Käse!« –

»Schinken!« So ging es durcheinander.

Die Wasserfahrt hatte sie alle hungrig gemacht.

Mutter Thode ließ sie ausschreien, wie eine Sperlingsmutter die jungen Spatzen. Dann sagte sie gelassen mit leichtem Kopfschütteln: »Wat dat nu werrer is! Nu will der eine mit Braten haben und der andre mit Kees – und der mit Wust – und der wieder mit Kees – – nehmt man all eins mit Wust! Das geht auch fixer, un die Wust is gut.«

Sie war eine einfache Natur. Alles Komplizierte widerstrebte ihr. Und mit dem so in die richtigen Bahnen gelenkten Auftrag für ihre Küche wandte sie sich dem Hause zu. Die »Jungs« sahen ihr lächelnd, ohne Widerrede nach.

Sonst war fast immer ihre Tochter Liesing, von ihnen zumeist »Schwesting« genannt, die aufmerksame, auch vielfältigen Bestellungen geneigte Hebe, die von einer Magd unterstützt ihre Kehlen mit Trank und Speise labte. Sie hatte aber heut' morgen in die Stadt gemußt, 151 und so hatte Mutter Thode diesmal selber die Bedienung in die Hand genommen.

Was sie aber that und wie sie es that, das galt bei ihren Studenten als unanfechtbar. Kein Professor genoß bei ihnen so ungetrübtes Ansehen wie sie.

Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren regierte sie nun schon in der Bramower Wirtschaft, die sie nach dem längst erfolgten Tode ihres Mannes selbständig führte. Auch bei dessen Lebzeiten war sie schon die eigentliche Seele des Geschäfts gewesen. Ihr Mann hatte sich mehr um das Landwirtschaftliche bekümmert – die ganze Wirtschaft war eine Pachtung von der Stadt, der das Anwesen gehörte, – sein Departement war das Vieh, um die Restauration, um die Menschen war seine bessere Hälfte bemüht, die überhaupt die geistige Oberleitung des Ganzen in der Hand hielt.

Von ihren Gästen aber waren ihr die Studenten von jeher die liebsten. Nicht ihres großen Durstes wegen, nicht aus ökonomischer Regung – im Gegenteil, sie gewährte so manchem säumigen Zahler Kredit und half vielen durch Darlehen direkt aus der Patsche, so daß sie selbst zeitweilig in Schwierigkeiten kam – sie hatte nun einmal eine ausgesprochene Vorliebe 152 für unbekümmerte Jugendfreude, für Jugendkraft und Jugendmut.

Flachköpfige Seelenkündiger von Beruf, die für alles eine triviale Erklärung haben müssen, je sentimentalischer desto besser, wollten diese Neigung dahin deuten, daß sie einst als junges Mädchen einem Studio ihr Herz geschenkt habe, und daß sie jetzt mit der Zärtlichkeit der Jugenderinnerung die ganze Gattung hege. Davon hat jedoch der ernste Geschichtsschreiber nichts zu vermelden.

Soviel steht fest, daß sie schon vor fünfundzwanzig Jahren, als sie noch eine verhältnismäßig junge Frau war – freilich eine Frau ohne jugendliche Anmut und Beweglichkeit – von den Studenten schlechthin »Mutter Thode« genannt wurde. Und sie that sich auf diese Bezeichnung etwas zu gute. Dermaßen, daß sie diesen Titel nur von Leuten mit blankem Ehrenschild hinnahm.

Sie stammte aus einer alten Soldatenfamilie, und die Anschauungen, in denen sie selbst groß geworden war, machten es ihr leicht, in die Ehrbegriffe ihrer »Jungs« immer mehr hineinzuwachsen. Feigheit und Drückebergerei galten ihr mit ihnen als das Unwürdigste. Am meisten hatte sie die Burschen auf dem Kieker, die nicht 153 den Mut besaßen, sich offen als Gegner der Mensur zu bekennen, vielmehr äußerlich alle studentische Forschheit zur Schau trugen, dabei aber im Innern gegen alles, was Klinge hieß, unbesieglichen Abscheu und tötliches Mißtrauen hegten.

So hatte sie erst vor kurzem einem solchen Blender, von dem in ihrer Wirtschaft, wie sie selber mit angesehen, einem Kommilitonen Genugthuung verweigert war, bei seinem Wiederkommen nach Gebühr heimgeleuchtet. Er hatte sie mit »Mutter Thode« begrüßt und bei »Schwesting« sein Bier bestellt.

»Nee, mein Jünging,« hatte ihn darauf die Alte angelassen, »sagen Sie man lieber nich ›Mutter Thode‹ zu mir. Un Ihr Bier können Sie man lieber auch wo anners trinken. Kneifers kriegen bei mir nix.«

Als sie jetzt, eine turmhochbeladene Schüssel mit Wurstbutterbroten in den Händen, begleitet von Fieken, dem Dienstmädchen, die das selbstverständliche Bier herbeischleppte, wieder im Garten erschien, waren hier bereits neue Gäste angelangt – Rotmützen in der Mehrzahl, die an einem andern Tische Platz genommen hatten. Sie waren zu Fuß herausgekommen und nicht weniger hungrig und durstig als die Grünen. 154 So gab es denn für Mutter Thode, trotz ihres bewährten Verfahrens, die Bestellungen zu vereinfachen, vollauf zu thun.

Die beiden Tische tranken sich freundschaftlich zu, einzelne traten in Gruppen zu vertraulicherer Besprechung zusammen, hier und da wurde ein Witz mit lautem Lachen gewürdigt, dort ein übermütiger Fuchs von einem älteren Semester kräftiglich angehaucht und »in die Kanne« gesteckt. Von frohem sorglosen Leben hallte der Garten wieder.

Dann ward auch Schwester Liesing, die längst vermißte, sichtbar. Sie hatte sich mit ihrer Besorgung in der Stadt nach Kräften beeilt, um heute am Mensurtag, der überreichliche Arbeit brachte, schnellstens wieder auf dem Posten zu sein.

»Tag, Schwesting!« so ging es durch die Reihen. Und es war wie ein Klingen und Singen in dem Gruß. Keiner in dem Kreise, der dem stillen ernsten Mädchen nicht zugethan war. Sie hatte eine gewisse herbe Anmut, die dem Auge wohl gefiel und doch aller Begehrlichkeit wehrte. Dazu kam, daß sie alle in Schutz nahmen und behüteten und darum ein Einziger unter ihnen nicht um ihre Gunst werben konnte. Auch wußte man, daß sie mit einem entfernten 155 Verwandten, einem jungen Gerichtsschreiber, dem all' ihre Zärtlichkeit galt, so gut wie verlobt war. Und so trat an ihren sittigen Ernst keine Ungebundenheit heran. Sie wurde in der That von allen wie eine Schwester geehrt.

Hans Brose hatte sich inzwischen an den Fechtwart der Rotmützen, der Hanseaten gewandt. »Ich denke, wir fangen an.«

»Bei uns ist alles bereit.«

»Dann wollen wir also.«

Sie begaben sich beide zu dem Unparteiischen, der den Beginn offiziell bestimmte. Alles erhob sich und ging in den Saal, wo die Mensuren geschlagen werden sollten.

In der Saalthür stand Mutter Thode.

»Ihr müßt heut Wachen aufstellen,« erklärte sie. »Von wegen den neuen Schandarm.«

»Ist der so?«

»Das is 'n Ekel!«

So wurden denn drei Füchse abgeordert, an passenden Stellen Aufsichtsposten zu beziehen, daß sie gegebenenfalls das Nahen dieses ekligen Ordnungswächters bei Zeiten verkündeten.

Solche Maßregel war bei seinem Vorgänger, dem alten Schröder, der sich nun glücklich in die seligen Gefilde hinübergetrunken hatte, nicht 156 nötig gewesen. Dem hatte Mutter Thode, wenn in ihrem Saale die Waffen klirrten, nur abzuwinken gebraucht, falls er zu so blutigen Zeitläuften überhaupt in Sicht kam. Mit einem »Ick weet all!« entfernte er dann regelmäßig seine geheiligte Person aus dem Bannkreis solch strafwürdigen Thuns. Boten sich aber einmal ein paar frische Schmisse seinem ordnungsliebenden Auge, deren Träger er »der Ortsbehörde anzuzeigen oder nach Umständen in persona vorzuführen, gehalten« war, so offenbarte er eine Phantasie, die in ihrer lebendigen Kraft sich von dem toten Buchstaben der Instruktion nicht knechten ließ.

»Na ja, ich sag' man! Was is nu bloß mit Ihnen los? Sünd woll mit 'n Kopp in 'ne Glasscharbe gefallen, nich? Haben wieder mal 'n bischen duhnsaufen gespielt und sünd mit 'n Kopp in 'ne Glasscharbe gefallen. Ja ich sag' man, die infamigte Trunksüchtigkeit. Na Thodesch, giww mi man noch 'n lütten Kurn!«

Mutter Thode pflegte den Mensuren neuerdings nur noch dann in eigener Person beizuwohnen, wenn einer der Paukanten ihre Theilnahme hatte. Das war aber heute in besonderem Maße der Fall, denn »Lütting«, der Sohn des pastor primarius von St. Marien, von gewöhnlichen 157 Sterblichen Fritz Martens genannt, war ihr erklärter Liebling.

Sie stand bei ihm, als er anbandagiert wurde.

»Kann ich also die Nacht hierbleiben, Mutter Thode?«

»Na gewiß doch! Hoffentlich vertobacken Sie aber den andern so, daß der hier bleiben müßte.«

Das war ihre ganze Zärtlichkeit, soweit sie in Worten sich aussprach. Aber warm ruhten ihre Augen auf Fritzens blondem Krauskopf, und einen harten, scharfen, unfreundlichen Blick sandte sie zu seinem Gegner hinüber, der in der andern Ecke des Saals gewappnet wurde.

Ein Gegner, an dessen Überlegenheit kein Zweifel bestehen konnte. Es war ein prachtvoll gewachsener Bursch, biegsam in den Hüften, breit in der Brust, fast um Haupteslänge größer als Fritz Martens, der selber keineswegs zu den Kleinen zählte. Eine Freude war es zu sehen, wie er jetzt, um den Sitz der Handgelenkbinde zu erproben, sich hinstellte und ein paar Lufthiebe führte – eine Freude für alle, die nicht gerade mit ihm die Klinge kreuzen sollten oder mit seinem Widerpart verschwistert, verschwägert und befreundet waren.

Seine Züge waren geistig unbedeutend, kalt 158 und hochmütig. Und eben sein leerer, kalter Hochmut war es gewesen, der Fritz Martens gekränkt und gereizt hatte. Als dieser ihn forderte, war er wenig erbaut davon. Es konnte für ihn, der mehrfach Männerblut vergossen hatte, keine Ehre sein, mit dem unerfahrenen Fuchs zu dessen Jungfernmensur in die Schranken zu treten. Nun es aber dahin gekommen, war er entschlossen, die Sache schnellstens abzuthun.

Die Paukanten sind fertig. Geleitet vom Sekundanten, Testanten und Schleppfuchs schreiten sie in die Mitte des Saales vor. Der Unparteiische stellt sich zur Seite auf.

An ihn wendet sich jetzt Hans Brose, als Sekundant des Forderers, mit den Worten: »Ich bitte um Silentium für einen gewöhnlichen Gang Schläger, dreißig Minuten, eventuell bis zur Abfuhr.«

»Silentium für einen solchen Gang!« bestimmt der Unparteiische.

»Auf die Mensur!« – »Fertig!« – »Los!« erschallen die Kommandos.

Fritzens Gegner versucht, ihn mit einer prachtvoll geschlagenen Hochquart auf Anhieb abzustechen. Aber Fritz deckt sich geschickt und versucht mit ein paar munteren Doppelterzen sein Heil. 159

Der andere kommt doch zu der Überzeugung, daß er den Kleinen erst studieren muß. Das geschieht in den nächsten Gängen, dann weiß er, daß er ihn auf hohe Terzen zu fassen hat.

Doch stellt sich mit dieser Erkenntnis der Erfolg nicht so schnell ein, wie er geglaubt. Fritz hat neben seinem sicheren Blick eine verblüffend freche Manier, doppelte Hiebe zu schlagen, die den andern nötigt, selbst auf der Hut zu sein.

Da! Fritz schlägt eine unvorsichtige Quart – und schneidend pfeift eine mächtige Terz auf ihn nieder – blitzschnell pariert er – aber den ganzen Hieb kann er nicht mehr auffangen – er fühlt die Klinge auf seinem Schädel – fühlt wie das warme Blut ihm auf die Stirn tritt und ins rechte Auge treibt.

Das Blut wird abgewaschen. Die Wunde wird untersucht. Sie ist nicht erheblich. Der Kampf kann weiter gehen.

Beide Kämpen hat das Blut erregter gemacht. Schneller sausen die Hiebe. Hageldicht prasseln und wettern die Schläge auf Ärmel und Klinge. Fritz steht ausgezeichnet. Stolz blickt Mutter Thode ihm zu. Hans Brose aber bringt es fertig, unbemerkt von der Gegenpartei, verschiedene sehr bedrohliche Hiebe glücklich über seinem Schützling abzufangen. 160

Jetzt bemerkt er, daß sein Paukant unruhiger und unsicherer schlägt. Die Wunde blutet noch immer stark. Fritzens Hand ist offenbar ermüdet. Dazu hat er das rechte Auge wieder voll Blut.

Hans bittet um Pause. Fritz sträubt sich, aber er wird zu einem Stuhl geführt und hingesetzt. Der Schläger wird ihm auf eine Weile abgenommen, daß die verkrampften Finger sich erholen. Die Wunde wird gekühlt.

Mutter Thode tritt zu ihm heran. »Fein, Fritzing! Bloß sagen Sie mal, warum schlagen Sie soviel Tarzen? Mehr Durchzieher, Fritzing. Damit is er zu kriegen.«

»Mutter Thode hat Recht!« erklärte Hans. »Ich wollt' dir das auch schon sagen. Im übrigen sieh dich vor seinen hohen Terzen vor. Sonst thut er dir nichts.«

Das Waffenspiel geht weiter. Die ersten Gänge sind ergebnislos. Dann befolgt Fritz immer mehr Mutter Thodes sachverständigen Rat. Und jetzt – er bringt dem andern glücklich einen tiefen Durchzieher hinein – aber unmittelbar danach, fast zu gleicher Zeit fährt ihm eine neue, diesmal so gut wie ganz unparierte Terz über den Schädel.

In mehreren Sturzbächen ergießt sich das Blut über seine Stirn und seine rechte Schläfe. 161 »Abfuhr!« bemerkt der Paukarzt. »Nein! Nein!« erklärt Fritz. »Du darfst mich noch nicht abführen, Brose! Ich will noch nicht!«

»Kannst du auch noch?«

»Ich kann noch!«

»Denn los!«

Der Schmiß seines Gegners ist unbedeutend. Um so größer aber dessen Zorn, daß er nicht unberührt des Fuchses Herr geworden.

Fritz ist müde, viel matter als er zugeben will. Sein Handgelenk ist verpaukt und unsicher. Er fängt an, zu »flachmeiern«, und die schmerzhaften flachen Hiebe, die seinem Gegner übers Gesicht fahren, stacheln dessen Wut noch mehr an.

Der Kleine ist ihm nicht mehr gefährlich. Er braucht sich nicht mehr vorzusehen. Nur den Quälgeist, der ihm außerdem die Blamage angethan hat, möglichst schnell los werden! Mit einem neuen gehörigen Denkzettel! Und trotz Hans Broses fabelhafter Geschicklichkeit im Abfangen von Hieben schmettert er Fritz noch eine Terz über den Kopf.

Damit ist der Kleine geliefert. Er will immer noch nicht vom Kampfplatz abtreten. Aber Hans Brose macht ein Ende.

»Bitte, meinen Paukanten für abgeführt zu erklären!« ersucht er den Unparteiischen. 162

»Der Paukant der Normannia ist abgeführt. Neunzehn Minuten.«

Jetzt nahm sich der Paukarzt mit zärtlicher Fürsorge des Kleinen an. Mutter Thode leistete ihm Handreichung. Die Kommilitonen bereiteten inzwischen die nächste Mensur vor: es sollten heute noch vier geschlagen werden.

Von den drei Schmissen wies sich der letzte als der schlimmste aus. Hier war der Knochen angeschlagen und etwas gesplittert. Es kam erschwerend dazu, daß sie alle sehr nahe aneinander lagen. Außerdem war der Blutverlust stark gewesen. Fritz sah so blaß aus wie das Linnen das Verbandes.

Der Arzt war fertig. »Nun verhalten Sie sich ganz ruhig, Herr Martens. Am liebsten wäre es mir, da Sie doch hierbleiben, wenn Sie sich gleich in die Klappe legen wollten.«

»Sterbe ja lieber! Ich will noch die andern Mensuren sehen!«

»Das giebt's nicht!«

Jetzt legte sich Mutter Thode ins Werk.

»Lassen Sie 'n mir man, Dokder!«

Sie nahm Fritz einfach unterm Arm, und ohne sich durch seinen Unwillen stören zu lassen, führte sie ihn ins Gastzimmer, das an den Saal stieß. 163

»So Fritzing, nu sein Sie verständig. Hier setzen Sie sich erst mal dahl.« Sie geleitete ihn zum Sofa. »Ich geh' jetzt in die Küch' un' besorg' Ihnen 'ne Tasse Fleischsupp. Mit 'n Ei in.«

»Ach nein, Mutter Thode – was soll das! Ihr thut alle, als ob ich totkrank wäre!«

»Nu räsonnieren Sie man nich lang'. Das besorg' ich hier im Haus, wenn's nötig is. Einer muß doch was für Sie thun. 'N Mutting haben Sie ja doch nich mehr, die Sie pflegen könnt'. Un Sie können ja nich mal nach Haus.«

»Nee, das kann ich nicht.«

»Na also. Aber das nehmen Sie sich auch man nich weiter zu Kopp. Dem Herrn Paster wird das schonst beigebracht werden. Ganz sachting und schonend. Dafür lassen Sie mich man sorgen.«

Sie ließ ihn allein. Er dehnte in der Sofaecke die Glieder. Jetzt, wo die Erregung aufgehört hatte, seine Pulse zu treiben, wurde ihm sterbensmatt zu Sinn.

Die Fenster des Zimmers standen auf. Seine Blicke fielen in den Garten, wo aus den Lindenkronen grünes Licht rieselnd und flutend bis auf den Boden sich ergoß. Von dort unten aus der 164 Ferne mischte sich ein blauer Glanz hinein: das war der Fluß.

Ein Hauch lag über dem allen. Nichts war klar und körperlich. Ein schwimmendes Schweben und Weben. Und kein vernehmbarer Laut durchbrach und zerriß diese verzauberte Welt. Traumhaft leise klang das Vogelgezwitscher, wie aus unendlichen Fernen, wie aus ewigen Räumen.

Allein. Niemand bei ihm. Auch Hans Brose nicht. Nun ja. Er hatte zu thun. Und die andern –! Was war aber auch groß mit ihm geschehen! Nichts, was nicht jedem der andern auch jeder Zeit geschehen konnte, und den meisten auch geschah. Wer sollte auch davon irgend ein Aufheben machen.

Wohlthuend war sie schließlich, diese Einsamkeit. So einschlafen! Sich auflösen in dieses linde grüne Licht mit dem jauchzenden Blau in der Ferne! So langsam, leise verdämmern! Wer würde ihn groß entbehren? Seine Mutter war tot. Sein Vater war anders als er – aus anderm Holz, aus einer andern Welt.

Und wie sich jetzt mit ihm abfinden –!? –

So müde! Und so sehnsüchtig – so zum Zerfließen, Zerrinnen, Verhauchen, sehnsüchtig war ihm zu Mut – –

Da schob sich zwischen ihn und den Schein 165 da draußen eine Gestalt. Eine weibliche Gestalt. Und da er sich losriß aus seiner Verträumtheit, erkannte er sie. »Schwesting« war es. Sie brachte ihm die Bouillon.

»Hier, Herr Martens. Nun trinken Sie 'mal gleich!«

»Oh – vielen Dank, Schwesting. Einen schönen Turban haben sie mir aufgesetzt, nicht?«

Mit einem Blick scheuer Sorge streifte sie seinen verbundenen Kopf. »Ist es schlimm?«

»I wo! Aber ich bin jetzt Ihr Logierbesuch – bis übermorgen.«

»Ich weiß. Mutting hat es mir eben gesagt.«

Jetzt kam auch Mutter Thode wieder herein.

»Hier nebenan sollen Sie schlafen, Fritzing. In meiner Stube.«

»Nein, das will ich nicht! Sie sollen keine Umstände machen! 'ne Dachkammer thut's auch!«

»Ruhig! Hier in 'n Haus bin ich der Herr!«

Liesing war schon wieder in Anspruch genommen. Sie mußte ein neues Achtel für den Saal herausgeben, das der Hausknecht hineintrug.

»Ich leist' Ihnen Gesellschaft,« sagte Mutter Thode. »Ich will bloß erst noch 'n Küken schlachten. Das kriegen Sie heut' Mittag.«

»Nein!«

»Ja! Un dann setz' ich mich hier zu Ihnen 166 her. Ich hab' grüne Bohnen abzuziehen. Das mach' ich denn hier, un dann klöhnen wir 'n bischen zusammen, daß Ihnen die Zeit nich so lang wird.«

So geschah es denn.

Inzwischen wurden die anderen Mensuren geschlagen. Es kam nichts besonderes dabei heraus. Nur einer wurde noch abgeführt, doch mit erheblich viel weniger Nadeln als Fritz.

Die meisten verließen Bramow noch vor Mittag. Einige blieben um zu speisen, spielten danach einen Kaffeelachs oder eine Partie Kegel und traten dann bis auf wenige am Spätnachmittag den Heimweg an.

Nur vier Normannen, darunter Hans Brose, blieben bis zum Abend. Sie wollten noch ein wenig mit Fritz zusammen sein. Für den Rückweg hatten sie das Boot.

Fritz hatte nach Tisch auf dem Sofa in Mutter Thodes Zimmer zu schlafen versucht: es wollte nicht gehen. Jetzt, wo die Dämmerung sich niedersenkte, kam müde Ruhe über ihn. Die Augen fielen ihm zu im Sitzen.

»Zu Bett!« befahl Mutter Thode. Und nun folgte er willig.

Die andern rüsteten sich zum Aufbruch. Mutter Thode ging nach einer Weile zu Fritz hinein, 167 um nachzusehen, ob ihm noch etwas fehle. Sie fand ihn bereits in tiefem Schlaf.

Zur selben Zeit aber ertönte vom gepflasterten Hof her lautes Hufgeklapper. Und gleich darauf trat der neue Gensdarm in die Gaststube.

Hier brannte noch kein Licht, und da die Bäume vor den Fenstern dem letzten Abendschein den Eingang wehrten, war es in dem Raum so dunkel, daß man die Gesichter nur in unbestimmten Linien sah.

Mit einem knarrenden »Guten Abend!« nahm der Gensdarm Platz.

Die Studenten grüßten lässig zurück.

»Ich bin verschiedenen von Ihren Kameraden begegnet. Die Herren sind von hier gekommen. Hier ist wohl wieder was los gewesen.«

»Offenbar!« antwortete Hans Brose mit größter Gelassenheit. Der Sicherheitswächter mußte seine Erregung gewaltsam im Zaum halten.

Jetzt trat Mutter Thode aus ihrem Zimmer. Sie sah die Uniform, wußte gleich, wer ihr Träger war, und machte schleunigst die Thür hinter sich zu.

»Es riecht hier ja mit einem Mal so nach Karbol!« erklärte der Mann der Ordnung.

»Kiek mal eener an!« versetzte darauf Mutter 168 Thode. »Was Sie für 'n feinen Riecher haben! Die Nase der Gerechtigkeit!«

»Ihre Redensarten können Sie sich sparen!«

»Was ich mir sparen will, is doch woll eigentlich meine Privatsache. Im übrigen kann ich Ihnen mitteilen, daß das, was Sie gerochen haben, nich Karbol, sondern Jodeform is.«

Der Gendarm war aufgesprungen.

»Hier sind heute Duelle gewesen. Lassen Sie mich einmal in das Zimmer.«

Mutter Thode deckte mit ihrem breiten Rücken die Thür. »Da haben Sie nix in zu suchen!«

»Was unterstehn Sie sich! Ich bin hier in Ausübung meines Amtes! Ich will eine Haussuchung vornehmen!«

»Wo so!«

»Weil mir der Geruch verdächtig is!«

»Verdächtig – was heißt verdächtig? Was geht Sie das an, was ich in meine Schlafstube für'n Geruch habe? Ich frag' ja auch nich danach, wie es in Ihre Schlafstube riechen thut. Ich mag nu mal das Jodeform gern riechen. Andere Leute mögen andere Parfühms, Oder kolonsch oder so was – ich hab' meine Buddel Jodeform!«

»Ihre dummen Witze können Sie andern Leuten erzählen! Geben Sie die Thür frei!« 169

»Schrei'n Se hier man nich so.«

»Ich wünsche den oder die Herren, die sich da drin befinden, zu Protokoll zu vernehmen!«

»Un ich sag' Ihnen, Sie haben da nix in zu thun!«

»Ich fordere Sie nochmals auf, die Thür freizugeben! Wissen Sie, daß das Widerstand gegen die Staatsgewalt ist?«

»Die Staatsgewalt hat nix in meine Schlafstub' zu suchen!«

»Na denn!« Er packte sie an den Schultern, aber sie wich und wankte nicht. Da griff er ihr nach dem Genick, aber in demselben Augenblick stieß sie ihm hochaufgerichtet vor die Brust, daß er zurücktaumelte.

Wild wollte er sich auf sie stürzen. Da fühlte er seine Hände von hinten gefaßt.

»So geht's nicht los!« tönte es ihm in die Ohren. »Gegen eine Frau!«

»Wissen Sie, daß das Aufruhr ist!« mit mächtigem Ruck riß er sich los. Dann griff er nach dem Säbel.

»Sind Sie des Deubels!« Die vier stürzten sich auf ihn.

Wie ein Rasender wehrte er sich. »Das ist Aufruhr!« kreischte er heiser. »Zu Boden schlag' ich Sie!« 170

Da rissen sie ihm den Säbel aus der Scheide und den Revolver von der Seite.

Mit geballten Fäusten schlug er vor Wut brüllend auf den ersten ein. Das war Hans Brose. Der schlug mit wuchtigen Hieben zurück. Dann umschlang er den Gendarm mit eisernem Griff, drängte ihn zur Thür, fuhr mit ihm auf den Gang und über den Gang zur Hausthür und schmiß ihn dann ins Freie.

»Raus!« Und schmetternd warf er die Hausthür ins Schloß.

Wie geistesabwesend starrte der entwaffnete Gensdarm draußen in die Abendnebel. Dann kam ihm die Besinnung – schnaubend, keuchend, mit den Zähnen knirschend eilte er auf den Hof, band sein Pferd los, schwang sich hinauf und sprengte, was der Gaul hergeben wollte, der Stadt zu.

Die Studenten hatten sich mit Mutter Thode, die zu Fritz hineingegangen war, diesen aber in ungestörtem Schlafe angetroffen, wieder in der Gaststube zusammengefunden.

All das Geschehene war so schnell gekommen, wie ein Blitz herniederfährt.

Erst wirkte noch die freudige Erregung über den Strauß.

»Das hast du mal wieder gut gemacht, Brose!« 171

»Der Kerl hätte mit seinem Schwert losgewütet!«

»Ja! Und an Mutter Thode hat er sich vergriffen!«

»Na sie hat ihn aber kräftig abgewimmelt! Prost, Mutter Thode!«

Mutter Thode sagte kein Wort. Ihr trat der Ernst der Dinge zuerst ins Bewußtsein. Und dann wälzte es sich wie die Ahnung eines schweren Verhängnisses, als schlösse dieser Abend eine Wende ihres Lebens ein, ihr lähmend auf die Seele.

Aber sie machte sich frei von dem Druck. Und als nun auch die andern stiller und stiller wurden und die Tragweite des Geschehenen zu überblicken und abzuschätzen begannen, da trat sie mit ihrem Rat ihnen zur Seite.

»Ihr dürft nicht hierbleiben, Jungs. Setzt euch sofort in eure Boot un fahrt zu Haus.«

»Wir werden Sie doch jetzt nicht allein lassen!«

»Grade werdt ihr das! Erkannt kann er euch in der Dusternis nich haben. Un was hat das für 'n Zweck, wenn sie euch nachher hier finden!«

»Wir lassen Sie nicht allein in der Patsche sitzen!«

»Komm ich damit 'raus, wenn ihr euch auch 172 mit 'reinsetzt? Mich haben sie – na, un Knick un Kragen wird das ja woll nich kosten. Aber euch haben sie nich, un euch brauchen sie nich zu kriegen. Wenn sie euch aberst kriegten, denn könnt' es euch doch doll in die Bude lecken! Denkt an eure Cajähr! Un nu macht, daß ihr weg kommt. Ich verrat euch nich. Ich weiß nich, wer das eben gewesen is. Wer kann auch all die Studentens kennen, die hier so kommen! Un der Schandarm hat angefangen! Na un nu 'raus un adschüs!«

Sie wollten noch immer nicht.

»Kinnings, wenn ihr nu noch lange bleibt un mit mir dröhnt, denn fang' ich an, euch zu erkennen, un denn muß ich das sagen, wer ihr gewesen seid. Un das will ich nich! Un wenn ihr nu nich geht, denn verklag' ich euch schließlich noch wegen Hausfriedensbruch. Wir werden ja von einander hören. Un nu thut mir den einzigen Gefallen un verflüchtigt euch.«

»Wir können aber doch vielleicht helfen!«

»Helfen! Jä – wollen wir uns hier verbarrikadieren un 'n Festungskrieg anfangen? Er kommt wieder mit andre, un denn nimmt er 'n Protekoll auf, un reden kann ich allein, dazu brauch' ich euch nich. Un nu red' ich kein Sterbenswort mehr darüber.« 173

Sie nahm schweigend die Gläser vom Tisch und ging hinaus.

Die Studenten machten sich klar, daß sie in der That Mutter Thode von den Folgen des Geschehenen nichts ersparen konnten. So beschlossen sie denn, aufzubrechen und das Weitere abzuwarten. Vor der heiligen Hermandad auszukneifen und sich zu verstecken, war ja an sich keine Schande – im Gegenteil.

Sie verabschiedeten sich also, erklärten, daß sie am nächsten Tage wieder vorsprechen würden, und segelten nach Hause.

»Was ist denn bloß geschehen?« fragte Liesing ihre Mutter.

»Den Schandarmen haben wir 'rausgeschmissen!«

»Den Gensdarm – um des Himmelswillen, Mutting!«

»Er wollt' zu Fritzing rein – un – is mir ganz egal – ich würd' das jeder Zeit wieder thun!«

»Was wird denn nun aber geschehn?«

»Er wird sich Hilfe holen un wieder kommen.«

»Dann wird Martens ja nu doch gefunden!«

»Ja, das wird er nu woll« – sie seufzte – »aberst daran is ja nix zu ändern. In 'n Kellerloch verstecken können wir 'n ja nich. Is 174 nix bei zu machen. Abersten was ich gethan hab', das mußt' ich nu mal thun!«

»Was wird denn bloß mit dir werden, Mutting!«

»Jä – bestrafen werden sie mich ja, das is klar wie Wustsupp'! Erlaubt is das ja nich, sich an die Staatsgewalt zu vergreifen! Un ob das mit Geld abzumachen is –« schwer und dunkel legte es sich ihr dabei aufs Herz – »vielleicht spunnen sie mich in.«

»Mutting!«

»Na, wollen warten, bis 's so weit is. Ich kenn' ja all' die Herrn vons Gericht – männich einen sogar sehr gut – Müller un Schwartz un Brunnengräber – die haben ja auch all' bei mir studiert. Na, un Männe is ja auch bei 's Gericht« – »Männe« war das Schreiberlein, mit dem Liesing sich versprochen hatte – »was kann uns da passieren?« so schloß sie und lachte. Aber das Lachen ging doch in der Sorge unter. Und je später es wurde, desto weniger konnte sie ihre Unruhe über das, was bevorstand, niederzwingen.

Sie hatten längst die Lampe angemacht, Mutter Thode war ein paar Mal zu Fritz hineingegangen, der den Schlaf des Gerechten schlief – da wurden draußen Kommandos und stampfende Tritte laut. 175

»Das sind sie!« rief Liesing mit Beben.

Die Thüren wurden aufgestoßen. Militär trat herein, von einem Unteroffizier befehligt, darunter der Gensdarm. Dieser stürzte sofort auf seine Waffen, die friedlich dalagen, und legte sie an.

»Wo sind die Studenten?« fragte er mit grimmigem Schnaufen Mutter Thode.

»Weg!« entgegnete sie ruhig.

Der Unteroffizier gab Befehl, Haus und Garten zu durchsuchen.

Ich geh' zunächst hier rein!« Damit wandte sich der Gensdarm zu Mutter Thodes Schlafstubenthür.

»Licht!« befahl er. Liesing brachte ihm eine Lampe. Dann trat er ungehindert in das Zimmer.

Fritz fuhr aus dem Schlaf empor.

»Wie heißen Sie?« fragte ihn der Gensdarm, das Notizbuch in der Hand.

Der Gestörte begriff sofort die Lage der Dinge und nannte gelassen seinen Namen.

»Sie haben sich hier duelliert?«

»Ja.« Alles Leugnen wäre in diesem Punkte nutzlos gewesen.

»Wer war Ihr Gegner? Und wer war sonst dabei?«

»Darüber verweigere ich die Auskunft.«

»Gut. Das Weitere wird sich finden.« 176

Darauf verließ er das Zimmer.

In der Gaststube richtete er gleiche Fragen an Mutter Thode. Sie bestätigte ihm, daß der Verwundete Fritz Martens heiße und daß er sich hier geschlagen habe. Die Namen der Andern wisse sie nicht.

Dann kamen die Soldaten zurück. Sie hatten niemanden gefunden.

»Wo sind die Studenten hingegangen?« forschte der Gensdarm.

»Weiß ich nich,« lautete Mutter Thodes Antwort.

»Welchen Weg haben sie genommen?«

»Weiß ich nich.«

»Wer waren denn die vier Leute? Die Namen!«

»Weiß ich nich.«

»Himmelkreuzdonnerwetter!« Der Mann der Ordnung schmetterte die Faust auf den Tisch. »Das werden wir Ihnen eintränken.«

Er trat mit dem Unteroffizier zu einer Besprechung beiseite. Den ärgerte die Ergebnislosigkeit des Kriegszuges. Und Mutter Thode, die alte Frau, als Siegesbeute auf die Wache zu schleifen, widerstrebte ihm.

»Ich denke, wir lassen es mit dem Protokoll bewenden.« 177

So wurde denn Mutter Thode von dem Gensdarm einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen, in dem sie über alles, was ihre Person und ihre Teilnahme an dem Staatsstreich anging, klare, wahrhaftige und bündige Erklärung abgab. Die Namen der andern behauptete sie noch einmal nicht zu wissen. Wie weit deren Beteiligung im einzelnen gegangen wäre, hätte sie in der Dunkelheit und bei der eigenen Erregung nicht wahrgenommen.

Auch sie bekam zum Schluß ein: »Das Weitere wird sich finden!« Im drohendsten Tone war das gesprochen. Und dann fügte der Mann verächtlich hinzu: »Wenn Sie nicht 'n Frauenzimmer wären, würden wir Sie nach der Wache transportieren. So aber wollen wir uns nicht mit Ihnen schleppen!«

Damit gingen sie.

»Mutting! Mutting! Was wird bloß daraus werden!« Angstvoll schmiegte sich Liesing an ihre Mutter.

Die streichelte den Scheitel ihrer Tochter.

Sie war ernst, aber ruhig. »Na Kindting – is man all halb so schlimm. Köppen werden sie mir ja woll nich. Un nu woll 'n mir uns 'mal nach unserm Logierbesuch umsehn.« 178

Sie ging mit der Lampe in ihr Schlafzimmer. Fritz saß aufrecht im Bett.

»Daß uns das auch passieren mußte! Gerade mit Ihnen, Fritzing. Na nu legen Sie sich man ruhig wieder hin. Oder is Ihnen nich gut?«

»Doch.«

»Legen Sie sich man erst wieder hin! Ich setz' mir hier 'n Augenblick her zu Ihnen.«

Sie zog einen Stuhl an sein Bett und nahm darauf Platz. Und dann erzählte sie ihm, wie alles gekommen war.

»Hätten Sie ihn doch gleich hereingelassen, Mutter Thode.«

»Das wollt ich nich und das konnt' ich nich!«

»Nun haben Sie sich meinetwegen in solche Ungelegenheiten gebracht.«

»Wat de Minsch moet, dat moet he. Un nu woll'n wir man lieber an Ihnen und Ihre Angelegenheit denken.«

»Das ist das Wenigste! Wenn sie Ihnen nur nichts thun, Mutter Thode! Aber das sollen sie nicht! Und das thun sie auch nicht! Mutter Thode thut kein Mensch was!« Er nahm ihre Hand und preßte sie mit zärtlichem Druck.

Da leuchtete es von Glückseligkeit in ihren ernsten Augen. Sie streichelte seine Hand mit der Linken. 179

»Na – was kommt, das gilt un das müssen wir gelten lassen. Un nu woll'n wir uns nich weiter darüber aufregen. Sie müssen schlafen, Fritzing! Brauchen Sie auch noch was?«

»Danke, Mutter Thode! Ich habe alles!«

»Na, denn schlafen Sie recht schön weiter. Daß Sie morgen wieder auf den Strümpfen sind. Gut' Nacht, Fritzing!«

»Gut' Nacht, Mutter Thode.« – –

Sie thaten Mutter Thode doch etwas, und zwar das Schlimmste, was ihr geschehen konnte: sie nahmen ihr die Schankkonzession. Noch ehe das Gericht zur Verhandlung der gegen sie erhobenen Anklage schritt, traf sie dieser von ihr gar nicht vermutete Schlag, unter dem sie einfach zusammenbrach.

Was sollte sie nun noch auf der Welt? Man nahm ihr die Thätigkeit, die ihr Lebensinhalt gewesen war. Man trennte sie von ihren Jungs. Und man raubte ihr die Existenzmittel dazu, denn von der Ackerwirtschaft allein war es unmöglich, den Pachtzins zu entrichten.

Sie war damit vertrieben von Haus und Hof. Und von ihren Jungs war sie geschieden.

Zwar kamen in den ersten Tagen noch eine ganze Reihe Studenten heraus, sie zu besuchen. 180 Und sie vertrösteten Mutter Thode auf Eingaben und einflußreiche Verwendung, die jene Polizeimaßregel rückgängig machen würden. Aber eine Erkundigung an Ort und Stelle belehrte sie, daß sie nichts zu hoffen hatte.

So blieb ihr nichts andres übrig, als das Anerbieten eines Unbescholtenen, der sogleich in ihr Pachtverhältnis eintreten wollte – ihm war dann die Schankkonzession sicher – mit Dank anzunehmen. Sonst hätte sie als Bettlerin ihre Straße ziehen müssen.

Keine Thräne vergoß sie, als sie Abschied nahm von ihrem Reich, in dem sie fast ein Menschenalter lang gewaltet hatte, in dem jedes Stück, jeder Zoll Erde eine Erinnerung trug. das ihre Gedanken, ihre Wünsche und Freuden, das ihr ganzes Glück, das einfach ihr Leben einschloß. Ihre Augen waren wie versteint, ihr Herz war kalt. Ihr war es, wie wenn man sie als Leiche herausbrächte.

Und dann kam die Gerichtsverhandlung. In der Voruntersuchung war sie eindringlichst ermahnt worden, die Namen der mitschuldigen Studenten zu nennen. Sie blieb dabei, daß sie sie nicht kenne. Sie wurde darauf aufmerksam gemacht, daß diese Aussage ganz unglaubwürdig sei, daß man darin lediglich eine Weigerung, die 181 ihr wohlbekannten Personen zu bezeichnen, erblicken könne, und daß sie mit dieser Weigerung alle mildernden Umstände verscherze. Sie hielt ihre Aussage aufrecht.

Bei der Verhandlung selbst war der Zuschauerraum gedrängt voll von Studenten.

Mutter Thode hatte etwas Starres, Erstorbenes, Lebloses. Aber sie gab ruhig und klar ihre Antworten.

Dann hatte der Gensdarm seine Aussagen zu machen. Er stellte die Sache so dar, als hätten die Studenten mit Mutter Thode als Rädelsführerin an der Spitze ihn planmäßig überfallen und mißhandelt.

Da entstand im Zuschauerraum eine Bewegung. »Der Gensdarm lügt!« rief eine junge Stimme mit kräftigem Zorn. Der Rufer sprang auf und stellte sich so dem erregten Vorsitzenden. Es war Hans Brose. Gerichtsdiener führten ihn in den Verhandlungsraum.

Offen erklärte er, wie die Sache sich verhielt: daß Mutter Thode eine vorwiegend passive Rolle gespielt habe, daß er, Hans Brose, es allein gewesen, der den Gensdarm, nachdem der ihm ins Gesicht geschlagen, bezwungen und zur Thür hinausgeworfen. Er habe Mutter Thode 182 beigestanden! Und er freue sich, ihr beigestanden zu haben, wenn er dafür auch ins Loch müsse.

»Bravo!« tönte es vielstimmig aus dem Zuschauerraum, den der Vorsitzende sofort räumen ließ. Über Mutter Thodes erstarrte Züge aber flog es bei dieser Kundgebung wie ein Schein des Lebens.

Die Verhandlung wurde vertagt, um dann gegen Mutter Thode und Hans Brose zugleich wieder aufgenommen zu werden. Seine beteiligten Kommilitonen zu nennen, hatte sich Hans geweigert.

Der Ausgang des Prozesses brachte keine weitere Überraschung: Mutter Thode wurde zu fünf Monat, Hans Brose zu drei Monat Gefängnis verurteilt.

Letzterem wurde die Strafe dann auf dem Gnadenwege in Festungshaft umgewandelt. Mutter Thode mußte ins Gefängnis.

Teilnahmlos ließ sie das über sich ergehen. Sie hätte sich so auch aufs Schaffot führen lassen.

Als sie dann aus dem Gefängnis zurückkam, hatte sie das Aussehen einer Greisin. Ihr Haar war schneeweiß geworden, und mühsam ging ihr Atem. Aber ihre Haltung war aufrecht und ungebeugt. 183

Liesings Verlobter, der treu zu ihnen hielt, war inzwischen nach einer kleinen Stadt im Innern des Landes versetzt worden. Dorthin siedelten nun auch Mutter und Tochter über.

Nach einem halben Jahr war die Hochzeit. Und das Glück der jungen Leute, bei denen die Alte wohnte und die sich mit rührender Liebe ihrer annahmen, gab ihr Wärme und Licht. Aber die Lebensfreude fand sie nicht wieder.

Ihr Lebenswerk war gethan. Sie hatte keine Aufgabe mehr. Sie war überflüssig auf der Welt. Das gab ihr auch ihr Herz deutlich zu verstehen, das öfters nicht mehr recht mitmachen wollte und den Schlag aussetzte. »Du brauchst nicht mehr zu leben!« sagte das Herz.

Der Winter brachte ihr Krankheit und Mühsal, aber zu Ostern war ihr dann eine besondere Freude beschieden: Fritz Martens, der bei Verwandten in der Nähe zum Besuch war, kam auf ein paar Stunden zu ihr.

Das waren bewegte Stunden, die ihr ganzes früheres Leben vor ihr aufrollten. Und noch tagelang saß sie stillverloren da.

Dann wurden ihr Großmutterfreuden beschert. Aber einen neuen Lebensinhalt konnte sie daraus nicht gewinnen. 184

Und als von den Bäumen das Maiengrün leuchtete, da wurde eine Sehnsucht in ihr mächtig. die sich nicht bezwingen ließ: noch einmal wollte sie die Stätte sehen, wo sie als Mutter Thode waltete und mit ihren Jungs glücklich war. Noch einmal – ehe es zu spät! Danach konnte sie ruhig sterben. Dann mochte der nächste Winter ein Ende machen.

Die Kinder wollten sie nicht ziehen lassen. Aber ihre Willensstärke wies alle Bitten und Vorstellungen zurück. Sie fühle sich jetzt ganz wohl. Und in zwei Tagen sei sie ja wieder zu Hause. Liesing, die die Mutterpflichten festhielten, und ihr Mann, den sein Beruf nicht freiließ, konnten sie nicht begleiten. So fuhr sie denn an einem schönen Sonntag in aller Frühe allein der Heimat ihres Lebens zu.

Nach mehrstündiger Eisenbahnfahrt kam sie gegen Mittag in der Universitätsstadt an. Ohne Verweilen machte sie sich auf den Weg nach dem Hafen. Die Dampferfahrten nach Bramow mußten schon begonnen haben.

Sie fand dort denn auch eines der kleinen Dampfschiffe vor, die Bramow zum Ziele hatten. Doch mußte sie noch eine Stunde etwa bis zum Abgang warten. Sie suchte sich auf dem Verdeck einen Platz und sog mit Behagen die reine 185 Luft in sich ein. Das that wohl nach der stickigen Eisenbahnfahrt.

Ganz unverändert erschien ihr alles ringsumher. Es waren ja auch kaum zwei Jahre seit ihrer Verbannung vergangen. Das kleine Dampfschiff, auf dem sie saß, der »Pfeil«, war ihr wohlbekannt. Aber die Mannschaft war eine andere als zu ihrer Zeit. Überhaupt war ihr noch kein bekanntes Gesicht begegnet. Als ob lauter neue Menschen an diesen alten Stätten lebten, so kam es ihr vor.

Dahinten liegt Bramow. Noch konnte man es nicht sehen. Der Dampfer mußte erst eine Strecke stromabwärts gefahren sein.

Und nun kamen neue Fahrgäste, vorwiegend junges Volk, in Pärchen zumeist. Studenten waren nicht darunter.

Und dann ging das Schiff ab.

Jetzt – jetzt gleich! Ihr Atem stockt. Dort – dort werden die hohen Pappeln sichtbar, die das Bramower Gehöft umstehen, und nun sieht man auch die Häuser. Alles schwimmt ihr vor den Augen – es ist ihr, als müsse sie versinken in der Flut, und bange klammern sich ihre Finger an die Brüstung.

Dann überdeckt sie die Augen mit der Hand zum Schutz gegen die Sonne und blickt 186 unverwandt auf ihr Ziel, wie es langsam näher rückt – näher, immer näher zu ihr hin.

Größer und starrer werden ihre Augen. Ihr Atem, ihr Pulsschlag, ihr Leben geht auf in dieses gebannte Schauen.

Und nun legt der Dampfer an. Kraftlos sind ihre Füße. Mühselig schiebt sie sich vom Schiff auf die Brücke fort und über die Brücke entlang zum Ufer.

Da ist es, als ob der Boden, der einst ihres Reiches war, ihren Füßen mit der Berührung neue Kraft verleihe. Sie preßt die Hand auf das schwache Herz und schreitet langsam die Anhöhe hinauf.

Zur Hälfte des Weges macht sie Halt, beide Hände auf das Geländer stützend, das ihn an der einen Seite begrenzt. Dann überwindet sie auch den andern Teil, und jetzt steht sie im Wirtschaftsgarten.

Die Tische sind an denselben Plätzen aufgestellt, wie einst bei ihr. Sie haben einen neuen Anstrich bekommen, doch sind sie nicht besonders sauber gehalten. Das bemerkt sie sofort und sie schüttelt den Kopf dazu.

Sie nähert sich dem Hause – sie möchte hinein. Aber dann wendet sie sich scheu zur Seite. Sie fühlt sich nicht stark genug dafür. 187 Hier würde sie überall auf eine Zerstörung der Vergangenheit stoßen, die ihr gehörte. Das würde sie einfach überwältigen.

Sie tritt in eine Laube und setzt sich dort nieder. Von hier aus kann sie den ganzen Garten übersehen. Ein Sonntagskellner in schäbigem Frack kommt ohne rechtes Vertrauen zu ihr heran und fragt nach ihren Wünschen.

Sie hat noch kein Mittag gegessen und ist einer Stärkung bedürftig.

»Was giebt's denn zu essen?«

»Kalbsbraten.«

»Na, denn bringen Sie mir das. Un 'n Glas Bier.«

Es sind bisher nur wenig Gäste da, und doch dauert es sehr lange, ehe sie das Bestellte erhält.

»Wär' bei mir nich vorgekommen,« murmelt sie vor sich hin.

Endlich steht das Essen vor ihr. Es schmeckt ihr nicht. »Das Fleisch ist gut – aber so 'ne zackermentsche Sauce! Zum Ausspucken zu schlecht!« – so spricht sie zu sich selber. Aber der Groll thut ihr wohl.

Jetzt findet sie sogar eine tote Fliege in der Sauce. »Na ja.« Eine ingrimmige Freude hat sie daran. Und dabei flackert etwas von ihrem alten Humor in ihr auf. 188

»Wenn er einen Namen braucht für seinen Krug, ich könnt' ihm einen sagen. ›Zur dodigen Fliege‹ kann er ihn nennen. Das ist denn ja auch was Neues.«

Anders ist es hier geworden. Ob aber die Leute damit unzufrieden sind?

Der Besuch scheint nicht schlechter zu sein als zu ihrer Zeit. Jetzt sind alle Tische besetzt, bis auf einen langen in der Mitte des Gartens. Er ist reserviert – für Studenten? Offenbar. Wer würde sich auch sonst hier einen Tisch reservieren lassen!

Und da kommen sie auch schon. Zwei – drei – vier. Der Vortrab ist da. Ihr Herz schlägt höher und höher.

Sie kennt sie nicht. Möglich, daß es an der Entfernung liegt. Aber gleichviel, ob sie ihr bekannt sind oder nicht – es sind doch ihre Jungs! Wenn sie auch nicht mehr an ihren Freuden und Schmerzen teil hat, wenn sie ihnen auch nicht mehr mit Rat und That beistehen, wenn sie ihnen auch nicht mehr »Mutter Thode« sein kann.

Immer mehr stellen sich ein. Die Tafel ist beinahe besetzt. Und jetzt tritt der Wirt mit seinem verschmitzt-wohlwollenden 189 Oberkellnergesicht an den Tisch heran und macht seine Bücklinge. Sie aber beachten ihn kaum.

So ist es nicht zwischen ihm und den Studenten wie es einst war zwischen ihr und ihren Jungs! Das hat sie gleich gesehen. Und dabei wird ihr fast wohl ums Herz.

Aber – ob sie ihrer noch gedenken? Ob sie sie manchmal entbehren?

Sie forscht nach den Gesichtern hinüber, doch keins will ihr bekannt werden.

Und dann malt sie sich aus, was die Jungs wohl sagen würden, wenn sie jetzt zu ihrem Tisch herangehe und ihnen erkläre: Ich bin Mutter Thode!

Ob sie von ihr gehört haben? Ob sie etwas von ihr wissen? Oder ob sie sie auslachen werden als verschrobene, kindische alte Frau –? –

Nein, nein. Nicht solche halsbrecherischen Versuche. Was liegt auch daran, ob sie von ihr wissen oder nicht? So werden, wie es einst war, kann es ja doch nicht mehr. Sein kann sie ihnen ja doch nichts mehr. Was gewesen ist, ist gewesen.

Allerdings, wenn einer darunter wäre, der ihr von früher her nahe gestanden hat, dann möchte sie ihn wohl sprechen. Von Herzen gern. 190 Unter vier Augen. So wie es mit Fritzing gewesen ist, als der sie besucht. Die Stunden sind unvergeßlich.

Aber all die Gesichter sind und bleiben ihr fremd. Nun ja – vier Semester sind es her. Was ist das für eine Zeit!

Und was hat dieser Zeitraum alles verschlungen!

Dieselben sind es nicht mehr – aber dasselbe ist geblieben. Es ist dasselbe frohe, lebensfrische Treiben, das einst ihre Sonne war. War – ja, war!

Jetzt, wo sie in der Dämmerung zu Hause ist, wo sie sich herausgestohlen hat aus dem Dunkel, noch einmal von der Sonne zu kosten, jetzt kann sie das Licht nicht mehr ertragen. Der Schein thut allmählich ihren Augen weh, und der Glanz ängstigt sie mit seiner Nähe. Weil er ihr im Grunde zu fern ist, weil sie keinen Anteil an ihm hat, weil sie nicht in ihm lebt und webt. Sie kann nicht Zaungast sein!

Was soll sie hier! Was will sie hier! Immer trostloser wird ihr zu Sinn, und ein Frösteln überläuft ihre Glieder. Sie ist in der Fremde. Sie hätte nicht herreisen sollen.

Aber wie ist es dort, wo sie jetzt lebt? Ist sie da eigentlich zu Hause? Wärmer ist es dort, und sie ist da nicht einsam. Aber ein »zu 191 Hause« – hat die Welt noch ein »zu Hause« für sie?

Nun stimmen sie da drüben ein Lied an. Sie kennt es nicht. Es ist neu, sie hat es niemals gehört. Von der »filia hospitalis« singen sie.

Auch neue Lieder giebt es sogar!

Ja, ja. Ihre Zeit ist um. Sie hat nichts mehr zu suchen auf der Erde.

Das neue Lied quält sie. Sie kann es nicht länger mit anhören. Sie ruft den Kellner, zahlt und geht langsam zum Wasser hinunter.

Die Abendsonne hat sich in wolkigen Flaum gebettet. Im Uferschilf raunt es leise, und heimlich braut der Nebel um die Halme. Und über den Fluß hin streicht in sachten Wellen ein linder Dunsthauch. Die Welt will sich in Schleier hüllen.

Ein stilles Trauern breitet sich über die Erde. Ein lautloses Klagen. Als sei eine Zeit gestorben, um die es dem Weltenherz leid.

Ihre Zeit! Ihre Zeit! Soll sie sich von ihr trennen – soll sie ihr nachhinken – soll sie ihr untreu sein?

Ein paar Schritte – und dann untergehen in der klagenden Flut, die die sanften Totenschleier decken!

Wer wird sie vermissen? Wer wird um sie weinen? 192

Ihre Tochter, ihr Liesing, ja. Aber die hat ja ihren Mann und das Kind. Sie wird sich trösten.

Nur, daß dieses Ende sie bis in die Tiefen erschüttern, und ihr ein Grauen einflößen würde.

Und in die Zeitung würde es auch kommen. Mutter Thode, die früher die Wirtschaft in Bramow hatte, ist dort aus dem Wasser gezogen. Sie wurde damals mit Gefängnis bestraft und nun hat sie durch Selbstmord geendet.

Ein Schauern durchzittert sie. Ja, so würd' es heißen. Und dieser und jener würde dabei an sie denken – in Erinnerung würde sie sich bringen damit – –

Aber welcher Art würde die Erinnerung sein –? –

Und Erinnerung – – was soll ihr das Erinnern – so oder so.

Ein schriller Pfiff stört sie auf. Das Dampfschiff naht und legt an. Der Fahrgäste sind nur wenige. Als letzter kommt ein altes Mütterchen mit einem dreijährigen Kinde über die Brücke geschritten.

Langsam nehmen sie ihren Weg – das hinfällige Alter mit der hilflosen Kindheit Hand in Hand.

Mutter Thode kennt die Alte. Die erste 193 Bekannte, die sie gesehen! Es ist eine Bäuerin aus Bramow, das Kleine ist ihr Enkelkind. Ein Junge offenbar. Sie ist mit dem kleinen Kerl in der Stadt gewesen. Und nun sind beide todmüde.

Wie sie an den Abhang kommen, will der Junge nicht weiter. »Größing – drägen!« kommandiert er mit weinerlicher Stimme. Da nimmt ihn die alte Frau auf den Arm. Und mühselig steigt sie, die kaum noch die eigenen Füße tragen, mit der schweren Last die Anhöhe hinan.

Betroffen und gerührt von solcher großmütterlichen Madonnenhaftigkeit blickt Mutter Thode den beiden nach. Ob die Alte sich auch nutzlos in der Welt vorkommt und ohne Freude ist?

Und sie muß an die Ihrigen denken – daß ihr selbst so ein Enkelkind beschieden ist – und ob es sich nicht auch für sie lohnen könnte, dem Kleinen den Berg hinauf zu helfen und über den Berg – ob dem Reste ihrer Kraft nicht noch etwas zu thun bleibt?

Als sie die alte Bäuerin nicht mehr sieht, steht deren Bild, wie sie mit dem Kinde den Abhang hinaufkeucht, immer noch vor ihrer Seele.

Was trauert sie hier so allein herum? Die Sehnsucht, die sie immer mit sich herumgeschleppt hat, ist jetzt erfüllt. Sie ist wieder einmal hier 194 gewesen. Und es ist ihr klar geworden, daß sie hier nichts mehr zu suchen hat.

Wie hat sie überhaupt solche Vermessenheit in sich nähren können? Wie ist es ihr nur möglich gewesen, sich einzubilden, das Leben stehe still ihretwegen, die Zeit warte auf sie!

Eine alte Frau mit weißem Haar und mattem Herzen – und solche Thorheit jugendlichen Überschwangs und kindlicher Überhebung!

Beschämt senkt sie den Kopf. Beschämt blickt sie auf den traumbefangenen Fluß, der sie in ihrer selbstverschuldeten Not gelockt hat mit seiner stillen Verlorenheit und der doch im Wachen und Träumen seines Weges zieht, von der Zeit geleitet, vom Leben geführt, das sich nicht aufhalten, nicht umwenden läßt – vorwärts, weiter und weiter – – –

Und voll Beschämung gedenkt sie wieder und wieder des aufsteigenden Lebensweges der alten Bäuerin.

Sie, eine weltfremde Thörin mit weißem Haar!

Wußte nichts vom Leben und seinem rastlosen Schreiten. Achtete so wenig des Alters, dessen Eigen wunschloses Erinnern ist, daß sie betrübsam-lächerliche Sprünge nach rückwärts vollführen konnte, das Vergangene noch einmal zu besitzen. Gedachte auch nicht der Jugend, 195 die ihr am nächsten war, die so gern Hand in Hand mit ihr den Weg gehen wollte, voll Liebe und Anhänglichkeit und Treue, und die sie selber nur hemmte und störte mit ihrem thörichten Rückwärtsstreben.

Fremd, ja feindselig hat sie bei den Ihrigen gesessen. Kälte hat sie ihnen gegeben für die Wärme, und in dieser lauen Mischung hat keine Freude, kein Glück gedeihen können – nicht für die Andern und auch nicht für sie.

Und aus all dem Beschämenden und Niederdrückenden steigt ein Gedanke empor, ein Gedenken, ein Wunsch, ein Sehnen: Zurück – zu den Ihrigen! Zu Liesing und deren kleinem Bengel.

Sie steigt aus den Dampfer, der jetzt eben wieder nach der Stadt umkehrt.

Adieu Bramow! Wir sehen uns nicht wieder! Adieu für immer!

In der Nacht geht ein Zug nach ihrem Wohnort. Den benutzt sie. Frühmorgens tritt sie bei ihren Kindern ins Zimmer.

»Mutting! Mutting! bist du wieder da! Wie gut, daß du wieder da bist!« Zärtlich schmiegt Liesing sich an sie. Und dann erzählt sie:

»Wir haben eine schlimme Nacht gehabt. Der Kleine ist so krank gewesen!«

»Was? Nee! Wie is' denn jetzt?« 196

»Besser!«

»Laß mich mal 'rein zu ihm!«

Sie ging schnellen Schritts in die Schlafstube und beugte sich über die Wiege.

»Krank gewesen bist du, mein Jünging – krank gewesen –?«

Der Kleine erkannte sie gleich, griff mit beiden Händchen nach ihren Ohren und klammerte sich daran fest, sich mit ihrer Hilfe in die Höhe zu richten. Es war ein kräftiges, wohl vernehmliches Ziehen.

»Kriegst du mir bei den Ohren? Kriegst du dein Größing bei den Ohren, weil sie den Studentens nachgelaufen is?«

Ein paar Thränen kollerten ihr über die Backen, die ersten seit langer Zeit. Ein Tropfen fiel dem kleinen Mann auf die krause Nase, daß er lebhaft niesen mußte.

»Prost, mein Jünging! Prost! Daß wir beid' zusammen gut über den Barg kommen – Du in dies Leben rein un ich in das andere. Das soll beniest sein – was, mein Jünging? Ja! Ja.«

 


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