Max Dreyer
König Kandaules
Max Dreyer

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Es ging auf den Winter zu, der Novemberregen peitschte die Straßen der Stadt. Klaus Ohlendiek fuhr ins Theater. Er sollte die Salome dirigieren.

Der Pförtner hatte einen Rohrpostbrief für ihn. »Lieber Herr Ohlendiek, meine Frau und ich sind ein paar Tage hier – der Archäologen-Kongreß hat mich hergeführt. Haben Sie morgen eine Stunde Zeit für uns? Wann, erbitte ich ein Wort nach Hotel Hansa. Herzlichen Gruß von uns beiden. Ihr Hilmar König.«

Klaus schrieb in seinem Zimmer sofort zurück: »Ich freue mich sehr, Sie beide wiederzusehen. Meine Mutter würde Sie gerne kennenlernen. Wollen Sie nicht morgen, Mittwoch, bei uns essen? Bitte um ½3. Herzlichst Ihr Ohlendiek.«

Matilde und Hilmar waren heute abend in der Vorstellung. Sie wollte erst in ein Konzert gehen, sie hatte keine Vorliebe fürs Theater. Schließlich siegte doch der Wunsch, Klaus Ohlendiek am Pult zu sehen.

Sie kämpfte mit einem Unbehagen. Das große Haus kränkte sie mit seinem aufdringlichen Prunk. Das Menschengewimmel dünkte ihr eine Börse für 159 laute Vergnüglichkeit, für Klatsch und Sensatiönchen. Die wenigen stillen Augen und versonnenen, sehnsüchtigen Gesichter wurden verschlungen von der breitmäuligen Oberflächlichkeit.

Dann aber dachte sie: ›Was gehen die vielen mich an! Und nun will ich hören.‹

Das Klingelzeichen. Der Kapellmeister nimmt seinen Platz ein. Der Saal verdunkelt sich.

Die Musik. Gibt der Bühne, dem Bild das Leben. Sie sucht – sucht mit allen großen und kleinen Mitteln wühlender, würgender, zuckender, züngelnder, fiebernder Instrumentation. Sucht für Matilde fast zu viel. Die öfters über die Mittel stolpert. Dann aber wieder gefaßt wird von unmittelbarer Offenbarung, von der reinen, ungewollten Sinnlichkeit des Schauens und Gestaltens.

Der Mond geht auf über die Königsburg in der Wüste. Seine Lichter lecken an dem Sumpf des Toten Meeres. »Wie eine Frau sieht er aus, die aufsteigt aus dem Grabe.« Das Phosphoreszieren eines toten, faulenden Leibes.

In der Musik schauern alle Grauen, alle Flüche dieser sündigsten aller Nächte.

Rauschende Festklänge im Palast. Auf dem Vorhof in dunkler Zisterne haust der schmerzbrünstig Einsamste der Menschen. Der alles Leid der Erde, Gefangenschaft, Hunger, Nacht und Not gequält glückselig hineinschlürft in seine unirdische gläubige heilige Seele.

Und nun – Schicksal und der Geist dieser Welt 160 – Salome kommt. »Wie schön ist die Prinzessin Salome diese Nacht!«

Ja, sie ist schön. Matilde mustert die Gestalt. Ihr weiblicher Scharfsinn entdeckt: eine reife Frau. Sie sieht auch gleich, daß den Hüften zuviel Gewalt angetan ist. Aber sonst, was hat hier Maskenkunst geschaffen! Einer blutjungen Bestie fast noch unbeholfenes Kauern. Und welch ein Spiel!

In den Augen dies furchtbar Jungfräuliche, das nur dem tiefsten der Grauen sich preisgibt, in den Mundwinkeln das Lechzen nach Entsetzen – noch ist dies alles knospenhaft geborgen. Nichts Grelles, Springendes, Schreiendes, nichts Gewolltes und Betontes – alles wunderbar von dem naiv Triebhaften und dem halb Unbewußten abgedunkelt.

Und wie das Bild der Gesang. Naturlaute, halb erstickte, die vor sich selber noch zurückschrecken, ein verlorenes Stöhnen, Schluchzen, Fauchen und Greinen – und all diese kaum geborenen Klänge mit höchster Kunst hineingefügt in Ton und Rhythmus, in den lebendigen Odem der Musik.

Ja, dies ist Singen. Mit einer Stimme, die nicht eben reich, nicht eben groß, nicht von tiefen, glutenden Farben ist, die aber sprühend alles erlebt. Im Ahnen, im Träumen, im Sehnen, im Gieren und Vollbringen. In allen Schwingungen des Wollens, in allen Phasen des Werdens.

Da ist der lässige Mißmut fast eines verzogenen Kindes, mit dem sie dem Fest im Saal den Rücken kehrt. Da ist der schon wissende Ekel vor den 161 Nachstellungen des schlaffen, geilen Vierfürsten. Das Heulen des Propheten unter der Erde peitscht ihre unreifen und schon überreifen, faulenden Gedanken. Das Unentdeckte und Ungebändigte ihrer Liebesphantasien – in die dunkelsten und wildesten Abgründe stürzt es sich.

Wie singt sie dies alles, wie lebt ihre Stimme dies alles.

Der Unhold der Weltflucht steigt auf, der Prophet. Sie grüßt mit erbebender Holdseligkeit seinen Schmutz, sein Ungeziefer, seine Schwären. Besingt verzückt seinen Leib, den Leib aus Sandelholz und Elfenbein, die verfilzten Haarwülste sind hangende Rosen. Ihn will sie haben, ihn, den grausigsten, den unmöglichsten der Liebhaber, der eben darum ihr der reizvollste ist –

Da er sie anwettert, sie verdammt und verflucht – wie sie sich krümmt unter den Schlägen – wie sie kauert und nun selber ihre Schmähungen schreit, wie sie schimpft und geifert und die Wollust auskostet, weh zu tun –

Und wie diese Wollust dann wieder in Zärtlichkeit hinschauert, in Sehnsucht und Verlangen: nicht deinen Leib, den eklen – nur deinen Mund. »Ich will deinen Mund küssen, Johanaan, deinen Myrrhenmund, deinen sanften, girrenden Taubenmund! Laß mich deine Honiglippen küssen, Johanaan, deine Nardenlippen, deinen Granatapfelmund –«

Johanaan taucht zurück in die Finsternis. Und 162 Finsternis stürzt her über die Verschmähte und Verdammte. Der Tod ist in ihrer Seele.

Und über allem, was jetzt geschieht, die Vernichtung. In allem, was sie tut und singt, das Verderben. In dem Tanz, in all seinen Lockungen, Werbungen, Träumen, Verzückungen, seinem Schmelzen, Taumeln und Blühen, der Tod und immer der Tod. Einmal ist es wie ein Klagen, ein Weinen, eine Wehmut. Was hätt' ich dir geben können – meinen jungfräulichen Leib und all seine Wonnen, all das Brennen meines Blutes, all das Schlürfen meiner ungeküßten Lippen, all die Bisse meines selig erstarrten Mundes –

Und jetzt erstarrt sie selbst und ist vereist, gnadenlos, unerbittlich, und ist das Schicksal, ist der Tod.

Und fordert, fordert – immer das eine, immer das eine. Denn nur das eine ist in ihrem Hirn und in ihrem entbluteten, entseelten Herzen.

Ihr Wille – der schleimige, sich windende Tetrarch entschlüpft ihrem Willen nicht. Ihr Wille ist in des Henkers Hand. Die reicht ihr das blutige Haupt.

Es ist vollbracht. Ein unerschöpfliches Atmen in ungeheurer Stille.

Die Lippen, die nicht mehr fluchen können und die nicht mehr segnen mit dem Lebenstrost ungewollter Liebe – nun gehören sie ihr! Des Geliebten Mund! Tot, aber ihr zu eigen. Jetzt kann ich dich küssen, wann ich will – geschlossen sind 163 deine bösen Augen. Hineinbeißen kann ich in dein kaltes Fleisch, du mein Geliebter!

Durch den erlöschenden Wahnsinn des Begehrens zittert es wie von der Verklärung eines Requiems – – –

Der Kunst gab Matilde sich gefangen, fraglos, rückhaltlos. Weil sie selber Kunst besaß und der Offenbarung Gnade. Was in Einzelheiten sie störte, verdroß, quälte, verletzte, sie warf es von sich und ging unbeirrt die große Linie mit dem, was groß war.

Hilmar war wesentlich kälter. Er schalt gelehrt und steif auf eine »glorifizierte Monomanie«. Und erklärte, daß ein Aufgequältes, bewußt noch über den Stoff Hinausgepeitschtes in der Musik ihm Pein bereite.

»Ich möchte die Valina einmal sprechen,« sagte Matilde hell, wie von einer Gemeinschaft gezogen.

»Ihre Stimme hat mich nur mäßig bewegt. Mit deiner doch einfach nicht zu vergleichen! Am besten gelangen ihr die tierischen Laute.«

Sie hörte hinweg über Lob und Tadel. Verschloß auch das Ohr vor all dem Banalen, das jetzt im Gange durch das Publikum schwirrte. Die Wissenden und Fühlenden schwiegen.

Ein schrilles Organ aber durchbrach doch ihren inneren Schutzwall. Aus langem glucksenden Hals einer geputzten Pute kamen die Quetschlaute: »Ich find es immer sehr pikant – wenn Ohlendiek dirigiert und die Valina singt. So ein geschiedenes 164 Paar – nich? Und müssen hier nun an einem Strange ziehen.«

Matilde war plötzlich aus ihrer Bahn geschleudert, und zornig sah sie dem Leben in das grinsende Gesicht.

Und wurde zugleich unmutig über sich selber. Wollte nicht auch durch sie selber so etwas hinprickeln von dem, was dieses Putenhirn in Schwingung setzte? Die Pikanterie: Maja Valina, die geschiedene Frau von Klaus Ohlendiek –

Sie dachte dumpf: ›Nun werd' ich die Sängerin schwerlich kennenlernen.‹ Um so reger aber und sehnsüchtig wanderten jetzt ihre Gedanken zu dem Kapellmeister. Diese Vorstellung war eine Tat gewesen, von ihm, Klaus Ohlendiek vollbracht. Inniger drang sie in sein Schaffen ein, feiner spürte sie dem Walten dieser Meisterhand nach. Ihr Verständnis wuchs an ihrer Hingabe.

Wie wundervoll hatte er auf die Salome als Herz des Ganzen alles Einzelne abgestimmt, wie hatte er auch all das Unzulängliche, das Widerstrebende der Umwelt zwingend in diesen Bann gezogen. Wie war das Schwache gewachsen, das Graue ausgeglüht, das Matte in Kraft gewandelt – und ein Ganzes war geworden von dämonischer Urgewalt – seines Geistes Werk.

Sie war selbst wie gehoben von dieser seiner Tat. Es war ihr, als hätte sie teil an ihr. Sie würde morgen mit Klaus Ohlendiek zusammensein, würde 165 ihm die Hand drücken, die gesegnete, würde ihr Herz ihm ausschütten.

Der Abend blieb die ganze Nacht in ihren Träumen.

* * *

Am nächsten Mittag gingen sie zu Ohlendieks.

Durch einen großen Park mußten sie, der am Flußbecken lag. Er gehörte zu der schloßartigen Villa, in der die Großeltern des Kapellmeisters gewohnt hatten. Nach dem Vermögensverfall der Familie war sie in die Hände eines entfernten Verwandten übergegangen. Frau Beate Ohlendiek, die Mutter von Klaus, war Eigentümerin des Gartenhauses geblieben, das dicht am Wasser stand und einen kleinen Bootshafen hatte.

Sie fanden Frau Beate allein, Klaus hatte noch im Theater zu tun. Eine zarte Frau, mit warmen, geistigen Augen, das weiße Haar kurzgeschnitten, von einer Anmut natürlicher Herzlichkeit, daß beide wie verzaubert stehen blieben.

Die ganze Kultur der alten Hansegeschlechter war in ihr, doch ohne das Verknöcherte und Manirierte selbstgefälliger Überlieferungen. Sie war nicht unmodern, sie war nicht modern, sie hatte einfach die Naturkraft weiblichen Empfindens und Verstehens.

So war sie auf den ersten Blick Siegerin über die Herzen. Und Matilde, die so früh ohne Mutter gewesen war, die sich dann nie an Frauensinn und 166 -güte hatte wärmen können, wurde wie beseligt von ihrer Nähe.

Der alte vornehme Hausrat umfing sie mit heimischer Innigkeit. Ein Vertrautes legte sich wie schützend um sie.

Erst strömte der Dank der Mutter über sie hin, für das, was sie ihrem Jungen in der Seenot getan hatten. Dann sprachen sie von der Salomeaufführung.

»Die Oper liegt Klaus nicht sehr,« sagte die alte Dame. »Sie müßten Fidelio von ihm hören. Sind Sie Sonntag noch hier?«

»Leider nicht.«

»Das ist schade. Da ist er ganz er selber. Die Salome hat er doch mehr aus zweiter Hand. Hier ist unsere Maja die Schöpferische und Gebende.«

Ich möchte hierbleiben und den Fidelio von ihm hören! – so durchströmte es Matilde. Und dann nahm ein Wort sie wieder gefangen: »unsere Maja« hatte Frau Ohlendiek von der Valina gesagt. Es waren also nicht alle Bande zerrissen. Eine freundschaftliche Scheidung offenbar?

Jetzt kam Klaus. Die Begrüßung freudig und von Herzen. Der Besuch brachte für ihn Seegeruch mit, er schnupperte ordentlich in die Luft.

Nach Koninghof fragte er, nach dem Lotsenkommandeur, nach Ohm Ekbert. Er sah nicht gut aus, um den Mund war ein müder Zug, schwer lagen die Lider. »Seefahrt tut mir mal wieder 167 not,« sagte er, und sein Atem hob sich. Von seiner Kunst zu sprechen vermied er.

War dies noch die Nachwirkung der Salome? Des Werkes, das ihm nicht ›lag‹. In dessen Tiefen er erst an der Hand der Maja eingedrungen war, seiner Frau, von der er sich – die sich von ihm geschieden hatte.

Matilde blickte zu ihm hinüber, fing in seinen dunklen Augen ein Schmerzliches auf, und es ging ihr durch den Sinn: er leidet an dieser Frau.

Und wieder ward der Wunsch in ihr lebendig: ich will von ihm den Fidelio mir erschließen lassen – das Werk, in dem sein eigenes ursprüngliches Fühlen beheimatet ist – will seine Kunst mit ihm leben, in der er selber das Heil findet.

Aber es blieb dabei, daß sie eher heimfuhren. Hilmar bestimmte. Auf dem Archäologenkongreß waren ihm ein paar neue Ideen gekommen. Er hatte auch Beziehungen angeknüpft – auf seine Art freilich, indem er durch selbstsichere und brüske Behauptungen mehr verblüffte als gewann. Jetzt sehnte er sich nach der Stille seines Schreibtisches.

Daß sie den Aufenthalt verlängerte, ohne ihn – einmal dachte sie ernstlich daran. Aber dann fand sie nicht die Wendung, es ihm zu sagen. Und erst verschwiegen behängte sich ihr Wunsch mit immer mehr Bedenken.

* * *

168 Sie reisten beide dann zusammen nach Hause. Hilmar war obenauf. Die eigene Redseligkeit ließ ihn Matildes Stille überhören. Und vor dem Ohm erst packte er gründlich aus. »Wenn die da draußen glauben, sie haben uns imponiert, dann sind sie doch sehr auf dem Holzweg. Zunächst der Kongreß. Da hab' ich verschiedenen Fachbonzen denn doch ein Licht aufstecken können. Und dann die Musik – wir haben die berühmte Valina gehört. Die Oper, die »Salome« – nun ja, eine unerhörte Artistik der Instrumentation. Aber kalt – um so kälter, je hitziger sie sich gebärdet. Feinste Maschinerie – aber wer Ohren hat zu hören, hört die Räder quietschen. Nichts im Grunde vom Pulsschlag des Blutes und Herzens. Und nun die Maja, die Valina. Darstellerisch verblüffend. Aber die Stimme – ich kann mir nicht helfen, sie blüht eben nicht. Und was das heißt, eine Stimme die blüht – wir hier wissen es, sollt' ich meinen!«

Er packte Matildes Hand. Sie ließ sie ihm widerwillig. »Du hast deine besonderen Maße, Hilmar. Voreingenommen bist du!«

Das brachte ihn in lebhafte Wallung. »Liebes Kind – Ohlendiek hat mir gesagt – als er damals vom Kantor kam – ›ich stelle Ihre Frau auf die Bühne, so wie sie ist!‹ Das bißchen Spiel – du lieber Gott! Auf die Stimme kommt es an. Und die Salome – ob deinem Wesen auch dieses Wüstentier völlig fremd ist – in deiner Stimme ist eben alles – in deiner Stimme ist auch Salome.« 169

Sie schüttelte den Kopf, stand auf und verließ das Zimmer. Sie hatte in der Wirtschaft zu tun.

In Hilmar ging die Erregung hoch. »Warum nun dieser Widerspruch!« schalt er zu Ekbert sich aus. »Sie fühlt es ja selbst! Und Herrgott – ist es nicht einfach unnatürlich, daß sie hier so herumhockt! Sie, die berufen ist wie keine!«

»Du rührst hier an etwas –«

»Allerdings rühr' ich. Ganz naturnotwendig geht in ihr selbst so etwas um. Ich habe nun mal teil daran! Und möchte mich nicht eines Tages von ihr mit einem Wunsche überraschen lassen, vor dem ich selbst den Kopf in den Sand gesteckt habe.«

Ekbert, aus Augen, die die letzte Zeit mit mancherlei Sorgen beschattet hatte, sah ihm ernst ins Gesicht. Und unumwunden warnte er: »Du mußt gerade hier deine Regsamkeit besonders überwachen –«

Hilmar hörte den Vorwurf und ward nur noch heftiger. »Gerade hier würde mit Schlafmützigkeit alles verdorben werden. Wenn etwas geschieht – muß ich meinerseits nun schon auf die Aktivität Anspruch erheben.«

Ekbert nahm kein Blatt mehr vor den Mund. »Und bist du dir klar darüber, wie weit dein eigener Ehrgeiz hier beteiligt ist?«

»Mein eigener Ehrgeiz?«

»Ja. Oder wenn wir es plumper ausdrücken 170 wollen: eine persönliche Eitelkeit. Möchtest du nicht glänzen mit dem Talent deiner Frau? Wie heißt doch der Vers im Gyges: ›Wer glaubt an Perlen in geschloßner Hand!‹«

Hilmar fuhr zurück, unruhig gingen die Augen, Zorn flammte, dann lachte er auf. »Nun Gott sei Dank hat man ja auch selber was in die Suppe zu brocken! Und läuft nicht Gefahr, Mann seiner Frau zu sein.« Er war mit seiner Arbeit vorwärtsgekommen und durfte sich fühlen. Gewann auch die Höhe sachlichen Standpunktes und sprach ruhiger: »Das eine ist doch klar, daß hier eine Kraft brachliegt, die nicht uns, nicht dem Hause, die der Menschheit gehört.«

»Diese Kraft gehört dem, der sie hat.«

Hilmar stieg höher und sprach von oben: »Ist hier nicht so etwas wie ein Gnadengut zu verwalten? Ein Anvertrautes ist hier, ein Göttliches, eine Mission. Es bleibt nun doch mal dabei: das Flügelroß ist vor den Pflug gespannt. Es weiß von seinen Flügeln, es fühlt sie. Du solltest dir doch das Wesen der Künstlerschaft, des Genies etwas mehr zu Gemüte führen. Daß sein Wesen Wirken ist – Wirkenwollen, Wirkenmüssen – –«

Er wurde sehr nachdenklich und holte Erlebtes aus schmerzlichen Tiefen. »Bist du nicht selbst Zeuge gewesen, wie stark das Künstlerische in ihr ist – so stark, daß selbst das Mütterliche nicht dagegen aufkommen konnte! Und wenn jetzt die 171 Natur von einer Wiederholung ganz offenbar nichts wissen will –«

»Dummes Zeug! Junge Menschen! Ihr werdet weiter fruchtbar sein und euch mehren!«

»Und wenn es – mit den andern Kindern wird wie mit dem ersten!« – Er starrte ins Dunkle.

»Herrgott, was tüftelt und kniebelt ihr Männer an euren Weibern herum! Die ganz was anderes von euch wollen. Und gerade Matilde – ich warne dich. Es kommt nichts Gutes dabei heraus.«

Die Arbeit rief ihn. Er ging schnell. Fast demonstrativ, wie vorhin Matilde.

Dieser schnelle Aufbruch erbitterte Hilmar. Dadurch bekamen die letzten Worte den Anstrich einer Order, die den Widerspruch ausschaltete.

Order – wer hatte ihm Order zu erteilen! Da er den Ohm auf dem Hofe gewähren ließ, durfte der seine Machtgelüste auch ins Haus tragen? Was hatte er sich in Dinge zu mischen, die ihn nichts angingen! Er, Hilmar König, dachte denn doch stark daran, seiner Ehe, seines Zusammenlebens mit Matilde selber und allein zu walten.

Er hatte den Fehler begangen, den Ohm überhaupt in diese Angelegenheit hineinzuziehen. Jetzt setzte der sich als Berater aufs hohe Pferd! Und gab Anweisungen –

Ja, Anweisungen! Wie war das doch von ihm? »Kniebel mir nicht an Matilde herum!« In dem eigenen kavalleristischen Jargon. Und von entsprechender geistiger Höhe. Die mit 172 Literaturkenntnis und Zitaten sich aufdrapierte: »Wer glaubt an Perlen in geschlossener Hand?«

Hier zuckte Hilmar nun doch leicht zusammen. Ruckte hier wahrhaftig etwas von schlechtem Gewissen? Wie war es ihm doch gewesen, als die Beifallsstürme um die Valina tosten! War es nicht in ihm aufgeblitzt: wenn dieses Meer der Begeisterung so Matildes Füße umbrandet hätte! Eine Art Neid – ganz gewiß – auf die Lorbeeren, die Matildes Kunst mit größerem Recht sich verdient haben würde!

Kein Prahlen und Prunken – ein Gerechtigkeitsgefühl!

Darf er helfen, darf er mitschuldig, nein, der einzig Schuldige sein, das, womit der ihm nächste und liebste Mensch begnadet und gekrönt ist, zu verstecken? Es zu begraben und einzusargen? Lebendiges, Leuchtendes, Weltbeglückendes –

Ein Rausch wogte ihm durchs Blut.

Und wieder pochte der Zorn in seinem Herzen. Kümmere dich um deine Wollschafzucht, Ohm Ekbert, um deine Elektoraljährlinge! Meine Lebensführung für mich. Ich kenne meines Lebens Ziele, wie des Lebens, das mit mir verbunden, das mir anvertraut ist. Und auf diese Ziele steuern wir zu. Das Steuer ist in meiner Hand.

* * *

173 Am nächsten Vormittag saß Matilde bei Vater Manuel. Sie erzählte ihm von ihren Theatereindrücken, kurz, gedrängt, in scharfen Umrissen, nicht eben liebevoll. Sie trug an einem Unbehagen, seit Hilmars Gedanken so ungezügelt in die Öffentlichkeit schweiften. Manuel aber nahm jedes ihrer Worte in die Hand, drehte es um, bespiegelte sich selbst in ihm. Seine Fragen holten immer mehr aus ihr heraus. Dann versank er auf eine Zeit willenlos, ungehemmt, ganz in das Zauberreich seiner Erinnerungen. Und sprach nun selbst, in berauschter, schwankender, stammelnder Rede.

»Du bringst es wieder zu mir – mein eigenes Leben – die du selbst es erlebt hast – in dir ist etwas davon geblieben – von dem Brausen und Rauschen – in deiner Künstlerseele – in deines Herzens Musik – und nun überströmt es mich, all das Alte, das Verschwundene und Vergessene – wie ein Katarakt bricht es in mich ein – was bin ich – nichts anderes als ein alter, lahmer, blinder Zirkusgaul, der von dem Klingelzeichen träumt – und wie quillt und steigt und springt die Flut in mir auf – der Klingelruf, ich hör' ihn immer wieder, wach und im Schlaf – wie versonnene Seefahrer die Glocken Vinetas – und das Versunkene hebt sich auf in alter Herrlichkeit – der Vorhang teilt sich – die Schranke fällt – die Bahn ist frei – wirken, werben, gewinnen, siegen, erobern – die Bühne selbst, wo du stehst, die ist ein Gefängnis, ein Gemeines – und eine 174 Folterkammer mit ihren Drähten und Maschinen – ein Sinnbild aller Qual der kalten Machenschaft, Veranstaltung, Berechnung – die Heimstätte der Unkunst, des Truges, des Scheines, des Surrogats – der Tummelplatz aller Niederträchtigkeiten – aller Schliche und Intrigen – da draußen aber, da vor dir, in andächtigen Reihen die Natur des empfänglichen Menschenherzens – ungehindert jetzt der Zugang – und nun wirfst du dich ihnen an die Brust – und sind unter den Hunderten nur zehn, ist nur eine Seele da, die sich dir auftut – so Herz an Herz reißen dürfen – so schenken können aus des Fühlens und Schaffens eigener überquellender Fülle –«

Er war hintenübergesunken, wirr flogen die Haarsträhnen, naß rann es ihm über die Backen, die Finger trommelten. Erschreckt sah Matilde ihn an, fortgetragen zugleich von der Macht seiner Bewegung. Mitten hinein in das Land der tausend Zauber und hunderttausend Schmerzen – daß ein Funke ins eigene Blut ihr fiel.

Mit einem Ruck aber brachte jetzt der Alte sein krankes Herz, das ihm so unbändig fortgaloppiert war, in andere Gangart.

Er packte seine Stirn. »Das sind so die Delirien von dem Fieber, das einem immer noch im Körper rumort. Das man nicht los wird. Du sollst dich davor hüten.« Er knurrte jetzt und war unwirsch. Und mit grämlicher Miene fragte er nach der Aufführung und ob Ohlendiek dirigiert habe. 175 Ihrem begeisterten Lob begegnete er mit Grunzen. Und wieder fraß der Neid an ihm mit Angst und Qual.

Er mäkelte dann beim Unterricht an ihrer Stimme. »Hat ihre Scharten gekriegt. Schon von der bloßen Berührung mit der großen Welt. Und dem großen Bühnenmann!«

Sie lachte. Und dann sang sie, daß er vor großäugigem Entzücken sich nicht lassen konnte.

Sie fühlte ihre Macht kaum je so wie heute. Und einen Machtwillen sah er, das erstemal, in ihrem Auge flammen. Daß er selbst in eisigem Schrecken erstarrte.

War es nun da, das, was sie hinaustreiben, hinauswerfen mußte, der Öffentlichkeit in die tödlichen Arme!

Er griff ihre Hand und hielt sie fest. Und sprach auf sie ein, leise, heiser, gramverstört – sprach von dem Gift, das die Welt jedem ins Blut impft, der sich ihr ergibt – dem schlimmsten aller Gifte, dem Ruhmgift – und wühlte herum in allen Verheerungen, die es anrichtet.

Sie lehnte sich erst zurück, mit Unbehagen und Überdruß. Dann aber, da er in seinen Fanatismus sich immer mehr hineingrub, gab sie ihm doch das Ohr. Und jetzt ging von dem Feueratem durch sie selbst eine berauschende Welle.

»Ist es nun gut, einem so davon zu predigen? Ist das nicht das alte bewährte Mittel, einem Lust zu machen auf das Böse?« 176

Da sie das Entsetzen sah in seinen jammervollen Augen, bog sie um. »Nun laß es gut sein, Vater Manuel. Wir in Koninghof gehen morgen an die Rübenernte. Glaubst du im Ernst, ich denk' daran, mich je mit Theaterplunder zu behängen?«

Die folgenden Tage war Matilde bis in die sinkende Nacht auf den Feldern. Die See hauchte einen Nebel aus, frostig und beißend, der in der Kehle sich festkrallte und bis ins Mark hineinschauerte.

Heiser, mit entzündetem Hals und leichtem Fieber kam sie nach Hause. Das erstemal, daß sie eigentlich krank war. Hilmar geriet außer sich.

Als es zur Besserung ging, wetterte sein Zorn sich aus. Dies hieße nun Gott versuchen! Ein Frevel wär' es, wie sie mit ihrer Stimme, dieser Himmelsgabe, umspränge. Hier müßte nun seine Fürsorge ganz rücksichtslos zugreifen.

Diese rauhe, angestrengte Feldarbeit bei dem wüsten Wetter – nie wieder dürfte sie sich so etwas zumuten!

»Aber ich hab' meine Freude daran. Und tu' was Nützliches.«

»Nützliches! Und dabei begehst du etwas, was schlimmer ist als Mord!«

Er sprach davon, daß überhaupt diese feuchtkalten Winter an der See ihr schaden müßten. Jetzt, wo ihr Hals gezeigt habe, daß auch ihm nichts Menschliches fremd sei!

In höchster Erregung blieb er, und seine 177 Selbständigkeit fackelte jetzt nicht lange. So setzte er sich hin und schrieb an Klaus Ohlendiek. In dem Briefe stand: »Meine Frau ist im Begriff, ihre Stimme abzumorden. Sie gibt als Gutsherrin nicht Ruhe beim schlimmsten Wetter, sündigt gegen ihre Gesundheit, und ihr Hals fängt denn auch an, kräftig gegen solche Mißhandlung zu rebellieren. Ich bin in bebender Sorge um eine Herrlichkeit, die uns hier beschieden ist – zu Ihnen darf ich so sprechen, denn Sie wissen von ihr und auch Ihnen liegt sie am Herzen. Es gibt nur eins, sie zu retten. Wir kommen doch überhaupt um das eine nicht herum: Klang braucht Widerhall, oder er stirbt. Hier ist das seelische Geheimnis – der innere Grund zu guter Letzt auch für Halserkrankungen. Ist der Acker im Winternebel ein Feld für die Kunst? Nach Ihrem Lichtmeer schaue ich aus von unserem hyperboreischen Gestade. Und so tue ich mich um nach Ihrem freundschaftlichen Beistand. Und ich frage Sie frei von der Leber: Wollen und können Sie die Stimme erlösen aus der kalten Düsternis und ihr die warme Helle des Wirkungskreises geben, ohne den sie verdirbt?«

Schnell kam die Antwort. »Ich habe gleich mit unserem Direktor gesprochen. Von dem Umfang, dem Glanz, dem Leben der Stimme. Sie wäre natürlich für uns wie ein Geschenk. Er bittet Ihre Frau, ihm vorzusingen. Über Tag und Stunde werden wir uns verständigen. Wie ich Ihnen sagte, ist die Stimme im wesentlichen bühnenfertig. Für 178 das Spiel würde noch dramatischer Unterricht nachhelfen müssen. Im übrigen hat ja für die Darstellung die Stimme selbst das meiste herzugeben.«

Hilmar sah sich in dem Schreiben vergeblich nach einem Ausdruck persönlicher Empfindung um, sei es der Überraschung, der Freude, der Besorgnis. Die Worte blieben im Bereiche kühler Sachlichkeit.

Aber sein Wille schritt weiter auf geradem Wege.

* * *

Noch am selben Abend sprach Hilmar mit Matilde.

Sie fiel nicht aus den Himmeln. Daß so etwas am Werke sei, hatte sie ahnen können. Aber ihr Zorn durfte jetzt sich regen.

»Da hast du ja wieder einmal den Herrn und Gebieter herauskehren dürfen!« Noch war ihrem Unwillen ein Lachen beigemischt. »Und über Bedenken bist du erhaben!«

»Kind, ich habe die Vorarbeiten gemacht. An denen man sich sonst zu Tode redet. Als dein Manager, der ich nun mal vor Gott und den Menschen bin. Die Entscheidung liegt natürlich ganz in deiner Hand. Und nun entscheide dich.«

»Du denkst also im Ernst daran, ich soll zur Bühne.« Sie sprach jetzt glatt das Wort aus, um das sie immer mit einem Widerstreben herumgegangen war. 179

»Natürlich denke ich daran. Du hast deinen Beruf. Und weil du den Beruf hast, darum hörst du den Ruf und denkst doch selbst daran! Gewiß, du bist noch mit allerhand anderen Dingen behängt, die du erst abtun mußt. Fort müssen sie. Sagen wir, du hast einen Sprung zu tun! Und dabei darf einem nichts zwischen die Füße kommen.«

Der Gedanke stieg in ihr auf: zwingt er nicht an sich selbst herum? Macht er sich nicht fest? Um ihr ein Opfer zu bringen? Denkt er nur an sie? Und gar nicht an sich selber?

Hier leuchtete nun doch in ihr ein stilles, halbwehes Schmunzeln. Nein, viellieber Hilmar, die Selbstentäußerung ist nun eben nicht deines Wesens Melodie.

Dann aber drängte und flutete wieder ihr ganzes Selbstgefühl empor. Ich bin ich. Und die Stimme ist mein. Und ist mein, ist mein nicht mein Leben?

Hier flackerte es nun grausam, beinahe schadenfroh und mit einer Art heimlicher Rachsucht: nicht ich, du Hilmar bist es, der jetzt das Steuer unserer Lebensfahrt umwirft! Und was jetzt geschieht, in deinem, nicht in meinem Willen hat es seinen Ursprung.

Sie wurde die feurigen Flocken vor den Augen nicht los. Und gab sich jäh einen Wasserguß. Dummes Zeug! In welchen Wirrwarr geraten wir hier! Ist dies alles nicht überhitzt und überspannt? Warum geb' ich ihm nicht einfach die einzig vernünftige Antwort: ›Laß dich nicht 180 auslachen, Hilmar! Die Bretter, die meine Welt bedeuten, sind die Boxen unserer Ställe!‹

Und aufs neue schüttelte sie ein plumper Zorn: Was treibst du mich so aus dem Hause, Hilmar!

Wenn ich doch ein Kind bekäme! Warum krieg' ich keins mehr! Ist es davon, daß sich schon eine Art Scheidung vollzogen hat – zwischen mir und ihm? –

Und wenn ich wieder eins hätte – würde es mit dem anders sein als mit dem ersten? Das schon nichts von der Mutter wissen wollte? In der damals noch nicht der Funke angefacht war. Aber daß er im stillen glomm, das hatte schon genügt, ihr das Kind zu entfremden. Wie würde es jetzt werden – da man nicht ruhte, den Funken anzublasen –

Ja, er war da! Er brannte in ihr! Jetzt wußte sie es. Und jetzt hatte sie auch den Willen, den Trotz und die Freude, ihn zu hegen!

»Zeig' mir den Brief von Ohlendiek,« bat sie. Sie las zweimal, was er von ihrer Stimme schrieb. »Das wäre natürlich für uns wie ein Geschenk.« Die Worte rieselten über sie her. Früher hätte solch ein Lob sie eher gestört, sie gequält und erbittert. Jetzt ging sie ihm nach, ein Trieb regte sich und eine Sehnsucht klang.

Wie sie auf Hilmar blickte, kam es ihr wie ein ahnendes Bedauern: Weißt du auch, was du anrichtest, du großer Junge! Er aber redete betriebsam auf sie ein: »Man merkt es, du gewöhnst 181 dich immer mehr an den Gedanken. Und nun wird es werden!«

Wie ein Junge, ja – so bestätigte sie sich. Wie ein Junge, der ein neues Spielzeug entdeckt hat, und nun nicht abwarten kann, es in Gang zu bringen.

Hilmar, du armer, lieber, dummer! Der du deines Besitztums erst froh wirst, wenn du es zeigen kannst. War nicht das Beste sein Geheimnis, war seine Seele nicht die Stille? Nun ist sie zerstört. Sie war es schon, da du mit deinem Wunsch und Willen an sie rührtest. Dem kann das nackte, harte, rohe Geschehen, das sich jetzt abrollt, nichts mehr hinzufügen so wenig wie etwas hinwegnehmen. Das Innerste, das Entscheidende ist getan. Die Tat ist da, und die Tat marschiert.

Matilde blickte nicht mehr nach rechts und links. Sie hatte jetzt die stolze Schnelligkeit des Handelns und das Selbstgefühl eigenen Waltens. Hier hätte nun Hilmar, da sich alles fast heftig vollzog, mehr Weichheit bei ihr sich gewünscht, mehr Gefühl des Abschiednehmens. Aber sie selbst legte jeder Zärtlichkeit, wo sie bei einem von ihnen sich rühren wollte, den Zaum an.

Gerüstet kam sie auch zu Vater Manuel. Sie sprach laut und gab sich burschikos.

»Der Teufel ist so oft an die Wand gemalt – auch von dir. Nun holt er mich eben.«

Manuel, ganz betäubt, glotzte ins Leere. Dann in einem Zittern der Glieder wachte er auf, aber 182 es war kaum noch ein Leben. Und er stotterte: »So gehst du mir nun ganz verloren – ich hatte ja nicht mehr viel von dir – und doch noch – ja, ja – unendlich viel! Und das alles wird mir jetzt genommen.«

Es war, als richtete er an seinem Schmerz sich auf. Und er fand zu Vorwürfen die Kraft. »Und das wird ohne mich beschlossen. Und ohne mich getan.«

»Ich hab' keine Zeit mehr zu verlieren, lieber Vater Manuel.« Sie hielt auf Munterkeit des Tones. »Fast bin ich schon zu alt für dieses Salto mortale. Und morgen bin ich noch älter.«

Sie sah, wie hilflos er war und wie er ganz erlöschen wollte. Sie nahm seine Hand. »Vater Manuel – du sprachst davon, daß ich dir ganz verloren gehe. Sie sagen alle, ich kann etwas. Durch wen kann ich es? Durch dich. Und wenn ich da draußen etwas leiste und werde – mit meinem Namen ist deiner verbunden. Verstoßen und vergessen bist du erst, wenn man mich nicht gelten läßt. Du sitzest mit in meinem Boot!«

Von jungem Wagen klang es längst in ihrem Blut. Das war der Rhythmus, nach dem sie nun ins Leben schritt. Und der sie forttrug über alles, was jetzt noch nach ihr langte und griff.

Sein müdes Herz stolperte ihm selbst davon. Und sein Atem fieberte. Tränen glänzten. Und nun, mit unruhig tastenden Händen, geriet er selbst in eine fürsorglich ängstliche Betriebsamkeit. Auch 183 über seinen Namen galt es zu wachen. Seine eigene Ehre, sein Ruhm stand auf dem Spiel.

»Weißt du,« sagte der mahnende Lehrer, »daß du in letzter Zeit einer Manier verfallen wolltest? Die mit dem Falsett Unfug treibt.« Er krächzte es ihr nach. »Darauf mußt du acht geben. Daß wir uns nicht blamieren.«

Nun lächelte sie bewegt. Und fiel ihm um den Hals und küßte ihn auf den Mund. »Morgen komm' ich Lebewohl sagen.« Damit stürmte sie zur Tür hinaus.

* * *

Hilmars eigene Arbeit war gerade in der Bewegtheit dieser Tage kräftig gediehen. Er hatte sie zu einer Höhe geführt, von der er befriedigt Rückschau und Ausschau halten konnte. Er dachte an Matilde. Und dachte: ›Arm in Arm mit dir! – Ich bin ganz gewiß nicht der Mann im Schatten. Ich darf dich in die Sonne stellen. Denn auch mir gebührt ein Platz an ihr.‹

Und nun, ganz als der Führer, der er sich fühlte, traf er die Anordnungen für die Reise in die Stadt, wohin er sie begleiten wollte.

Hier aber stieß er auf Widerstand. Ruhig erklärte sie ihm: »Ich möchte mich nicht wie ein Kind auf die Schule bringen lassen. Ich muß mich nun schon selbst in die Hand nehmen. Gerade auf den Anfang kommt alles an. Auf die Selbständigkeit 184 bei den ersten Schritten. Ich will und muß sie allein tun.«

Hilmar blickte betroffen. Ein Jähes überraschte, störte, beunruhigte ihn. Gleich aber stauchte er sich zurecht. Nun ja, sie ist flügge geworden. Hast du nicht selbst ihr ihre Schwungkraft gezeigt? Und den Weltenraum, den sie braucht?

Vielleicht ist es gut so, daß sie allein das neue Land betritt. O, sie wird sich schon verlassen fühlen, wird schon nach Rat und Hilfe sich umsehen. Bald genug. Dann wird sie nach deiner Hand sich sehnen. Und sie doppelt segnen. Darum sie ruhig gewähren lassen! –

Ohm Ekbert war zwei Tage in der Kreisstadt gewesen. Nur kleine geschäftliche Erfolge brachte er heim. Er war unzufrieden und gebeugt.

Seine Mühen und Sorgen hatten ihn die Erörterungen über Matildes »Ausflug in die Kunst« – mehr Bedeutung sollte und sollte bei ihm dieser abenteuerliche Plan nicht beanspruchen – so gut wie vergessen lassen. Jetzt sprang ihm die Entscheidung ins Gesicht, und nun verging ihm doch Hören und Sehen.

Die Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte, wuchsen. Warum hatte er sich immer gehütet – mit Hilmar war nicht zu reden – Matilde an seinen schweren Besorgnissen teilnehmen zu lassen? Nun ja, er hatte ihr fröhliches Schaffen nicht trüben wollen. Und schließlich war aus ihrer lachenden Frische ihm selbst immer wieder Mut 185 zugeströmt. Viel mehr noch als ihre Hand hatte ihr Herz ihm geholfen.

Jetzt sah er alles grau in grau.

Aber der Königsche Stolz saß auch ihm im Nacken. Jammern gab es für ihn nicht. Und gekämpft würde bis zum letzten Herzschlag. Würde er allein gelassen auf seinem Posten – gut, so hielt er ihn eben allein – und erst recht allein, solange der Atem reichte.

Er hätte mit Matilde nicht über ihre Fahrt in die Welt gesprochen. Nun kam sie zu ihm.

»Ja, Ohm – jetzt besteht die Stimme doch auf ihrem Schein. Aber meine Heimstätte wirst du mir offen halten.«

Starr blickte sie geradeaus. Er sah es, sie zwang aufsteigende Rührung nieder.

»Ich brauche ja auch nicht so gewaltig Lebewohl zu sagen,« fuhr sie stockend fort. »Ich gehe ja nicht aus der Welt. Und zur Frühjahrsbestellung finde ich bestimmt mich ein.«

Sie ließ dann das große Abschiedsgefühl geflissentlich in Alltäglichkeiten zerflattern, die sich wichtig gaben. Von ihrem Geflügelhof sprach sie ruhig. Daß die neuen patentierten Legekörbe nichts taugten. Auch hätte sich für dieses Klima die Kreuzung der Italiener mit den Minorcas nicht bewährt, man sollte doch wieder mehr auf das alte gute Landhuhn zurückgreifen.

So schlug denn auch Ekbert vor dem Auseinandergehen nicht den vollen Akkord an. 186

Und vollends ihre Trennung vom Vater war mit Gefühlen nicht belastet. »Ihr werdet euch ja über alles klar geworden sein, liebes Kind. Im übrigen geschieht ja nichts, was sich nicht ändern und wieder gutmachen ließe.«

Beruhigt war er gleich wieder bei seinen Experimenten. Temperaturmessungen bei den Kaltblütern beschäftigten ihn. Über den Winterschlaf der Fische hatte er neue Beobachtungen gemacht, über die Herzschläge der Erstarrten, über Vergiftungen der Wiederaufgetauten durch schmelzenden Zellsaft.

Matilde mußte fein stillhalten, und mit einem versonnenen Lächeln nahm sie die Wissenschaft als Trösterin hin.

Und als dann die Abschiedsstunde schlug, begab sich Matilde aus dem Hause fast wie zu einer Vergnügungsreise.

Hilmar brachte sie zur Bahn, bei strömendem Regen, in geschlossenem Wagen. Auch zwischen ihnen wurde nichts Schweres mehr gewälzt.

Ein paarmal wartete sie allen Ernstes darauf, daß er sagen sollte: Was für einen Blödsinn stellen wir hier an! Sind wir verrückt geworden? Nach Hause! Nach Hause! Und gleich wieder dünkte es ihr Entwürdigung, daß auf solche Weise eine Laune ihr Spiel mit ihnen treiben sollte.

Schon aber war Hilmar in der Zukunft. Er baute und baute. »In diesem Monat noch bin ich mit meinem Werk so weit, daß eine Habilitationsschrift herausspringt. Ich gehe nach Berlin. 187 Beziehungen sind da. Ich werde sie jetzt energisch ausnutzen. Berlin ist natürlich das einzige. Schon deshalb, weil dich auch der Weg dahin führen wird, nach deinen unzweifelhaften Erfolgen. Da haben wir dann unser Nest. Und Koninghof ist unsere Sommerfreude.«

Sie blickte nicht eben gläubig in seine Träume. Und immer wieder wehte ein Fremdes sie an, das über das Herz ihr schauerte.

Alle Erinnerungen rief sie herbei, alles, was an Liebeskraft in ihr wirkte, daß sie die Innigkeit für Hilmar nicht verlöre. Und wieder aus so gesammelter Empfindung warf sie sich mit einer harten Freude an dem Dunklen, Drohenden, Schmerzensreichen, das sie vor sich sah, in die neue Lebensbahn. Die sie durchschreiten wollte, stolz, ehrlich, treu, wie sehr auch die Dornen ihr die Füße zerfleischen würden!

Sie hatte nicht Hilmars Gabe, auf goldenen Illusionen durch die Luft zu fliegen. Aber dafür stärkte sie jetzt der herbe Wirklichkeitssinn. Und an dem Schweren, das sie trug, stählte sich ihr Wille.

»Bald, sehr bald seh' ich mich nach dir um!« sagte er zum Abschied.

Sie wollte ihm erwidern: Du sollst nicht eher kommen, ehe ich etwas vor mich gebracht habe. Jetzt wird erst einmal gearbeitet, daß die Schwarte knackt! Aber dann legte es sich mit der Trennung 188 plötzlich dunkel und weich über sie, und sie schwieg in seiner Umarmung, weil sie der Worte nicht mehr ganz mächtig und unbedingt sicher war.

* * *

Und das Dunkle wich während der Bahnfahrt nicht von ihr. Die Welt troff von Nässe und Nebelgrau. Ihre Reisegesellschaft war nicht störend und beschäftigte sie auch nicht. Allein war sie mit sich selber, sie las, blickte in die grämliche Landschaft und dämmerte vor sich hin.

Ein paarmal noch kam sie sich vor wie einer, der plötzlich auf den Kopf gestellt ist und nun auf den Händen spazieren soll. Um erst allmählich seiner richtigen Gehwerkzeuge sich bewußt zu werden und darauf den Kopf, der nun auch wieder den rechten Platz hat, bedenklich zu schütteln.

Damit aber war nun das letzte von rückblickender und rückständiger Verwunderung von ihr abgetan. Und ihre Gedanken, nicht weiter angefochten, strebten ihr voraus zu ihrem Ziel.

Auf dem Bahnhof nahm Klaus Ohlendiek sie in Empfang, der seinen freien Abend hatte. Er stak wie je in seiner schweren Gelassenheit, der erste herzliche Gruß der mächtigen, langsam wuchtenden Augen war wieder in die Tiefe gesunken.

Jetzt gab er seine ruhigen, unwiderruflichen Anordnungen. Davon, daß sie ins Hotel gehe, könne 189 keine Rede sein. Natürlich wohne sie zunächst einmal bei seiner Mutter. Und sie würde dableiben, solange es ihr gefalle.

Mit offenen Armen nahm Frau Ohlendiek die junge Freundin auf. Gleich der erste Abend wandelte die Fremde in heimisches Land.

Von Matildes Unternehmen wurde kaum gesprochen. Jedenfalls begegnete es keiner Neugierde und Nachforschung und die aufgerissenen Augen blieben ihm ebenso erspart, wie die ermunternden Ratschläge.

Kunst war hier nun einmal eine Selbstverständlichkeit. Wer wirklich Kunst besitzt, hat auch wirklich Kunst zu üben. Schon um in die Phalanx einzutreten gegen die, die sie üben, ohne sie zu besitzen.

Am anderen Vormittag sollte der Besuch beim Direktor sein.

Generalgewaltiger der Oper war Intendant Gabriel Rabener. Alt, hart, vertrocknet und verrunzelt. Hatte eine Falkennase in dem Faltengesicht und scharfe, herrschende Augen. Die Gestalt klein und gewichtlos wie von einem alten Jockei. Wie ein Jockei finishte er auch mit Armen, Rücken und Beinen, wenn ihn etwas bewegte. Und es gab etwas, Gott sei Dank, was ihn wirklich und innerlich bewegen konnte. Er gehörte zu den wenigen Direktoren, die nicht bloß vom Theater, die auch von Kunst was verstehen und der Kunst ergeben sind.

Matilde mit Klaus, ihrem Weggenossen, stand 190 vor dem Opernhaus. Es lag eingebaut, die Fassade kam nicht zur Geltung. Was im Grunde nur gut für sie war, denn es fehlte ihr alle Phantasie, sie war kühl und karg, geschäftlich mürrisch beinahe. Der graue Tag gab dem Haus noch mehr Grämliches. Unmöglich zu denken, daß in ihm sowas wie der Glut- und Blutrausch der Salome sich austobte. Die neuen Bankgebäude in der Umgebung waren viel mehr Kunsttempel als diese geweihte Stätte.

Und nun erst das Hinterhaus mit seinen Betontreppen und den eisernen Geländern. Wie eine Fabrik! so zwang es an Matildes Herz. Und ihre Seele flog über Feld, Wald und Heide zu den Dünen, an die See.

Sie brauchten nicht lange zu warten, bis sie zum Intendanten gerufen wurden.

Ein nach den dunklen und matt beleuchteten Gängen und Vorzimmern überraschend heller Raum mit großen Fenstern, doch kahl und schmucklos. Nur ein paar Bilder an den Wänden, ein großer Schreibtisch, ein Flügel.

Rabener erhob sich, warf ihnen aus dem Handgelenk einen Gruß zu, bat sie Platz zu nehmen, setzte sich wieder. Er zeigte sich damit sehr freundlich für seine Verhältnisse, auf Ohlendiek hielt er große Stücke, so hatte Matilde gleich einen Stein bei ihm im Brett. Durch seine Sprache erhöhte er allerdings nicht seinen äußeren Reiz. Er war aus Magdeburg und berlinerte mehr heftig als 191 echt. Aber in dem, was er sagte, war die Herrschaft, die Zügelführung, der Wille.

Viel Zeit hatte er nicht. »Dann wollen wir also. Erst singen Se, was Sie mögen – nu denn, was ich mag. Braucht nischt vom Theater zu sein. Lied ist mir eben so lieb. Aber janz, wie Sie wollen. Irgend 'n Soloscherz. Bloß keenen Liebestod. Lassen Se nich das Allzulängliche hier Ereignis werden.«

Seine Hemdsärmeligkeit verdroß Matilde nun doch ein wenig. Aber sie fand dann gleich zu sich selbst zurück. Möglich, daß seine saloppe Art ihr sogar das letzte von ihrer Scheu, sich zu zeigen, und ihrer Befangenheit genommen hatte. Ihre Sprödheit löste sich.

Ohlendiek kannte die Eigentümlichkeit des Alten, der am liebsten aus einem Lied seine Eindrücke von einer neuen Stimme gewann. Er hatte den »Nachtzauber« von Wolf: »Hörst du nicht die Quellen gehen« ausgesucht.

Matilde warf die letzte von allen Hemmungen zurück und ging auf in das, was sie sang. Rabener hörte zu, skeptisch erst und kühl, dann erwärmte er sich, dann war er gewonnen, nach dem Schluß zu finishte er und ging als Sieger durchs Ziel, ob solcher Entdeckung mit dranhängender Erwerbung.

Als die beiden geendet hatten, saß er ruhig. Klaus hatte noch gesehen, daß die Augen des Gewalthabers, ehe er die Amts- und Geschäftsmiene aufsetzte, groß waren und glänzten. 192

Matilde blickte dem Richter sehr gleichmütig ins Gesicht. Das mochte dem Gebietenden gegen seine Hoheit gehen, er hielt die Tortur einer Ungewißheit für angebracht und fragte die unverfrorene Novize in lässigstem Jargon: »Na, wat denken Sie sich nu?«

Sie entfernte sich nicht allzuweit aus seiner sprachlichen Sphäre und gab zur Antwort: »Ich denke: wenn nicht, na denn nicht!«

Das war immerhin neu und entwaffnete ihn einigermaßen. Er lächelte jetzt und ging gleich mit seinem Urteil mitten in die Dinge. »Oben ist die Stimme noch nicht ganz ausgeglichen. Aber das wird. Denn sie hat Leben, Frische, Gesundheit. Und ist unverbildet. Nicht von einer Methode in die andere gequält. Daß einem selbst die Puste dabei wegbleibt.«

Er nahm den Fernsprecher. »Wann ist die Bühne frei? Gut. Ich brauche sie 'ne Viertelstunde für mich. Probesingen. Also sofort.«

»Ich möchte Sie gleich noch einmal im Hause hören,« wandte er sich an Matilde. »Haben Sie was Opernhaftes von Mozart auf der Walze?«

Sie sagte, daß sie sich getraue, aus dem Figaro die Arie der Gräfin: »Hör' mein Flehn, o Gott der Liebe« zu singen.

Die Herren geleiteten sie auf die Bühne. Der Direktor ging ins Parkett. Ohlendiek setzte sich an den herbeigerollten Flügel. Und sie sang. 193 Rabener nickte, und wieder waren seine Augen groß und glanzvoll. Er dankte und ging wieder hinaus.

»So, meine jnädige Frau,« sagte er, »nun bitte ich Sie, mir meinen Kapellmeister einen Augenblick zu überlassen. Wenn Sie im Konversationszimmer auf ihn warten wollen?«

Em Bühnenarbeiter führte sie dahin. Gabriels Augen gaben ihr das Geleit, jetzt mit dem unverhohlenen Wohlgefallen des alten Frauenkenners von Beruf. Aber mehr wehmütig als begehrlich strichen sie um diese leuchtende Jugend. Wenn sie die Linien der schlanken, mädchenhaften Hüften nachzogen, geschah das nur noch aus Macht der Gewohnheit – der einzigen Macht, wie er lächelnd sich bestätigte, die ihm hier noch geblieben und mit der hier nichts getan war. Und nur flüchtig zog durch das Zärtlichkeitsmuseum seines alten Herzens der Gedanke: es sah doch erfreulicher beim Theater aus, als man zwanzig Jahre jünger und nicht zuckerkrank war. Vier Dezennien Bühnenlebens lagen hinter ihm.

»Die Stimme ist glorreich,« sagte der Direktor zu Klaus. »Der Übergang in den Kopfton noch nicht einwandfrei. Aber das kommt. Herrgott, was hat die Stimme für Bildkraft, Plastik, Darstellung, ganz aus sich selbst. Für die Bühne das Gegebene. Ja – sie soll die ›Agathe‹ singen – Anfang nächsten Monats. Glauben Se, daß Sie sie dann so weit haben?« 194

»Das glaub' ich.«

»Ich verspreche mir was davon. Und ich freu' mich, daß wir so vielleicht einen Gegenpol gegen unsere hochgeschätzte Maja bekommen. Ihre Machtgelüste fangen mich zu piesacken an – mehr als ich vertrage.«

Klaus Ohlendiek zuckte bei dieser Erwähnung leicht zusammen und seine Lider bebten. Gabriel sah es, verstand es und blickte darüber hinweg. Hier ging es nun mal um Amtliches, Dienstliches, Geschäftliches – da hatten »Sentiments« draußen zu bleiben.

Matilde war allein in dem Konversationszimmer. Sie besah sich die Bilder an der Wand. Da war auch Maja Valina – als Carmen. Zu denken, daß sie selbst jetzt auch in solchen Aufzügen für Geld sich zeigen sollte! Wie kam sie eigentlich dazu? Was wollte und sollte sie hier?

Immer wieder wurde ihr zumute, als sei sie durch irgendwelche nie geahnten und von ihr ganz gewiß unverschuldeten kosmischen Vorgänge auf einen anderen Stern geschleudert worden, wo nie gesehene Geschöpfe sie in ihren Kreis zogen, sie überrumpelten und nicht mehr herausließen aus ihrem Reigen.

Dann wieder, von dem ganzen großen Mechanismus dieser Bühnenwelt eingezwängt und bezwungen, kam sie wie ein Automat, wie eine Schreipuppe sich vor, bei der Klaus Ohlendiek als der Meister auf den Knopf drückte, worauf sie 195 dann mit ehrlicher Willenlosigkeit ihren Kantus ableierte –

Sie setzte sich müde und gedankenlos an den Tisch. Da lag eine Zeitung. Sie las dumpf und stieß auf den Wetterbericht. Eine Kältewelle war im Anzug, Frost drohte. Da lebte sie auf. Ob sie jetzt in Koninghof die Futterrüben heraus hatten? Es war da noch ein Schlag nach dem Erlenbruch zu, mit dem sie nicht fertig geworden –

Jetzt kam Klaus Ohlendiek. »Sie sollen die ›Agathe‹ singen. Meinen Glückwunsch!«

In ihr schrie es auf: ›Nein! Ich will nicht!‹ Ausbrechen wollte sie, alles hinwerfen und nach Hause.

Da sah sie den Ernst, den Fleiß, die Hingabe an das Werk und die Freude, mit ihr zu schaffen, in seinem strengen und guten Gesicht.

Jetzt schämte sie sich. ›Treib' ich hier Windbeuteleien? Er ist wahrlich der letzte, mit dem man Flausen macht.‹ Ihr künstlerischer Sinn behielt das Feld. Schaffen war die Losung. Klar, fest, zielsicher besprach sie mit dem Berater, dem Führer und Freund, was für ihre dramatische Ausbildung nottat und sofort betrieben werden mußte.

* * *

Matildes dramatischer Schulung nahm Klaus zuliebe der Korrepetitor Job Lobedanz sich an, der 196 solchen Unterricht nur in besonderen Fällen erteilte und ein geradezu genialer Lehrer war. Selbst von hervorragendem schauspielerischen Können, durchaus auf der Höhe moderner Entwicklung, ein Feind von Schemen und Systemen, alles aus dem Persönlichen herausholend, auch als Regisseur ein Mann von größerem Ausmaß, von Ideen, von Inspirationen und von Rhythmus. Er würde es weiter gebracht haben, hätte er nicht beim Sprechen angestoßen – im Singen ging alles wie geschmiert. So daß er die alte Geschichte von dem stotternden Lehrjungen wahrmachte, der mit der Meldung, daß der Spiritus im Keller brenne, erst singend fertig wurde. Er war klein, kugelrund, von größter Beweglichkeit und hinreißendem Feuer. Matilde würde sich mit ihm angefreundet haben, hätte er nicht soviel Bier getrunken und weniger geschwitzt.

Klaus Ohlendiek, der ein Freund des von der Pike auf Dienen war, hatte zu Anfang daran gedacht, Matilde im Chor mitsingen zu lassen. Job Lobedanz war dem entgegengetreten. »Man soll einen Singschwan nicht auf den Hühnerhof sperren. Wenn irgendwo, schafft sich hier der Inhalt die Form, der Geist sich die Technik.« Mehr als Klaus, der immer behutsam sich hielt, war er begeistert von diesem naiv Schaffenden und Schöpferischen in Matildes Stimme und ihrer Art zu singen.

Von der Geistigkeit der Musik war sie im Ohlendiekschen Hause umweht. Sie wohnte nicht 197 mehr da, in der Nachbarschaft hatte sie zwei eigene Zimmer genommen; Selbständigkeit war das, was sie vor allem brauchte. Aber fast täglich war sie mit Frau Beate zusammen.

Der Kreis des Hauses war nur klein. Sein regster Geist ein junger Komponist, Kaufmannssohn, selbst auf den Kantorstuhl gebannt, aber eben deshalb von drängender künstlerischer Vitalität. Dirk Diekhoff, mit Kinderaugen und struppigem, blondem Haarhelm.

Die Vorbereitung zum »Freischütz«, der in neuer Ausstattung herausgebracht werden sollte, wälzte wieder das Problem Weber–Wagner durch die Seelen. Nicht hier allein bestand zwischen dem ersten Kapellmeister, Generalmusikdirektor Erwin Friedland, und dem zweiten, Klaus Ohlendiek, ein unverhohlener Gegensatz.

Friedland galt als Wagner-Dirigent schlechthin. Er dirigierte ihn freilich – so wenigstens behauptete Dirk – ganz ebenso wie er Meyerbeer hinpinselte. Was der »Leipziger Teutone« – dem jungen Mundwerk mußte man schon etzliches zugute halten – immerhin nicht verdiene.

Klaus dämpfte die Unbescheidenheit der jungen Streitlust.

»Daß das Jüngere nicht denkbar ist ohne das Ältere – gerade ihr Jungen solltet euch das immer und überall und am meisten bei euch selbst zu Gemüte führen.«

»Ja – aber – daß Wagner nun durchaus alle 198 Ehren der größten Größe zufallen sollen! Und wenn er sich selbst nicht mit den fremden Federn schmücken wollte!« Hier war der Zorn eines Wahrheitsfanatikers. »Das große Rad, das er mit seinem Gesamtkunstwerk schlägt – auch seine ganze pompöse Kunstphilosophie lebt von Webers Gnaden!«

Dirk hatte die Biographie Webers zur Hand und las von der Oper, die der Deutsche will: »Ein in sich abgeschlossenes Kunstwerk, wo alle Teile und Beiträge der verwandten und benutzten Künste ineinanderschmelzend verschwinden und auf gewisse Weise untergehend eine neue Welt bilden.« Wagners großmächtiges Kunstwerk der Zukunft sei also nichts als ein nachempfundenes oder nachgedachtes Kunstwerk der Vergangenheit von Webers Gnaden.

Matildes große, strahlende Augen, die dem Gespräch gefesselt zuhörte und als ›Agathe‹ sich stark beteiligt fühlte, befeuerten Dirks, des beredten, Kampfesfreude. Klaus begnügte sich damit, auf alle Ausschreitungen des Jünglings sein kräftiges Knurren zu setzen.

»Und dann das mit den Leitmotiven. Weber hat ›Hauptklänge‹, wie er sie nennt. Die ganz dasselbe sind. Oder auch Farben. So spricht er von einer ›Jägerfarbe‹. Aber wie zart wendet er diese Erinnerungsklänge an. Wie protzen sie dagegen bei Wagner. Der größer zu sein glaubt, wenn er größeren Schall vollführt. Der Umfang mit Tiefe verwechselt. Ihm rauscht eben nicht der deutsche 199 Waldquell. Dafür brüllt er die Wolken an und schreit sich trunken in einen Götter- und Heldenhimmel hinauf. Und wir haben die Bescherung, von der Weber schaudernd und ahnungsvoll spricht: ›Überbietung der Mittel ist der erste Schritt, der zurück ins Chaos führt –‹«

Beates milde Fröhlichkeit ließ ihn nun doch sein Streitroß zügeln. Er strich sich über die knisternde Bürste. »Sie lachen mich aus, weil ich – alte Kamellen aufwärme –«

»Eher, mein Junge,« sagte sie gütig, »weil Sie selbst nichts anderes tun als – die Mittel überbieten.«

»Ich kann mir nicht helfen,« sagte er knorrig und trotzig, »hier heißt es jetzt Farbe bekennen. Die Neueinstudierung des ›Freischütz‹ wird bei uns den ganzen Wagnerheerbann mobil machen. Er ist es ja immer, der anfängt. Die Friedland-Clique wird bei jeder Weberaufführung ungebärdig. Sie weiß warum. Nur gut, daß unser alter Gabriel, dieser Engel von Erz, sich nicht beirren läßt.«

Die Herren gingen zum Symphoniekonzert der Theaterkapelle, das Friedland leitete. Matilde blieb bei Frau Ohlendiek. Sie war müde, auch hatte sie zu dem Generalmusikdirektor keine innere Fühlung gewonnen.

Beate, die gütige, nahm den Angefeindeten in Schutz. »Nun ja, man muß neuerdings erst bei ihm durch ein gewisses Parfüm hindurch. Aber er hat im Grunde doch seine Ursprünglichkeit. So 200 haben wir neulich Bruckner von ihm gehört – alle Achtung. Auch Klaus stimmte restlos zu.«

Matilde ging dem nach, was Dirk von einer Friedland-Clique geredet hatte. Hier war etwas Dunkles, das sie nicht etwa beunruhigte oder gar mit Besorgnis erfüllte, dem sie aber gern, da es nun einmal an ihrem Wege lag, auf den Grund gesehen hätte.

»Ja, mein liebes Kind – Cliquen sind mit Vorliebe da, in der Politik, in der Kunst, im Theaterleben, wo ein Gott oder ein Götze nicht mehr unbedingt fest auf den Füßen steht. Erwin Friedland war einmal der Musikgott in unserer Stadt. Nun hat die Jugend doch kräftig Sturm gelaufen. Und dann – er ist leider mit seinen Kampfmitteln nicht sehr wählerisch – hat er in einigen schweren Konflikten den kürzeren gezogen. Da war eine Geschichte mit Maja Valina – aber ich will Ihnen das Theater nicht verleiden. Und Sie sollen daran festhalten, es gibt hier nicht mehr Intrigen und Kabalen, als in jedem anderen Betriebe auch. Allerdings liegt es in der Natur der Sache, daß sie phantasievoller, farbiger, hitziger und gleißender und vielleicht auch giftiger sind.«

Die Erwähnung von Maja blieb bei Matilde haften. »Ich habe nun doch Frau Valina – ihre Salome ist mir unvergeßlich – ich hab' sie bisher nicht kennengelernt. Sie ist immer noch in Wien auf Gastspiel –«

»Ja. Sie möchte fort von hier. Von einem 201 Engagement hört man aber noch nichts. Ich würde es ihr wünschen. Ihr – und uns auch.« In der klaren Stirn dunkelten ein paar Falten. »Ja – Maja ist nun auch ein Kapitel für sich.« Sie brach ab. »Aber jetzt will ich von Ihnen hören. Was macht ›Agathe‹?«

»Am Klavier geht es. Nur mit dem Sprechgesang und seiner Auflösung bin ich noch gar nicht zufrieden.«

»Und das Spiel?«

»Glücklicherweise hat Herr Lobedanz den mir sehr gelegenen Grundsatz: die Stimme spielt, Wort und Ton sind es, die gestalten – Mienen und Glieder begleiten diskret. Mit Steifheit und Unbeweglichkeit kann ich einigermaßen aufwarten. Er wünscht aber geradezu, daß ich von der Sorte Darsteller absteche, für die Zappeln und Grimassenschneiden nun mal zur Musik gehört. Freilich, ob ich damit vor dem Herrn Oberspielleiter Battoni Gnade finden werde?«

»Lassen Sie sich nicht von Job Lobedanz graulich machen. Die beiden können sich nicht leiden.«

»Nun, wir werden ja sehen. Morgen ist die erste Bühnenprobe. Vor dem Orchester würde ich mich ja mörderisch ängstigen – wenn Herr Ohlendiek nicht dirigierte.«

* * *

202 Erste Bühnenprobe für »Freischütz«. Matilde lernte die Mitwirkenden kennen. Es war ein gepflegter Umgangston am Theater. All die üblen Gewohnheiten und Instinkte, Neugierde, Klatsch, Neid, Niedertracht wahrten durchaus die Form, wodurch sie im Wesenhaften nicht gemindert, wohl aber gemildert wurden in ihren Äußerungen. So daß Matilde, die Ahnungslose, vorläufig kaum was von ihnen verspürte.

Herr Oberregisseur Battoni – er wollte, wenn auch in Zara geboren, von dem berühmten römischen Maler abstammen – mittelgroß, schlank, lebendig, mit schneeweißem Haar und tintenschwarzen, buschigen Brauen über den dunklen stechenden Südländeraugen, nahm sich wohlwollend ihres Novizentumes an.

Man merkte auf den ersten Blick, daß er sein Handwerk verstand. Er wußte, was er wollte. Seine Anordnungen hatten Hand und Fuß. Matilde bekam unter seiner Führung gleich ein Gefühl der Sicherheit und war ihm dankbar dafür.

Allerdings – die Webersche Romantik blieb ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Was weiß er vom deutschen Wald, was weiß er von dem liederreichen Herz des deutschen Volkes – so sagte Job. Für den Geist muß unser Klaus nun schon sorgen, und er tut es aufs beste. Dafür wird der Dalmatiner aus seinem Karstgebirge sich die nötigen Teufelsfratzen für die Wolfsschlucht holen. Und 203 die ist ja das, was für seine ganze Regie ihm zuerst am Herzen liegt.

In der Tat arbeitete Battoni von Anfang an ganz vorwiegend mit dem technischen Personal – die Darsteller konnten es ertragen.

Matilde blickte gefesselt in die gewaltige Maschinerie des Bühnengetriebes, in das Geäder, den Blutstrom, das Nervengeflecht des ganzen Organismus. Sie war sehr geneigt gewesen, sich selbst schlechthin als Mittelpunkt dieses Kosmos zu betrachten: der »Freischütz« war eben »Agathe« und »Agathe« war sie! Allmählich dämmerte es in ihr auf, wie sehr sie ein Teil des Ganzen war, ein Etwas, das mit zahllos vielen Kräften gemeinsam in dem Großen aufzugehen hatte. Die Demut und der Stolz zugleich des »ich dien'« ward ihr bewußt. Und ein starkes Pflichtgefühl wuchs in ihr empor, das sie immer mehr ihren Träumen entriß. Aus der Ferne und fremden Verzauberung, in der sie über die Dinge hingeschwebt war, ließ sie sich jetzt auf den harten, festen Boden herab.

Die Bühne wurde umgebaut. Man ging ins Konversationszimmer. Job – nachdem ihn der Orchesterdiener mit dem gebührlichen Glas Franziskaner getränkt hatte – führte Matilde hin. Sie sollte mehr Fühlung mit den Kollegen gewinnen.

Es wurde von Maja Valina gesprochen und ihrem Wiener Gastspiel. Am besten unterrichtet zeigte sich hier Alfred Zupitza, der den Kaspar gab. 204 Er hatte nichts von dem gewöhnlichen Baritongebäude, war sehr mager und sehr lang – weil er alle um Haupteslänge überragte und auch eine Zugkraft war, wurde sein Name in ›Zugspitze‹ umgekalauert. Obschon er für witzige Vertraulichkeiten kein geeignetes Objekt war. Er hatte etwas gepflegt Frostiges, war ganz Beobachtung, Überlegung und Zweckbewußtsein, in der Erscheinung der sehr elegante, sehr kluge, sehr weltkundige Jesuitenpater.

»Ich hab' die Wiener Zeitungen gelesen. Erst hellste Begeisterung. Die ›Salome‹ fanden sie phänomenal. Dann plötzlich ein Umschwung. Nun heißt es mit einem Male: undiszipliniert – unzuverlässig – launenhaft – herausfordernd, geradezu beleidigend für die Hörer. Wer weiß, was ihr da für eine Laus über die Leber gelaufen ist. Wir kennen diese Leber.«

Man nickte. Aber auf den Gesichtern war durchweg mehr Verständnis und Teilnahme als Bosheit und Schadenfreude.

»Da behalten wir sie also,« sagte der »Eremit«. Und keine Miene zeigte Unzufriedenheit. Matilde spürte, daß Maja in diesem Kreise kaum einen Feind besaß, und ihre Vorstellung wurde noch lebhafter beschäftigt.

»Den Gazetten zufolge wird ihr Gastspiel abgebrochen,« schloß Zupitza seine Auskunft. »Vielleicht ist sie schon unterwegs.«

›Und sie bleibt also hier –‹ dachte Matilde. Und dachte an das, was Frau Ohlendiek gesagt 205 hatte: ›Ich würde es ihr wünschen, daß sie nach Wien käme – ihr und uns auch!‹ Etwas schwer Bedeutungsvolles war in diesen Worten.

In einer Ecke wurde geflüstert. Und nun wanderten nach und nach aller Augen mit einem besonderen Ausdruck, den sie nicht begriff, zu ihr hinüber.

Bis Alfred Zupitza wieder das Wort ergriff und wie zu einer weltmännisch liebenswürdigen Mitteilung, mit der ganzen Undurchdringlichkeit seiner Miene, nach ihr sich hinüberbeugte: »Agathe, meine gnädige Frau, war hier bei uns auch die erste Rolle von Maja Valina.«

Hatte das einen tieferen Sinn? Sie antwortete gelassen: »Ich werde also einen schweren Stand haben, meinen Sie?«

»Ihre ›Agathe‹ wird ganz anders sein. Und mit dem anderen haben Sie schon gewonnenes Spiel. Überhaupt war die Gestalt nicht eben Frau Valinas Fall.« Dann ganz unbetont und wie nebenbei: »Natürlich weiß Frau Valina von Ihrem Debut. Und daß Sie eine Entdeckung von Herrn Ohlendiek sind –«

Aber gerade dies Darüberhinweghuschen machte das Gesprochene ihr eindringlich und bedeutsam.

Der Inspizient erschien an der Tür und rief die Herrschaften nach der Bühne. Auf dem Wege tanzte es Matilde wie Feuerfunken vorm Auge: Maja Valina – Agathe ihre Rolle – sie hat 206 gehört, daß ich sie jetzt singe – ich, von Klaus Ohlendiek entdeckt – ihrem geschiedenen Mann – und die Ohlendieks wünschen, sie ginge nach Wien – und mit einemmal ist ihr in Wien die »Laus über die Leber gelaufen« –

Aber es blieb ein Geflimmer ohne festen Zusammenhang.

* * *

Generalprobe. Heute bebt nun schon das Haus, von Erwartung, Hoffnung und Furcht, von Wünschen, bösen und guten, von Neid, Niedertracht, Tücke, von webender Sorge, von Segen und Fluch. Schon wirft das Schicksal seinen Blick in den fiebernden Wirbel.

Die Künstler sind noch in ihren Garderoben. Den Aufbau zum ersten Akt überwacht der Theatermeister mit der Ruhe des berufenen Feldherrn. Hier, wo alles geneigt ist, nach dem Muster des Oberspielleiters, laut zu kommandieren, zu rufen, zu schreien, zu brüllen, hat er die bewußte Nuance seiner Lautlosigkeit. Er könnte auch, wenn er wollte, an dem Stimmorkan nicht mitwirken, denn er ist stockheiser. Weil der Bonekamp – ihn quält ein Magenleiden, und er braucht den Bittern als Medizin, jawohl! – seine Kehle rauhgerieben hat. Pantomimisch mit Hand- und Fußbewegungen, Kopfwendungen, Augenrollen erteilt er seine Anordnungen. Prompt folgen ihm die Arbeiter, die 207 auf leisen Tuchsohlen schleichen. Fast geisterhaft nimmt das Wirken dieser Kolonne sich aus.

Das Orchester versammelt sich. In das dunkle Parkett treten die ersten der Zuhörer ein. Hausangestellte, Angehörige der Mitwirkenden und unbeschäftigte Künstler, diese mit Honigseim und Ätzkali gleichermaßen wohl versehen.

Auf der Bühne, mit dem Oberspielleiter, erscheint jetzt der Herr Intendant. Trippelt unruhig umher. Hat zuckende Stirnfalten. Neue Rechnungen über die Ausstattung sind gekommen.

»Na ja – wir haben wiedermal schön mit's Jänseschmalz geast. Wenn die Oper uns nich zwanzig ausverkaufte Häuser bringt, mache ich hier die Bude zu un setz uns alle uf'n grünen Wagen.«

»Wie ist der Vorverkauf?«

»Jut.«

»Ich höre, es ist kein Billett mehr zu haben.«

»Nee.«

»Nun also!«

»Wenn wir nich mal zur Premiere –! Denken Se gefälligst nicht zu bescheiden von meinem Institut. Und was haben Se mir nu heute zu bieten? Wie ist die Ajathe geworden?«

»Stimmlich unerhört. Darstellerisch noch zu gefroren.«

»Na ja, Sie mit Ihrer Lava. Ajathe is nu mal 'n kühles Mächen. Janz jut, daß wir in den Vornotizen nichts Näheres über ihre Person gebracht haben. Da fabulieren die Leute sich nu 208 allerhand clair obscure zusammen. Mythologie ist gut fürs Geschäft.« Er sah nach der Uhr. »Sind wir noch nich soweit?«

Battoni musterte die Bühne. Der Theatermeister stand in rapportierender Haltung. »Ja, wir fangen an.«

Er geleitete den Intendanten in den Zuschauerraum. Unterwegs fragte ihn das Oberhaupt: »Wissen Se schon, daß Maja wieder im Lande ist?« Maja klang in seinem Munde wie Meyer.

»Mit Wien wird es also nichts?«

»Nein. Sie scheint den Weanern in die Suppe gespuckt zu haben. 'n dolles Frauenzimmer. Man atmet auf, wenn se weg ist. Un ruft Hosianna, wenn sie wieder kommt. Ob wir mit ihr un der Menander nu wieder sowas wie zwei feindliche Königinnen erleben?«

»Wohl möglich.«

»Denn immerzu. Das bringt Leben in die Bude. Feindliche Königinnen sind gut fürs Geschäft.«

Mitten in dem halbdunklen Parkett steht ein kleiner Tisch mit heller grüner Lampe. Klingel und Leitungsdraht verbindet ihn mit der Bühne. Hier nehmen die beiden Großmächtigen Platz.

Klaus Ohlendiek besteigt seinen Sitz. Klingelzeichen. Der Taktstock befiehlt. Die Ouvertüre rauscht auf.

Eine erlesene, sehr fein zusammengestimmte Kapelle, ihr Führer ein Meister. 209 »Hieran is nu nich zu tippen,« bestätigt sich wieder einmal der Alte.

Klaus macht es sich selbst nicht ganz zu Dank. Der Musikforscher in ihm ist die letzten Tage zu stark angeregt und beschäftigt gewesen. So geschieht es ihm, daß er halb unbewußt und unwillkürlich, ohne strikte polemische Absicht, hier und da ein wenig das unterstreicht, was Wagner vorausahnen läßt, das, woher Wagner sich Inspirationen geholt hat. Ein paarmal erschrickt er leicht über sich selbst. Entgleisungen sind es schon, aus dem Künstlerischen ins belehrend Demonstrative – aber wohl nur seinem eigenen schlechten Gewissen vernehmlich, kaum dem Feinfühligsten unter seinen Orchestermitgliedern spürbar.

Dann trägt ihn das Werk, und alle Nebengedanken sind zerstoben.

Die Ouvertüre ist verklungen. Erster Akt. In dem Agathe noch nichts zu tun hat. Matilde begibt sich angezogen in den Zuschauerraum, setzt sich allein in eine der hintersten Bänke. Freut sich an dem szenischen Leben, begeistert sich an der Bildkraft in Klaus Ohlendieks musikalischer Gestaltung.

Darstellerisch tritt Zupitza als Kaspar immer mehr in den Vordergrund. Unvergeßlich die Maske, die Gestalt mit diesem Hauch geistiger, mephistophelischer Dämonie. Nur den Hauch hat sie. Ein Etwas, das ganz unaufdringlich und um so zwingender diesen Jägerburschen umwittert, der immer Jägerbursch bleibt. Ein Geisterndes auch 210 in seinem Gesang. Matilde schlägt nun doch an ihre Brust. Was muß ich alles noch lernen!

Der Vorhang fällt nach dem ersten Akt. Battoni eilt auf die Bühne zur großen Kritik. Der Intendant hat seine – geringfügigen – Wünsche ihm mitgeteilt und sich ins Büro gegeben.

Die Glocke des Inspizienten ruft alle Mann auf die Bretter. Den Sängern hat der Kommandierende nicht viel zu sagen. Ohlendieks musikalische Wünsche sind bald erledigt. Szenisch sind von dem Spielleiter noch ein paar Ausstellungen zu machen. Aber auch hier geht es glimpflich ab.

Umbau zum zweiten Akt. Jetzt hat Agathe sich auszuweisen. Das Glockenzeichen. Die Gardine teilt sich. Agathe und Ännchen.

Schon bei Agathes ersten Worten: »Laß das Ahnenbild in Ehren,« richteten die Ohren der Hörer sich auf. Im allgemeinen aber diente ihr die Szene mit Ännchen dazu, sich zu schälen. Für ihr Rezitativ »Wie nahte mir der Schlummer« war sie dann frei. Und nun geschah es. Eine Offenbarung war der Blütenhauch dieser Stimme, die unsagbare natürliche Innigkeit ihres Leuchtens, die Freiluft ihrer Frische, ihr Schweben in Sternenhelle. Und diese Stimme war und blieb die Seele der ganzen Aufführung.

Sie alle, wie sie da sitzen, halten immer wieder, wenn auch nur auf Augenblicke, den Atem an. Es sind die abgebrühtesten Bühnenknochen darunter, es sind da weiterhin viele vom technischen 211 Personal, die mit dem Hören sich nicht aufhalten, die zum Schauen bestellt hinter noch gutzumachenden Fehlern und Unzulänglichkeiten des äußeren Bildes her sind wie der Teufel hinter der armen Seele, so lauern da Obergarderobier und Obergarderobiere mit ihren Stäben, so hockt da die ganze Friseurinnung – was kümmern sie die Töne, die flüchtigen – das Bleibende, das Greifbare, das Gewichtige gehört ihnen, die Gestalten, die Gewandung, die Bärte, die Perücken. Und auch die völlig Wegemüden sind da, die ganz verblaßten, vom Theaterleben Ausgelaugten, die nur automatisch gewohnheitsmäßig sich einfinden, gleichgültig, teilnahmlos, mit einer Neugier, die mechanisch und tot ist, und dann sie, die Verkannten, Unzufriedenen, die hämisch Sprühenden und giftig Phosphoreszierenden, die von jedem fremden Können Beleidigten, die Unheil wünschen und nach Zusammenbruch lechzen.

Aber sie alle verspüren, ob auch träge, gekränkt, widerstrebend, feindselig, und sei es nur in den leisesten Schauern, etwas von einem gnadenreichen Erlebnis.

Herrn Battoni geht es auf, daß diese Agathe, deren Spiel er als stümperhaft verachtet, bei der aber niemand ans Spiel denkt, bei der keiner an irgend etwas denkt, weil sie mit solchem Wohllaut alles Fühlen durchrieselt und durchrinnt – es geht ihm auf, daß sie und nicht seine alle Wunder der Bühne beschwörende Wolfsschlucht die 212 Sensation des Abends sein wird. Erst mit einem Gefühl des Unmuts bringt er das in Rechnung, aber schließlich – ist nicht seine Hand über der ganzen Aufführung? – schreibt er auch diesen Faktor sich selber gut.

Kritik nach dem zweiten Akt. Glanz ist auf den Gesichtern der Hohen. Die Sonne des Ereignisses leuchtet über Gerechte und Ungerechte. Auch Ännchens allzu forcierte Jugendlichkeit bleibt unangefochten – man macht sich kein Gewissen daraus, um den gefährlichen Bannkreis bei ihr, darinnen kalendarische Geheimmächte walten, einen Bogen zu schlagen. An Agathes Kostüm ist etwas auszusetzen – der Redeschwall der Obergarderobiere, die sich kulturhistorisch in die Brust wirft, wird rechtzeitig eingedämmt. Für das Musikalische und Gesangliche hat Klaus so gut wie nichts auf dem Herzen.

Glatt, wie sie begonnen, geht die Probe weiter. Großartig gelingt all das technisch Neue, mit dem die Wolfsschlucht überrascht. Unübertrefflich malt das Orchester die Schauer des Finales mit seinem Nachtsturm in Fis-Moll –

Als dann nach dem Schlußakt der Vorhang fällt, reitet des Hauses Herr, Gabriel Rabener, allerdings mehr geistig als körperlich, da er zu viel Augen auf sich ruhen weiß, sein siegreiches Finish.

Und dann: Kassandra spricht: Kassandra ist die älteste der Reinmachefrauen. Bei keiner Generalprobe fehlt sie. Und immer weissagt sie. Unheil 213 wittert sie unfehlbar. Heute sind ihre Mienen hell. »Eine große Sache,« verkündet sie, »eine ganze große.«

Klaus begleitet Matilde nach Hause. Sie sprechen beide nicht viel. Zu stark wirkt noch in ihnen das Schaffen nach. Und beide tragen sie das Bewußtsein, daß sie was Rechtes vor sich gebracht haben.

»Wann erwarten Sie Ihren Mann?« fragt er sie, als es zur Verabschiedung geht.

Ein leichtes Zucken. Sie blickt steil in die Luft. Wie ein wehes Lächeln bebt es durch sie hin. Sie hat gar nicht an ihn gedacht – –

»Ja – er wollte heute kommen. Mit dem Abendzug.«

»Dann dürfen Mutter und ich Sie beide doch erwarten!«

»Natürlich. Das heißt, wenn er nicht irgend etwas vor hat. Dagegen kommt man nicht an.«

Sie spricht es scherzhaft und leicht. Aber in dem Unterton ist etwas Tieferes. Als sie sich getrennt haben, wie so allmählich die Spannungen und Erregungen des Tagewerks sie freigeben, sammeln sich ihre Gedanken und ziehen Hilmar entgegen. Und wieder von dem alten Zorn ist etwas in diesem Zug.

Nun bin ich in einer Welt gewesen, die nichts von dir weiß, obschon du mich ihr überliefert hast, und die mich so von dir entfernt hat, daß ich dich 214 ganz vergessen konnte. Wenn du dich jetzt zu mir findest – tritt nicht eine andere vor dich hin? Und was soll werden aus diesem Hin und Her? Kann unser Leben in ihm gedeihen?

Du wolltest der Halbheit entgehen – hast du uns nicht gerade so ihr ausgeliefert, Hilmar König, dich wie mich? Und sind wir nicht beide Naturen, die der Halbheit ehrlich widerstreben?

* * *

Matilde legte sich am Nachmittag zum Schlafe hin, wider ihre Gewohnheit. Sie war redlich müde. Als sie aufwachte, war es höchste Zeit nach dem Bahnhof zu gehen.

Sie mußte ein Auto nehmen. Wie sie das Portal erreichte, zeigte die Uhr gerade die Minute der Zugankunft. Sie stürzte zu der Sperre. Hier erfuhr sie, daß der Zug zehn Minuten Verspätung habe. Die Eile und Erregung nach dem schweren, ungewohnten Schlaf quälte ihren Kopf. Daß die Hast unnötig gewesen war, machte sie ärgerlich. Sie ging in der Halle auf und ab, das unruhige Menschengetriebe peinigte sie.

Da rüttelte sie sich selber auf: Hilmar kommt! Dein Mann! Dein Liebster! Dein Junge! Er will sich an dir freuen und mit dir sich freuen. Seid ihr nicht im Glück? Gesund und jung, von keiner Not heimgesucht! Und der Erfolg grüßt 215 zu euch herüber! Habt ihr euch nicht lieb! Schämen sollst du dich, daß du nicht fröhlich bist.

Sie gewahrt eine Gruppe von jungen Frauen, lachend und strahlend, die offenbar auch ihre Männer erwarten. Unwillkürlich macht sie eine Bewegung zu ihnen hin.

Ihr seht mir ganz so aus, als ob ihr morgen ins Theater geht! Heute tut ihr noch sehr fern und fremd zu mir – das nächste Mal werdet ihr aus anderen Augen mich anblicken. Der Übermut junger Künstlereitelkeit prickelt sie. Ja, was denkt ihr! Ich bin Matilde Menander! Wenn ihr das wüßtet, wie würdet ihr die Köpfe zusammenstecken! Und nun lacht sie kindlich selber über solche Gehirnblasen.

Jetzt – der Zug ist eingefahren – die ersten Reisenden eilen die Treppe herauf – ein Gewimmel folgt – immer mehr drängen nach oben, immer mehr –

Sie späht nach Hilmar aus. Ihre Blicke schweifen zu sehr. Sie finden ihn nicht. Es gilt die einzelnen, die durch die Sperre kommen, ins Auge fassen.

So steht sie und lauert und luchst. Und findet ihn nicht. Der Strom versiegt. Nur noch wenige Nachzügler kommen. Dann ein paar Beamte. Dann niemand mehr.

Matilde fragt an der Sperre, ob noch ein zweiter Zug vom Osten her zu erwarten sei. Heute nicht mehr, heißt es, erst morgen früh. 216

Hilmar ist also nicht eingetroffen. Die sorgenden Fragen: was kann schuld daran sein? Hat er den Zug versäumt? Ist ihm etwas zugestoßen?

Trübe und verdrossen tritt sie den Heimweg an. Der Nebel packt sich in den Straßen fest. Unbehagen schleicht über sie her. Unlustig langsam geht sie nach Hause.

Und hier – als sie den Korridor aufschließt, tritt Hilmar ihr entgegen.

»Also bist du doch gekommen!«

Es ist zuerst mehr Erstaunen, Überraschtsein, Befremdung, als Freude, und das Wiedersehen kommt nicht zu seinem Recht. Die so unwichtige Enttäuschung über das Sichverfehlen fragt immer wieder töricht nach dem Wieso und Warum, zwischen flüchtigen Küssen.

Es stellt sich heraus, daß an der Südseite des Bahnhofs noch eine zweite Sperre sich befindet. Matilde hat nichts von ihr gewußt, durch sie ist er hindurchgegangen.

Und damit ist es gut! Warum lachen sie nicht über das kleine Mißgeschick! Daß so erbärmlichen Kram nicht die große Seligkeit des Sichwiederhabens jauchzend in alle Winde wirft!

Und jetzt reißt Hilmar sie stürmisch in seine Arme. Aber sie lachen immer noch nicht. Herrgott, was ist mit ihnen! Mustern sich, sehen prüfend an sich herum. Stehen geradezu lächerlich befangen und beinahe verlegen voreinander.

Hilmar erklärt es sich gleich. Überarbeitet wir 217 beide – die Nervenstränge gespannt zum Zerspringen – die Trennung schmerzlich und schnell und lang und ungewohnt –

Und jetzt meldet sich in ihm der Eheherr zu Worte. »Ja, liebes Kind – wo nehm' ich denn nun eigentlich Quartier?«

Sie sieht ihn groß an, ein wenig unsicher. »Ich hab' in dem Arbeitstrubel dieser Wochen ganz vergessen, mit meiner Wirtin zu sprechen. Vielleicht kann sie dir jetzt noch ein zweites Bett in die Schlafstube stellen –«

Nun ist Hilmar doch wie mit Eiswasser übergossen. Er hat mit einem übermütigen: ach was, so kampieren wir eben in einem Bett! sich aus der Beklemmung freimachen wollen. Aber der Übermut bleibt ihm jetzt in der Kehle stecken.

»Nein, nein,« sagte er entschieden. »Jetzt noch Umstände machen! Du wohnst doch auch reichlich beengt. Natürlich gehe ich in unser altes gutes Hotel, und ich will mir gleich ein Zimmer besorgen. Nicht wahr, du kommst mit? Wir essen dann da zusammen.«

»Ohlendieks erwarten uns heute abend.«

»Nein,« erklärt er kurz. »Das heißt, ich setze voraus, daß du nicht etwa aus irgendwelchen geschäftlichen Rücksichten –« darin ist ein sehr bitterer Klang.

Sie schüttelte lebhaft den Kopf. »Ganz unsachlich freundschaftlich wollen wir heute zusammen sein. Es gilt ebensogut dir.« 218

»Ich weiß offenbar von dir nicht genug.« Ein Hartes in der Stimme will nicht weichen. »Schon darum bleibe ich am liebsten mit dir allein. Wenn es dir recht ist –«

Sie drückt seine Hand. Darin ist Zärtlichkeit. Eine heiße Welle durchflutet ihn. Ich selbst mach' mir das Leben schwer! schilt er sich aus. Mir und ihr und uns beiden.

Sie fahren ins Hotel und speisen. Er muß vom Koninghof erzählen und von der Fischmeisterei. Sie hört ihm hingegeben zu, er findet jetzt ein ganz anderes Licht in ihren Augen.

»So,« sagt er, »und jetzt kommst du erst mal an die Reihe. Was doch das Wichtigste ist. Wie war die Generalprobe? Wie wird es morgen abend werden?«

Ein müder Zug schattet über ihre Mienen. »Davon sprechen wir nicht. Bei uns in der Zunft ist man abergläubisch. Und ich war eben so schön zu Hause. Nun wollen wir hübsch bei dem einen bleiben.« Ein Ruhebedürfnis dehnt sich. »Bei Koninghof. Wo auch deine Wissenschaft daheim ist, deine Arbeit. Von der will ich jetzt hören.«

Nun wird er wieder der Optimist und ein wenig Renommist dazu. Er spricht, ganz in die Sache vertieft, beredt und immer feuriger über neue Ergebnisse seiner Forschung. Sie hört ihm gefesselt zu, dieser Ablenkung froh, und er ist glücklich, daß er sie fesselt.

Und nun ist er bald in einer leuchtenden Zukunft. 219 Die Berliner Universitätskreise seien völlig gewonnen von dem großen Wurf seines Werkes und überrascht von den Ausblicken, die die schlechthin verblüffenden Resultate eröffnen. Nun gehe er an die Habilitationsschrift – die Stoffwahl werde ihm bei der Überfülle nicht leicht.

In Holstein seien neuerdings Funde gemacht, die er noch sehen müsse. Er wollte von hier aus dorthin weiter fahren. Auch im Kieler Museum habe er noch zu arbeiten.

»Aber ich rede und rede nur von mir. Morgen ist dein großer Tag. Du brauchst deine Ruhe –«

»Ich habe leider hier in der Stadt meinen alten schönen Schlaf noch nicht wieder –«

»Komm. Ich bring dich heim.« Über diesen Gedanken stolpert er nun doch. Aber dann nimmt der Kellner ihn in Anspruch, die Besorgung des Autos.

Er begleitet Matilde nach Hause. Und verabschiedet sich von ihr vor der Tür.

»Wie ein Bräutigam geleite ich dich heim!« Ein Lächeln bringt er zustande.

Und nun geht er in sein Hotel. Nachtwandlerisch gedankenlos.

Er legt sich ins Bett. O Agathe – zieht es ihm durch den Sinn. Wehmut und Zornmut kämpfen in ihm miteinander, schließlich erschlagen sie sich, und er schläft ein.

* * *

220 Rufend laufen die ersten Glockenzeichen durch die Wandelgänge des Opernhauses. Eiliger und drängender branden die letzten Wogen der Kommenden gegen die Kleiderablagen.

Auch in den Garderoben der Künstler schrillt dieses Zeichen. Seid bereit zur Schlacht!

Prüfend schreitet der Oberspielleiter mit dem Theatermeister über den Bühnenraum. Von den Sängern kommt ein Teil fertig durch die Kulissen. Die Feuerwehrleute nehmen ihre Plätze ein.

Das Guckloch im Vorhang wird noch immer umworben. Dahinter lauert das tausendäugige Ungeheuer, tückisch und unberechenbar, maßlos in seinen Instinkten und Gefühlen wie alle Ungeheuer, in seiner Grausamkeit, seiner tödlichen Kälte, seiner Niedertracht und seinem Hohn, und wiederum in seiner fortstürmenden Begeisterung und seinem leidenschaftlichen Jubel.

»Samiel«, der Bösewicht, aus altem Aberglauben, spuckt dreimal gegen den Vorhang, den Schicksalslappen.

Im Orchester quirlen die Höllentöne der sich stimmenden Instrumente.

Das zweite Glockenzeichen. Alles fertig. Der Kapellmeister setzt sich ans Pult. Das Gong. Der Zuschauerraum verdunkelt sich. Die Hand des Dirigenten hebt den Stock. Stille. Die Ouvertüre.

Der spuckende Samiel hat alle Geister des Unheils gebannt. Kräftig schlägt der erste Akt ein. Siegeszuversicht schwellt die Herzen. 221

Pause zwischen dem ersten und zweiten Akt.

Matilde kommt auf die Bühne. Sie hat noch eine Frage an Battoni. Da rauscht etwas an ihr vorüber. Eine Dame in Gesellschaftstoilette, sie tritt zu Kaspar Zupitza, begrüßt ihn lebhaft, tauscht mit ihm ein paar schnelle, beschwingte Worte. Dann streicht sie wieder an Matilde vorbei, wechselt einen Gruß mit Battoni. Matilde selbst bekommt einen kurzen, scharfen Blick, sie ist überrascht von diesen dunklen Augen mit ihrem eigentümlichen Griff und dieser Lebensgier, der ein weher Zug um den schmalen, feinen Mund sich nicht fügen will. Sie hört dann, diese Dame ist Maja Valina. Die jetzt das Bühnenhaus wieder verläßt, um in den Zuschauerraum sich zu begeben.

Das erste Glockenzeichen. Die Szene wird freigemacht. Hinter den Kulissen erscheint Klaus Ohlendiek, Matilde noch einmal die Hand zu drücken. Dann steigt er in die Orchestra.

Das Seltene und vielfach Beargwöhnte wird heute Ereignis: in der Aufführung tritt nach der trefflich gelungenen Generalprobe keinerlei Rückschlag ein. Das Seltenere: alle Voraussagen bis ins einzelne erfüllen sich. Agathe ist die Glorie des Abends.

Natürlich, von Mißgunst und Neid, von der bloßen Nörgelei technischen Besserwissens bleibt sie nicht verschont. »Eine Natursängerin. Muß noch sehr viel lernen.« Aber der Klang ihrer Stimme blüht und leuchtet und triumphiert 222 hinweg über alle grauen und grämlichen Greulichkeiten.

Einer von den Habitués des Theaters, großer Fabrikant und künstlerischer Wichtigmacher, der neuerdings um Frau Valina streicht, spricht zu ihr seine Kritik, mit der er bei ihr – der Nebenbuhlerin, der in Ruhm und Stellung Gefährdeten, wie er meint – sich lieb Kind machen möchte. »Ich kann mir nicht helfen – steifleinen – Hausmachermarke –«

Da erklärt sie ihm, wütend über das, was seine Plumpheit bei ihr voraussetzt, über die Beleidigung, die seine Schleicherei ihr zufügt, erfroren bis ins Mark: »Ich würde Ihnen doch raten, Herr Kommerzienrat, Ihr Urteil ganz auf die Textilbranche zu beschränken.«

Als dann die Schlacht geschlagen ist und das Haus vom Siegesgetöse zittert und dröhnt, drängt es sie zu der Genossin.

Durch die Wandelgänge strömt die bewegte Masse. Steht die Erregung der vielen jetzt auch im Zeichen der Garderobenmarke, auf den Gesichtern leben doch die Spuren des großen Tages.

Betäubt schwimmt Hilmar in der Flut. In die Höhen und Tiefen haben ihn die Wogen des Erlebten geworfen. Er leugnet es nicht, eine schlotternde Angst hat ihn zuerst geschüttelt. Bis Matildes unangefochtene, geradezu thronende Sicherheit ihn aus dieser Not befreite. Dann mit dem wachsenden Glanz ihrer Macht schlägt sein Stolz 223 immer mehr die Flügel. Bis es wie Angst ihn anfällt: nun steigt sie über dich hinaus, und wo bleibst dann du?

Aber über allem steht wieder die Freude, künstlerisch und rein, an ihres Sanges Köstlichkeit.

Nun, da alles vorüber ist, atmet er schwer wie unter einem Schicksalsspruch.

Und da droht in dem Gedränge ein Gesicht zu ihm herüber – verschwindet – taucht wieder auf – keine Vision – Robert Löteisen ist es!

Unwillkürlich wirft Hilmar sich in die Brust: ja, das sind wir!

Hat der andere ihn nicht gesehen? Ich möchte schon, daß wir Aug' in Auge liegen und uns messen! Dies ist nun der erste Streich. Bald wird nun auch das Kümmerliche deiner vermeintlichen akademischen Überlegenheit von dir abfallen. In diesem Winter wirst du noch lesen, daß ich mich in Berlin habilitiert habe.

Und ganz und gar kreisen wir, Matilde und ich, nun schon in einer anderen Sphäre als du!

Da sind die Augen wieder – mit dem Löteisenschen Ausdruck schicksalhafter Wichtigtuerei. Warum ist kein Neid in ihnen, kein Schmerz, keine Niedergeschlagenheit –

Aber schon drängt das Gewoge sich wieder zwischen sie beide. Wo Hilmar sich eben zu ihm hingezogen fühlte, aus seiner glücklichen Gehobenheit dem andern ein paar gnädige Worte zu schenken. 224

Nun finden sie nicht zueinander. Hilmar treibt in der Menschenflut auf der Straße. Und jetzt aus dem Gewirre um ihn und in ihm strebt er zu seinem klaren Ziel. Ich will zu Matilde – der erste, der bei ihr zu sein hat, bin ich doch wohl!

Er wendet sich nach dem Hof und geht auf die Haupttür des Nebengebäudes zu. Sie ist belagert, aber alles bleibt ehrfurchtsvoll draußen. »Eintritt nur für Bühnenangehörige!« steht wehrend über dem Eingang. Aber das schreckt ihn nicht.

Der Pförtner hält Wacht. »Ich bin Doktor König.« Das verfängt nicht. »Der Mann von Frau Menander.« Die erwartete tiefe Verneigung bleibt aus. Ein lässiges Gewähren.

Das ärgert ihn. Der Mann von Frau Menander – diese Bezeichnung trägt er weiter im Ohr, sie dringt in ihn ein, sie ätzt sich ihm in die Seele. Hier bin ich durch mich selber nichts. Der Mann von Frau Menander. Kein König – ein Prinzgemahl. Und für diese Würde scheint hier keine große Hochachtung obzuwalten. Auch wie er nach Matildes Garderobe sich durchfragt, wird ihm keinerlei Verehrung bezeugt.

Matilde hatte noch auf der Bühne die Anerkennung des Intendanten entgegengenommen. Das Weitere behielt er sich für den nächsten Tag vor, er lobte den Abend nicht vor dem Morgen. Es gab Zeitungen, und die vor allem mußten erst einmal vernommen werden.

Klaus Ohlendiek drückte ihr wortlos beide Hände, 225 Job Lobedanz brannte Feuerräder ab. Er war aus den Fugen.

Als Matilde in ihre Garderobe getreten war, klopfte es stürmisch an die Tür. Ohne das Herein abzuwarten, stürzte eine Dame in den Raum – Maja Valina.

Ganz ungezwungen schloß sie Matilde in die Arme. »Wie schön war das – wie schön! Sie müssen sich das nun schon gefallen lassen. Was ich fühle, muß ich auch sagen. Das ist mein Unglück und mein Glück.« Sie sprach ein reines, klares Deutsch mit leisem slawischen Tonfall. »Aber eins, liebes Kind, muß eine soviel ältere Kollegin Ihnen sagen dürfen. Sie schminken sich schlecht. Schminken ist mein Bestes. Ich habe da meine ganz besonderen Kunstgriffe. Keiner kennt sie, keinem hab' ich sie bisher gezeigt. Ihnen zeig' ich sie.«

Damit ging sie, wie sie gekommen war. Frau Schmitz, die biedere Garderobiere, erklärte in ihrem verschmitzten Ton, der halb Unterwürfigkeit, halb Wohlwollen war: »Darauf können Sie sich was zugute tun, Frau Menander. Wie viele haben es versucht, Frau Valina ihre großartige Schminkkunst abzusehen. Niemand hat ihr bisher da hineingucken dürfen.«

Matilde hat in einem seltsamen Gefühl unbehaglicher Bezauberung die Zärtlichkeit der Frau Maja über sich ergehen lassen. Ehe sie sich über ihre eigene Empfindung ganz klar geworden ist, 226 kommt neuer Besuch. Hilmar läßt sich melden und wird gleich eingelassen.

Frau Schmitz zieht sich diskret zurück. Ihr Blick auf den Ehegemahl, neugierig und dreist, läßt diesen auch hier die geforderte besondere Wertschätzung vermissen.

Dann aber wirft er alles hinter sich. Matilde ist dies – meine Matilde ist dies, mein Weib! Und er zieht sie an seine Brust und preßt seinen Mund auf ihre Lippen.

Und spürt einen unangenehmen Geschmack – will darüber lachen – und kann es nicht – die Schminke, die unleidliche – nun ja – aber doch – die Schminke hat er geküßt, nicht ihren Mund – und soll nun die Schminke, der Schein, der Trug, das Theater zwischen ihnen sein!

Daß er den Geschmack nicht los wird! Der sich in Leib und Seele ihm fressen will! Er schilt auf seine übersteigerte Sensibilität. Daß er nicht robust genug ist, mit seinem prachtvollen Weib durch dick und dünn zu gehen! Was ist er für ein Weggenosse! Er, der diesen Weg ihr gewiesen hat.

Und da er sich so in sich selber verkriecht, kommt auch sie nicht aus sich heraus. Wieder sind sie in einer Gezwungenheit und Befangenheit.

Die Garderobiere kehrt zurück, sie möchte nach Hause. »Verzeihung!« sagt sie freilich, »ich dachte« – und schließt wieder die Tür. Aber ein Beieinander gibt es jetzt nicht und hier schon überhaupt nicht mehr. 227

»Du kannst mich jetzt nicht brauchen. Und was ist dann?«

»Wir sollen zu Ohlendieks kommen.«

Wieder diese Ohlendieks! Aber heute mußte es wohl sein. Klaus Ohlendiek – ihr Entdecker für die Bühne, ihr Beschützer, ihr Förderer. O diese Rücksichten – wie er sie haßte. Und würde sie nicht in immer mehr Rücksichten verstrickt werden? –

Sind sie nicht wie die Kinder gewesen – sie beide? Was haben sie vom Theater gewußt? Jetzt fängt es an zu dämmern.

»Nun gut,« sagt er gefaßt.

»Dann wartest du draußen vorm Hause auf mich. Oder willst du hier oben bleiben?«

»Lieber nicht. Ich fühl' mich hier doch einigermaßen als Fremdkörper.«

* * *

Bei Ohlendieks war Feststimmung. Außer Matilde und Hilmar waren nur noch zwei Gäste da, Job Lobedanz und Dirk Diekhoff, ein ganz kleiner Kreis. »Wir sind Qualität,« sagte Job.

Dirk, überschwenglich und drommetenfroh, verkündete: »Ein Gerichtstag war es für die Bayreuthsimpler! Nur daß ich Ihnen manchmal das Zepter hätte entreißen mögen, Herr Ohlendiek.«

»Sie hätten es nicht bekommen.« 228

»Schade! Ich würde den Friedländern ganz anders die musikalischen Heilsweisheiten um die Ohren geschlagen haben.«

»Dirigieren ist nicht um die Ohren schlagen, lieber Dirk.«

»Nun ja! Natürlich hab' ich unrecht, weil der Lärm immer unrecht hat.«

»Das merken Sie sich für Ihre Kompositionen,« knurrte Job.

»Wenn diese Brüder«, fuhr Dirk ungestört fort, »nur nicht ein so schwieliges Trommelfell hätten! Gejuckt hat es sie natürlich doch. Und ihre Bundesbrüder, die Kritiken schreiben, werden es euch schon entgelten lassen, daß ihr dem gedient habt, der ihren Götzen zum Wackeln bringt.«

»Er wackelt ja gar nicht,« bemerkte Klaus mit trockener Gelassenheit.

»Ja, junger Mann,« rief Job dazu, »und wenn Sie an diesem schönen Abend nochmal von Kritik und anderen Ruchlosigkeiten sprechen, dann lass' ich in Ihrer neuen hypermodernen Oper all Ihre unbegrenzten Unmöglichkeiten der Atonalität – dann lass' ich die der Einfachheit wegen gleich als Kantaten im reinen Satze singen.«

Job sorgte nach der Abspannung und dem Abgekämpftsein für den gewünschten frischen Ton. Und über allem gebot Frau Beates weißhaarige Klugheit und Güte.

Nun machte Job einen unverzagten Sprung ins 229 praktische Leben. »Haben Sie den Erzengel gesprochen, gnädige Frau?«

»Ja, er war zufrieden. Er hat mich für morgen ins Büro gebeten.«

»Er will den Vertrag mit Ihnen machen. Allein wären Sie ja verraten und verkauft. Gut, daß Sie Ihren Herrn Gemahl hier haben.«

Hilmar wand sich vor Entsetzen. Die Haare sträubten sich ihm, er machte drei Kreuze. »Um des Himmels willen! Lassen Sie mich mit dem Geschäftlichen zufrieden!«

Wie die bitterböseste Kränkung fiel es ihn an. Nun auch das noch! Daran hatte er ganz und gar nicht gedacht. Geldverdienen – Matilde würde und sollte Geld verdienen – seiner gepflegten Geistigkeit, aus sicherem Besitz genährt, ward es übel zumute. Wohin waren sie geraten!

Er wollte sich rückhaltlos aussprechen über seine Empfindung. Dann aber spürte er, daß er mit solcher »Weltfremdheit« sich lächerlich machen könnte, und er schwieg. Aber ein neuer Druck hatte sich auf ihn gelegt.

Hart traf es ihn, daß Matilde, von Job beiseite genommen, dessen praktischen Ratschlägen aufmerksam ihr Ohr lieh. Sie fing schon an, sich in dieser neuen Welt zurechtzufinden, die ihm immer mehr an Widerwärtigem bot.

Halb abwesend hörte er, was Klaus zu ihm sprach. Der ihn verstand, der an das ihm Peinliche nicht rührte, der wieder in die Freiluft ihn 230 zog, der dann von seiner Forschung sich erzählen ließ. Und Hilmar atmete auf. Klaus Ohlendieks gesunde Herzlichkeit, mit ihrem natürlichen Zartgefühl, tat ihm wohl. Daß in der Kunstzone solche Menschen hausten, wirkte versöhnend. Die beiden verstanden sich gut und kamen sich noch näher.

Das allgemeine Gespräch verließ dann das umbrandete Gestade des Künstlerischen, Allzukünstlerischen. Ganz von selbst wurde jetzt Hilmar sein Mittelpunkt. Er sprach weiter von seinen wissenschaftlichen Ergebnissen. Seine lebendige Art vorzutragen fesselte stark. Er hatte einen hingegebenen Hörerkreis um sich. Und er stellte sein Licht nicht unter den Scheffel.

Seine Stimmung war wie vertauscht. Der ganze Abend bekam andere Farben. Nun hatte auch er seinen Erfolg. Das Gefühl der Gleichberechtigung trug ihn.

Allmählich kam nach den Anstrengungen des Tages über diesen und jenen, dann über alle die Müdigkeit. Hilmars Beredsamkeit regte sich noch, aber da der Widerhall erlahmte, ließ auch sie die Flügel sinken.

Man trennte sich. »Sie reisen doch noch nicht so bald?« fragte Frau Beate zum Abschied.

»I wo.« Er dachte jetzt mit Genugtuung und erwartungsvoll an ein paar Tage des Bleibens.

Matilde und Hilmar gingen durch stille, nächtige Straßen. Ein milder Frost hatte eingesetzt. 231 Gesprächig lebhaft und hell glitzerten die Sterne. Die Mondsichel sprühte ihr Licht über die Dächer, um die Giebel.

»Jetzt draußen sein,« klagte sie. Und sie dachte: ›Wenn er dich jetzt nähme, mit rauhen, harten, gewalttätigen Armen und unbeugsamem Sinn: Du kommst jetzt mit mir! Der Kunst hast du den Zoll entrichtet! Laß dies deinen Schwanengesang sein! So wirst du erst recht gefeiert! Alle Welt sehnt sich nach dir – und wir haben unseren Triumph! Und triumphierend ziehen wir in Koninghof ein! Da ist dein Haus, da ist dein Sitz, da ist dein Land, da ist deine Herrschaft! Du die Herrin und ich der Herr!‹

Ja, ja – gern hätte sie so sich überwältigen lassen. Aber er überwältigte sie nicht.

Sie sah, wie er den Kopf geneigt, vor sich hingrübelte. Es kam ihm in den Sinn, und er mußte es sagen: »Nun wirst du morgen durch alle Zeitungen geschleift –«

»Laß doch die Zeitungen und ihre Ruchlosigkeiten! Wie sagte Job Lobedanz?«

»Dieser Job Lobedanz ist auch keine reine Freude.«

»Ohne ihn wäre ich nicht das, was ich bin.«

»Ohne ihn nicht, und ohne Klaus Ohlendiek nicht –«

»Nun ja!« sagte sie, jetzt unverkennbar scharf. »Menschen braucht man nun einmal, und nicht bloß beim Theater.« 232

»Und morgen wird also dieser Job Lobedanz bei deinem Vertrag dir helfen –«

»Das wird er.«

»Ein furchtbarer Gedanke! Da sitzt du nun beim Direktor! Und feilschst mit ihm – um dich selbst! Um dich selbst geht der Handel!«

Immer heißer stieg es ihr zu Kopf. Statt ihr dies Quälende zu erleichtern – er mußte wissen, daß es auch für sie hier genug Widerstände zu überwinden gab – statt des erschwerte er ihr noch diese üblen geschäftlichen Dinge.

»Nun, lassen wir das!« Er floh vor diesen Ideen. Sie kamen an Matildes Haus. »Du wirst jetzt auf deinen Lorbeeren ausruhen. Gute Nacht.«

Und wieder trennte er sich von ihr vor ihrer Tür. ›Ich hatte gedacht, zum Schluß dieses Tages würden wir beide unser Fest miteinander feiern! Nun gehen wir auseinander wie zwei fremde Menschen. Eine Kluft tut sich auf zwischen uns.

›Ich ertrag' es nicht. So kann unser Leben nicht bleiben. Zwei Leben wollen es werden – ich will, ich muß sie wieder zusammenfügen, zusammenzwingen!‹

Aber dieser Dunstkreis hier lähmte ihn. Nur da draußen, nur in seiner Arbeit konnte er die alte Kraft wiedergewinnen.

Hals über Kopf fuhr er, am nächsten Morgen schon, nach Kiel.

* * *

233 Die Kritik war ungewöhnlich gut. Mehr noch als das Material wurde die Beseeltheit von Matildes Stimme einhellig gefeiert. Matilde Menander war »gemacht«.

»Den Vertrag selbst schließen wir natürlich nur durch den Agenten ab,« sagte Job. »Ich telegraphiere gleich an meinen. Er ist von den Menschenhändlern der Annehmbarste. Sie verweisen den Alten an ihn. Und dann werden wir weiter sehen.«

Danach wurde nun verfahren, als sie mit dem Intendanten verhandelte. Der Agent überraschte ihn nicht weiter. Obschon ein schwarz auf weiß ausgefertigter Vertragsentwurf mit günstigen Bedingungen des Ansturms auf ihr Herz gewärtig war. Der Alte schüttelte aber den Kopf, als sie sagte: »Ich möchte mich nur auf ganz kurze Zeit binden.«

»Mächen – jnädige Frau – so jung und schon so verdorben! Schielen Sie schon übers jroße Wasser?«

Sie lächelte. »Nein, das nicht. Aber ich weiß nicht recht – ob ich es beim Theater aushalten werde.«

»Na nu? Und haben kaum die Nase reingesteckt? Und sind dies erstemal bloß von Wohljerüchen umfächelt?«

»Ich hatte so heute nacht meine eigenen Gedanken –«

»Ihre Nachtgedanken in Ehren, gnädige Frau. 234 Aber so was is mir denn doch noch nicht passiert. Sie werden über Nacht berühmt – un statt daß Sie diese Nacht segnen! Aber dies diem docet – eine Nacht lehrt die andere. Es jibt noch mehr Nächte, und det is mein Trost.«

Sie ließ ihn mit seiner Nachtphilosophie allein. Draußen traf sie Klaus, der auch zu dem Oberhaupt wollte. Und gleich, wie er ihre Hand nahm, fielen Unsicherheit und Trübsal von ihr ab, sie war nicht mehr in der Fremde und Irre, sie war geschützt, gehalten und heimatlich gehegt.

Nun saß Klaus bei dem Intendanten. Erst kriegte er seinen großen Lobspruch. Da wußte er, ein dickes Ende würde nachkommen.

»Ja, mein Junge – aber Sie konnten es doch nicht lassen. – Sie mußten hier und da Weber gegen Wagner ausspielen! Der vielliebe Friedland hat das mal wieder als persönliche Anzapfung aufgefaßt.«

»Das ist doch einfach lächerlich!«

Der Erzengel hielt den Kopf schief. »Jeliebter Jüngling – solange er der Abgott aller weiblichen Jesangchöre in unserer Stadt ist und nicht Sie – solange er vor Ihren schätzenswerten Jaben das Talent jroßartigster Familiensimpelei voraus hat, kann ich ihn für mein Abonnement nicht entbehren. Und ich will und muß ihn bei juter Laune erhalten.«

»Heißt also, daß ich jetzt in schlechte Laune versetzt werden soll.« 235

»Ich will, daß Friede unter meinen Zelten wohne! Könnt ihr euch nicht vertragen, denn pachtet euch selbst 'ne Schaubude. Un nu passen Sie auf. Unsere Straußwoche im nächsten Monat. Strauß kommt selbst 'rüber. Zu welcher Aufführung is noch unbestimmt. Selbst dirigieren will er nich. Nu möchte aber unser Musikjeneral am Pult sitzen, wenn der jroße Abend is. Was aber nun, wenn der Meister gerade zur Salome sich einfindet? Die bisher Ihre Sache jewesen is –?«

»Heißt also, der Herr Generalmusikdirektor will den ganzen Straußzyklus für sich haben.«

»Richtig!« Die direktorialen Augen zwinkerten. »Jeht doch nischt übern hellen Kopp! Aber – kriegt der eine sein Bonbon, kriegt der andere ooch eens. Kinder seid ihr nu mal. Also: Ich will die Frau Menander jetzt als Isolde 'rausstellen. Ich will, daß Sie nach diesem ersten Erfolg weiter mit ihr zusammenarbeiten. Friedland wird den Tristan an Sie abgeben.«

Das ließ sich hören! Das war eine Aufgabe! Mit Matilde zusammen! O – und anders würde er den Tristan anpacken als Erwin, der Eklektiker –

»Na, un jetzt trocknen Se man det eene nasse Ooje – un freuen Se sich mit beiden!«

Und eine halbe Stunde später fand in demselben Raum zwischen dem Herrn Intendanten und dem Herrn Generalmusikdirektor folgende Unterredung statt: 236

»Also mein lieber Herr Friedland: Strauß schreibt mir, er weiß noch nicht, wann er 'rüberkommt. Kommen käme er. Am liebsten zur Salome.«

»Soll man denn nicht den Rosenkavalier so legen – es ist doch das Natürliche, daß bei seiner Anwesenheit ich –«

»Jewiß is das auch meine Meinung. Aber wenn er nu jrade auf die Salome sich spitzt! Vielleicht läßt es sich machen, daß Sie den janzen Zyklus kriegen. Allerdings –«

»Das muß sich doch machen lassen!« Die Brust schwoll und wogte.

»Ja – aber Sie wissen – pas d'argent, pas d'amour. Un nu hören Se 'n Vorschlag zur Jüte. Die Frau Menander soll als zweite Rolle die Isolde singen.«

»Gut.«

»Mir is es nich klar, ob ich Ihnen diese blutige Anfängerin zumuten soll –«

»Warum nicht? Das würde mich reizen!«

»Mein verehrter Herr Generalmusikdirektor –«

Friedland begriff. »Da soll also Herr Ohlendiek jetzt den Tristan dirigieren?«

»Ja.«

»Das ist unmöglich.«

»Warum?«

»Nicht weil der Tristan in meine Domäne gehört. Und ich darf sagen, daß er, wie ich ihn 237 geschaffen habe, bei uns unverrückbar feststeht. Aber das Verhältnis des Herrn Ohlendiek zu Wagner –«

»Ist das denkbar beste, lieber Freund. Und ich möchte, daß hier endlich mal mit Lejenden aufjeräumt wird. Ich wünsche, daß er hier janz offen sein Bekenntnis zu Wagner, meinetwegen sein ›pater peccavi‹ ablegt. 'ne jeistige Sache. Ein höherer Gesichtspunkt. Und für Sie selber die jrößte Jenugtuung!«

Erwin Friedland war schon so erschlagen, daß er nicht noch mehr erschlagen zu werden brauchte.

Und der Erzengel Gabriel rieb sich die Hände. Es war Friede auf Erden, und sein Wille geschah. Das, worauf es ihm vor allem ankam: Matilde Menander, die seinem Theater die neue große Zugkraft werden sollte, konnte jetzt nicht – was bei ihrer großen, soeben eingestandenen Bühnenempfindlichkeit nahelag – durch Friedlands Hochmut, Überhebung und Unverträglichkeit vergrämt oder gar vertrieben werden. Endlich mal wieder, nach all der Bedrängnis und dem Ärger der letzten Zeit, ein glattes Geschäft im schwersten aller Ämter. Und er summte aus einem Couplet seiner Jugendzeit vor sich hin: »Denn so 'ne Mumie muß doch ooch mal 'ne kleene Aufmunt'rung haben –«

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