Max Dreyer
König Kandaules
Max Dreyer

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80 Die Seenebel zogen von Norden her. Matilde wanderte zum Kantorhaus. Ihren Beichtgang nannte sie sich selbst diesen Weg. Sie wollte Rechenschaft ablegen.

Sie fand Mutter Alwine am Waschfaß. Der spitze Ellbogen wies die Fragende nach dem Wohnzimmer. Manuel saß über seinen Noten.

Durch die vergrabenen Züge flog ein Lichtstreif. »Matilde!« Dann aber versank das Helle wieder in trüber Nachdenklichkeit, und ein Vorwurf, leise, doch schwer, hob sich gegen sie: »War nicht gestern unser Tag! Ich hab' umsonst auf dich gewartet. Wo warst du?«

Hier gab es nun kein Zögern, keine Umschweife, das gerade Wort war verlangt. Sie holte noch einmal tiefer Atem, dann sprach sie frei von der Leber: »Ich war mit Hilmar König zusammen.«

Er ahnte, was geschehen war. In seinen Augen war schon der ganze hilflose Zusammenbruch, als er tonlos fragte: »Mit Hilmar König?«

»Ja. Wir haben uns verlobt.«

Wie rauh und kurz klangen die Worte an ihr eigenes Ohr. Und sie erschrak über des Kantors Gesicht. Die Augen erloschen, erstarrt in blindem metallischen Schein. Die schmalen Lippen blaublaß wie die eines Toten.

Aber gleich spielte ein wehes, weiches Lächeln um den Mund. Noch ein schmerzliches Zucken der Gesichtsmuskeln und schon kehrten auch die Augen zum Leben zurück. Dann kämmte er sich 81 jäh die Strähnen mit der Rechten, und in einer Art harten und trotzigen Triumphes, mit dem er sich dagegen aufbäumte, daß etwas anderes als Unheil ihm beschert sein könnte, stieß er heraus: »Ich hab' es gewußt. Von der ersten Stunde an, wo du mit ihm dich zusammenfandest.«

Und jetzt bekam er etwas Bronzehaftes und war fast ein Buddha über den Dingen. Und aus eherner Gelassenheit kamen die Worte, nichtssagend an sich: »So beginnt denn also ein neuer Lebensabschnitt.«

Unheimlich war ihr dies Statuarische. Ein Sturm, ein Ausbruch wäre ihr lieber gewesen. Dann wieder sagte sie sich: ›Um so wilder wird Roberts Leidenschaft über mich hertosen.‹

Jetzt fragte Vater Manuel geradezu geschäftsmäßig kühl und gelassen: »Ja – wie wird es denn nun weiter mit den Gesangsstunden werden? Ich weiß nicht, wie dein Verlobter darüber denkt.«

»O – darin behalt' ich natürlich ganz freie Hand –«

»So. Meinst du. Ja – aber so wie sonst ist es – nun – nicht mehr –« er tastete nach seinen Noten. »Du findest mich gerade – ich muß noch das H-Moll-Requiem durchsehen. Der Verlag hat es sich ausgebeten. Es muß dann gleich zur Post. Wärest du gestern gekommen – ja so – gestern, da hast du dich verlobt –« Was er sagte, wurde zum Lallen, trost- und hilflos.

Dann aber stand er fest und kerzengerade vor ihr. Die Aufforderung zum Gehen, mußte sie sich sagen. 82

Sie reichte ihm die Hand und verließ ihn, halb betäubt. Als sie zur Küche sich wandte, auch von der Kantorsfrau sich zu verabschieden, war es ihr, als hörte sie einen dumpfen Fall.

»Mutter Löteisen,« sagte sie erschreckt, »ich glaube, Ihrem Mann ist es nicht ganz gut –«

Die Alte trocknete sich die Arme mit der Schürze und ging nach der Wohnstube. Matilde wartete mit stockendem Atem. Gleich kam die Frau zurück. »Was soll ihm sein?« murmelte sie. »Er sitzt schon wieder bei seinen Noten.«

Matilde taumelte hinaus in die graue Welt. Hilmar! war ihr erster Gedanke. Und fast zur Anklage wurde es: Warum bist du nicht bei mir! Was läßt du mich so allein!

Und dann wieder zu Vater Manuel kehrt sie um. Ich hab' dir bitteres Leid zugefügt. Was schreist du es nicht heraus! Warum mußt du es so in dich hineinwürgen!

Und kein Wort von Robert hast du gesprochen! Mir selbst hast du die Sprache geraubt. Ich wollte dir mein Herz ausschütten, als meinem ältesten und treuesten Freund. Und mit vollen Händen kam ich, dir abzugeben von meinem Glück.

Muß denn das eigene Glück immer Raub sein an einem anderen?

Gar nicht zu Wort hast du mich kommen lassen. Und hast du mich zuletzt nicht mehr über deine Schwelle gewiesen! Du mich, Manuel Löteisen! Du mich! 83

Mit großen Gedanken hatte sie sich getragen. Einen Freundschaftsbund wollte sie errichten zwischen den feindlichen Häusern, den Löteisens und Königs. Sie, die vermittelnde, ausgleichende, versöhnende. Sie, berufen, etwas Klares und Festes aufzubauen durch reinen Frauensinn! Ein törichter Mädchentraum war es gewesen.

Und weiter floh sie durch den Nebel. Nach Westen zu, wo gelbe Flammen aufglimmen wollten. Aber gleich wieder waren sie erloschen. Und dichter umschlangen sie die grauen Schleier, zum Ersticken.

An einem Hügel taumelt sie auf. Sie gewahrt, es ist das Königsgrab. Ihr Toten – ihr Abgeschiedenen seit viel tausend Jahren, könnt ihr nicht Ruhe halten – nicht Ruhe unter denen, die heute im Lichte wandeln? Ist es euch nicht genug, euch selber in Herrschsucht, in Ehrgeiz und Ruhmbegier zerfleischt zu haben? Müßt ihr als Träger eines Fluches ihn weitergeben zu den spätesten Geschlechtern? Ihr seid es, die hier zwischen den beiden Männern die erste Zwietracht gesät habt. Und die Wissenschaft, in deren Namen sie kämpfen – sie, die als heilig sich gebärdet, hat sie die Waffen nicht noch mehr geschärft, ja vergiftet?

Matilde hat sich nach Hause getastet. Hier dämmert sie vor sich hin. Dann, da es draußen sich lichten will, kommt es über sie wie ein Erwachen. Ist dies alles nicht ein bleiern schwerer und trüber Traum gewesen? 84

Das letzte Wort – nein, wie kann es hier gesprochen sein, da kaum das erste gesprochen ist! Hat nicht vielleicht gar ihre eigene Eitelkeit alles verzerrt und übertrieben? Vielleicht ging mehr als die Neuigkeit, die sie Manuel brachte, sein H-Moll-Requiem ihm im Kopf herum.

Sie will sein ersterbendes Gesicht vergessen, will alles in Nebeltrug sich lösen lassen. Sie will und muß noch einmal mit ihm zusammensein – gleich heute, gleich jetzt!

Sie macht sich wieder auf den Weg zu ihm. Ein frischer Nordwest hat sich aufgetan, er bläst die Flammen des Sonnenunterganges hinein in den Dunst. Die Schwaden, von Funken durchsprüht, verfliegen und zerstieben. Die Welt blickt wieder frei und atmet wieder hell.

Sie findet Manuel nicht zu Hause. »Er ist in der Kirche,« bedeutet sie Alwine, immer noch vom Waschtrog aus. So geht sie dahin. Sie hört schon von ferne die Orgel dröhnen. Spielt er sein Requiem? Nun tritt sie ein in das gruftkühle Dunkel und setzt sich, daß er sie nicht sieht.

Er war im Phantasieren. Zuerst – leuchtete es in diesen weichen und warmen Mittelstimmen nicht wie die Verklärung eines Erinnerns? Aber schon von den schmerzlich düstern Bässen des Pedals beschattet? Und nun – ein helles Thema formen die Flöten – und sieghaft werden die Stimmen! Es ist die alte Kantate von Dietrich Buxtehude, die sie hier einst gespielt, die sie gesungen, in der 85 ihr Gesang das erstemal zu ihm gesprochen hatte. Rein und hell schwingt das Thema sich aus – aber dann, fast schluchzend, hält es inne.

Der Stern, der wie eine Offenbarung geleuchtet, strahlt nur, um gleich wieder zu erlöschen. Schwarze Wolken brauen und brausen. Türmen sich, ballen sich, donnern – und finstere Abgründe geben gewaltigen, tosenden Widerhall. Chaos und Vernichtung wüten. Und das Licht, da es lebenssüchtig wieder ausstrahlen will in den glänzenden Prinzipalen, wird gepackt, gewürgt und in zuckende Blitze zerrissen –

Bis dann alles in der todestraurigen Schwermut des Borduns ertrinkt.

Gebannt sitzt sie, gelähmt, überwältigt von dieser Kunst, die Leben ist – Leben dem Tode verwandt und wie eins mit dem Tod –

Und wie ein Trost steigt es in ihr auf: Das ist nicht um mich! Wer bin ich, daß ich soviel wert sein könnte? Um sein ganzes Dasein ist es, um die Wucht seines Schicksals, um seines Unglücks Gewalt –

Wie ein Erlahmen ist es jetzt in den Fingern – eine Müdigkeit legt sich auf den Geist – die Oberstimme entschwebt ins Traumland. Visionen ziehen wie lichtbesäumte Abendwolken.

Matilde selbst beginnt auszuruhen in einer befriedeten Welt der Versunkenheit. Von einer stillen Güte berührt, die über den Dingen ist – jenseits 86 von den Kämpfen und Leidenschaften der Sinne. Dem Körperlichen entrückt – gerettet ins Geistige – in die große Versöhnung – in das schuldlose Schauen –

Da fällt der Lichtschein einer geöffneten Tür in die Dämmerung – eine Gestalt – noch im Dunkeln – jetzt im matten Schein – Robert –! Ist es ein Gespenst, das die Angst ihrer alten Gedanken sich geschaffen? Aber ein Gespenst so von Fleisch und Bein –!

Seine Tritte hallen auf den Fliesen. Jetzt tritt er in ihre Bankreihe – setzt sich neben sie – rückt an ihre Seite.

Und er spricht. Aber nicht in dem Zorn, der Wut, dem Haß, nicht in der Leidenschaft, die von dieser Welt ist. Wirkt so der heilige Raum, der sie hier umfangen hält? Ist es das Entrücktsein in eine Übermacht des Erlebens? Wie aus einer gütigen Ferne kommen seine Worte: »Ich bin so schnell wiedergekommen, um auf die Entscheidung zu dringen. Nun höre ich von Mutter, daß sie gefallen ist. Gegen mich. Ich bin also gewesen. Um dich geht es nun.«

Sie sitzt schweigend. Ein Reifen legt sich ihr um die Brust. Und in der Bedrängnis pocht ein Groll: warum muß er mich so wehrlos machen, er, wie sein Vater? Warum brandet nicht seine Wildheit gegen mich an?

Auf der Orgel noch immer die gebändigten Klänge. 87 Robert hebt den Kopf zu ihnen hin. »Du bist in Vaters Gedanken. Dich spielt er – dein Leben, deine Zukunft spielt er – deine Gemeinschaft mit Hilmar.«

Er flüstert. Was er sagt, ist wie die Begleitung zu des Vaters Musik. »Ich spreche zu dir, nicht als Hilmars Feind, als dein Freund spreche ich zu dir. Als mehr denn dein Freund, als ein Teil von dir selbst. So hab' ich mich in dich hineingelebt. So ist dein Schicksal auch meines, und was du leidest, leide ich. Und nun ist Hilmar König unser Los. Du kennst ihn nicht, aber ich kenne ihn. Fürchte am meisten das an ihm, was dich gewonnen und bezaubert hat. Und deine Stimme, die Vater als ein Heiligtum gehütet hat – die deine Seele ist – deine Seele, in die auch ich mein Leben eingeschlossen habe – wie wird er, er dieses Kleinod verwalten. Deine Seele in seinen Händen!«

In Klagerufen zitterte die Orgel auf, ein dunkles Wehe in schluchzenden Registern, umwogt von den unheilvollen Schatten des Basses, rief aus dem dumpfen Gewölbe die Geisterstimmen des Schicksals. Dann starben die Töne hin und breiteten einen düsteren Flor über die horchenden Herzen –

Matilde schauerte zusammen, sie dehnte sich, die schwarzen Schleier zu zerreißen, sie sah, wie Manuel aufstand und die Traktur zurückschob. Auch sie wollte sich erheben, aber wie gefesselt waren ihre Füße. 88

Nun hörte sie die kraftlos schlürfenden Schritte des Vaters Löteisen – er ging zur Tür – sie fiel zu – und jetzt – ihre geschärften Ohren vernahmen deutlich, wie er die Schlüssel umdrehte –

Sie war eingesperrt – mit Robert, der regungslos an ihrer Seite saß, als hätte er sie selbst gebannt in seine Unbewegtheit –

Sie wagte es nicht, sich zu rühren. Als könnte durch die leiseste Bewegung ein furchtbares Geschehen entfesselt werden. Den Atem hielt sie an – um dann, wie erwürgt von dem Luftmangel, zurückzusinken. Er faßte ihren Arm – da gurgelte ein Schrei in ihrer Kehle auf – ihre Augen schreckten ihm entgegen – sie sah seinen keuchenden Mund, den Unterkiefer vorgeschoben –

Aber eine Sekunde nur. Da riß er sich empor. Mit heiserem Lachen lallte er: »Du – fürchtest dich – vor mir –«

Er trat heraus aus der Bank, seine Faust packte das Gestühl, daß es aufstöhnte. Dann wandte er sich zur Sakristei und ging hinein. Mit einem Schlüssel kam er zurück. »Wir haben hier einen zweiten,« sagte er tonlos.

Ohne sie begab er sich gleich zur Tür und öffnete sie weit. Eine Lichtbahn flutete in die Gruft. Draußen der grüngoldene Zweig einer Linde klopfte wie rufend an das dunkelbemalte Bogenfenster, in der Krone sang eine Amsel ihr lebensseliges Abendlied. 89

Matilde eilte ins Freie. Von Robert gewahrte sie nichts mehr, aber sie sah sich auch nicht weiter nach ihm um.

* * *

Als Matilde am Abend zu Hilmar und mit ihm in die hohe, helle Zärtlichkeit des Mondlichtes sich flüchtete, wußte sie selbst nicht, was sie von dem dumpfen Grufterlebnis, das wie ein Spuk in ihr umging, ihm erzählen sollte.

Noch war es ihr wirr im Kopf, und die schlagenden Wetter rollten noch in ihrem Gemüt. Ihr klopfendes Herz aber konnte sich nicht vor ihm verstecken.

»Was ist denn mit meinem gescheuchten Singvögelchen?«

Da sagte sie ihm, doch stockend, daß sie mit Robert zusammengewesen sei, daß er nun wisse, was die Glocke geschlagen habe.

»Hat er dir weh getan?«

»Mir nicht. Eher dir. Und darum auch mir.«

Er zog sie an sich. »Natürlich hat er auf mich geschimpft und mir geflucht! Kann man es ihm verdenken? Wie arm ist der arme Kerl, und wie reich bin ich!«

Er hob sich in seine strahlende Sieghaftigkeit. Und um ihn flatterte die Romantik.

»War es nicht schön zu der Zeit, mit der unsere Phantasie sich beschäftigt, seine wie meine? Wo 90 sich der Haß nicht so in das Männerherz hineinfraß und es vergiftete? Wo es den froh-freien Holmgang gab zwischen den Männern? Den ehrlichen Kampf um das Weib, mit blanken Waffen?«

Um das Weib – hier lehnte sich etwas in ihr auf. So fragte sie nun doch mit reichlich steil gehobener Nase: »Und die Frau steht wahllos dabei? Sie ist diesem Ungefähr ausgeliefert?«

»Kein Ungefähr! Kein Würfelspiel! Und keine Entwürdigung der Frau! Ihr Wunsch waltete von je über den Ausgang. Sie war die Wunschmaid. Der von ihr Erwählte, Erkorene blieb der Sieger und gewann sie, sie, die Walküre.«

›Du redest dich gut heraus,‹ dachte sie. Aber gefangen war sie doch von seinen Worten.

Er hatte den Arm um ihre Schulter. So wanderten sie in das Traumwunderland des Mondes, und immer gläubiger barg sie sich an seine Brust.

»Man soll nicht sagen,« jubelte er, »wer Glück hat, führt die Braut heim – wer die Braut hat, führt das Glück heim, muß es heißen!« Und die beiden Herzen frohlockten und schluchzten ineinander.

* * *

Es war geschehen, daß dieses traumhaft schwere und dunkle Kirchenerlebnis mit den Löteisens Vater und Sohn Matilde fortgeschreckt hatte von ihrer Kunst. Hinter ihrem Gesang stand für sie immer 91 Manuels wirres, drohendes, gewalttätiges Prophetenhaupt, der die Zukunft ihr deutete – in eine Zukunft sie wies – in eine Zukunft seines Machtwortes, die trostlos, unglückselig und ohne Sonne war, wie die Nebelnacht, die über die Stunde jenes bangen Tages sich gelegt hatte.

Dagegen ihr heller, schlanker, mit all den beschwingten Kräften seines Geistes und seiner Phantasie ins Leben hineinsprühender Hilmar!

Und dann, wird sie nicht Herrin vom Koninghof, dem großen, alten, herrlichen Gut? Sie, mit ihrer Sonnenfreudigkeit, ihrer Liebe zu der Erde, ihrem immer tiefer wurzelnden, immer kräftiger sprossenden, immer feiner sich verästelnden Heimatgefühl? Sie, mit ihrer Andacht vor den Wundern der Scholle, ihrer entzückten Hingebung an das Erwachen der Keime, das Sichentfalten, das Aufquellen, das Gedeihen, das Reifen?

Sie hat im harten Werk der Hände, im tiefsten Atemholen des Schaffens, die Lungen durchtränkt von dem Odem des Landes, mit dem Boden die Herzensfühlung gewonnen. Die ersten Sporen hat sie sich wahrhaft verdient. Ohm Ekbert, ihr trefflicher Lehrmeister, wird nun weiter ihr getreuer Eckart sein.

Und heute – munter lacht sie ihm ins Gesicht. »Ohm Ekbert, die darfst nicht vom Pferde fallen. Ich möchte mir nun doch auch den weiteren Blick aneignen. Und nicht für immer Stoppelhopser sein. Du sollst auch mich beritten machen!« 92

Er zieht die gesträubten Brauenbüschel bis unter den Mützenschirm. »Kind – du hegst kühne Vorstellungen von dem Pferdebestand unseres braven Koninghofes. Daß er mir diesen Inspektorgaul, diesen halbinvaliden Stelzfuß hergibt, ist von ihm schon alles mögliche. Hilmar hätte nie so umstürzlerische Gedanken gehabt.«

»Umstürzlerisch« – scherzt sie – »mal' keine Reitkatastrophen an die Wand.«

»Und hast du dir klargemacht, was deine Versetzung zur Kavallerie hier für Folgen heraufbeschwören wird? Glaubst du, Hilmar wird dann als Fußfanterist nebenherlaufen? Ganz gewiß wird ihn das ewig Weibliche hinanziehen.«

»Nun ja!«

»Aber Wirtschaft, Horatia! Du wirst dich doch noch an das kleine, vielleicht an das ganz kleine Einmaleins gewöhnen müssen.« Er blickt nicht eben rosig in die agrarische Zukunft.

Aber jetzt muß Hilmar herbei. »Wollen wir nicht einmal unseren Marstall besichtigen?« meint er gleichmütig und beharrlich.

In Ekbert steigt das verquere Gefühl empor: nun ja, er ist der Herr! Aber gleich renkt er alle Empfindlichkeit gerade. Und nun ist er ganz bei der Sache.

Koninghof hatte früher eine Pferdezucht gehabt. Die alte Bahn, eine offene, überdachte Halle, bestand noch, war allerdings inzwischen als Remise für Wagen und Ackergerät und gelegentlich als 93 luftiger Trockenplatz für Futter und Getreide benutzt. Ekbert ordnete ihre Wiederherrichtung an und lieferte aus dem Stall die beiden Reittiere.

Es waren zwei alte Schwadronspferde, die immer noch einen Tanz wagen konnten. »Kathrin«, die braune Stute, für Matilde bestimmt, war noch wendig genug und konnte es noch wieder zu leichterer Aktion und annehmbarer Gangart bringen. Dazu hatte sie eine weiche, willige Gemütsart. Für Hilmar sollte der schwarzbraune Wallach »Kaulbars« gesattelt werden.

Hierbei hatte nun allerdings eine gelinde Teufelei die Hand im Spiele, mit dem Hintergedanken: so ganz leicht, mein lieber Junge, soll die vierbeinige Lebensführung dir, obschon du kein Neuling bist, nun doch nicht eingehen! Der Wallach hatte ein Maul und eine Seele von Sohlleder und seinen störrischen Dickkopf für sich. Dazu hatte er einen so harten, steilen und stoßenden Trab – Ekberts stöckeriger alter »Sturmbock« war eine Liebesschaukel gegen ihn.

Jetzt wurde also jeder der Zöglinge auf seinem Fahrzeug verfrachtet und nach der freien Unterrichtsmethode, die das Einschnüren in spanische Stiefel verschmähte, durfte er lospaddeln und dem Spiel der Wellen sich anvertrauen. Natürlich unter den immerhin nötigen Anleitungen, in denen der geheiligte Wachtmeisterton, mehr rauh als herzlich, das Wort führte.

Auch Matilde war im Herrensattel. Eine andere 94 Art des Reitens ließ Ekbert nicht gelten. Und nun, in der Mitte der Bahn, stand er mit Peitsche und vorgeschriebener Ergrimmtheit und schnob seine armen Opfer an, die hilflos in schwindelnder Höhe zwischen Himmel und Erde herumwimmelten.

»Tiefer die Hände, Matilde – keine Fliegen in der Luft greifen – die Knie fest und die Unterschenkel loser –!«

»Hilmar – nicht den Kopf so hoch und das Kreuz so steif – der Kopf hat sich hier nichts einzubilden – hier wird mit dem Gesäß gedacht – man sitzt zu Pferd, Hilmar – sitzt und hopst und hampelt nicht – mitgehen, schieben helfen – und Himmel noch mal, die Vorderhand gehört mit zum Ganzen – Herrgott, ist das noch ein Pferderücken – und wo will der Gaul mit der Nase hin – ist er ein Sterngucker – willst du ihm den Jupiter zeigen?«

Armer Hilmar, du hattest nichts zu lachen! Doch machte er gute Miene zum bösen Spiel und ließ es sich nicht verleiden. Er konnte allerdings nichts daran ändern, daß sein Reiten immer mehr zum Faustkampf mit dem hartmäuligen Schinder wurde.

Matildes weiche Hand aber gewann den Sieg. Der Ohm selbst war begeistert von ihrem reiterlichen Gefühl und ihrer geradezu unheimlich wachsenden Fertigkeit. »Gefühl ist alles,« sagte der Meister, »und auch Reiten ist Musik.«

Hilmar mußte hier nun beträchtlich abseits stehen. Und die Schattenseite war nicht gerade sein Fall. 95 Gewiß, es war die Herzallerliebste, die über ihn triumphierte. Und hatte er selbst nicht teil an ihrem Glanz? Aber immerhin, es wär' ihm lieber gewesen, sie hätte zu ihm aufschauen können. Obschon die Reitkunst ganz und gar nicht das Feld seines Ehrgeizes war.

Nun fand er sich lachend zurecht, und gleich sah der eigene Stolz in ihren Leistungen seine Befriedigung. Fast knabenhaft war es, mit welch heller Freude er auch die anderen an dem Genuß des trefflichen reiterlichen Bildes teilnehmen ließ, das sein Mädchen zu Pferde bot, wie er Angestellte und Leute, die auf dem Hof beschäftigt waren, herbeirief, daß auch sie Matildes fabelhaft schnell erreichte Meisterschaft bewundern sollten.

Auch ihr Vater wurde erbarmungslos von seinen Aquarien herangeholt und mit fachlichen Erklärungen halbtot geängstigt, ob er gleich klagend beteuerte, er wüßte und verstände wohl etwas von fliegenden Fischen, aber nun und nimmer von fliegenden Changements.

Matilde aber war in ein neues Land gekommen. Auch hier war Kunst, auch hier waren die Ehren eigener Genugtuung. Wie sagte der Ohm? Reiten ist auch Musik – –

Der Gedanke an ihren Gesang schnürte ihr noch immer die Kehle zu. Immer wieder rief er Gesichte, die ihr Pein machten. Als Hilmar einmal in zärtlicher Stunde hingegeben sie bat, daß sie ihm etwas singen möchte, sah er die Qual in ihren 96 Augen. Da wußte er, daß hier eine Wunde noch nicht geschlossen war, daß das Losreißen vom Kantorhaus noch immer in ihr brannte.

* * *

Eines Morgens, als Matilde in ihrem Zimmer eben die hohen Stiefel angezogen hatte und den geteilten Rock anlegte, um mit Ohm Ekbert auf die Felder zu reiten, kam Minna das Mädchen und meldete unerwarteten Besuch: Frau Kantor Löteisen.

Matilde erstarrte in peinlicher Verwunderung. Sie ging Alwine entgegen und forschte in dem harten Gesicht, geleitete die Frau in die Stube und bat sie Platz zu nehmen.

Nun kamen die Worte schwer und wie unwillig aus den schmalen, von des Lebens Bitternis zusammengezogenen Lippen. Und sie sprach mit der dürren, quäkenden Stimme, die darüber, daß sie bitten sollte, noch mehr in die Brüche ging. Erzählte stoßweise, daß es mit ihrem Mann schlimm stünde. Daß er wieder in Verzweiflung geraten wäre. Daß er, wie seit längerer Zeit nicht mehr, nun wieder zu dem alten Betäubungsmittel gegriffen hätte. Er ginge ja sonst nicht aus sich heraus, aber jetzt hätte er doch selbst verraten, was ihr allerdings kein Geheimnis mehr gewesen. Und kurz und gut: Da er mit ihr, Matilde, nicht mehr musizierte, fehlte ihm der letzte Halt. 97

Gleich ging Matilde mit ihr. Sie war gepackt – nicht nur davon, daß die harte, unzugängliche Mutter Löteisen offenbar aus sich selbst diese Mission übernommen hatte, die ihrem eigenen Gefühl zuwiderlief. Denn sie hatte die Gemeinschaft zwischen Matilde und ihrem Mann immer mit scheelen Augen angesehen. Ergreifend stand das Bild des niedergebrochenen Manuel vor der Gerufenen, der nun einmal an ihr litt.

Sie konnte ihm helfen – und sie wollte, wollte ihm zur Seite stehen. Dieser Klang trug durch das Unbehagen, durch all das Trübe und Dunkle, das um das Kantorhaus sich gelagert hatte, sie hindurch.

In der Jasminlaube fand sie Manuel. Er zeichnete mit dem Stock Figuren in den Sand und machte ganz den Eindruck eines schwer Leidenden.

Als sie zu ihm trat, starrte er mit ungläubig leeren Augen. Dann plötzlich füllten sie sich groß mit jauchzendem Licht. Aber wieder ermattete der Glanz, und dann flatterte eine müde Klage in seinem Blick. Er musterte ihr Gewand. Sie kam aus einer fremden Welt, und das Fremde war das Feindliche.

Aber war ihre Stimme nicht dieselbe, da sie zu ihm sprach? Und was sie sagte, war es nicht gut und echt, da es aus dem Herzen kam? Auch frei von der Leber ging es und brauchte keine empfindsamen Flausen und Vertuschungen.

»Ja, Vater Löteisen,« – sagte sie ganz 98 ungezwungen, als Antwort auf seine Musterung – »ich bin jetzt Wirtschaftseleve. Da mein Zukünftiger ein Lateiner ist, muß ich schon des Praktischen mich annehmen. Sobald ich aber aus dem Gröbsten heraus bin, wird auch die Musik wieder ihr Recht bekommen.«

»Daß die bei dir abgefunden sein sollte« – er sprach leise und mühsam – »das ist ja undenkbar. Da sie nun einmal dein Lebensbronnen ist. Aber es wollte mir scheinen, als wäre ich jetzt entbehrlich –«

Nichts mehr von seinem fordernden Trotz und Stolz. Voll wurde ihr das Herz, und es lief über. »Du – entbehrlich! Gehören wir nicht musikalisch zusammen?«

Es zuckte ihm durch den Leib bis in die zitternden Hände.

»Morgen,« fuhr sie fort, »wenn es dir recht ist, will ich wie gewöhnlich zur Stunde kommen.«

»Ob mir das recht ist.« Aber bei dem ›wie gewöhnlich‹ hatte sein Herz gebebt.

Als sie dann ging, gab in seinem Blick ein weher Abendschein ihr das Geleit. Doch war es immer ein Licht. Und er wandelte nicht mehr in der Finsternis.

Da sie Hilmar von ihrem Besuch im Kantorhaus erzählte, gab ihm das einen Stoß und Stich. Er wollte auffahren und bemeisterte sich mühsam. »Lieber wäre es mir ja gewesen, du hättest das erst mit mir besprochen.« 99

Nun waren sie bei der Musik und ihrem Singen. Leidenschaftlich, fast gewalttätig stürzte er sich auf sie. »Jetzt sollst du auch für mich singen – nicht auch für mich – mir, mir zuerst! Wenn nicht mir allein! Schubert will ich von dir hören! Ich will die ganze Blütentrunkenheit der Melodie. Genug hab' ich von diesem atonalen Gekrächze und Mundausspülen! Genug von dem blöden, nur rhythmischen Gestake. ›Im Anfang war der Rhythmus‹ – gut, dann soll er da bleiben, wo er war!«

Er selbst wollte sie begleiten. Den ganzen Nachmittag übte er auf seinem Flügel in »Schwanengesang« und »Winterreise«.

Er spielte gut, aber ganz eigenwillig, und darum war er ein schlechter Begleiter. Sie kamen nicht zusammen. Und es blieb nicht aus, daß Matilde, die Künstlerin, an seinem, des Dilettanten, Spiel und Gehabe im stillen Kritik übte und Vergleiche zog mit Manuel, dem Lehrer, dem Sache und Wesen Heiligtum war.

So gab es die erste Verstimmung zwischen ihnen – durch die Musik. Und in ihr zog das Wort seinen Schatten, das Robert zu jener schweren Stunde in sie hineingesenkt hatte, die Frage an das Schicksal: was wird aus dem, das uns zumeist am Herzen liegt, was wird aus deiner Stimme werden in seinen Händen?

Aber nun war Hilmar es wieder, der plötzlich andere Saiten aufzog. Der mit einer ebenso 100 heftigen Hast, bei der ihr nicht eben wohl zumute war, in sich ging und Buße tat.

»Da haben wir unsern Freund Hilmar, wie er leibt und lebt. Der alles Besserwisser – und alles Schlechterkönner! Warum nimmst du das so sänftiglich hin! Ist auch das ein Zeichen deiner Überlegenheit?« Darin zitterte eine Bitternis und noch war seine Stirn umwölkt.

Dann aber drängte es ihn, ihr zu huldigen und eben dieser ihrer Überlegenheit verliebt und bewundernd sich zu Füßen zu legen.

Er schlug sich vor den Kopf. »So was von lächerlicher Anmaßung! Dir Vorschriften machen zu wollen! Einem Stern zu sagen, wie er strahlen soll – einer Blume, wie sie zu blühen hat!« Mit scheuen Händen nahm er ihre Finger und zog sie an die Lippen.

Dann setzte er sich an ihre Seite. »Sieh, mein Liebling, es hat ja seinen Grund, daß ich vor dir mich aufplustere. So truthahnhaft. Und es hätte seine natürliche Berechtigung – nur müßtest du dann eben eine Pute sein.« Er kam schon wieder den fröhlich gelassenen Bahnen näher. »Auch hoch zu Roß hab' ich dir kommen wollen. Wie hast du mich aus dem Sattel gehoben! Darf ich nicht eine Heidenangst haben, daß du jetzt auch noch auf meinem Berufsfelde dich tummelst und mich als Archäologen glatt in den Staub wirfst! Laß wenigstens dem Schuster seinen Leisten.«

Mit diesem scherzhaften Ernst hatte er wieder 101 die Oberhand. Sie lachte mit ihm und strich ihm übers Haar. Schon aber setzte er einen Dämpfer auf ihre Fröhlichkeit.

»Du hast gut lachen! Vor mir aber reckt sich so ein Gespenst himmelan, wir könnten einmal die grausame Ballade: ›Kleiner Mann hat 'ne große Frau, he juchhe‹ – lebendig machen. Die dadurch nichts an ihrer Grausamkeit verliert, daß der kleine Mann in diesem Falle nicht der still Leidende, sondern ein Gernegroß ist und kräftiglich aufzumucken liebt.«

Sie packte ihn an der Brust, zauste ihn und lachte ihm ins Gesicht. Da blies er sich nun doch die blakende Lampe aus, mit der er die Zukunft sich trübte.

Er schlang die Arme um sie. »Mein Reichtum drückt mich! Es gibt eine Rache des Glücks. Wer ist auch so reich wie ich!« Und er ruhte aus in ihren Augen.

»Jetzt sollst du mir singen,« bat er. »Ohne daß ich dir dazwischenstümpere. Volkslieder, Liebchen! Willst du?«

Und sie sang mit ihrer jungen, reinen Kunst, flügelfroh und wieder schwermutbetaut die jauchzende Sonnenseligkeit und schluchzende Sehnsucht.

Dies ist mein! Daß dies mein ist! Hilmar schwebte in verlorenen Höhen.

* * *

102 Im Herbst sollte die Hochzeit sein. Hilmar war sehr fleißig bei seiner Gotenarbeit. Er wollte vorher noch was Rechtes zustande bringen. Oft saß er bis in die Nacht.

Aber es gab hier Enttäuschungen, Entmutigungen, Bitterkeiten und Kämpfe. Es wollte ihm allmählich aufgehen, daß er sich in eine Sackgasse verrannt hatte. Immer wieder aber lehnte sein Eigensinn und seine Hartnäckigkeit sich dagegen auf. Und so wurde viel Mühe vertan.

Die Arbeit sollte seine Habilitationsschrift werden. An einer süddeutschen Universität hatte er die Möglichkeit, als Privatdozent unterzukommen. Aber die Entscheidung wurde ihm schwer.

Hier im Norden, an der Seeküste, war sein Forschungsgebiet. Und nicht bloß wissenschaftlich war er hier beheimatet, auch mit dem Herzen. Er wußte auch, was es Matilde kosten würde – wennschon sie ihm alles anheimstellte – so weit sich von ihrem Gutshof zu trennen. Auch hier wurde er hin- und hergerissen.

Dann war da etwas, was ihn mehr anfaßte als alles dies, was schwer sich ihm auf die Seele legen konnte. Matildes Verhältnis zu seiner Berufsarbeit. Gewiß, sie nahm teil an seinem Schaffen, seinem Forschen, seinen Erfolgen, seinen Entgleisungen. Aber daß sie ganz, mit Herzenshingabe eingegangen wäre in das, was ihn erfüllte – es blieb ein schöner Traum.

Wenn sie mit Ekbert vom Felde zurückkamen und 103 Hilmar, der solange in sein Museum gebannt gewesen, die beiden empfing, dann konnte wohl sowas wie ein grimmiges Lachen über sein Gesicht hinwettern.

»Da soll man nun nicht platzen vor Eifersucht! Ich sitze hier krummgezogen von Müh' und Not über einer Arbeit, die den Teufel im Leibe hat – wenn ich glaube, ich bin voran und vorne, dann bin ich schon wieder hinten – so werde ich von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt. Und sie, die einzige, die diesen Geist beschwören könnte – sie wandelt inzwischen auf Sonnenwegen, sie macht in Naturwalten, was sie mutig als Schaffen bezeichnet. Während die eigentliche Arbeit Sonne und Regen verrichten müssen und das liebe Vieh selber die Gewogenheit hat, sich gerne zu vermehren. O, wie ich euch hasse, ihr bukolischen Nichtstuer, ich armer, rastloser Gehirnbohrwurm! Hasse und beneide!«

Hinter solchem laut und pathetisch sich gebärdenden Scherz lagerte nun doch immer ein kleines, stilles Ernstempfinden. Eines Tages aber kam es zwischen dem agrarischen Betrieb und der wissenschaftlichen Forschung zu offenem Streit. Eine von Matildes regsam jungen Ideen, die wie die Fohlen herumsprangen, richtete das Unheil an.

Nicht weit von dem Königsgrab lag ein Zipfel Weidland, das nicht viel nutz war. Ekbert hätte es sonst mit unter den Pflug genommen, aber die Bestellung war unbequem, da es ziemlich steil 104 hügelan sich hob. So war es ein vergessener Winkel geblieben.

Nun wollte es Matilde, die der Geflügelzucht sich annahm und ihr neue Bahnen öffnete, für eine Sonnenblumenkulter. Dafür mußte es zunächst einmal gründlich umgepflügt werden, was denn auch geschah. Ein junger Knecht war mit der Arbeit beauftragt, der von den Geheimnissen dieses Geländes nichts wußte, sich jedenfalls nicht um sie kümmerte. Ekbert und Matilde, im Drang der Geschäfte, hatten es versäumt, ihn auf etwaige Funde vorzubereiten und ihm Verhaltungsmaßregeln zu geben. Und nun wollte es das Unglück, daß er auf die Ausläufer eines Urnenfeldes stieß, die von der Hügelhöhe her lehnabwärts sich zogen. Er wollte sich ein Lob verdienen, schnell mit der Arbeit fertig werden und pflügte kurz und klein, was unter die Schar ihm kam.

Als Matilde herüberritt, entdeckte sie Tonscherben und sah die Bescherung. Sofort gab sie dem Knecht Anweisung, die Arbeit abzubrechen. Dann eilte sie nach dem Turmhaus zu Hilmar, ihm gleich Bericht zu erstatten.

Der mußte sich sehr zusammennehmen. Er war ernstlich böse. Und am Tatort wuchs sein Zorn. »Du bist hier ja einigermaßen schuldlos« – ›einigermaßen‹ sagte er – »aber der Ohm hätte doch Bescheid wissen müssen!«

Hinter dessen Rücken zu schelten, widerstrebte 105 ihm. Als Ekbert sich dann aber auch einfand, brach es los.

Hilmar mäßigte seine Stimme. Doch was er sagte, war heftig genug. »Ich verstehe ja das eine nicht, daß du, statt den grünen Jungen hier herumackern zu lassen, nicht einem der alten Hofgänger die Arbeit übertragen hast! Einem, der mir schon bei den Ausgrabungen geholfen hat! Gerade hier in der Nähe des Königsgrabes! Wo meine ganz besondere Interessensphäre liegt. Und nun dies hier! Gerade hier bei uns! Wenn das in Stiefelknechtshagen oder Kakeldütt passiert wäre! Aber hier auf Koninghofer Grund! Dem altgehegten, geradezu geheiligten Ausgrabungsgebiet! Und unter meinen Augen! Meine Freunde an der Universität werden ja ihre Gaudi haben.«

Er konnte den Gedanken an die Wirkung nach außen nicht unterdrücken. Und Robert Löteisen tauchte sehr lebendig auf. Aber ihn an die Wand zu malen, hütete er sich doch.

Ekbert besänftigte ihn durch das unumwundene Eingeständnis seiner Schuld. »Du siehst, ich werde alt. Die Erklärung, daß zwei Viehhändler – so gerissen die beiden auch sein mögen – in diesen Tagen mein ganzes Gehirnschmalz für sich in Anspruch nehmen, spricht eher gegen als für mich. Aber nun wollen wir retten, was noch zu retten ist.«

Hilmar hielt immer noch auf Abstand. »Ich möchte das allein machen. Nur hätte ich gern den 106 alten Ewert als Gehilfen. Wenn du den entbehren kannst –?«

Matilde fühlte sich nicht weniger schuldig und ebenso gescholten. Und mit dem Trotz des Korpsgeistes stellte sie sich, wenn sie auch dem Scheltenden nicht unrecht geben konnte, ganz zu dem Alten. Als dieser jetzt mit sachlicher Gelassenheit sagte: »Nun – denn also jeder weiter in seinem Text!«, da wandte auch sie sich zum Gehen.

»Bleibst du – nicht hier?« fragte Hilmar, immer noch nicht wieder erhellt und von Unmut frei.

Da sagte sie ruhig: »Ich habe den Vater Ewert in meiner Kolonne. Den werd' ich jetzt gegen diesen jungen Knecht austauschen. Wir haben noch mit den Futterrüben zu tun. Ich komme dann wieder her.«

Und sie ging mit dem Oberst, sich wieder aufs Pferd zu setzen. Beide sahen sich an.

»Nun forscht jeder in des andern Gesicht nach der langen Nase,« sagte Ekbert. »Und wir fangen schon schlingelhaft an zu konspirieren. Gegen ihn, der der Herr ist. Wenn er nur nicht so gräßlich in seinem Recht wäre!«

Und dann schon sein Unbehagen scherzhaft abwiegelnd: »Wie soll ich nun zwischen deinen Sonnenblumenideen und der Viehfirma Loeb Söhne und Co. meinen Groll gerecht und angemessen verteilen?« 107

Matilde hatte ihren Schreck abbekommen vor dem, was er von Konspirieren sagte. Zeigte sich hier nicht wahrhaftig der Abweg zur Kamarilla, zur Fronde und Koterie?

Und nun ging sie immer mehr in sich. Hatte Hilmar nicht weiß Gott allen Anlaß gehabt, aus der Haut zu fahren? Und er war so gesittet darin geblieben. Wie würde ein anderer hier getobt haben. Wirklich als Herr hatte er sich gezeigt, da er auch selbst sich in der Gewalt hatte. Natürlich ihr zuliebe – weil sie es war, die mit ihren Wünschen das Unglück angerichtet hatte. Wie beschämend kleinlich hat sie sich dazu verhalten! Nicht viel anders als ein albernes, gescholtenes Schulmädchen. Er hat so gräßlich recht, sagt Ekbert. Gleich will sie wieder zu ihm, sobald sie den alten Ewert abgelöst hat. War Hilmar nicht aufs tiefste verwundert – und verwundet, daß sie nicht bei ihm blieb?

Die Sehnsucht trieb sie. Als sie wieder bei ihm war, der grimmig in dem Zerstörten wühlte und den viel schlimmer noch ein ratloser Gram verdüsterte über dies unzweifelhafte und ihm so unfaßliche Abrücken und Sichfernhalten der Geliebten – wie leuchtete er auf, wie umschlangen sie Augen und Arm, wie schlug sein Herz an ihre Brust!

»Verrückt bin ich! Was bin ich verrückt! Lieb! Lieb! Daß ich dachte, dein Hühnersamen könnte dir mehr sein als mein Lebenswerk! Der krause 108 Sinn der Königs wird dir noch öfter zu schaffen machen. Du mußt fein Nachsicht mit mir haben.«

Sie schmiegte sich an ihn und strich ihm übers Haar. Daß er bei ihr sich entschuldigte! Sie wand sich beschämt und gequält.

»Und jetzt sollst du sehen,« jubelte er, »da du bei mir bist, was wir hier für Funde machen! Das eine hab' ich schon festgestellt, daß wir hier was Jungeisenzeitliches haben. Die Bronzebonzen werden noch grüner anlaufen vor Ärger und an Patina des Veraltetseins. Jetzt wirst du erleben, was wir hier zu Tage fördern! Ganz Ungeahntes an Metallgeräten und Waffen! Ganz neue Zeugnisse für die Zusammenhänge unseres Nordens mit den klassischen Naturvölkern! Das große Licht dringt ein in das Nebelheim der Archäologie! Hier wird der Funke lebendig! Denn mein Glück ist mit mir am Werk.«

* * *

Sein Überschwang, vom Rauschen der Empfindung geschwellt, mußte nun freilich die Segel streichen. Unbarmherzig leuchtete die Wissenschaft ihm auf die Finger.

Aber immerhin kam erfreulich Bedeutsames ans Licht. Stücke eines la Tène-Eisenschwertes, eiserne Lanzenspitzen und Urnen mit eigentümlich plastischen Ornamenten.

Matilde ließ sich erzählen, wie griechische 109 Einflüsse, von Massilia her, in diesen Erzeugnissen gallischen Geistes sich nachweisen ließen. Ihre Phantasie flog mit der seinen auf weite Wanderschaft, der Geist der Menschheit umbrauste ihre Fahrt.

Er war glücklich, da er sie an seiner Seite hatte. Keine Niedergeschlagenheit, daß sich das geträumte Wunder von Entdeckungen nicht zeigen wollte, kam über ihn. Und wenn die Gesangsstunde sie ins Kantorhaus rief, folgten seine Gedanken ihr nicht mehr mit der alten feindlichen Ablehnung.

Manuel war ruhig geworden. Der Sturm in ihm, das Begehren hatte sich gelegt. Nun breitete es sich über ihn wie ein stiller Glanz, wenn sie zu ihm kam und künstlerische Gemeinschaft sie beide umschloß. Als Gnadengeschenk nahm er ihre Gesellschaft hin.

Und die ganze Kraft legte er in seine Unterweisung. Was an Feuer in ihm war, strömte in den Ehrgeiz ein, dem Leben dieser Stimme alle Kunstmittel dienstbar zu machen. Das war seines Daseins Inbegriff, an nichts anderes dachte er Tag und Nacht.

Matilde aber wurde durch solche inbrünstige Hingabe selbst entflammt. Und sie ward immer mehr einer Priesterschaft sich bewußt.

So in des Wirkens und Schaffens Fülle ging es der Hochzeit entgegen. Das Turmhaus hatte sie sich innerlich schon zu eigen gewonnen. Darum 110 war es kein großes Ereignis, daß sie hier nun als Herrin einziehen sollte.

Und an großes Festgepränge dachte sie so wenig wie Hilmar. Beide trugen weder verwandtschaftliche noch freundschaftliche Bande und Verpflichtungen. Eine ganz stille Hochzeit im engsten Kreise war ihnen beiden nach dem Sinn.

Noch am Tage vor ihrer Hochzeit ging Matilde wie gewöhnlich zum Gesangunterricht ins Kantorhaus. Manuel war heute mehrfach mit dem Ansatz nicht zufrieden, sie bildete ihm das Helle nicht so mitten im Munde, wie er es wünschte. Er ließ sie aus den Übungen nicht heraus, nicht aus der messa di voce, und bog ohne Aufhören an ihrer Stimme durch Intervalle und Mordente.

Er war heut gegen sie, das fühlte sie wohl, um sich gegen sich selber hart zu machen. Daß für morgen ihre Vermählung bevorstand, war ihm natürlich bekannt, wenn sie beide auch über den Zeitpunkt nicht gesprochen hatten. Fürchtete er, es würde nun in ihrer beider Zusammensein eine Änderung geben? Hatte er gar Angst vor einer Trennung, einem Abschied?

Als sie ihre Noten zusammennahm, trat sie offenen Auges auf ihn zu: »Morgen werde ich nun Frau König. Aber mit uns beiden und unserer Musik bleibt es ganz so wie es war!« Sie nahm fest seine Hand. Seine Finger zitterten, erst war es beinahe, als wollten sie traurig und ungläubig 111 davonschleichen, dann aber erwiderten sie den Druck und hielten fest, was ihm gereicht wurde aus ehrlich klarem und tiefem Frauengemüt.

Lange blickte er ihr nach, wie diese hohen, schlanken Mädchenglieder federnd dahinschritten, von Frohmut getragen, beflügelt vom Glück, dem neuen Leben zu. Er hatte es nicht über sich gebracht, seine Wünsche ihr zu sagen. Wie sie es erwartet haben mochte, wie es seine Freundespflicht gewesen wäre. Unterblieb es aus Furcht, die Worte könnten Tränen wecken? In seinen Blicken aber zogen die schwarzen Wolken. Nicht eigene Not, nicht eigener Verlust und eigenes Entbehren war es, was in ihm sich zusammenballte. Ein dumpfes Gefühl der Sorge um ihr Schicksal.

Nicht zum erstenmal dämmerte es in ihm auf, daß Naturen, die ein schweres Unglück immer mehr in sich selbst versenkt und vertieft, an geheimnisvolle Gründe rühren und hier unerklärlichen Kräften die Tore öffnen können. Gehörte er selber auch zu den Unglücklichen, denen die Zukunft ihr Gesicht entschleiert? Wie soll man dieser Schrecken Herr werden? Ist hier nicht Wahnsinn das Ende?

Jetzt packte er den Kopf mit beiden Händen. Ich will nichts ahnen, will nichts voraussehen, will keine Gesichte, keine Gespenster zu Besuch. Meine leibhaftigen Augen will ich weit aufreißen. Will das Bild dieser beiden jungen, schönen Menschen in mich hineintrinken. Die nebeneinander im Licht 112 dahinschreiten – Sonnenwanderer. Sie sollten nicht die Kraft haben, sich zu halten und zu beglücken! Heil, heil auf euern Weg!

* * *

Und nun hatten die beiden ihr hohes Fest. Im Turmzimmer war die Trauung. Die See drängte und flutete leuchtend herein. Mehr als die lieben Worte des alten weißhaarigen Pastor Windelband trug des Meeres schwellende Gewalt strahlend und mit drohender Größe zugleich das Fahrzeug der Liebenden in die Unendlichkeit des Lebens.

Dann beim Mahle tat Ekbert ein übriges und sagte seinen Spruch her auf das Paar, wie er ihm gerade kam.

»Scherben bringen Glück! Und ich bin es gewesen, der einen ganz besonderen Polterabend euch zubereitet hat, wie er nur auf Koninghof möglich ist. Sonst – was wirft man dem jungen Paar zu seiner Glücksfahrt vor die Tür? Scherben von Töpfen, Gläsern, Schalen heutigen Küchengebrauchs. Ich aber habe zurückgegriffen in die Jahrtausende, zertrümmerte Schätze habe ich ihm zu Füßen gelegt, aus denen die Geister sagenhafter Zeiten sich erheben. Geister, diesem Lande zugeschworen und verhaftet, über dem die Liebenden beide als Herren walten. Geister, deren Stimmen sie wie niemand sonst zu deuten wissen, und die 113 darum von ihnen bereitwilligst sich beschwören lassen. Von ihm, dem der Geist der Wissenschaft die Zauberschlüssel verliehen hat, die Rätsel der Vergangenheit zu lösen – von ihr, die auf das Flüstern der Sage lauscht, von den Märchen sich das Herz durchschauern läßt und diese Klänge in ihren Liedern lebendig macht wie keine. Anders als für die anderen Menschen blühen für diese beiden die Blumen aus dieser Erde, rauschen für sie die Wellen des Kornes, das ihr entwächst. Mit all ihren tiefen und geheimsten Kräften gehört sie ihnen zu. Keiner kann so wie die beiden diesen Boden besitzen und aus ihm ernten. Das Brot für den Leib, das Brot für das Herz, für den Geist, für die Seele! Mit all seinen Geistern huldigt ihnen das Land! Wir aber, die Zeugen dieser glückverheißenden Stunde, wollen jetzt mit frohem Gläserklingen dieses Haus durchläuten, das von heute an die Zukunft der beiden hüten will mit treuem Dach –«

Eine leise Wehmut, dem Sprechenden selbst nur vernehmlich, zog sich hindurch. Dies war der Ton: meine Zeit ist um. Die Zeit, wo ich Herr war und herrschte. Daran ist nichts zu ändern. Eine Art Nebenregierung werde ich ja weiter sein. Das von den Scherben, wovon ich hier eben so munter ausging, für mich hat es doch noch einen eigenen Sinn. Ein Scherbengericht ist es für mich gewesen, das mit dem umgepflügten Urnenfeld. Nie hat er vorher so mit mir gesprochen. Ich hab' den 114 Stachel freilich herausgerissen, gleichwohl, die wehe Stelle bleibt nun mal in so einer mürben Haut.

Er gab sich lustig, da er mit den anderen anstieß. Aber Matilde, mit den dankenden und umflorten Augen, sah doch, was in ihm vorging. Sie allein.

Nun zog sie ihn beiseite. »Dich beschäftigt etwas, Ohm. Und ich kann mir denken, was.«

»Ihr beschäftigt mich.«

»Gewiß, du Guter. Aber da du zu uns gehörst, kannst du dich selbst natürlich nicht auslassen. Du hast jetzt so das Gefühl: Du würdest, wo hier nun zwei kommandieren, ganz und gar an die Wand gedrückt.«

Wie fein sie ihn durchspürte! »Wir machen uns nichts vor, liebes Kind –«

Dies Zugeständnis wollte sie. »Du weißt doch, daß ich dich nicht entbehren kann. Warum ziehst du die Brauen so hoch? Oder –« nun lächelte sie – »glaubst du, daß ich heut mit dir konspirieren will – wozu wir ja beinahe schon mal den Anfang gemacht haben. Glaubst du, ich will dich jetzt als Bundesgenossen für mich? ›Die Ehe ist ein Kampf‹ – diese Weisheit hat mir eine zehnjährige Mitschülerin einmal ins Album geschrieben. ›Die Ehe ist ein Kampf. Dies zur Erinnerung an Deine Dich liebende Freundin Elsbeth Eichholtz.‹ Heute kämpft sie, glaube ich, schon selber. Siehst 115 du, jetzt lachst du wieder! Und lachend sollst du fühlen und wissen, was du uns bist! Uns, sag' ich. Denn Hilmar denkt wie ich!«

»Ihr lieben Leute!« Er nahm ihre beiden Hände. »Im übrigen wird der weise Salomo doch recht behalten: alles hat seine Zeit. Auch ein Ohm. Er wird das Weltgesetz nicht umstoßen, und wenn er – als Ochse – noch so lange Hörner hat.«

»Soll nun der elegische Ton in diesen Tag eindringen –«

»Nein, nein, mein liebes Kind!«

»Dann hab' ich« – sie wurde nachdenklich und ernst – »dann hab' ich gleich wieder das zweite Gesicht vor Augen, das für mich plötzlich hinter deinen fröhlichen Mienen stand. Als du deinen schönen Trinkspruch hieltest. Wie du von den Scherben deines Polterabends sprachst. Wie es mir da durch den Sinn schoß, daß es doch Totenurnen waren. Und was uns damit zu Gaste geladen sein könnte –« sie wehrte ab mit beiden Händen und schloß die erschauernden Augen. »Nein, nicht an sowas denken! Nicht von sowas sprechen. So etwas kann man verreden! Lustig sein! Tanzen wollen wir! Ich will meinen Tanz auf meiner Hochzeit. Du spielst doch Straußsche Walzer, Ohm Ekbert – ihr Königs habt schon eure Qualitäten. Spiel' die schöne blaue Donau – komm, Hilmar, wir tanzen. Und dann spielst du, und ich tanze mit dem Herrn Pastor, mit dem Ohm 116 und dem Rochusvater. Ich bin ja so hoch, daß ich die einzige Dame bin!«

Fröhlich blieben sie zusammen bis Mitternacht.

* * *

Ein stiller, sonnenschwerer September schüttete all sein Gold über das junge Eheglück. Es brannten die Wälder, es flammte das Meer, nie hatte Morgen- und Abendhimmel so geglutet. Die ganze Welt hatte Liebesaltäre entzündet.

Für Hilmar war der Rausch Lebensinhalt. Er wandelte ein selig Taumelnder. In Matilde aber befeuerte das Sinnenfrohe die Schaffenslust und Werkfreudigkeit. So erst strahlten all ihre Kräfte auf, die Hausfrau, die Gutsherrin, die Sängerin – jede gab der anderen aus ihres gehobenen Wesens Glanz und Fülle.

Ein wenig beschämt blickte Hilmar auf ihr kraftvolles Walten, der selber unlustig und mit halbem Herzen bei seiner Arbeit saß. Voll Eifersucht auf ihr Schaffen, das seiner Zärtlichkeit sie entzog. Und wieder konnte mit leiser Angst die Frage in ihm sich aufrichten: ist sie nicht die Kraftvollere, die Größergewachsene von uns beiden?

War es wirklich der Sieg des Stärkeren, wenn er sie in seine Arme zwang?

Aber noch behielten die Stunden seliger Vergessenheit ihre Macht. 117 Matilde ging zu Manuel. Seine Augen wollten sich in sie versenken und nach den Offenbarungen forschen, die über ihr Empfindungsleben dahingebraust waren. Aber sie hielten scheu und wie beschämt inne.

Und doch verriet ihre Stimme seinem leidend und leidenschaftlich feinen Ohr, welch neue Quellen die Frauenschaft ihrem Wesen erschlossen hatte.

Er hörte, wie jetzt der Stimme ihre Erfüllung beschieden wurde. Sein Künstlerherz jauchzte dazu. Er richtete sich empor, er lebte an seiner Aufgabe, durch seine Mission dieser Stimme das ganze Rüstzeug ihrer Herrlichkeit zu verschaffen. So kniete er verzückt sich in seine heilige Sendung, und kraft der gleichen andachtsvollen Hingabe brannte das Auserwähltsein sich in ihre Seele.

Aber nur für sich und den Liebsten trug sie ihre Krone.

Gleichwohl kamen über Hilmar, dessen schwebender Schritt wieder festen Boden suchte, Stunden, wo er unter diesem Glanze litt.

Die Übersiedlung nach der süddeutschen Universität hatte er selbst abgelehnt, dadurch, daß er sich nicht wieder um die Stelle gekümmert. Nun war sie von einem Fachgenossen, jünger als er, eingenommen worden. Heute hörte er, daß man auf ihn gewartet hatte. Das schlug nun doch in ihn ein.

Und er mußte sich fragen: ist mein Verhalten 118 nun nicht doch großspuriger, als innere Berechtigung es erlaubt?

Meine Forschungen und Entdeckungen hierzulande sind im wesentlichen abgeschlossen. Bin ich nicht geneigt, auf der Scholle, mit der mich keine andere Arbeit verbindet, vor mich hinzuträumen? Haben die Zärtlichkeiten mich so in Bande geschlagen, daß ich in Gefahr bin, mich zu verliegen?

Preisfrage: wie erwirbt man sich die Achtung seiner Frau?

Mit einer Art wilder Askese warf er sich aufs neue in seine Arbeit. Und ob sie immer spröder sich zeigte – eben weil sie so der Lösung widerstrebte, wollte er sie zwingen. Oft saß er jetzt bis in die sinkende Nacht.

Ein früher Winter kam. Näher rückten die Menschen zusammen. Im Turmzimmer brannte der Kamin. Zum Herdfeuer Matildes Gesang – all die Geister des alten Hauses taten die großen Traumaugen auf.

Die Nebelheere zogen. Schneestürme brausten. Die nordische Sagenwelt atmete sich aus. Neue Kräfte strömten ein in Hilmars Forschen, in Matildes Singen.

Hilmar fuhr auf ein paar Tage nach Berlin, zu Bibliotheksstudien. Matilde saß mit dem Ohm am Kamin.

Sie sprachen über wirtschaftliche Dinge. Die Preissenkung machte ihnen zu schaffen. Der 119 Körnerertrag lohnte sich nicht mehr. Sie mußten mehr auf Mastviehzucht sich einstellen. Ekbert blickte ernst in die Zukunft.

»Es ist schade, daß Hilmar hier so ganz abseits steht. Wenn wir dich nicht hätten! Die du die Seele von allem bist! Aber er ist doch immer der Herr.«

»Er selbst trägt ja daran,« sagte sie nachsinnend, »daß er nicht die Leitung hat. Er, dem dies Führende so im Blut liegt. Wenn ihn doch bald seine Wissenschaft an den Platz stellen würde, der ihm zukommt –«

Ekberts Runzeln zuckten und wetterten. »Ein Jammer, das anzusehen, wie er mit seinem Eigensinn sich immer selbst wieder Knüppel zwischen die Beine wirft! Was muß er nun so auf diese eine Arbeit versessen sein! Mit der er doch offenbar auf ein totes Geleise geraten ist!«

»Ach ja. Aber davon soll ihm einer sprechen! Dann werden alle Dämonen des Trotzes losgelassen.«

Ihre Gedanken flogen zu ihm. Eine lächelnde Zärtlichkeit breitete sich über ihre Mienen, in denen ein Mütterliches aufging. »Er ist mein lieber Junge,« sagte sie leise, versunken.

Er kam nach Hause, überarbeitet, erfolgarm, unfroh. »Du bist mein Glück,« sagte er, und seine Zärtlichkeit umschlang sie.

Sie mußte ihm singen und er ruhte selig aus, stillfriedlich, sorgenlos. Da erfuhr er von ihr: 120

»Nun wird mein Gesang bald seinen besten Sinn haben. Ich werde Wiegenlieder singen.«

* * *


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