Max Dreyer
Der Weg durchs Feuer
Max Dreyer

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Und nun begibt es sich doch, was von Tausenden seit vielen Tagen ersehnt und erfleht worden. Der Westwind macht sich auf und bleibt am Werk. Frische Luft flutet über die Breite. Sie packt den Gluthauch des Moores und zerreißt ihn in Fetzen. Alles, was Atem hat, schlürft diese wehende Frische in sich ein. Die Gräser heben sich bebend, die Büsche leben auf, die Baumkronen rauschen.

Suse schleicht von der Düne her über die Heide. Helga hat auch zum Baden kommen wollen, aber sie ist nicht erschienen. Natürlich steckt sie mit Arnulf zusammen. Der hat gestern gesagt, daß er nun endlich seine Jagdhütte im Moor einweihen wolle. Es ist auch die Rede davon gewesen, daß dies Wetter für die Entenjagd günstig sei. Am besten, es stünde ein Gewitter am Himmel. Vermutlich haben sie sich an der Hütte ein Stelldichein gegeben.

Da liegt sie, neu und schmuck hergerichtet. Für Liebende der rechte Unterschlupf. Suse geht hinan, bleibt vor ihr stehen, macht eine scheue Bewegung zu ihr hin, dann führt sie einen Faustschlag gegen die Tür. Noch seid ihr nicht da – aber ihr sollt auch hier den Abend nicht ohne mich verbringen!

Sie öffnet die Hütte und blickt hinein mit großen drohenden, fiebernden Augen. Ich will euch Gesellschaft leisten, ich will mit von der Jagdpartie sein.

Sie wirft sich ins Gras, sie hat Zeit, sie kann warten. Und wenn der Himmel sich entlädt, dann 244 kriecht sie eben in die Hütte, die vermaledeite. Und bergen die andern sich auch in ihr, dann kann sie rufen: Ich bin schon da! Fast freut sie sich kindlich auf solche Überraschung.

Jetzt fegt ein Windstoß über die pulvertrockene Erde. Staub fliegt, abgerissene Halme wirbeln, zerrissene Blätter tanzen. Ein Stöhnen geht durch die Welt, angstvoll, wie vor etwas Furchtbarem. Wenn dies das Letzte ist! Wenn das Unwetter alles verschlingt! Wieder tost der Weltuntergangstraum durch ihre zuckenden Adern.

Verbraust der Windstoß. Und wieder Stille. Suse setzt sich aufrecht. Mit dem Hohn überlegener Ruhe holt sie ihre Zigaretten hervor, achtlos wirft sie das Streichholz ins Gras. Sie raucht und träumt und vergißt . . .

Da knistert es. Eine Flamme. Sie schrickt auf. Langsam leckt das Feuer sich weiter. Die Augen stieren und gieren – nun will sie aufspringen. Ein paar Fußtritte, und der Brand ist erloschen. Aber sie springt nicht auf. Sie starrt mit stockendem Atem auf den züngelnden Feuerstreif. Nach der Hütte hin wühlt er sich . . .

Die Hütte, die gehaßte, dreimal verfluchte – soll dies so sein? Soll dies dich erreichen, dich fassen? Ist dies das dir bestimmte Los, dein Schicksal? Wie komm' ich, gerade ich dazu, es von dir abzuwenden! Je eher du vom Erdboden verschwindest, um so besser! 245

Ein neuer Windstoß. Nun springen die Feuer die Holzwand an. Jetzt reißt es die Lauernde doch in die Höhe. Aber jetzt ist es zu spät, hier kann Menschenhand nichts mehr ausrichten! Schon in das Schilfdach krallen sich die Flammenhände – jetzt, über dieses Liebesnest tost die Vernichtung hin.

Recht so! Mit wildem Jubel betäubt die Brandstifterin ihren Schreck. Nieder mit dir! In Staub und Asche!

Damit aber soll es genug sein! Doch die Feuerschlangen, die ringeln weiter durchs Gras. Sie tritt ihnen auf den Kopf, springt und stampft. Umsonst! Zu stark sind sie, zu groß und zu mächtig. Und zuviel sind ihrer.

Und jetzt, eine wilde Bö rast von Westen daher. Auf lohen die Feuergarben und fliegen ins Land. Fliegen auf die Büsche, entzünden sie zu Fackeln. Flugfeuer braust ins Mühlengelände.

Ein Schrei drängt sich aus Suses Kehle. Sie ruft um Hilfe. Aber was ist diese Stimme im Flammensturm? Und wer ist da, sie zu hören?

Da hinten die Mühle! Die ist jetzt allein in ihren Gedanken. Auf die Mühle strömt das Feuer zu – über die Ginsterbüsche, über den Waldboden.

Sie wimmert auf vor Angst. Und läuft wie neben dem Flugfeuer her, wie mit ihm um die Wette. Der Grasboden um die Mühle steht in hellen Flammen. Sie ruft, sie schreit »Feuer!«. Niemand läßt 246 sich blicken. Sie schlägt an die verschlossene Tür mit den Fäusten. Und wieder schreit und kreischt und brüllt sie laut auf. Wo ist Marten, wo Ehrenfried?

Da – vom Moor her tönt Geräusch – Menschenlaute. Sie fliegt zurück. Gestalten sind da. Und jetzt vom Gutshof her Wagenrollen, der unregelmäßige Hufschlag galoppierender Pferde auf der Chaussee, klirrende Eisen – Gespanne stürmen heran.

Die Feuerspritze von Eekenkamp. Brünne ist bei den Leuten.

Und von dem Eichenhügel herab, kommt da nicht Marten? Suse stürzt auf ihn zu, reißt an seinem Rock. »Die Mühle,« schreit sie, »die Mühle!« Und dann auf Brünne wirft sie sich. »Die Mühle brennt, die müßt ihr retten!«

»Was wollen Sie! Was haben Sie mit der Mühle zu tun!« so gellt es zurück aus Brünnes zersprungenen Lippen, schrill und rostig zugleich. Und die Augen stechen nach ihr. »Mich geht die Mühle nichts an. Ihr rettet den Torf!« befiehlt sie den Leuten.

Marten ist verschwunden. Dieses Wort Brünnes im Ohr – so rast er zu seiner Mühle. Suse ist an seinen Fersen.

Und die Mühle brennt. Das gedörrte Holz saugt die fliegenden Flammen in sich ein. Schon aus der Wand schießen die Feuergarben.

Marten ist gegen die geschlossene Tür gerannt. Nun wieder mit der Schulter als Sturmbock läuft 247 er gegen sie an, jetzt ist sie gesprengt. Er holt nun doch, wenn auch halb bei Besinnung sein Bestes. Seine Mappen reißt er an sich und stürzt heraus und birgt sie im Bachesgrund.

Ehrenfried ist gekommen. Er hatte den Schlüssel, war auf der Wiese bei den Kühen. Die Männer holen die Feuereimer, und rennen in den Bach und schöpfen. Und rennen und gießen. Kein Wort wird gesprochen.

Und Suse ist da und hilft wie ein Mann.

Noch ist es die eine Wand. Das Wasser zischt. Der Rauch schwelt, das Feuer duckt sich und faucht und heult, und um so wilder bäumt es sich auf.

Sie rennen und schöpfen und gießen.

Wir müssen es schaffen! Wir müssen – müssen! Wir haben das Wasser ja, den Bach, den guten treuen, unsern Freund, unsern Helfer!

Und sie gießen – und laufen wieder – und schöpfen – und fallen über die eignen Füße und gießen.

Und schwärzer wird der gelbe Rauch. Und das Feuer wird gewürgt von dem Wassersturz, und die Flammen verröcheln. Nun noch ein Guß, und wir haben gesiegt!

Dicht steht Suse vor der kohlenden Wand und gießt ihren Eimer aus – da, eine jähe Feuerschlange stürzt hervor und beißt in ihr Kleid, und gleich brennt sie lichterloh.

Mit gurgelndem Schrei wirft sich Marten auf 248 sie, umschlingt sie, reißt sie nieder und wälzt sich mit ihr hinunter in den strömenden Bach.

Pfeifend klettern die Flammen auf das Schindeldach des Hauses. Die Feuerwogen schlagen über die Mühle zusammen.

 

Erst als die Mühle niedergebrannt war, entlud sich das Gewitter. Da es nichts mehr zu löschen gab, gossen sich Wolkenbrüche wie zum Hohn auf die rauchenden Trümmer.

Marten, selbst im Gesicht, am Hals und an den Händen verbrannt, hatte Suse, die an Beinen und Armen schwerer verletzt war, sofort nach Hause geschafft. Den größten Teil des Weges hatte er die völlig Zusammengebrochene wie ein Kind auf dem Arm getragen, durch die blauen Blitze hindurch. Ehrenfried folgte mit den Mappen.

Suse wurde von Vater und Schwester in die sorglichste Pflege genommen. Sie war verstummt. Wortkarg berichtete Marten von dem Feuer. Die Behandlung seiner eignen Brandwunden lehnte er unwirsch ab. »Mir macht das nichts. Sorgen Sie für das Kind! Und nehmen Sie bitte die Mappen unter Dach und Fach. Ich muß wieder zurück.«

Er ließ sich nicht halten. »Natürlich kommen Sie zu uns und sind unser Gast!« rief der Professor ihm nach.

Er hörte es kaum. So trollte er sich mit dem Alten 249 wieder heimwärts. Heimwärts – da er es denken wollte, hatte der Schmerz schon diese Vorstellung abgewürgt. Was war ihm geblieben? Aber noch war alles ganz dumpf in ihm, betäubt lagen Sinne und Seele. Nur triebmäßig zog es ihn, alles bis zum Schluß mit anzusehen, dabeizubleiben und die Vernichtung durchzuerleben bis ans Ende.

Da rasselten Fuhrwerke hinter ihnen die Straße her. Die Feuerwehr der Argillawerke. Arnulf selbst, in all dem Unwetter, saß auf dem ersten Wagen. Heute hatte Marten kaum Sinn dafür. Später hat er es ihm nie vergessen.

Arnulf erkannte ihn und sprang ab. »Nun, was ist?«

»Zu spät. Die Mühle ist nieder.« Die Worte klangen ihm selbst wie im Nebel und aus weiter Ferne.

»Ja, aber wie sehen Sie aus!« Arnulf starrte das Brandmal an auf Martens Stirn. Er rief den Leuten etwas zu.

Ein Feuerwehrmann brachte Verbandzeug und eine Flasche mit Leinöl und Kalk. Willenlos ließ Marten sich verbinden. Alles geschah ihm traumhaft. Traumhaft auch noch die Fragen und Antworten. Und zu Arnulfs kaum vernommenen Worten: »wenn Sie mich irgendwie brauchen, ich stehe natürlich ganz zu Ihrer Verfügung,« schüttelte er den Kopf aus unnahbarer Ferne. Noch einmal wollte Arnulf seine Hand bieten, da drohten die Augen 250 schmerzlich aus ihrer Eigentiefe gegen ihn auf. Und er begriff, hier gab es für heute nur ein Sichzurückziehen, ein Sichbescheiden. Und gleichfalls wie ein Traum verflog dann auch der Zug der Argillaleute wieder.

Jetzt vor den Trümmern stehen Marten und Ehrenfried. Sie stehen und stieren in die gelben, unter dem Regen sich duckenden und verflatternden Rauchfahnen des verkohlten Gebälks.

In Marten aber richtet sich langsam das Bewußtsein auf. Was wollen sie noch hier? Und auf Ehrenfried, den in den Tod getreuen, heften sich seine Augen. Der Alte schwankt, die Knie halten nicht mehr. Marten führt ihn zu der Bank unter der einsamen Hofeiche, die außer der Windrichtung gelegen, von dem Gluthauch nicht erreicht worden ist. Hier sitzen die beiden Obdachlosen, durchnäßt bis in die Knochen, und besinnen sich wieder aufs Dasein.

Für Ehrenfried aber hat Marten jetzt all seine Gedanken beisammen. »Du armer Kerl! Nichts hast du gerettet. Aber laß gut sein. Solang ich da bin, sollst du nicht verhungern. Und auch nicht – wenn ich nicht mehr da bin.« Wie eine Befreiung war es für ihn, mit dem lieben Nächsten sich zu befassen. Es war eine Art Furcht dabei, der eignen großen Not zu tief ins Auge zu sehen. »Heute müssen wir erst einmal an unser Quartier denken.« Für sich selber hätte er kaum daran gedacht. 251

Wieder kommen Fuhrwerke näher gepoltert. Die alte brave Feuerspritze von Dorf Lanken rumpelt herbei. Ganz nach dem alten Hohnlied »Wenn glücklich alles abgebrannt, kommt auch die Feuerwehr gerannt.« Aber wie rührend doch diese nachbarschaftliche Treue! Wie ein Messer fährt es Marten ins Herz, das Wort, das unvergeßliche: »Was geht die Mühle mich an! Ihr rettet den Torf!«

Doch das ist seine Sache, seines Lebens Sache. Das ist wie die Überschrift seiner Zukunft. Seine Augen fallen wieder auf den alten Ehrenfried, das Jammerbild. Und er bittet die Spritzenleute: »Seid so gut und nehmt ihn mit ins Dorf. Zu Mutter Hackpoot. Ich komme nach.«

Sie wollen den Alten auf den Wagen heben. Der aber sträubt sich gewaltsam. »Die Kühe –!« ruft er. Die waren auf der Weide.

»Die bring' ich,« erklärt Marten.

Da ergibt sich der Alte seinem Schicksal.

Ja, Sabine würde für sie beide Quartier haben oder doch Quartier beschaffen. Sie würde triumphieren und ihn beschämen. Doch er gönnt ihr den Triumph, wie er für sich diese Demütigung hinnimmt. Wenn er weiter nichts zu tragen hätte! Und er sitzt noch eine Weile allein, an dem Grab seiner Mühle. Ein Stück Leben von ihm ist in Staub und Asche gesunken. Noch läßt sich nicht ermessen wieviel, noch übersieht er nicht, was ihm geblieben ist. Denn seine 252 Augen sind trübe. Und der Rauch ist auch in seinem Hirn.

Dann holt er die Kühe. Langsam geht er dorfwärts, die Tiere am Strick, und setzt Schritt vor Schritt. Er denkt nichts, er fühlt nichts mehr, nur eine sterbensgroße Müdigkeit, die seine Glieder aus allen Gelenken löst. Und so steht er vor Mutter Hackpoots Tür, ein stiller, welker, geschlagener Mann. Doch immerhin kein Bettler, denn mit den zwei Milchkühen ist er eine Art Kapitalist in dem armen Dorf.

Stolz, ganz wie er es vorausgesehen, legt der Kranich den Kopf in den Nacken. Und er plappert zunächst seine Genugtuung und sein Selbstgefühl heraus. »Wat häw ick segt? Wär ich in der Mühle gewesen, wär das all nicht geschehen. Ohne mir hat sie nu dran glauben müssen.«

Dann aber ist es ihr ganzer Ehrgeiz, dem Jungherrn ein gutes Unterkommen zu bereiten. Und bald ist er, in ihrer Wohnstube gebettet, totenähnlichem Schlaf verfallen. Sabine Hackpoot aber bleibt von jetzt ab bis zu ihrem letzten Atemzug auf höchster Höhe. Sie ist die Schicksalslenkerin, das Weltenrad dreht sie, und nichts geschieht ohne ihren Willen.

Das freilich kann sie nicht hindern, daß Marten vor Tau und Tag, als alles im Hause noch ruht, in die Dämmerung hineinschreitet und noch einmal stundenlang an den schwelenden Trümmern seiner Mühle 253 sitzt. Als sollten die Rauchgebilde ihm seine Zukunft offenbaren.

Der Regen hat für einige Zeit aufgehört. Die Luft geht kalt. Wolkendunst zieht über den bekümmerten Himmel. Ein paar kranke blasse Sterne zittern und frieren. Über die Wiesen, zwischen die Büsche kriechen gramvolle Nebel. Im Osten steht blasses Blut. Langsam und lustlos vertieft sich das Gelb zu einem widerwilligen, verwaschenen und verkrochenen Morgenrot. Wo ist das Goldlicht des neuen Tages?

Marten schauert es. Alle Farben meiner Heimat sind ausgelöscht, sie hat ihre Seele verloren. Hier kann ich nicht leben, hier kann ich nicht bleiben. Oder – soll ich auch so verblassen und erkalten und blutleer und zum Schemen werden? Ich will wieder hinaus. Sobald ich geordnet habe, was noch zum Ordnen mir gelassen ist.

Mit diesem Gedanken begab er sich zurück zu seiner Schlafstelle. »Sabinchen, wenn du uns noch ein paar Tage hier behalten willst . . .«

Sie aber hob den prophetischen Zeigefinger. »Hm – 'n paar Tage, Jungherr? Sie bleiben noch lange hier. Da können Sie auf ab.« Und ihre Vogelaugen stachen bezwingend.

Jakob Dörrschlag, der alte Matrose, ihr Hausgenosse, runzlig-schmunzlig, eine brave, vom Leben gegerbte Haut, kam zu ihr in den Alkoven. Die beiden 254 waren jenseits von Gut und Böse. So blieb Raum für die zwei Mühlenleute.

Marten hatte gehofft, im Dorf ein paar Tage wenigstens ungestört für sich bleiben zu können. Aber, wenn auch Sabine Stillschweigen wahrte, es sprach sich doch herum, daß er hier Quartier genommen. Und gleich stöberte die Behörde ihn auf.

Vom Amt bekam er eine Vorladung und einen Verweis, daß er von dem Brand auf seinem Grundstück keine Anzeige erstattet habe. Die Ungehaltenheit des Herrn Schollenbruch störte ihn nicht. Der Ladung leistete er keine Folge. Die Mühle war nicht versichert, auf Entschädigung hatte er keinen Anspruch.

Aber jetzt kommt für Marten die Überlegung, die gemeine, die alltägliche, des Geldbeschaffens. Der erste Gedanke, darum der erste, weil er auch gleich von selbst sich erledigte: das Grundstück an die Argillawerke verkaufen. Und darauf die Antwort: so also bist du mit einemmal umgeworfen! Was wird dein Bundesbruder Karsten Wittenborn dazu sagen?

Sofort holte er sich Ehrenfried herbei, der immer seine Sinne noch nicht ganz wieder beisammen hatte. »Nun hör' mal zu, alter Ehrfritz. Da haben wir die beiden Kühe für die erste Not. Aber die allein machen's nicht. Es heißt Geld verdienen. Du hast mit den Kühen zu tun. Ich werde auf Arbeit gehen.« Dies war nun das Wort, das in Flammenschrift 255 seinem Leben voranleuchtete, hell und hart. Ich gehe auf Arbeit! Gehe auf Arbeit, ganz so, wie die Dorfgenossen es tun. In eine neue Gemeinschaft war er gestellt.

Das Dorf war ihm lieb und vertraut. Als Junge war er oft genug hier gewesen, war mit den Fischern zum Fang hinausgefahren, und hier hatte er sein erstes Mädchen geküßt. Was war aus diesem traumbehangenen Idyll geworden, in dem eine genügsame Behäbigkeit gewaltet hatte? Seit die Fischerei zugrunde gegangen war, grinste hier die Armut aus den kahlen Fenstern. Ein Teil der Bewohnerschaft arbeitete neuerdings in den Argillawerken, andre Fischersleute aber wollten trotzig und verbissen von ihrem freien stolzen Handwerk und von dem Meer nicht lassen, das sie verderben ließ.

Wie immer gesellten sich Seuchen zu der Armut. Was war aus dem schönen alten Lanken geworden? Ja, es ist schön, wie es in diese farbenselige Bucht sich schmiegt, gehütet von den dunklen buchengekrönten Hügeln, golden belichtet von der hohen schroffen sonnenfrohen Lehmwand der in die See hineintrotzenden Landzunge.

Hingegeben, ledig der eignen Pein, hatte Marten auf der Höhe gestanden, mit geweiteter Brust. Menschen, bedürftige, darbende, zerquälte, an diese Brust sich ziehen! Aber die meisten Dorfbewohner, scheu und verdumpft, taten so, als kennten sie ihn nicht. 256

Marten traf Jörg in der Dorfstraße. Mit beiden Händen trat der auf ihn zu, voll starken Mitgefühls war sein Auge. Marten blickte ihn an, dankbar und abwehrend zugleich. Auf der Stelle sprach er über das Dorf.

»Du hast viel Mühsal hier. Als Dorfinsasse, der ich jetzt bin, will ich Hand mit anlegen. Erst muß einmal Brot in die Häuser, denen der Ernährer genommen ist. Geld muß herbei. Jedeiner muß helfen. Und wem es gegeben ist – nun, der hat eben abzugeben.« Er wußte, was er zu tun hatte. Heftig schrillte immer wieder die Saite, die in ihm zersprungen war. Aber gleichviel, es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde als eigne Seelennöte. Und da er vor Jörg sich offenbart hatte, gab es erst recht kein Zurück mehr.

Und seltsam, wie mit einem Ruck war das Dunkle, das zwischen ihm und dem Jugendgenossen sich geballt hatte, durchlichtet. Die Frage: was kann von Jörg mir Gutes kommen? überschattete ihn nicht wie sonst. Das Gute kommt von mir selber – das Gute oder das Schlimme.

Jörg hatte eine Mitteilung für ihn. »Gut, daß ich dich gefunden habe, ich komme aus dem Professorenhaus. Suse wird von mir behandelt, du weißt.«

Ob er wußte! Alle Gedanken flogen jetzt zu seinem jungen Kameraden. »Wie geht es ihr?« fragte er bewegt. 257

»Die Brandwunden sind in Ordnung. Aber sie ist so beunruhigend schweigsam. Nach dir hat sie gefragt.«

»Ich gehe jetzt gleich hin. Mein Weg führt mich sowieso ins Professorenhaus. Ich brauche meine Mappen. Und du?«

»Ich muß noch nach Eekenkamp.«

Eekenkamp! Und aufs neue brannten die Worte in Marten sich ein: Was geht die Mühle mich an – ihr rettet den Torf! Ein Dämon des Feuers – aber ein sehr ökonomischer Dämon. Brünnes Torf war unversehrt geblieben.

 

Marten traf Suse allein im Haus. Der Vater war auf dem Holm, Helga in Argillenort.

Nie in seinem Leben hat er solche Menschenaugen gesehen, so was an wilder Entschlußkraft, an einer tödlichen Bereitschaft, die er sich nicht deuten konnte. Was ging in ihr vor?

Erst nach und nach gewahrte er, daß sie den rechten Arm in der Schlinge hielt, daß sie sich mühsam fortbewegte und auf der Stirn ein verpflastertes Brandmal ähnlich dem seinigen trug. Dann aber, als er ihre Hand ergriffen und sich mit ihr gesetzt hatte, strömte aus dem Gefühl des im Feuer gehärteten Bundes seine ganze Zärtlichkeit über sie hin. »Wie geht es Ihnen denn? All das haben Sie für die Mühle gelitten. So tapfer und treu an meiner Seite!« 258

Da brach ein solcher Fanatismus der Selbstanklage, des Selbstrichtens, der Selbstvernichtung aus ihren Blicken, daß er zurückbebte. Sie straffte den Nacken, um ihre Nüstern rissen sich jähe Furchen, und so stieß sie heraus, böse und feindlich gegen sich, gegen alle Welt und auch gegen ihn: »Wissen Sie, daß ich Ihre Mühle angesteckt habe?!«

Er starrte sie an, dann machte er mit einem verwunderten Lächeln sich frei. Achselzuckend öffnete er die Hand und ließ sie auf den Schenkel fallen. »Wie soll ich das verstehen?«

»Das ist doch deutlich.« An jedem Wort wuchtete sie. »Ich bin es, die das Feuer angelegt hat.«

Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich es nun schon wissen soll, muß ich Sie auch bitten, mich alles wissen zu lassen.«

Und nun, unbewegt, maschinenmäßig gab sie ihr Bekenntnis. Wie sie vor der Jagdhütte auf das Paar gewartet, welche Wut gegen diese neue Liebeshöhle sie verzehrt hatte, die sie mit all ihren Gedanken und Wünschen zu Schutt und Staub und Asche verfluchte. Dann das Streichholz, dieses winzige, furchtbar wachsende Schicksal. Dem sie mit gierigem Grauen zugeschaut hatte. In der wildesten Trunkenheit hatte sie getaumelt, als die Hütte aufloderte und in sich zusammenprasselte. Dann freilich, als das Unheil zur Mühle hinraste – »und es bleibt also 259 dabei, ich hab' das Feuer an die Mühle gelegt!« Sie stieß ihm die Worte ins Gesicht.

Marten wurde von Zorn gepackt, einem starken, ehrlichen Zorn. Dieses unglückselige unreife Geschöpf also hat das unsägliche Unglück angerichtet. Und schuld sind seine schiefen, scheelen, irregehenden Jungmädchengefühle. Jetzt wußte er, was in ihr gewühlt und gewüstet hatte.

Sie sah den Ausbruch und reckte sich gegen ihn hin. »Ja, schlagen Sie mich nieder! Ich, ich hab' es getan!«

Gleich aber spürte sie, wie er prüfend von seinem Zorn sich entfernte. Und wieder flog ihre Leidenschaft ihn an: »Warum erwürgen Sie mich nicht? Ich dächte doch, ich hätte Ihr Leben zerstört!«

Jetzt nahmen seine geweiteten Augen, in deren Gründe seine Erregung langsam versank, ihr die letzte Hoffnung auf Sturm und Wetterschlag. Das Kind in ihr, es forderte mit dem ehrgeizig leidenschaftlichen Bußverlangen sein Recht auf Strafe, auf eine ganz persönliche Strafe von dem, den es tödlich verletzt hatte. »Nun ja. Ich bin also verrückt. Und träume allerhand großartig Verrücktes mir zusammen von Schuld und Sühne. Was übrigbleibt, ist der landläufige Gang zum Gericht und der Sträflingskittel.« Sie sprach es trocken, hart und in einer asketischen Erstarrung.

Marten sah ihr fest ins Gesicht. Wieder war sein 260 Herz voll Mitgefühl für ihre Jugendnot. Jetzt war die Zeit für sie und die Möglichkeit, ihre Jugendnot hinter sich zu lassen. Wenn das Geschehene ihr nicht half, ihre unglückselige Leidenschaft unter die Füße zu bekommen, dann freilich war ihr nicht zu helfen. Und jetzt als der ältere, der führende Kamerad gab er ihr seine Anweisung, klar und bestimmt, von Empfindsamkeit ungetrübt. »Vor diesem Gang zum Gericht haben Sie noch einen andern Weg zu machen.«

Fragend hob sie den Kopf.

Er sprach durchaus gegenständlich. »Sie haben die Sache selbst unter den gerichtlichen Gesichtspunkt gestellt. Ihre Selbstbezichtigung, Sie hätten meine Mühle angesteckt, fällt natürlich in sich zusammen. Weshalb ich meinerseits auch keinen Grund hatte, Sie zu erwürgen. Wenn die Jagdhütte nicht wie die Mühle außerhalb Ihres Gedanken- und Willenskreises sich befand – Wünsche an sich sind nicht strafbar. Ihre Hand, auf die es allein ankommt, hat ohne jede böse Absicht lediglich ein Streichholz achtlos fortgeworfen. Dies der Tatbestand. Für gerichtliche Sühne und gerichtliches Martyrium ist das alles höchst unergiebig. Außerdem aber höchst ungeeignet, deshalb, weil es sich hier um recht intime Dinge handelt. Die in demselben Maße außerhalb des Strafgesetzbuches liegen, wie sie der Öffentlichkeit doch eigentlich widerstreben.«

Die Öffentlichkeit! Eisig überlief es Suse bei 261 diesem Gedanken. Aber noch mehr lehnte sie sich auf gegen seine unbarmherzig überlegene Art. Gleichwohl, sie duckte sich.

Dann fuhr er fort. »Die zerstörte Jagdhütte muß der Pächter, Ihr Schwager Direktor Neuber, auf seine Kosten wiederherstellen. Ob und wieweit Ihre Fahrlässigkeit Sie verpflichtet, ihm Schadenersatz zu leisten, das bleibt Ihnen beiden überlassen.«

Nun bäumte sie sich in die Höhe.

Er aber ließ sie nicht aus der Hand. »Natürlich haben Sie sich mit Ihren Geschwistern auszusprechen.«

Dies war er, der angedeutete Weg, den sie jetzt gehen mußte und sollte. Nur so konnte aus ihrem Leben der Spuk ausgetrieben werden. Und er wollte, was an ihm lag, reinen Tisch schaffen und das Werk vollenden. Du brauchst die harte feste Hand, sonst richtet dein Nihilismus noch mehr und dich selbst zugrunde!

Suse versuchte auszubrechen. Sie wollte all das Quälende, wollte die große Beschämung sich ersparen. »Die beiden werden es fühlen – an meinem Verhalten werden sie es sehen, daß ich aus dem Wirrsal heraus bin. Was sollen die Worte!«

»Die Worte sind Mut. Das Bekenntnis ist die blanke Tat. Nur sie räumt ganz mit dem Dunst und den Wolken auf. Oder soll vielleicht ein trüber Rest bleiben?« 262

»Nein, nein!« Sie schüttelte sich. »Aber das würde auch so nicht geschehen. Ich sagte Ihnen doch, daß ich – wieder zu mir gekommen bin. Freilich, durch welches Mittel – um welchen Preis!« Sie sprach jetzt mit reiferer Ruhe. »Nun haben Sie, den das gar nichts angeht, diesen – Schicksalsschlag erlitten.«

»Da wir Kameradschaft geschlossen haben, geht es mich an,« erklärte er schlankweg.

In ihren verdüsterten Augen ging jetzt der erste Schein auf.

Und nun leuchtete gleich auch wieder seine Güte, die ihr ins Herz traf. »Als Kameraden teilen wir uns in die Folgen.«

Sie fühlte den Schmerz und den Ernst und wurde noch tiefer bewegt.

»Auch ich habe einen Gang zu tun, der mir nicht eben leicht wird. Ich will meine Mappen hier durchmustern und das Nötige herausnehmen. Damit will ich dann zu Herrn Direktor Neuber. Inzwischen sprechen Sie mit Ihrer Schwester.«

Was ihr selbst aufgelegt war, trat wieder ganz zurück vor seines Lebens Wendung. »Herr Hillebrandt – das ist nun Ihr Los!« Sie riß seine Hand an sich und preßte ihre Stirn auf die Knöchel. »Und es ist und bleibt doch meine Schuld!« Sie schluchzte und wand sich.

»Schuld – was Schuld! Schuld ist dazu da, 263 daß man über sie hinauswächst.« Er hob ihren Kopf. »Wissen Sie, daß uns auf die Stirn dasselbe Mal eingebrannt ist? Ein Kampfabzeichen ist es. Wie haben Sie in dem Feuersturm gestanden! Für mich tragen Sie die schweren Wunden, das wollen wir doch nicht vergessen.«

»Was ist das – gegen das andre.«

»Für mich ist es sehr, sehr viel.«

Verklärt sah sie zu ihm auf. Seine Hand wollte sie an die Lippen ziehen, aber er litt es nicht.

 

Marten Hillebrandt ging zu den Argillawerken. Nie hat Einer einen schwereren Gang getan, nie ist Einer zarter empfangen worden.

Arnulfs Takt traf gleich den rechten Ton, so daß Marten sein brüskes: »ich brauche Geld, deshalb komm' ich zu Ihnen!« beinahe als brutale Pose empfand. Hier war ganz gewiß nichts von einem Gang nach Kanossa. Ja, Arnulf brachte es dem Besuch ohne viele Worte zum Bewußtsein, daß die Argillawerke es doch waren, die ihn brauchten. So gerieten die beiden gleich in ein fachmännisches Gespräch. Und Marten stieg zu immer höherem Fluge auf. Er mußte ins Große greifen, nur so fand er seinen Halt. Zwischendurch hatte er die Empfindung: ich schenke und hinterlasse euch dies, da ich selbst nicht bleibe. Aber ist unser Landstrich euch schon verfallen, dann soll hier auch etwas Machtvolles und Einzigartiges 264 zustande kommen. Nicht nur neue technische und künstlerische Taten sollen sich die Welt erobern, auch ganz neue Lebensbedingungen für die Bevölkerung sollen geschaffen werden, für meine Dorfgenossen zuerst. Es war viel von dem Hillebrandtschen Überschwang dabei.

Aber Arnulf ließ ihn nicht nur gewähren, er feuerte ihn an. Da das große Wollen und Können dahinterstak. Nur so konnte er diese Kraft an sich fesseln.

»Auf eins möchte ich Sie hinweisen,« erklärte Marten. »Die Fayence allein tut es auf die Dauer nicht. Sie muß mit Porzellan Hand in Hand gehen. Eine große Porzellanmanufaktur. Natürlich müssen die Erzeugnisse ihren eignen Charakter haben. Deutsches Nordland-Porzellan. Unsre See soll darin atmen.«

Arnulf sah, wie es in dem Künstler trieb und drängte. Er war angefüllt mit Freudigkeit.

Und weiter reckte sich der Eroberer. »Kopenhagen soll hier nicht allein das Feld behaupten.« Der Organisator griff ins Hohe und Weite. »Einen Hafen brauchen Sie. Für das Herbeischaffen der Materialien. Für die Ausfuhr. Die Lankener Bucht ist das Gegebene dafür. Und wie wird das dem Dorf zugute kommen!«

Da er das Operationsfeld überschaute, schoß es ihm jäh durch den Sinn: in Eekenkamp wird all dies 265 neue Schaffen und Geschehen zerstörend einbrechen. Er schrak zurück, um dann desto heftiger diesen machtvollen Entwürfen sich hinzugeben, die Brünne den Untergang drohten. Mag sie hinweggeweht werden.

»Was geht die Mühle mich an!« Ein Wink von ihr, und sein Bestes wäre ihm geblieben. Er wäre nicht aus seinem Dasein geworfen, nicht wieder heimatlos und zum Fahrenden geworden. Wenn nun nach dir dasselbe Schicksal langt! Rachegedanken habe ich nie gegen dich gehegt. Um Vergeltung ist es mir nicht, da ich jetzt den Argillawerken von meinen durchgreifenden Ideen etwas abgebe. Ich arbeite ganz gewiß nicht darauf hin, daß du entwurzelt und schutzbedürftig wirst. Auch nicht mit dem Gedanken, daß du von mir, wenn ich wieder in die Höhe komme, in einer Apotheose des Edelmuts die rettende Hand empfängst. Wird dieser Fall sich je ereignen? Und da er so fragte, wünschte er es schon.

Ja, ja – warum mich ärmer, mich gefühlsschwächer, mich unmännlicher machen als ich bin? Auf die Knie das Weib mit all seinem Trotz, seinem Hohn, seinem Haß! Und all die Feuer strömen zusammen in die eine große demütig stolze Hingabe! Was gibt es auf der Welt, was Sinne und Mannesherz mit mehr Glück und Kraft und Sonne segnet?

Er muß an sich halten. Eine geheime Triebkraft seines Ehrgeizes ist ihm bewußt geworden, und er leugnet sie sich nicht mehr. Jetzt aber das 266 Nächstliegende, von dem das Plänemachen sie allzu weit entfernt hatte, der gemeine Gelderwerb. Marten biß die Zähne aufeinander und rückte sich zusammen. »Ich hab' hier ein paar Entwürfe für Majoliken. Können Sie die brauchen?« Er geriet wieder, jetzt gegen seinen Willen, in das unwirsche Stakkato.

Arnulf zog ganz die geschäftlichen Saiten auf. »Sie haben mir in diesen paar Minuten Anregungen gegeben, die unsern Werken eine ungeahnt neue Entwicklung aufschließen. Übermorgen kommt der Vorsitzende unsers Aufsichtsrats, Geheimrat Fürbringer. Darf ich Sie herzlich bitten, ihm Ihre Ideen selbst vorzutragen?«

Marten blickte hart vor sich hin. Er sagte nicht ja, nicht nein.

»Am besten, Sie machten sich die Mühe, in einem kurzen Exposé diese Gedanken niederzulegen. Die Ihr Eigentum sind, die für uns den allergrößten Wert besitzen – und die sich die Argillawerke natürlich nicht schenken lassen.«

Geschäfte – so weltverlassen war Marten nun doch nicht, daß er dies nicht hinnahm und anerkannte. Aber mißtrauisch blieb er. Sie wollten ihn einfangen. Und binden wollte er sich nicht. Doch Geld brauchte er, und gleich.

Arnulf sah seine ungeduldige Bewegung und verstand sie. »Ihre Zeichnungen darf ich wohl hierbehalten. Ich kenne sie und bin glücklich, daß Sie sie 267 uns lassen.« Er nahm sich vor Überschwenglichkeit wohl in acht. »Hier diese Anweisung – wenn ich bitten darf.« Schrieb einen Schein aus und klingelte nach einem Boten. Der Betrag, anständig und vornehm bemessen, hütete sich wohlweislich vor phantastischer Höhe.

Der Bote brachte das Geld im Briefumschlag. Wie ein Reifen legte es sich Marten um die Stirn. Habe ich nun einen Pakt mit ihnen gemacht? Habe ich ihnen jetzt meine Seele verschrieben? Unglaublich knabenhaft dies alles. So benimmt sich nun hierzulande ein Tropenabenteurer! Skizzen hab' ich den Leuten hier verkauft, was weiter! Wenn ich daran denke, wie und womit ich mir da draußen zeitweilig meinen Unterhalt verdient habe!

»Also ich darf Sie übermorgen erwarten?« fragte Arnulf.

Marten nickte wortlos. Mit klarem Händedruck schieden sie.

 

Suse saß bei Helga, der Schwester.

Sie waren, seit sie damals nach Suses Ankunft die große Aussprache miteinander gehabt hatten, nicht mehr unter vier Augen zusammengewesen. Oft genug hatte Helgas weiche Zärtlichkeit es versucht, das junge Ungestüm, das krankhaft sich überschlug und auf Irrwegen taumelte, in die Arme zu nehmen. Aber immer hatte der verstörte Sinn sie 268 zurückgestoßen. Und ihre eigne Scheu hatte an dem Peinlichen dieser Leidenschaftlichkeit, das jedem Worte widerstrebte, sich immer mehr vertieft.

Als Suse dann krank an den Brandwunden lag, hatte sich Helga mit dem Vater in die Pflege geteilt. Öfters war in dem Auge der Leidenden eine Stimme aufgewacht, aber immer wieder war sie verklungen, und die Schwester hatte sich gehütet, in das Schweigen einzudringen.

Nun hatte die schmerzliche und so lebendige Verbundenheit mit Marten sie aus der Qual der Vereinsamung und Verlassenheit gelöst. Die Sprache war ihr wiedergegeben, sie hatte die Möglichkeit wieder und mit der Möglichkeit das Lebensbedürfnis, Herz an Herz klingen zu lassen.

Helgas kluges Gefühl sah die Wandlung. Glücklich streckte sie die Hand nach der aus, die jetzt in der Offenheit ihre Kraft und ihren Stolz fand und die in ihrem Bekennen beglänzt war wie von sich selbst.

Und nun sprach Suse einfach mit dem seltsam spröden Altklang ihrer Stimme, die nur da, wo sie zu vibrieren begann, etwas hell Mutierendes bekam: »Es sah schlimm mit mir aus, Helga. Und Schlimmes mußte geschehen, ehe ich zu mir mich zurückgefunden habe. Und zu dir.« In diesem »zu dir«, so herbe es sich zurückhielt, war der Ton, der den innigsten Widerhall weckte, mit all seinem Glück. 269

»Kind, sind wir in all den Trübungen dieser letzten Zeit nicht doch zusammen gewesen wie je?«

Suse blieb in der stillen Abwehr ihrer harten Klarheit. »Zusammen – ja, so wie der Haß den Menschen zum Menschen reißt. Denn ich hab' dich ehrlich gehaßt, Helga. Und dann wollte ich haben, was du hast, mit allen wilden Wünschen.« Nun wurde die Stimme heiser und rostig, und in die steile Knabenstirn grub sich wieder viel von dem Verstockten und dem alten Trotz. »Heißt es nicht schließlich, daß jeder Mensch bleibt, wie er ist? Und daß er das nicht los wird, was er erlebt? Wer steht uns dafür, daß nicht alles wieder über mich kommt!« Eine Angst klagte in ihrem Blick. Helga nahm sie in den Arm, sie ließ die Schwesterhände gewähren, und nun reckte sie sich auf. »Ich habe ein Grauen davor, Helga, daß ich jetzt in die Stadt zurückmuß, in die Schule. Ich gehöre da nicht mehr hin, denn sie hat keine Ziele für mich. Und ich darf nicht zurücksacken in diese lässige und bequeme Kindlichkeit, in das Hilflose, das Gegängelte, das Unselbständige. Mir ist, als wäre ich was geworden durch meine Not. Jetzt muß ich weiter und höher hinauf. In harter Arbeit, die mich ganz hinnimmt. Ich muß mein Leben in die eignen Hände nehmen.«

Das alles war noch nicht ganz geklärt. Aber Helga spürte den gereiften und starken Willen, sie sah den Weg, der sich hier auftat, und fühlte, daß sie die 270 Hand reichen mußte. »Das verstehe ich so gut, mein Susekind. Und ich glaube selbst, daß jetzt die Trennung von uns gefährlich würde, gefährlich durch die Einsamkeit und ihre Gedanken. Nur hier und bei uns und an uns kann alles in dir wieder heil werden. Ich helfe dir mit dem Vater sprechen. Bei dem wir natürlich auf Widerstand stoßen werden.«

»Ich denke bei dem, was ich vorhabe, zugleich auch an ihn. An seine Müdigkeit, und daß jetzt ganz neue Aufgaben mit ihr aufräumen sollen.« Der junge Eifer leuchtete aus ihren Augen.

»Und was hast du vor?« Helga fragte es ernst und gläubig, so viel Festigkeit war in dem Sinn der Gewachsenen.

»Ich hab' zum erstenmal in meinem Leben krank gelegen. Da sieht der Tod einen an, und man selbst sieht dem Tod ins Gesicht, und da hat man dann seine besonderen Gedanken. Man will sterben – und will es wieder nicht – will leben, will wieder gesund werden. In diesem Gesundwerdenwollen aber steht dann eine besondere Kraft auf. Das Verlangen, Gutes zu tun und zu helfen. Denen zu helfen, die auch daniederliegen und mit dem Tode in Verkehr getreten sind. Denn es gibt ein Gemeinschaftsgefühl der Kranken. Und das wirkt sich nun aus. Man hat in eignen gesunden Tagen kaum an die vielen Leidenden gedacht–jetzt aber tut man ein Gelübde: sobald 271 du wieder fest in den Schuhen stehst, wirst du der Kranken, deiner Brüder, nicht vergessen.«

Bewegt blickte Helga in die vertieften Augen der Genesenden.

»Sieh, und da erzählte mir Onkel Jörg von der Not in unserm Fischerdorf. Wie da die Dumpfheit immer mehr auf alles sich lege. Er allein könne nicht dagegen an. Die Gemeindeschwester, alt, mürbe, unfroh, vergrämt und überreizt, stehe ihm schlecht zur Seite. Am schlimmsten sei es um die vielen kümmernden Kinder bestellt, die trostlos in der Trübsal und Entbehrung hocken. Da sah ich mich plötzlich, und es war wie ein Gesicht: ich spielte mit den Kindern in der Sonne und badete mit ihnen in der See. Und es war Frohsinn bei uns und Lachen. Und Kraft und Gesundheit kam zu den Kümmerlingen. Sieh, dies war es, wozu ich mich immer rettete, wenn die Verzweiflung über meine Verschuldung mich anfaßte. Und das ist nun, was ich tun will und tun muß.«

Da konnte Helga sich nicht halten, sie nahm ihre beiden Hände. »O du prachtvolles Mädel du!« Und umschlang sie und küßte sie mit nassen Augen. »Und das hast du alles so still mit dir abgemacht?«

»Ja, es lagen ja noch so viele Wolken darüber, mit denen ich erst fertig werden mußte. Aber jetzt habe ich meinen Ruf.«

Helga blickte zu ihr auf. Sie dachte: ein fertiger Mensch, hartgebrannt. Und sie wünschte mit der 272 ganzen Kraft ihres warmen Herzens: nun soll es deinem Glück entgegengehen, du lieber junger Mensch, so heißen Blutes, so opfermutig und stark.

 


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