Max Dreyer
Der Weg durchs Feuer
Max Dreyer

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Als an diesem Tage auf den Abend der kühlere Luftstrom die Linderung brachte, kam Jörg ins Professorenhaus und meldete sich bei Suse. Seine Zeit erlaubte ihm, den versprochenen Spazierritt mit ihr zu machen.

Karsten wollte erst seine geliebte Thusnelda für Suses ziemlich rauhe Reiterei nicht hergeben. Aber sie bekam dann schließlich doch ihren Willen.

Es war da diese neue Note in ihrem Wesen. Schwerer, düsterer und heimlicher – um so unheimlicher deshalb dem Vater. Der noch alles auf 178 ihre siebzehn Jahre schrieb und der jetzt doch Ablenkung, Beschäftigung und Anstrengung für nützlich und nötig hielt. Und Jörgs gesunde Klarheit gab die erwünschte Atmosphäre. So wurde denn die Stute, die eine kavalleristische Vergangenheit hatte und stolz auf sie war, für Suse gesattelt.

Sie ritten über die Heide, dann sollte es durch den Wald gehen ans Moor. Hier am Rand, in den ein paar Torfgräben einschnitten, war eine Steeplechase geplant. Die Abendsonne fingerte und krauste an den plänkelnden Zirruswolken, den leichten Vortruppen der dunklen Kolonnen, die am südlichen Weltensaum hinzogen. Aber ein West, mit der Neigung, höher nach Norden zu gehen, machte schon Miene, mit ihnen aufzuräumen. Der von den Landleuten, ja von aller Welt ersehnte Regen wurde wieder weggeblasen.

Suse, erst noch mit der Stute beschäftigt, die den unvorschriftsmäßigen Sitz der Reiterin nur kopfschüttelnd hinnahm und mit steifbeinigem Gang quittierte, kam dann bei freierem Trab ganz in die Gedanken, die sie beherrschten. Und bei denen Onkel Jörg ihr helfen sollte. Sie ließ Thusnelda plötzlich wieder in Schritt fallen. Jörg blieb nun auch zurück und an ihrer Seite. »Gibt es kein Mittel gegen Träume?« fragte sie ihn.

Er sah sie verstehend an. Anderswo hätte er wohl mit leichter Zunge geantwortet: Das beste Mittel 179 gegen Träume ist Erleben. Aber diese Auskunft hätte gerade hier doch zu verhängnisvollen Mißdeutungen führen können. So schlug er einen weiteren Bogen. »Du willst ein Mittel. Das heißt also, daß deine Träume dich quälen.«

Sie neigte sich zu ihm wie zu dem Helfer. »Ja, sie quälen mich sehr.« Und dann: »Was wollen sie eigentlich von mir?« Sie wehrte sich gegen einen Feind, dessen Natur unbekannt und der deshalb um so gefährlicher war.

Er hütete sich, mit scharfen, spitzgeschliffenen Fragen nach dem Wie und Was zuzustoßen. Selbst mußte sie ihm kommen, nur so konnten die Geheimnisse sich ihm erschließen.

Und sie suchte ihn schon und klagte sich ihm aus. »Dinge, an die ich niemals gedacht habe, im Traum sind sie plötzlich da. Und ich mach' mir mit ihnen zu schaffen. Wie ist das nur möglich? Ich, ich bin es doch, der dies träumt. Dies, womit ich nichts zu tun habe! Und nichts zu tun haben will!«

Sollte er große allgemeine Worte machen, von der Schwelle des Bewußtseins, von der Unterwelt unsers Lebens, die alles sagen und nichts? Sollte er an die eine ihrer Äußerungen sich festhaken: Dinge, mit denen ich nichts zu tun haben will?

Noch mehr mußte er hören, und er schwieg. Er gab ihr nur aus seinen klugen, klaren Augen das sichere Gefühl seiner seelisch nahen Bereitschaft. 180

»Und das Schlimme ist,« fuhr sie fort, »nun haben diese fremden Dinge mit einem Male so was wie ein Recht auf uns. Sie sind ein Teil von uns geworden, sie haben eine Macht über uns. Ist das nicht eine gemeine Tücke? Und womit hab' ich das verdient?« Sie machte im Sattel eine heftige Bewegung, Thusnelda verstand die als Aufforderung – sie galoppierte an, und Suse zog von dem Freund davon.

Ungebärdig brachte sie das Tier zum Stehen. Jörg war sofort an ihrer Seite. Und nun, zugleich aus Mitgefühl mit dem mißhandelten Gaul, gab er dem Gespräch eine andre Wendung. Scherzhaft teilte er ihr aus dem linken Mundwinkel die Worte zu: »Mein liebes Kind, ich möchte beinahe behaupten, gutes Reiten ist ein Heilmittel gegen schlechtes Träumen.« Und dann setzte er die Magistermiene auf.

Sie ließ sich willig ihren Sitz verbessern. Und gab sich, da sie antrabten, alle Mühe, daß sie es dem Lehrer zu Dank mache. Aber dies alles war ihr nur ein Zwischenspiel, und sie fühlte, daß auch für ihn ihr Traumleben wichtiger war als ihr schulgemäßes Reiten. Bald fiel sie denn auch wieder aus dem Trab in Schritt, und da er sie fürsorglich ansah, nahm sie ohne Umschweif das Gespräch wieder auf. Und nun offenbarte sie sich ganz, wenn auch stoßweise und mit Erschütterungen. »Du weißt, Onkel Jörg, was Helga mir angetan hat. Ich habe mich 181 jetzt dazu durchgerungen, daß der Andre für mich überhaupt nicht existiert. Ich will nichts von ihm wissen, ich hab' mich ganz von ihm losgemacht.« Sie kauerte zusammen, schmerzvoll und bang verloren sich ihre Augen. Dann fuhr sie wieder in die Höhe und erschreckte ihr Reittier. »Aber das liegt doch hinter mir, Donnerwetter noch mal! Und geht mich nichts mehr an. Und nicht einmal mehr Zorn und Haß fühl' ich gegen ihn. Nichts mehr von Feindschaft, er ist einfach nicht für mich da! Und nun, wo ich ganz mit ihm abgeschlossen habe, jetzt stiehlt er sich gewissermaßen durchs Schlüsselloch herein. In diesen verflixten Träumen!«

»Mein Kind, wenn dich das peinigt –«

»Sehr peinigt mich das. Du weißt ja gar nicht wie!«

»Dann darfst du dich nicht so einriegeln. Du mußt ganz ungezwungen mit ihm als Verwandtem, als Bruder verkehren.«

»Das kann ich nicht und will ich nicht!«

»Er ist doch wirklich so, daß man sich mit ihm befreunden kann.«

»Nun singst du auch noch sein Lob!« In Angst und Not geriet sie, lässig ließ sie die Zügel fallen. Eine Müdigkeit kroch über sie her. Von schwerer, dumpfer Süße, eine Willenlosigkeit, quälend zugleich und beglückend. Sie glitt aus dem Sattel. »Ich möchte noch mehr mit dir reden, Onkel Jörg. 182 Im Reiten geht das so schlecht. Wollen wir uns hier nicht eine Weile hinsetzen?«

In einen Birkenhag verlor sich die Heide, seitwärts zog sich das Moor, von Erlengestrüpp umsäumt, aus dessen Niederung hügelan ein Hochwald sich aufbaute. Auch Jörg stieg ab, nahm den Pferden die Trense aus dem Maul und ließ sie grasen. Nun setzte er sich mit dem Kinde unter eine Birke, deren rieselndes Laub sie mit Sonnentupfen leise und warm besprengte.

Suse sprach jetzt wieder klarer und fester, die Wolken zogen von ihrer Stirn, steil trug sie den Kopf in gestrafftem Nacken. »Ich glaube selbst, daß du recht hast, Onkel Jörg. Daß ich ihn so ganz links liegenlasse, ist sicherlich das Verkehrte. Kann das nicht sogar nach Furcht aussehen? Furcht vor ihm – ich denke nicht daran. Aber er selbst könnte leicht so etwas da herausspüren und sich etwas darauf einbilden. Denn Mangel an Selbstgefühl ist nicht gerade seine Schwäche.«

»Ich kenne ihn nun doch lange genug. Oh, er ist schon einer. Wie großartig hat er die Werke hier in Schuß! Er gehört entschieden zu den Schöpferischen. Ein Organisator. Du hast ihn doch auch bei der Arbeit gesehen. Und nur so kann man einen Menschen kennenlernen.«

»Will ich ihn – denn kennenlernen?« Und wieder zuckte ein Zorn auf und die schmerzliche Scheu. 183

»Ich dächte, so weit wären wir nun doch glücklich!« sagte er mit bezwingender Gelassenheit.

Sie beugte geschlagen den Kopf. »Ach, ihr andern, ihr wißt ja gar nicht, wie mir ums Herz ist! Ihr seid ja alle so gemein glücklich und zufrieden! Ihr wißt ja nicht, wie man an sich selber leiden kann. So sehr, daß man sich selber haßt!« Ins Gras warf sie sich und grub ihre Qual hinein, die heißen Augen preßte sie auf den verkrampften Arm.

Streichelnd legte er die Hand auf ihren Hals. »Kind, glaubst du, wir Alten haben nicht auch unsre Wunden?«

Es war etwas in seinem Ton, sie hob die brennenden Augen zu ihm, die das Salz trotzig karger Tränen beizte. »Aber keine Not ist wie meine,« stieß sie heraus. Doch damit dämmerte ihr schon die Eigensucht und der Eigenkult ihres Schmerzes auf. Und versonnen grübelte sie vor sich hin: »Ja, ja, ich weiß wohl, daß Vater zu leiden hat, und Marten hat seine Not, und Brünne. Nur du, von dir, Onkel Jörg – du bist so klar und fest und sicher, von dir kann ich das nicht denken.« Ihre Blicke gerieten ins Forschen.

Seine Augen hielten ihr mit hartem Lachen stand. Wie sollte sie ergründen, was hinter diesem Lachen sich barg? Vor seinem Namen hatte sie den genannt, in dem der tiefste Klang der Welt für ihn lebte. Was verstand dieses Kind von dem wildstarken 184 Sehnen eines Mannesherzens? Was ging es sie an? Wen ging es überhaupt an außer ihn selber?

Nun machte sie halt vor der Wehr seines Wesens. Und wühlte erbarmungslos in ihrer eignen Not. »Bleiben noch Helga – und Arnulf.« Ihre Hand griff in die Luft, als suche sie einen Halt. In die geborstene Rinde der Birke zu ihren Häupten krallten sich ihre Finger. »Die sind glücklich, sehr glücklich, was, Onkel Jörg? Und nun sieh mich an. So sieht eine Schwester aus. Ich gönn' ihnen nicht ihr Glück! Dazwischen möcht' ich fahren! Mich dazwischenstehlen!«

Nun flüsterte sie angstvoll und mit Augen, die sich verwirrten: »Und du, Onkel Jörg, du sollst Arnulf nicht so loben und rühmen! Sag' mir was Unschönes von ihm, was Häßliches, was Widerwärtiges! Verleiden sollst du mir ihn!« Sie war auf die Füße gesprungen, wild flog ihr Haar. »Ach, ich bin ja verrückt! Wir wollen reiten.« Und sie lief zu ihrer Stute, die friedlich grasend waldwärts zog.

Jörg folgte ihr, sein eignes Tier war nicht weit. Fromm ließen die beiden Gäule sich anzäumen.

»Nun wollen wir endlich einmal Dampf machen!« sagte sie mit fiebernden Nerven. Sich ausrasen und nichts denken. Jetzt gab es den versprochenen Jagdgalopp.

Krumm zog sich der Weg durch das Birken- und Erlengehölz. Dann ging durch den Hochwald 185 schnurgerade die lange Schneise. Sie führte auf den Moorrand mit den erwünschten Torfgräben.

Suses Augen blitzten jetzt, ganz blank und unversponnen, nur wagelustig und abenteuerfroh.

Jörgs Halbblut schnaubt erregt, es weiß, nun geht es mit voller Fahrt. Ein Zungenschnalz, Jörg sprengt an: »Also los!«

Thusnelda ist gleich im Bilde. Sehr erbaut ist sie nicht. Aber schließlich, ein langer Galopp ist noch die einzige Gangart, bei der das zweibeinige Wesen da oben nicht viel mitzureden hat. Und Suse, die Naturreiterin, läßt in der Tat gleich die Zügel frei, und die Stute hat ganz ihren Willen. So gibt sie ihr Bestes her. Der andre, der Graditzer, hat nichts zu lachen. Und ein jubelndes Mädchenherz braust durch den Wald.

Jörg verhält. Sein Pferd pullt im Eifer des Gefechts immer mehr, er will Suse nicht davonziehen. Da, vor ihnen, in das grüne Walddunkel hinein, leuchtet schon das besonnte Moor.

Eine schwarze, glitzernde Linie – der erste Torfgraben. Vier sind es. Über sie soll die Reise gehen.

Da – das erste Hindernis. Wie zieht es die Pferde an! Alle Saiten in den Leibern spannen sich und schwirren, alle Sinne, die Augen, die Nüstern, die Ohren sprühen und wittern voraus.

Hopp! Hinüber! Und so auch über den zweiten.

Jörg ist unwillkürlich ein wenig zurückgeblieben, 186 jetzt beobachtet er Suses Sitz. Gut, denkt er, daß sie keine Künste übt. Thusnelda weiß schon selber am besten, wie sie es macht.

Suse aber packt der Ehrgeiz. Sein Pferd kann schon nicht mehr! denkt sie. Ihm jetzt siegend davonziehen, die Eisen ihm zeigen! Nun reitet sie und braucht heftige Hilfen. Verkehrt für die Stute! Beim dritten Graben macht sie einen Fehler. Noch ungestümer treibt die Reiterin sie an. Jetzt der vierte – unwillig, gereizt, verwirrt ist das Tier. Es springt schräg, gerät mit den Hinterbeinen ins Wasser, fällt zurück, wälzt sich mit der Reiterin im Schlamm. Greift dann aber wieder festen Boden. Suse ist im Sattel geblieben und hilft dem Gaul auf die Beine. Wütend ist Suse und will das Pferd züchtigen.

»Deine Schuld, Kind!« ruft Jörg laut und verweisend.

Da besinnt sie sich. Jetzt sieht sie an sich hinunter und lacht hellauf. Ein gehöriges Moorbad hat sie genommen. Aber das wird nicht groß beachtet.

Die Fahrt geht weiter. Jetzt in die Dünen hinein, über ihre Kuppen, durch ihre Täler. Der Strand ist das Ziel. Die See entlang im Sande lassen sie die Gäule sich ausgaloppieren.

Tief atmete Suse sich aus. »War das schön, Onkel Jörg! Auch die Entgleisung in dem Torf gehörte dazu.« Lustig tupfte sie mit dem Finger auf 187 ihre moorschwarzen Breeches. Gleich aber biß sie sich auf die Lippen. »Au Backe! So als dreiviertel Rappstute kann ich aber die gute Thusnelda an Vater nicht abliefern. Weißt du was, Onkel Jörg? Ich bade mit dem Tier, wir schwimmen zur Sandbank hinüber.«

»Traust du euch beiden das zu?« Er war ganz und gar kein Spielverderber. »Natürlich mach' ich mit.« Und er leuchtete hell zu dem Abenteuer.

Leicht schlug die Brandung den Ufersand, ein loses Spiel der Wellen. Aber gerade dieses spielerisch Unruhige schuf den feinnervigen Tieren Unbehagen. Sie mochten dem Schäumenden, dem Krausen, Brausenden und Bewegten sich nicht anvertrauen.

Jörgs ruhige und sichere Hand, nach besänftigenden und ermunternden Worten, und die vertrauten Hilfen der Schenkel und des Sitzes brachten sein Tier über die Widerstände in das fremde Element. Dann, da es festen Boden fühlte, plätscherte es bald munter voraus.

Nun besiegte auch Thusnelda, von Suses Ungestüm durchaus nicht beflügelt, viel eher gelähmt und behindert, ihren Argwohn und folgte dem vorauspatschenden Genossen. Aber sie trat hochbeiniger und widerwilliger.

So an die fünfundzwanzig Meter hatten die Pferde Grund. Dann wurde es tiefer, nun wollten sie wenden. Aber sie wurden vorwärts gezwungen 188 und mußten schwimmen. Gut ihre vierzig Meter hatten sie zu schaffen. Dann kam das Riff, und sie durften ausruhen.

Nicht schlecht pusteten die Gäule. Sie trauten dem Frieden noch ganz und gar nicht. Erst als ihre Füße wieder Boden faßten, daß sie dann stehen und sich schütteln konnten, schnoben sie sich aus und betrachteten nun rundäugig mit sachter Verwunderung Gegend und Umgebung.

Der Rückweg war ihnen nun weniger bedenklich. So wurde der Strand, wenn auch unter gewaltigem Schnauben, glatt wieder erreicht. Erleichtert und erlöst rüttelten sich die Gäule – so mächtig, es war wie ein Wunder, daß die Reiter nicht davonflogen.

Quatschnaß waren sie allesamt, bis an den Hals. Aber es war erreicht, Thusneldas glattes Fell hatte seine angestammte Farbe wieder.

Nun aber regte der Arzt sich in Jörg. »Jetzt machst du, daß du nach Hause kommst und in trockene Kleider. Ich muß dann noch Patienten besuchen.«

Sie seufzte. Ein Schatten zog, aber er war schon im Verfliegen. »Ach, Onkel Jörg, mit dir so herumstreifen – auf die Weise läßt sich manches ertragen!« Und übermütig aus dem Sattel schlang sie die Arme um ihn, breit küßte sie ihn auf den Mund – dann galoppierte sie davon.

Eine heiße Welle schlug ihm durchs Blut. Ist das ein Mädel! Und ganz jung wurde es ihm ums 189 Herz. Alles, was so an blassem Verzicht ältlich auf sein Leben drücken wollte, auf seine Sehnsucht, auf sein Werben – es wurde zersprengt in die Lüfte. Und er sang in den Abend.

 

Die Hitze trieb die Menschen dem Meere zu, das wieder zur Allmutter, der gütigen, wurde. Suse, die Schwimmerin, kam aus dem Wasser kaum noch heraus.

Jörg hatte ihr das viele Baden verboten. Aber die befreiende Wirkung des Rittes hatte nicht lange vorgehalten. Besser löste sie sich im Schwimmen von aller Gedankennot, das ihr wie die ganz natürliche Bewegung in ihrem angestammten Elemente war. Oder dann, wenn der Leib ausgekühlt und das Herz ein wenig müde geworden, in den heißen Dünensand sich einkuscheln! Und mit einer Zigarette den Rest der Erdenpein in die Luft verkräuseln lassen!

Auch das Rauchen hatte Onkel Jörg ihr untersagt, und der Vater »wünschte es nicht«, was einem Verbot gleichkam. Aber sie wollte Gift, sie brauchte Gift zur Betäubung. Und wenn es ihr schadete – sie wollte sich schaden! Was lag ihr am Leben!

Öfters am Abend findet Arnulf sich ein und holt Helga zum Baden ab. Ihnen ist es nicht um Suses Gesellschaft zu tun. Sie wird nicht groß aufgefordert, mitzugehen.

Aber Suse folgt ihnen. In sicherer Entfernung 190 erst. Von Osten her leuchtet ihr der Mond. Da vor ihr wandern die beiden, eng umschlungen. Schon dicht bei den Dünen sind sie.

Suse steht eine Weile still. Jetzt über die Dünenhöhe klimmt das Paar. Und da drüben, in den Sandkulen, sucht sich dann jeder sein Nest, sich zu entkleiden. Oder – wird ein Nest die beiden aufnehmen?

Suse starrt. Ihre Nervenstränge schwirren, ihr Atem fliegt. Das Mondlicht fiebert über die Heide.

Jetzt stürzt sie ihnen nach. Und pflanzt auf dem Dünenkamm in dem hellen Schein hoch sich auf. Daß die beiden sie sehen. Daß sie wissen, sie sind nicht allein. Nicht allein gelassen von ihr, die ihnen nachschleicht wie ein Indianer. Die ihnen nachspioniert und doch zu stolz ist, sie zu belauschen. Aber die die beiden stören will mit vollem niederträchtigem Bewußtsein. –

Und weiter brütet das Wetter Ungemach und Unheil. Die Seuchen fressen immer mehr um sich. Jörg hat Tag und Nacht alle Hände voll zu tun mit Untersuchungen, Impfungen, Behandlungen, Berichten.

Eine schwere dunkle, dumpfe Wolke, liegt es auf den Gemütern. Und es geschieht von selbst, daß die Menschen, gemeinsam in ihrer Angst und ihrem Schutzbedürfnis, enger sich zusammenschließen, sich gesellschaftlich finden, sich freundschaftlich binden. Wie zur Zeit der Pest in Florenz, sagte Karsten Wittenborn. 191

Und daraus entsprang nun bei ihm ein Plan. Versöhnen wollte er, Frieden stiften. Lange schon hätte man einmal Brünne und Marten an neutralem Orte zusammenbringen müssen. Nicht an einem beliebigen, eben hier in seinem Hause, in einer Atmosphäre wohlmeinender Güte, die er sich wohl zutrauen durfte. So mußten und sollten sie sich erst einmal entgiften.

Helga und Suse wunderten sich mit ihm, daß sie nicht längst an solche Zusammenführung gedacht hatten. Suse war Feuer und Flamme. Sie übernahm die Einladung. Natürlich brauchte der eine vom Erscheinen des andern nicht zu wissen. Auf ein paar Notlügen kam es ihr nicht an. An diese Sendung, zwei Menschenherzen, von denen sie träumte, daß sie füreinander schlügen, miteinander zu vereinen, klammerte sich wieder ihre verstörte, schweifende Mädchenphantasie.

Marten ist auf dem Felde und setzt das Korn in Hocken. Er trieft von Schweiß, braun leuchtet das Gesicht, der Hals, die entblößte Brust. Die Hand, die er Suse bietet, ist blutig von den Disteln zerrissen. Das Glück der Kraft ist in seinen von der harten Mühsal geweiteten Augen. Sie forscht nach Weichheit, nach Zärtlichkeiten und Sehnsucht, nach Not und Bedürftigkeit. Und findet nichts von alledem. Sie vergißt fast darüber, was sie auf dem Herzen hat. Dann richtet sie die Einladung aus, und er sagt 192 gern zu. Da sie ihn verlassen hat, bleibt das Bild seiner gesammelten Kraft, seiner geballten Stärke ihr zur Seite.

Brünne ist in der Kanzlei. Sie rechnet mit Peter Kawel. Furchen reißen sich durch ihr schönes, leidenschaftliches, heute so zerquältes Gesicht. Hier war nun schon eher Bedürftiges, hier konnte Suses Mitgefühl sich ausschwingen.

Aber wie das Jungmädchen im Überschwall eigner Gefühlswellen zu der angeschwärmten Frau sich hinschmiegte, geschah es, daß die Umworbene sich verschloß und wie gegen eine wehleidige und anmaßende Zudringlichkeit sich zur Wehr setzte. Die Einladung freilich nahm sie aufhorchend dankbar an. »Ich freue mich, daß ich hier einmal herauskomme. Bei Ihrem Vater gibt es immer so was wie eine geistige Befreiung.« –

Der Abend meinte es gut. Von der See her zog eine leichte Brise ins Land. Der Vollmond, der im Dunst des Horizonts zu ersticken drohte, löste sich aus dem braunroten Feuerpfuhl, leuchtete jetzt hell und trank die Schwüle auf.

Sie wollten im Freien essen. Helga und Suse bereiteten den Tisch vor. Marten und Jörg fanden beinahe gleichzeitig sich ein. Dann erschien auch Arnulf. Jetzt fehlte nur noch Brünne. Die Erwartung prickelte in Karsten und seinen Töchtern. Aber nur die Wirtsleute wußten was von ihrem Kommen; die 193 drei Herren waren ahnungslos. Alle drei müde, abgehetzt, überarbeitet.

Arnulf fand zuerst aus der Erschlaffung sich zurecht. Er blickte nach Suse hinüber. Wieder störte es ihn, daß sie geflissentlich ihn mied. Wann würde dieses Unbehagen weichen, diese drohende Wolke? Dann schlug er vor, der Vater möge sie doch einmal in das Pflanzenkabinett seiner kleinen Anstalt führen, zu dem sie gleich vom Vorgarten aus gelangen konnten. Immer schon war es sein Wunsch gewesen, in dieses Reich einen Blick zu tun. Marten und Jörg waren gern dabei.

Der Professor zeigte als verständiger Unterhalter mit der wohlwollenden Überlegenheit des Kundigen den Laien etwas Volkstümliches, etwas Allgemeingefälliges, etwas, was immer seiner Wirkung sicher ist. »Hier das, was freilich die Neugierigen in allen botanischen Gärten umdrängen, was dadurch aber an seinen Reizen nichts einbüßt. Und worüber ich Ihnen vielleicht etwas Neues zu sagen habe. Eine der sattsam bekannten fleischfressenden Pflanzen. Eine Drosera-Art. Stammt vom Sonnentau aus unserm Torfmoor hier. Ist aber kultiviert und verdorben bis zur Feinschmeckerin. Liebt Emmenthaler. Hier ein Krümelchen, das geb' ich ihr. Was sehen Sie, meine Herrschaften? Die Tentakeln – wie sie sich krümmen! Und der Schmaus beginnt. – Jetzt wollen wir uns mal mit ihrer Schwester hier 194 nebenan beschäftigen. Ist noch gefräßiger und wittert schon herüber. An ihr sollt ihr mal was andres sehen: daß man nämlich Pflanzen betäuben kann. Ich lasse sie Ätherdampf einatmen. So – nun ist sie hinüber. Hier, mein Liebling, Emmenthaler gefällig? Beste Sorte, das Pfund zwei Mark achtzig. Seht ihr, sie ist apathisch, die Tentakeln bleiben gerade ausgestreckt und rühren sich nicht. Pflanzen lassen sich also auch narkotisieren. Da an ihrer Schmerzempfindung nicht zu zweifeln ist, so sind der weiteren hinduhaften Veredlung unsrer Gefühle in die tierisch-pflanzliche Gemeinschaft hinein keine Schranken gesetzt.«

Arnulf ließ sich im Anschluß hieran über die Licht- und Schallempfindlichkeit der Pflanzen berichten und hörte von den letzten Versuchen, an denen auch hier gearbeitet wurde. Aber zeigen könnte man das nur nach umständlichen Vorbereitungen.

»Hingegen, wie Pflanzen auf Gerüche reagieren, sollt ihr einmal sehen. Hier hab' ich eine Mimose, Mimosa pudica. Früher hat man sie Sinnpflanze genannt, was ein fürchterlicher Unsinn ist, denn alle Pflanzen sind Sinnpflanzen. Die hier ist sogar gegen den Hauch des menschlichen Atems empfindlich. Wer Zigaretten raucht, namentlich diese parfümierte englische wie du, Arnulf, der findet bei ihr keine Gegenliebe. Bitte, hauch' sie einmal an!« 195

Arnulf trat hinzu und hauchte. Abwehrend legten die Fiederblätter sich aufwärts zusammen.

»Also abgeblitzt, Verehrtester. Aber nun sollt ihr mal ein andres Bild sehen.« Karsten holte eine Flasche Kornbranntwein und schenkte sich ein Glas voll. »Die steht natürlich nur für Versuchszwecke hier,« sagte er schmunzelnd. Er trank das Glas aus und neigte sich zu der Mimose. »Jetzt paßt auf! Wie anders wirkt dies Zeichen auf sie ein!« Ein leichtes Erbeben der Blätter – dann steilen sie sich auf und stehen straff, schwelgend und verlangend, als wollten sie noch mehr von dem Genuß. Und nun wurde Karsten geradezu ausgelassen. Die Frage »Pflanze und Alkohol« kitzelte ihn. Die Pflanzen Alkoholdünste atmen lassen. Sie mit alkoholischen Getränken begießen, mit Bier, mit Wein, mit Wein der verschiedensten Sorten. Was sagen in jedem einzelnen Falle die Blumen dazu, deren Blüten, ihre Farbe, ihr Duft? Welch ein Feld unerschöpflicher Möglichkeiten, ungeahnter Offenbarungen!

Marten aber zog die Frage noch mehr in das lustig Sinnfällige. Wie verhalten die Pflanzen sich im Rausch? Er war ganz der Groteskmaler, seine Phantasie schwelgte sich aus und schlug Purzelbäume. Er zeichnete betrunkene Pflanzengeschichten, Märchen von besoffenen Saudisteln und vom süßen Vergißmeinnicht im ersten Schwips.

Die Töchter des Hauses erschienen, der Tisch war 196 gedeckt. Aber ein Gast fehlte noch, Brünne. Helga nahm den Vater beiseite, sie besprach mit ihm, ob sie noch warten sollten. Er entschied: wir fangen an.

Sie setzten sich. Marten, der zwischen Helga und Suse seinen Platz hatte, starrte auf das leere Gedeck zu Jörgs Rechten. Niemand sprach von der Fehlenden. Aber es ging ihm auf: das kann nur Brünne sein. Was bedeutete diese Geheimnistuerei? Sah das nicht ganz nach Komplott und Überrumpelung aus? Es war ihm bitterböse zumute.

Da kam die Lösung. Pferdehufe. Sie horchten auf. Karsten erhob sich. Aber nicht Brünne stellte sich ein. Ein berittener Bote von Eekenkamp brachte ein Schreiben, darin Brünne um Entschuldigung bat. Doch um Martens Stimmung war es geschehen.

Brünne war schon auf dem Weg hierher gewesen. Da hatte sie Marten gesehen, der demselben Ziel zustrebte. Nun lag für sie das Komplott und die Überrumpelung am Tage. In Zweifel war sie nur, ob er, Marten, davon wußte. Aber das erzürnte und verbitterte sie nur noch mehr. Und bebend kehrte sie um.

Karsten sah das Wettern auf Martens Gesicht. Etwas wie ein schlechtes Gewissen regte sich nun doch in ihm. Um so herzlicher trank er Marten zu. »Ich freue mich, Sie einmal bei uns zu haben, und freue mich unsrer Bundesbrüderschaft.«

Jörg sah Arnulf an. Er war dabei, von den schweren 197 Mühen des Tages sich zu entspannen, er wollte einmal leicht und sorglos um sich blicken. »Damit sind wir beide zu Gästen zweiter Klasse geworden. Und eine Bundesgenossenschaft auch zwischen uns ist das Gegebene. Darf ich mir erlauben?«

Arnulf hielt den scherzhaften Ton fest. »Zu denken gibt es ja, daß die beiden Herren von der andern Brüderschaft beim Betrunkenmachen von Pflanzen sich so zusammenfanden. Heißt das corriger la nature?«

»Naturschutz kann man es doch wohl nicht nennen,« hakte Jörg ein. Und nun balancierte er absichtlich auf der Schneide zwischen Scherz und Ernst. »Lieber Herr Professor, und wenn ich Sie so allmählich aus den Fängen dieses unseligen Begriffs erlösen könnte!«

Karsten blieb gut gelaunt. »Schimpfen Sie sich nur ruhig aus!«

Und nun legte Jörg los. »Naturschutz! Es gibt keinen größeren Widerspruch in sich selbst. Was sich nicht selbst schützt, ist eben nicht Natur. Überhaupt dieser geistige und darum auch sittliche Urfehler, den Menschen aus der Natur herauszustellen und in Gegensatz zu ihr zu bringen. Als ob nicht alles, was lebte, in, mit, durch, gegen einander wirkte! Und sich entwickelte! Und ein Tier, ein Fisch, ein Vogel, ein Insekt, ja eine Pflanze von heute bedankt sich vielleicht dafür, in dem Zustand von vor soundso viel 198 hundert oder tausend Jahren zurückgehalten zu werden. Empfindet solchen Ausschluß von der Gemeinschaft mit den Menschen, von dessen Wesen und Walten, von all dem neuen Licht und den neuen Tönen, die seine Erfindungen in die Welt gebracht haben, als Gefängnis. Leidet unter einer Verarmung. Ist jedenfalls so einem künstlichen Zwang unterworfen. Und künstlichen Zwang soll man nicht Naturschutz nennen.«

Karsten, der gründliche, mußte diese Einwände, die sich nicht ohne weiteres von der Hand weisen ließen, erst verarbeiten.

Schon aber trat Marten auf den Plan. »Erlaube! Wenn wir Menschen die Natur schützen, um bei dieser Bezeichnung zu bleiben, ist da nicht auch eine Berührung des Menschen mit der Natur, eine Einwirkung von ihm auf sie vorhanden? Du magst sie eine seelische nennen. Und ich kann mir denken, daß den andern Lebewesen diese Art des Verkehrs mit den Menschen willkommener ist als die durch Fabrikabwässer, Jazzbandmusik und den Lärm der Propeller vermittelte.«

»Bravo!« rief Karsten Wittenborn aus vollem Herzen.

Als sich jetzt aber Arnulf zum Sprung straffte, ward Helga aufsässig. Sie nahm den Verlobten beim Schlafittchen, da sie zwischen ihm und dem Vater einen ernsteren Zusammenstoß fürchtete. »Ewig 199 diese männlichen Klopffechtereien! Und das bei dreiunddreißig Grad im Mondschein. Unterhaltet jetzt uns! Sonst unterhalten wir euch!«

»Dieser furchtbaren Drohung«, sagte Jörg, »soll jetzt Susel ihre Schrecken nehmen.« Geflissentlich zog er sie herbei, die immer wieder in gramvolle Fernen entschwebte. »Suse, unsre Jugend!« Er hob zu ihr das Glas.

»Jugend,« trotzte sie auf. »Wer so viel Falten kriegt, mit dessen Jugend ist es vorbei.«

»Gegen die Falten gibt es ein Mittel!« rief Helga munter. »Mach' es wie die Frau von Sinding. Die legt sich rohes Fleisch aufs Gesicht.«

Suse war nun doch bei der Sache. »Hilft das, Onkel Jörg? Du als Arzt mußt es wissen.«

»Natürlich hilft es. Weißt du nicht, daß die häßlichen Hunnen wegen der Schönheit ihres zweiten Gesichts berühmt waren? Mit dem sie doch im Sattel ihre rohen Beefsteaks mürbe ritten.«

Nun lachten sie alle, am lautesten Suse. Und jetzt, wieder in junger jäher Wandlung, lehnte sie sich an seine Schulter. »Mit dir läßt es sich leben, Onkel Jörg. Mit dir könnt' ich ganz gut verheiratet sein.«

»Ehrt mich, ehrt mich.« Sein Kopf machte eine feierliche Verbeugung.

»Ist das Hohn? In der Geschichtsstunde hat man uns gesagt, daß Gertrud, die Tochter Kaiser Lothars, die Heinrich der Stolze von Bayern entführte und 200 zur Frau nahm, dreizehn Jahre alt war. Und ihr erster Sohn war Heinrich der Löwe! Ich bitte zu beachten, daß ich siebzehn geworden bin.«

»Das ist sehr beachtenswert.«

»Also.«

»Und wenn ich dich nun entführen würde –«

»Hätt' ich nichts dagegen.«

Sie hatte sich in Übermut hineinräsoniert. Jetzt ließ sie die Flügel wieder sinken. Dumpf tönt der Gedanke in ihr nach: entführen – warum nimmt sie nicht einer fort von hier! Daß sie nichts mehr sieht, nichts mehr weiß von allem, was hier geschieht.

Ihre Blicke meiden Arnulf und Helga. Ihre Pulse fühlen die Zärtlichkeit der beiden. In ihren geweckten Sinnen zittert es: nur einer kann mir helfen, der mich selbst mit seinen Zärtlichkeiten überströmt. Wenn Jugendgenossen um sie wären! Nun sitzt sie hier bei diesen gereiften Männern. Für die sie das Kind ist. Und was können sie ihr selber sein? Onkel Jörg. Und ist Marten nicht auch wie ein alter Onkel? Nein, Marten nicht. Das Durchfurchte, Zerklüftete in seinen Zügen – es ist so stark und herb wie das grausam junge Leben. Die Wunden, die er trägt – sie weiß, wer sie ihm geschlagen und wer allein sie heilen kann. Immer haben seine Augen ihr zu denken gegeben. Wenn sie im Glück aufleuchten, müssen sie wie Sonnen sein. Aber was 201 kümmern sie diese Sonnen! So wenig wie ihn das kleine Mädchen kümmert. Das ja schließlich auch nichts mit ihm zu schaffen hat. Das so unglückselig ist, die arme dumme Seele an einen andern verloren zu haben. An einen, dem sie durch alle Teufelsmittel des Hasses verfallen ist. Von dem sie nicht loskann, den sie verbrecherisch liebt, und der ihr, dem sie zum Verhängnis werden muß, so oder so.

Jörg machte einen Vorschlag. »Wie wäre es, wenn wir alle nach dem Holm hinüberführen? Nach Ihrer paradiesischen Insel, Professor?«

»Das wäre sonst was,« sagte Karsten. »Und gern würde ich Ihnen die kleine Unterkunftshütte zeigen, die ich da hergerichtet habe. Ein Gedicht, sag' ich euch. Es gibt auch schlechte Gedichte. Aber dieses ist gut.«

»Nun also!«

»Ja, wir haben bloß heute keine Verkehrsmöglichkeit. Unser Segelboot wird kalfatert. In den kleinen Ruderkahn gehen bloß zwei hinein.«

Suse belebte sich. »Dann wollen wir alle hinüberschwimmen!« Ein Unternehmen! Ein Wettkampf! Etwas Neues! Darin konnte man seine Not mal wieder abschütteln.

Aber man lächelte wie über einen Scherz. Nur Marten war frisch bei der Sache. Und enger wurde ihr Seelenbund mit ihm.

Zur Tat indes ließen die andern es nicht kommen. 202 Der Kaffee wurde aufgetragen. Bei Mokka und Zigarrendampf gerieten die Männer sich wieder in die Haare. Geringschätzig blickte sie auf solchen Männerkampf. Nun machte sie sich selbst bereit zu mannhaftem Tun. Schwimmen wollte sie. Hinein in die Mondbahn. Weit, bis zum Vergessen weit.

So löste sie sich aus der Gesellschaft. Als sie auf der Heide war, den ersten Hügel erstieg und sich umblickte, sah sie zwei Gestalten durch das Mondweben huschen. Eng umschlungen. Ihr fror das Herz. Arnulf und Helga – auch sie hatten sich fortgestohlen. Vorwärts, schnell den Dünen zu! Auf der höchsten kauert sie zwischen den Grasbüscheln.

Aber auch Arnulf hat sie gewahrt. Als fliegenden Schatten nur. Doch die Frage lebt in ihm auf: ist Suse ihnen nicht wieder auf den Fersen?

Gejagt sind sie, wie die Verfolgten. Und haben beide Mitleid einer mit dem andern. Und kriechen noch enger zusammen und verkriechen sich noch mehr. Heimlicher noch und verstohlener noch spinnt es sich um sie, sehnsüchtiger noch pulst ihr Blut und übermütiger zugleich. Und ein schalkhaftes Lachen ist über allem. Dabei steigt doch wieder eine dumpfleise Angst in ihm auf vor Suses dunkler Leidenschaftlichkeit. Die hineindrängen will in sein eignes Leben. Ganz bei Helga sich bergen! Und Helga bergen in seinen Armen. Er sieht das Ruderboot am Strand. »Weißt du was? Wir fahren nach der Insel hinüber.« 203

Sie eilen hinunter. Helga legt Hand mit an. Gleich sind sie flott. In Deckung der Uferhöhe fahren sie zuerst. Ist Suse wirklich auf dem Jagdpfad, soll der Mond sie beide nicht gleich ihr verraten.

Aber Suse ist da, Suse hat ihr Wild nicht aus den Augen verloren. Sie sucht selber Deckung in den Dünen, wirft die Kleider ab, zieht ihr Badezeug an, windet sich ins Wasser. Und da die beiden nun geraden Kurs auf die Insel nehmen, schwimmt sie ihnen nach. Nicht dieselbe Straße. Und alles setzt sie daran, vor den beiden am Ziel zu sein. Aber ihre Schwimmkünste versagen, schneller ist das Boot. Nun sieht sie – die Lungen stürmen gegen die Brust – wie die beiden anlegen, wie sie den Strand hinaufgehen die paar Schritte bis in die kleine mondbeschienene Hütte – sieht, wie sie hineinschlüpfen. Ihr Herz steht still. Ihre Muskeln lösen sich. Was will sie noch? Hier versinken und nichts mehr sehen und nichts mehr wissen. Still sein, ohne Fühlen, ohne Schmerz.

Und doch rudern die Arme weiter. Aber nun haben sie keine Eile mehr. Und dann faßt sie Fuß auf dem Inselrand. Taumelt hin und kriecht auf allen vieren. Und sinkt in dem Ufergestrüpp zusammen. Aber ihre Blicke ruhen auf der Hütte. So kauert sie im Gebüsch. Mit großen, furchtbaren Augen wie ein Nachtgespenst. Sie fühlt keinen Herzschlag, sie weiß von keiner Zeit. 204

Was jetzt da aus der Tür der Hütte sich löst – zwei eng umschlungene Gestalten – sind es Menschen, sind es Schatten? Die Welt ist erstorben –

Die Sterne, hart, ohne Leben. Vereist und erfroren sind sie. Blind ist ihr Licht.

 

Marten war mit seiner Roggenernte fertig. Die Muskeln entspannten sich aus der bitterschweren und dabei so wohltuenden gedankenlosen Mühsal. Er wollte fast, es wäre so weitergegangen im gleichen harten, keuchenden Trott. Nun, wo der ganze Schmerz um die Mühle ihn, den von der Fron aufatmenden, wieder anpackte und eine Tat von ihm forderte.

Er saß mit Ehrenfried. »So, Alter. Die Wartezeit ist vorüber. Heute nacht noch fließt wieder der Bach. Von morgen an geht die Mühle wieder.«

Groß und unsicher blickten die alten Augen aus den geröteten Lidern.

»Mit starkem Zutrauen siehst du mich nicht an, Ehrenfritz. Du sollst wissen, woran du mit mir bist. Als Kultureuropäer hab' ich natürlich fein und ordnungsmäßig den Klageweg zu beschreiten. Den Klageweg – wenn ich den Namen schon höre! Ist nicht alles Heulen und Zähneklappen darin? Diesen Weg der Klage und des Leidens gehen wir natürlich nicht. Wir wollen es des einen Prozeßmüllers, des 205 berühmten, genug sein lassen. Du Alter, Vielbelesener weißt natürlich von ihm.«

»Was wollt' ich nich von dem Johann Arnold wissen! Aber der hatte Wasser genug für seinen Betrieb behalten. Der hatte unrecht mit seiner Beschwerde gegen die Teichanlage auf dem Gute Kay. Und drang doch durch, weil der König die Kleinen gegen die Großen schützte.«

»Ja,« wandte Marten lächelnd ein, »den König haben wir nun nicht. Aber wir haben mehr Recht als der gute Johann Arnold, weil wir weniger Wasser haben. Doch wie dem sei, wenn es auch noch Richter gibt in Berlin – ein Prozeß, du heiliger Himmel! Prozessus heißt Fortschreiten – gibt es auf der Welt einen größeren Hohn? Und wenn ich an das denke, was der Herr Landrat unter anderm noch von sich gab: es werden Sachverständige darüber zu vernehmen sein, ob nicht durch eine Veränderung der Konstruktion der Mühle ihr ungeschmälerter Betrieb wieder zu erreichen sei – Sachverständige! Lieber Ehrenfritz, wir hoffen ja noch lange zu leben. Aber dieser Prozessus würde über unsre Leichen fort- und rückschreiten. Herrgott, und die Mühle soll ihr Leben wiederhaben!« Die Adern an seinem Halse strafften sich. »Ich hab' es gesagt, der Bach soll wieder her!« Schwer legte die Faust sich auf den Tisch. Und jetzt sprach er mit starkem und gütigem Ernst. »Ich will dich in das, 206 was ich vorhabe, nicht mit hineinziehen. Denn ich werd' mir selbst mein Recht verschaffen. Das wird natürlich nicht ohne Folgen bleiben. Mein Prozeßgegner« – und die Augen waren voll Feuer – »wird sich das nicht gefallen lassen. Vielleicht gibt es auch Zusammenstöße an Ort und Stelle.«

»Sie wollen den Bach wieder in sein altes Bett leiten?«

»Das will ich.«

»Wollen selbst und eigenhändig den Einlauf in die Teiche verstopfen?«

»Oder den Damm der Teiche durchbrechen. Das wird ja die Besichtigung ergeben.«

»Natürlich bin ich dabei.«

»Alter!«

»Natürlich helf' ich Ihnen. Allein können Sie das auch gar nicht. Gehör' ich nicht mit zur Mühle? Wär' es nach mir gegangen, wär' das längst geschehen. Vollendete Tatsachen, wie es in den Büchern heißt. Das einzige, was gilt und Sinn und Verstand hat.«

Am Abend, in vollem Mondschein, machen sich die beiden Männer, mit Spaten und Spitzhacken wohlausgerüstet, auf den Weg. »Taghell ist es,« bestätigt sich Marten. »Sie sollen nicht sagen, daß wir wie Diebe in der Nacht kommen.«

Die Felder waren verlassen. Vom Bruch her schrien Wasservögel. Die Rohrdommel tutete dumpf. 207 Ein paar wilde Enten strichen lautlos an dem hellen Himmel dem Moorsee zu. Marten schickte ihnen seine Wünsche nach. Nehmt euch vor dem Direktor Neuber in acht! Der hat die Hütte da unten gepachtet und Absichten auf euch. Zum Glück ist er verlobt und verliebt.

Immer ungebundener ward ihm zumute, immer fröhlicher stimmte ihn das Werk, an das sie schritten. Und er summte vor sich hin einen Vers der Zeit, gebraucht und mißbraucht, in eigner Nutzanwendung:

»Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
Der wollte keine Knechte.
Drum gab er Spaten, Hack' und Spieß
Dem Mann in seine Rechte –«

Damit lachte er breit Ehrenfried, seinen Spießgesellen, an. Und dem alten Knaben war nicht weniger wagnisfroh zumute. Ich habe von so viel Schelmstreichen gelesen in meinem Leben, dachte er – nun bin ich selbst der Held einer solchen spannenden Geschichte.

Leer ist die Welt, nur voll Mondweben. Und wieder, aus deutschen Versen und deutschem Fühlen, von der deutschen Erde trägt es Marten fort in die Fernen seines heimatlosen Schweifens. Die großäugige Stille der Pampasnacht stiert auf ihn und verzaubert ihn in Erinnerungen. Voll Abenteuer die Mondnebel – die Männer sprechen nicht, sie träumen nur, die beiden großen, alten Jungen. 208

Bis die Wasserfläche eines Teiches das Mondlicht zurückwirft. Die Reflexe stechen ihnen in die Augen, wecken sie auf und mahnen sie an die Tat. Sie sind am Ziel.

Gleich ist Marten der Werkmann. Mit festen Augen prüft er die Anlage.

Auf dem Kamm des mit Bohlen abgesteiften Erdwalls, der die Teiche umrahmt, ist ein künstlicher Abfluß geschaffen. Eine breite hölzerne Wasserrinne steht mit dem natürlichen Bett des Mühlbachs außerhalb der Teichanlage in Verbindung. Dieses Bett ist in den ersten Teich mit einbezogen. Der Damm schließt es an eben der Stelle, wo die hölzerne Rinne angebracht ist.

Nur spärliches Wasser fließt über sie hin. Marten nickt ingrimmig. »Das ist also, was sie uns vergönnen. Alle dreiviertel Stunde einen Teelöffel voll.«

Er untersucht den Damm an dieser Stelle, wo er das Bett des natürlichen Wasserlaufs verschließt. Hier ist die Erde mit hölzernen Planken besonders abgedeckt, die seitwärts von schräggestellten Pfählen gestützt werden. »Dies ist also die Stelle, Alter. Hier wird der Durchstich gemacht.«

Sie tragen die hölzerne Rinne ab, sie lösen die obersten Bohlen. Der Kamm des Walles wird durchstochen. Das Wasser drängt sich in die Öffnung und wühlt sich selbsttätig weiter. Immer mehr Bohlen 209 werden abgenommen, immer tiefer und breiter wird der Durchbruch.

Mühselig die Arbeit. Bis an die Schenkel stehen sie im Wasser. Aber sie schaffen mit zorniger Lust. Und Marten spricht mit seinem Bach. »Eingesperrt haben sie dich! Die Freiheit dir genommen haben sie! Wir erlösen dich, du lieber alter Kerl. Als ob wir nicht zusammengehörten, wir! Und was sehnt die Mühle sich nach dir! Gleich bist du wieder bei ihr. Oh, sie wird Augen machen!«

Und jetzt, das letzte von der Dammerde spült das Wasser hinweg. Brausend ergießt es sich in das Bett. Der Bach lebt wieder und rauscht ein fröhliches Lied. Und Martens Kehle gibt ein kraftvoll glückliches Hurra! darein.

Er will mit dem Bach zur Mühle stürmen. Aber dann hält dies wüste Durcheinander von Bohlen, Planken und Pfählen, das Bild der Zerstörung ihn zurück. Erst Ordnung schaffen! So steifen sie erst fein säuberlich die Seitenwände des Erdwalles ab, da wo er den Bach hindurchläßt.

Marten, jetzt, wo das Werk selbst ihn nicht mehr erfüllt, blickt sich um. Seinem Abenteuersinn fehlt etwas. Gehört nicht so eine Art Überraschtwerden zu dieser heimlichen Fahrt? Müßten jetzt nicht Reiter angesprengt kommen? Müßten jetzt nicht Flinten knallen? Aber die Welt bleibt leer, die Nacht bleibt still. 210

Dann, als sie vollends aufgeräumt haben, machen die Männer sich auf den Heimweg. Noch bändigt die Kameradschaft Martens Schritt. Sonst wär' er dem Alten davongelaufen.

Er hat, ehe sie zu ihrer Tat sich aufmachten, das Mühlrad auf Gang gestellt. Jetzt lauscht er ihm nach. Und da – da – ist das nicht das Rauschen des Rades? Ja, es ist, es ist! Der alte Ton! Des Lebens Klang! Die Mühle lebt!

Nun gibt es für ihn kein Halten mehr. Er stürmt über die Halde, heimwärts, zu seiner Mühle.

 


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