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Elftes Kapitel.
Der Mann auf der Felsspitze

Der Auszug aus meinem Tagebuch, der das vorige Kapitel bildet, reicht bis zum 18. Oktober. An diesem Tag begannen die seltsamen Ereignisse sich schnell zu ihrem entsetzlichen Ende zu entwickeln. Die Vorfälle der nächsten Tage haben sich unauslöschlich meinem Gedächtnis eingegraben, und ich brauche, um sie zu erzählen, nicht meine damaligen Aufzeichnungen zu Hilfe zu nehmen.

Ich hatte, wie bereits berichtet, am 17. Oktober zwei Tatsachen von großer Bedeutung festgestellt: erstens, daß Frau Laura Lyons in Coombe Tracey an Sir Charles Baskerville geschrieben und ihn um ein Stelldichein gebeten hatte, und daß dieses Zusammentreffen genau an dem Ort und zu der Stunde seines jähen Todes hatte stattfinden sollen; zweitens, daß der Mann, der sich auf dem Moor versteckt hält, in den Steinhäusern am Hügelabhang zu finden ist. Mit dem Wissen um diese beiden Tatsachen mußte ich Licht in das düsteren Rätsel bringen, , wenn mich nicht etwa meine Intelligenz oder mein Mut im Stich ließen – und das war nicht zu befürchten.

Ich hatte keine Gelegenheit gefunden, dem Baronet noch im Laufe des Abends die neuen Kenntnissen über Frau Lyons mitzuteilen, denn Doktor Mortimer blieb bis tief in die Nacht hinein mit ihm am Spieltisch sitzen. Beim Frühstück jedoch teilte ich ihm meine Entdeckung mit und fragte ihn, ob er Lust hätte, mich nach Coombe Tracey zu begleiten. Zuerst war er Feuer und Flamme für diesen Plan; nach reiflicherem Überlegen jedoch schien es uns beiden, ich würde vielleicht mehr ausrichten, wenn ich allein ginge. Es war sehr leicht möglich, daß wir um so weniger erfuhren, je formeller wir den Besuch machten. Ich ließ daher, wenngleich nicht ohne einige Gewissensbisse, Sir Henry allein zurück und machte mich auf meinen Weg.

In Coombe Tracey angekommen, wies ich Perkins an, die Pferde einzustellen, und erkundigte mich nach der Dame, der mein Besuch galt. Ich fand ohne Mühe ihre Wohnung, die mitten im Ort lag und gut eingerichtet war. Ein Dienstmädchen ließ mich ohne weitere Förmlichkeiten in das Wohnzimmer eintreten, und eine Dame, die vor einer Remington-Schreibmaschine saß, sprang auf und bewillkommnete mich mit einem freundlichen Lächeln. Dieser Ausdruck von Freundlichkeit verschwand indessen, als sie sah, daß ich ein Unbekannter war; sie setzte sich wieder hin und fragte mich nach dem Anlaß meines Besuches.

Auf den ersten Blick machte Frau Lyons den Eindruck einer außerordentlichen Schönheit. Ihre Haare waren, wie die Augen, von dunkelbrauner Farbe, ihre Wangen waren zwar etwas sommersprossig, aber es lag auf ihnen der köstliche Flaum der Brünetten, jener zartrosa Hauch, der sich im Herzen der gelben Rose birgt. Bewunderung war, ich wiederhole es, das erste Gefühl, das sie einflößte; dann aber kam sofort die Kritik. Es lag in ihrem Gesicht ein eigentümlicher, wenig anziehender Ausdruck, vielleicht eine gewisse Härte des Blickes, eine Schlaffheit der Lippen – genug, die Vollkommenheit ihrer Schönheit wurde dadurch beeinträchtigt. Doch diese Gedanken machte ich mir natürlich erst hinterher. In jenem Augenblick hatte ich nur das Gefühl, mich einer sehr hübschen Frau gegenüber zu befinden, die mich fragte, warum ich sie besuche. Diese Frage brachte mir so recht zum Bewußtsein, wie delikat meine Aufgabe war.

»Ich habe das Vergnügen,« begann ich, »Ihren Herrn Vater zu kennen.«

Dies war nun freilich eine recht linkische Eröffnung des Gespräches, und die Dame gab mir das auch sofort zu verstehen.

»Zwischen meinem Vater und mir,« sagte sie, »bestehen keine Beziehungen. Ich bin ihm nichts schuldig, und seine Freunde sind nicht die meinigen. Wäre nicht der verstorbene Sir Charles Baskerville gewesen, und hätte ich nicht noch einige andere gütige Herzen gefunden, so hätte ich hungern können – mein Vater hätte sich nicht darum gekümmert.«

»Der Anlaß meines Besuches bei Ihnen betrifft gerade den verstorbenen Sir Charles Baskerville.«

Die Dame wurde rot, so daß die Sommersprossen auf ihren Wangen deutlich hervortraten.

»Was könnte ich Ihnen über diesen Herrn sagen?« fragte sie, und ihre Finger spielten nervös auf den Tasten der Schreibmaschine.

»Sie kannten ihn, nicht wahr?«

»Wie ich Ihnen bereits sagte, bin ich seiner Freundlichkeit großen Dank schuldig. Wenn ich imstande bin, mein Brot selber zu verdienen, so habe ich das in großem Maß der Teilnahme zu verdanken, die ihm meine unglückliche Lage einflößte.«

»Standen Sie mit ihm in brieflichem Verkehr?«

Sie warf einen raschen Blick auf mich, und in ihren nußbraunen Augen lag ein ärgerliches Funkeln.

»Was bezwecken Sie mit diesen Fragen?« rief sie dann scharf.

»Ich bezwecke damit einen öffentlichen Skandal zu vermeiden. Es ist besser, ich richte diese Frage hier an Sie als an einem anderen Ort, wo die Sache vielleicht eine Wendung nehmen möchte, gegen die wir nichts machen könnten.«

Sie schwieg und ihr Gesicht war sehr blaß. Schließlich blickte sie auf, und aus ihrer Haltung sprach ein gewisser leichtfertiger und herausfordernder Trotz

»Gut, ich will antworten,« sagte sie. »Fragen Sie.«

»Standen Sie mit Sir Charles in Briefwechsel?«

»Gewiß; ich schrieb ihm ein- oder zweimal, um ihm für sein Zartgefühl und seinen Edelmut zu danken.«

»Erinnern Sie sich an die Daten dieser Briefe?«

»Nein.«

»Sind Sie jemals persönlich mit ihm zusammengetroffen?«

»Ja, ein- oder zweimal hier in Coombe Tracey. Er lebte sehr zurückgezogen, und zog es vor, Gutes im Verborgenen zu tun.«

»Aber wenn Sie ihm so selten schrieben und ihn so selten sprachen, wie kommt es dann, daß er genug über Ihre Angelegenheiten wußte, um Ihnen helfen zu können, wie er es tat, nach dem, was Sie sagten?«

Auf diesen Einwurf war sie sofort mit einer Erklärung bei der Hand.

»Mehrere Herren kannten meine traurige Geschichte und taten sich zusammen, um mir zu helfen. Einer von ihnen war Herr Stapleton, ein Nachbar und intimer Freund von Sir Charles. Er war außerordentlich freundlich und durch ihn wurde Sir Charles über meiner Angelegenheiten unterrichtet.«

Ich wußte bereits, daß Sir Charles Baskerville sich bei verschiedenen Gelegenheiten Stapletons als seines Almoseniers bedient hatte; die Angaben der Dame schienen daher glaubwürdig zu sein.

»Schrieben Sie jemals an Sir Charles, um ihn um eine Begegnung zu bitten?« fuhr ich fort.

Frau Lyons wurde abermals rot vor Ärger.

»In der Tat, mein Herr, das ist eine höchst sonderbare Frage.«

»Es tut mir leid, gnädige Frau, aber ich muß sie wiederholen.«

»Dann antworte ich Ihnen: nein! ich schrieb ganz gewiß nicht.«

»Auch nicht an genau jenem Tag, als Sir Charles starb?«

Die Röte war augenblicklich verflogen und ein totenbleiches Antlitz starrte mich an. Ihre trockenen Lippen vermochten kaum das ›Nein‹ hervorzubringen, das ich mehr sah als hörte.

»Ihr Gedächtnis täuscht Sie ganz gewiß.« sagte ich. »Ich kann sogar eine Stelle Ihres Briefes wiederholen. Sie lautet: ›Bitte, bitte, da Sie ein Gentleman sind, so verbrennen Sie diesen Brief und seien Sie um zehn Uhr an der Pforte.‹«

Ich glaubte, sie fiele in Ohnmacht, aber sie hielt sich mit großer Anstrengung aufrecht, doch stöhnte sie:

»So gibt es also keinen Gentleman mehr?!«

»Sie sind ungerecht gegen Sir Charles. Er verbrannte den Brief wirklich. Aber ein Brief kann zuweilen noch leserlich sein, selbst wenn er verbrannt ist. Sie geben also zu, daß Sie ihn geschrieben haben?«

»Ja, ich habe ihn geschrieben,« rief sie, und die ganze Erregung ihrer Seele brach sich in einem Strom von Worten Bahn. » Warum sollte ich das leugnen? Ich habe keinen Grund, mich deswegen zu schämen. Ich wollte seine Hilfe und glaubte, wenn ich ihn persönlich sprechen könnte, so wäre mir seine Hilfe sicher, deshalb bat ich ihn um das Treffen.«

»Aber warum zu solch einer Stunde?«

»Weil ich gerade erst erfahren hatte, daß er am nächsten Tage nach London reisen und vielleicht monatelang abwesend sein würde. Aus verschiedenen Gründen konnte ich nicht früher kommen.«

»Aber warum ein Stelldichein im Garten statt eines Besuches im Haus?«

»Sind Sie der Meinung, eine Frau könnte zu solcher Stunde allein in die Wohnung eines unverheirateten Herrn gehen?«

»Und was passierte dann, als Sie an der Pforte ankamen?«

»Ich bin gar nicht hingegangen.«

»Frau Lyons!«

»Nein. Ich schwöre es Ihnen bei allem, was mir heilig ist. Ich ging nicht. Es kam etwas dazwischen, was mich davon abhielt.«

»Und was war das?«

»Das ist eine Privatangelegenheit. Ich kann es Ihnen nicht sagen.«

»Sie geben also zu, daß Sie mit Sir Charles am Tag seines Todes eine Verabredung hatten und sogar zu der Stunde und an dem Ort, wo er starb, Sie leugnen aber, diese Verabredung eingehalten zu haben?«

»So ist es.«

Immer und immer wieder fragte ich sie aus wie in einem Kreuzverhör, aber über diesen Punkt gelang es mir nicht hinwegzukommen. Schließlich stand ich auf, um dem langen und ergebnislosen Gespräch ein Ende zu machen.

»Frau Lyons,« sagte ich, als ich mich erhob, »Sie laden eine sehr große Verantwortung auf sich und bringen sich selber in eine ganz schiefe Lage, indem Sie nicht frei heraus alles sagen, was Sie wissen. Wenn ich die Hilfe der Polizei anrufen muß, so werden Sie entdecken, wie ernstlich Sie sich bloßgestellt haben. Wenn Sie vollkommen unschuldig sind, warum leugnen Sie dann zuerst, daß Sie an jenem Tag an Sir Charles geschrieben haben?«

»Weil ich fürchte, es könnten falsche Schlußfolgerungen daraus gezogen werden, durch die ich möglicherweise in einen Skandal verwickelt würde.«

»Und warum drangen Sie so sehr darauf, daß Sir Charles Ihren Brief vernichten sollte?«

»Wenn Sie den Brief gelesen haben, so werden Sie das ja selber wissen.«

»Ich habe nicht behauptet, daß ich den ganzen Brief gelesen habe.«

»Sie zitieren doch etwas daraus.«

»Ja, die Nachschrift. Der Brief ist, wie ich bereits sagte, verbrannt worden, und es war nicht mehr alles leserlich. Ich frage noch einmal, warum Sie Sir Charles so dringend baten, diesen Brief zu vernichten, den er an seinem Todestag empfing.«

»Die Angelegenheit ist rein persönlich.«

»Umso mehr sollten Sie bemüht sein, eine öffentliche Untersuchung zu vermeiden.«

»Nun, so will ich's Ihnen sagen. Wenn Sie einiges von meiner unglücklichen Geschichte gehört haben, so werden Sie wissen, daß ich mich unbesonnen verheiratet habe und Grund hatte, diesen Schritt zu bereuen.«

»Ich habe davon gehört.«

»Seither werde ich unaufhörlich von meinem Mann verfolgt, den ich verabscheue. Das Gesetz steht auf seiner Seite, und ich muß jeden Tag mit der Möglichkeit rechnen, daß er mich zwingt, wieder mit ihm zusammenzuleben. Als ich Sir Charles jenen Brief schrieb, hatte ich gerade erfahren, das ich meine Freiheit für eine gewissen Summe Geldes wiedererlangen könnte. Für mich hing alles davon ab: Seelenruhe, Glück, Selbstachtung – mit einem Wort: alles. Ich kannte Sir Charles' Freigiebigkeit, und ich dachte, wenn er die Geschichte aus meinem eigenen Mund hört, so würde er mir ganz gewiß helfen.«

»Wie kommt es dann, daß Sie nicht hingingen?«

»Weil mir in der Zwischenzeit von anderer Seite Hilfe zuteil wurde.«

»Aber warum schrieben Sie dies nicht an Sir Charles?«

»Ich hätte es getan, wenn ich nicht am anderen Morgen in der Zeitung von seinem Tod erfahren hätte.«

Die Geschichte der Frau war in sich zusammenhängend, und mit all meinen Fragen gelang es mir nicht, ihre Aussagen ins Wanken zu bringen. Ich konnte nichts weiter tun, als Nachforschungen anstellen, ob sie wirklich zu der Zeit, zu der sich die Tragödie von Baskerville Hall abgespielt hatte, Schritte tat, um sich scheiden zu lassen.

Es war nicht anzunehmen, daß sie geleugnet hätte, in der Taxusallee von Baskerville Hall gewesen zu sein, wenn sie in Wirklichkeit dort gewesen wäre, denn, um dorthin zu gelangen, hätte sie sich unbedingt eines Wagens bedienen müssen, und dieser hätte nicht vor den frühen Morgenstunden wieder in Coombe Tracey anlangen können. Eine solche Ausfahrt ließ sich nicht geheim halten. Es war also anzunehmen, daß sie in dieser Hinsicht die Wahrheit sagte – oder wenigstens einen Teil der Wahrheit. Verwirrt und entmutigt verließ ich sie. Abermals stand ich vor jener unübersteiglichen Mauer, die anscheinend auf jedem Weg sich erhob, um mein Ziel zu versperren. Und doch, je mehr ich an das Mienenspiel und das Benehmen der Dame dachte, desto stärker wurde der Eindruck, daß sie mir irgend etwas verheimlichte.

Warum war sie so bleich geworden? Warum mußte ihr jedes Zugeständnis sozusagen abgekämpft werden? Warum war sie in jenen Tagen, als die Tragödie die ganze Gegend in Aufruhr versetzt hatte, so schweigsam gewesen? Ganz gewiß ließ dies alles sich nicht auf eine so unschuldige Art erklären, wie sie mich glauben machen wollte. Für den Augenblick konnte ich jedoch keine weiteren Schritte in diese Richtung tun, sondern mußte mich der anderen Spur zuwenden, die in den Steinhütten auf dem Moor zu suchen war.

Und das war eine von sehr ungewisser Art. Es kam mir so recht zum Bewußtsein, als ich auf der Rückfahrt bemerkte, wie Hügel um Hügel die Spuren des Heidenvolkes zeigte. Barrymore hatte nichts weiter sagen können, als daß der Fremde in einer von den verlassenen Hütten hauste, und nun sah ich, daß diese zu Hunderten überall übers Moor verstreut waren. Immerhin hatte ich mein eigenes nächtliches Erlebnis als Ausgangspunkt, denn ich hatte mit eigenen Augen den Mann selber auf dem Gipfel des ›Black Tor‹ stehen sehen. Von diesem Punkt aus mußte ich also meine Nachforschungen beginnen. Ich konnte nichts anderes tun, als von diesem Punkt aus jede Hütte auf dem Moor zu untersuchen, bis ich die richtige traf. War dieser Mann in der Hütte, so mußte er mir selber gestehen – wenn nötig, vor der Mündung meines Revolvers – wer er war und warum er uns so lange nachgespürt hatte. Im Gedränge der Regent Street konnte er uns wohl entschlüpfen, aber hier auf dem einsamen Moor sollte ihm das doch schwer werden. Sollte ich dagegen die Hütte finden, ihr Bewohner aber nicht anwesend sein – nun, so mußte ich dort warten, bis er zurückkehrte, mochte meine Wache auch noch so lange dauern. Holmes hatte ihn in London entwischen lassen. Es wäre in der Tat ein Triumph für mich gewesen, hätte ich den Mann dingfest gemacht, den mein Meister nicht halten konnte.

Das Glück war während dieser Untersuchung wieder und wieder gegen uns gewesen – nun auf einmal kam es uns zu Hilfe. Und der Glücksbringer war niemand anderes als der alte Frankland, der mit seinem grauen Backenbart und rotem Gesicht vor seiner Gartenpforte auf dem Weg stand, den ich entlang fuhr.

»Guten Tag, Doktor Watson.« rief er mit ungewohnt guter Laune. »Sie müssen wirklich Ihre Pferde ein bißchen ausruhen lassen und zu mir hereinkommen, um ein Glas Wein mit mir zu trinken und mir zu gratulieren.«

Ich empfand durchaus keine freundschaftlichen Gefühle für den Mann, der nach allem, was man mir erzählte, seine Tochter so schlecht behandelt, aber mir lag viel daran, Perkins mit dem Fuhrwerk nach Hause zu schicken, und diese Gelegenheit war günstig. Ich stieg also aus und sagte dem Kutscher, er möchte Sir Henry bestellen, daß ich zur Essenszeit zu Hause wäre. Dann folgte ich Frankland in sein Speisezimmer.

»Heut ist ein großer Tag für mich, Herr Doktor – einer von den wenigen Tagen in meinem Leben, die ich rot anstreichen kann.« rief er, unaufhörlich kichernd. »Ich habe einen Doppelsieg errungen Ja, ich will den Leuten hier beibringen, daß das Gesetz Gesetz ist, und daß es hier einen Mann gibt, der sich nicht fürchtet, es anzurufen. Ich habe ein Wegerecht mitten durch des alten Middletons Park nachgewiesen, mitten durch, Herr Doktor, keine hundert Ellen von seiner Haustür. Was sagen Sie dazu? Wir wollen diesen Magnaten zeigen, daß sie sich nicht so mir nichts dir nichts über die Rechte von uns Bürgerlichen hinwegsetzen können, hol' sie der Henker! Dann habe ich den Wald gesperrt, wo die Fernworthyer immer Picknicks hielten. Diese Höllenbrut scheint zu glauben, es gebe keine Eigentumsrechte und sie können nach freiem Belieben überall herumschwärmen mit ihren Flaschen und mit ihrem Butterbrotpapier. Beide Prozesse sind entschieden, Doktor Watson, und beide zu meinen Gunsten. Solch einen Tag habe ich nicht gehabt, seitdem ich Sir John Morland verurteilen ließ, weil er in seiner eigenen Fasanerie geschossen hat.«

»Wie in aller Welt brachten Sie das denn fertig?«

»Lesen Sie's nur in den Büchern nach, Doktor. Es lohnt der Mühe! Frankland gegen Morland, Gerichtshof: Queens Bench. Es kostet mich 200 Pfund, aber ich setze mein Recht durch!«

»Haben Sie irgend einen Vorteil davon?«

»Keinen, Herr Doktor, gar keinen. Ich sage es voll Stolz, ich habe gar kein Interesse an der Sache. Ich handle durchaus nur aus Pflichtgefühl zum allgemeinen Besten. Ich bezweifle zum Beispiel nicht, daß die Leute von Fernworthy mich heute abend am liebsten verbrennen würden. Als sie's das letztemal versuchten, sagte ich der Polizei, sie müsse derart anstößige Auftritte verhindern. Die Grafschaftspolizei ist in einem skandalösen Zustand, Herr Doktor, und hat mir nicht den Schutz gewährt, auf den ich Anspruch habe. Der Prozeß Frankland gegen Reginam wird die Sache vor die Öffentlichkeit bringen. Ich sagte ihnen, es würde ihnen noch mal leid tun, mich so behandelt zu haben, und meine Worte haben sich denn auch bereits bewahrheitet!«

»Wieso?«

Der alte Mann machte ein sehr verschmitztes Gesicht.

»Weil ich ihnen was sagen könnte, was sie um ihr Leben gern wüßten; aber nichts soll mich dazu bringen, diesen Schuften in irgendeiner Weise zu helfen.«

Ich hatte bereits nach einem Vorwand gesucht, diesem Geschwätz zu entgehen; die letzten Worte erregten jedoch in mir den Wunsch, mehr zu hören. Ich hatte von dem Widerspruchsgeist des alten Sünders genug gesehen, um nicht zu begreifen, daß er seine Herzensergüsse sofort einstellen würde, wenn ich mich irgendwie neugierig zeigte. Ich sagte daher mit möglichst gleichgültiger Miene:

»Jedenfalls handelt sich's um irgend eine Wilddieberei.«

»Haha, mein Junge! Nein, um etwas viel, viel Wichtigeres. Was meinen Sie wohl? Es betrifft den Sträfling auf dem Moor.«

Ich fuhr in die Höhe und rief:

»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie wissen, wo der Mann ist?«

»Ich weiß vielleicht nicht ganz genau, wo er ist, aber ich bin vollkommen sicher, daß ich der Polizei helfen könnte, ihn festzunehmen. Ist es Ihnen niemals eingefallen, daß es kein besseres Mittel gibt, den Mann zu fangen, als wenn man ausfindig macht, von wem er seine Nahrungsmittel erhält? Man braucht nur die Spur zu verfolgen und man hat ihn.«

Der alte Herr schien in der Tat in sehr unbequemer Weise dicht bei der Wahrheit zu sein.

»Ohne Zweifel haben Sie recht,« antwortete ich, »aber wie wissen Sie überhaupt, daß er irgendwo auf dem Moor ist?«

»Das weiß ich, weil ich mit eigenen Augen den Boten gesehen habe, der ihm sein Essen bringt.«

Ich bekam Angst um Barrymore. Es war keine Kleinigkeit, in der Gewalt dieses boshaften alten Querulanten zu sein. Aber als er weiter sprach, fiel mir ein Stein vom Herzen.

»Es wird Sie überraschen, wenn ich Ihnen sage, daß ihm sein Essen von einem Jungen gebracht wird. Ich sehe ihn jeden Tag durch mein Fernrohr, das oben auf meinem Dach steht. Er geht immer um dieselbe Zeit denselben Weg, und zu wem sollte er sonst gehen, als zu dem Sträfling?«

Das war allerdings wirklich Glück. Doch trotz meiner inneren Freude unterdrückte ich jedes Anzeichen von Neugier. Ein Knabe! Barrymore hatte gesagt, unser Unbekannter würde von einem Knaben versorgt. Auf dessen Spur und nicht auf die des Sträflings war Frankland geraten. Wenn ich ihn dazu bringen konnte, mir alles zu sagen, was er wußte, so ersparte mir das vielleicht eine lange und mühsame Jagd. Aber das beste Mittel dazu waren offen zur Schau getragene Ungläubigkeit und Gleichgültigkeit.

»Meiner Meinung nach dürfte es wahrscheinlicher sein, daß der Junge der Sohn irgend eines Moorschäfers ist und seinem Vater das Mittagessen bringt.«

Bei dem geringsten Widerspruch sprühte der alte Autokrat sofort Feuer und Flammen. Er sah mich mit einem giftigen Blick an und seine grauen Barthaare sträubten sich wie die eines wütenden Katers.

»Was Sie nicht sagen!« rief er, und damit streckte er den Finger in der Richtung zum Moor aus. »Sehen Sie den ›Black Tor‹ dahinten? Sehen Sie darunter den niedrigen Hügel mit dem Dornbusch darauf? Das ist der steinigste Teil des ganzen Moores. Würde wohl ein Schäfer da sein Standquartier aufschlagen? Ihre Vermutung, Herr, ist völlig absurd.«

Ich antwortete ganz kleinlaut, ich hätte gesprochen, ohne alle diese Tatsachen zu kennen. Meine Unterwürfigkeit gefiel ihm und veranlaßte ihn zu weiteren vertraulichen Mitteilungen.

»Verlassen Sie sich darauf, Doktor, ich habe meine guten Gründe, bevor ich mir eine Meinung bilde. Ich sah den Jungen wieder und immer wieder mit seinem Bündel. Jeden Tag und oft sogar zweimal täglich konnte ich – aber warten Sie doch mal, Doktor Watson. Täuschen meine Augen mich oder bewegt sich gerade in diesem Augenblick etwas den Hügel hinauf?«

Die Entfernung betrug mehrere Meilen, aber ich konnte ganz deutlich auf dem dunkelgrauen und grünen Grund einen schwarzen Fleck sich abheben sehen.

»Kommen Sie, kommen Sie!« rief Frankland und rannte dabei die Treppe hinauf. »Sie sollen mit Ihren eigenen Augen sehen und selber urteilen.«

Das Fernrohr, ein riesiges Instrument auf einem dreibeinigen Gestell, stand auf dem flachen Dach des Hauses. Frankland legte das Auge an das Glas und stieß einen Schrei der Genugtuung aus.

»Schnell, Doktor Watson, schnell! Sonst verschwindet er hinter dem Hügel.«

Richtig, da ging ein Junge mit einem kleinen Bündel auf der Schulter. Er stieg langsam den Hügel hinauf, und als er oben war, sah ich einen Augenblick lang die zerlumpte Gestalt sich gegen den kalten blauen Himmel abheben. Er sah sich mit vorsichtig um, wie einer, der verfolgt zu werden fürchtet. Dann verschwand er jenseits des Hügels.

»Na, hab' ich recht?«

»Jedenfalls ging da ein Junge, der irgend eine geheime Besorgung zu machen scheint.«

»Und was das für eine Besorgung ist, das könnte sogar ein Grafschaftspolizist erraten. Aber kein Wort sollen sie von mir darüber erfahren, und ich verlange auch von Ihnen Verschwiegenheit, Doktor Watson. Kein Wort! Verstehen Sie?«

»Ganz wie Sie wünschen.«

»Sie haben mich schändlich behandelt – schändlich! Wenn im Prozeß Frankland gegen Reginam die Tatsachen ans Licht kommen, so wird – das darf ich wohl annehmen – ein Schrei der Entrüstung durchs Land gehen! Nichts könnte mich dazu bringen, der Polizei in irgendeiner Weise beizustehen. Die hätte ja ruhig mit angesehen, wenn ich selber anstatt meines Abbildes von den Schurken da auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden wäre ... Aber Sie gehen doch nicht schon? Sie werden mir doch noch helfen, zu Ehren dieses großen Anlasses die Karaffe zu leeren?«

Aber ich blieb allen Einladungen gegenüber standhaft und schließlich gelang es mir auch, ihn von seiner Absicht abzubringen mich nach Baskerville Hall zu begleiten. So lange er mir noch mit dem Auge folgen konnte, blieb ich auf der Straße; dann aber bog ich vom Weg ab in das Moorland hinein und schritt auf den Felsenhügel zu, auf dessen Kuppe der Junge verschwunden war. Alle Umstände hatten sich zu meinen Gunsten gewandt, und ich schwor mir selber, wenn der glückliche Zufall mir keinen Erfolg brächte, so sollte dies jedenfalls nicht am Mangel an Tatkraft oder Ausdauer von meiner Seite liegen.

Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont, als ich den Gipfel des Hügels erreichte, und die langgestreckten Schluchten zu meinen Füßen glänzten auf der einen Seite in goldigem Grün und waren auf der anderen in graue Schatten gehüllt.

Aus dem Nebelstreifen, der in der Ferne den Horizont verbarg, ragten die phantastisch geformten Umrisse des Belliver und des Vixen Tor hervor. Auf der ganzen weiten Fläche kein Laut, keine Bewegung. Ein großer grauer Vogel, eine Möwe oder ein Brachvogel, schwebte hoch über mir in der blauen Luft. Er und ich schienen die einzigen lebenden Wesen zwischen dem Riesengewölbe des Himmels und der weiten Wüste zu sein. Die traurige Landschaft, das Gefühl der Einsamkeit, das Geheimnisvolle und Dringliche meiner Aufgabe – dies alles ergriff mein Herz mit einem kalten Schauer. Der Junge war nirgends zu sehen. Aber tief unter mir in einer Schlucht war ein Kreis der alten Steinhütten, und in ihrer Mitte bemerkte ich eine, die noch hinreichend gut erhalten war, um gegen die Unbilden des Wetters Schutz bieten zu können. Das Herz klopfte mir, als ich sie sah. Dies mußte das Versteck sein, worin der Fremde hauste. Endlich berührte mein Fuß die Schwelle seiner Zufluchtsstätte – sein Geheimnis lag greifbar vor mir.

Vorsichtig näherte ich mich der Hütte – ich mußte an Stapleton denken, wenn er sich mit seinem Netz an den Schmetterling heranschlich, der sich auf einer Pflanze niedergelassen – und ich bemerkte mit Befriedigung, daß die Stätte wirklich als Wohnung benutzt wurde. Ein kaum sichtbarer Fußweg führte zwischen den Granitblöcken hindurch zu dem verfallenen Eingang der Hütte. Drinnen war alles still. Vielleicht hielt der Unbekannte sich dort versteckt, vielleicht aber streifte er auf dem Moor umher. Erregung und Abenteuerlust hielten meine Nerven auf das höchste gespannt. Ich warf meine Zigarette weg, umspannte mit der Faust den Kolben des Revolvers und ging schnellen Schrittes auf die Tür zu. Ich sah hinein. Der Raum war leer.

Es gab jedoch Anzeichen in Hülle und Fülle dafür, , daß ich nicht auf der falschen Fährte war. Ganz sicher mußte der Mann hier wohnen. In einen wasserdichten Regenmantel eingewickelt lagen mehrere Wolldecken auf der Steinplatte, die schon den Heiden der Vorzeit als Schlummerstätte gedient hatte. Auf einem primitiven Feuerrost lag ein Haufen Asche. Daneben bemerkte ich einige Küchengeräte und einen halbvollen Wassereimer. Eine Anzahl aufeinander geworfener leerer Konservenbüchsen bewiesen mir, daß die Hütte schon seit einiger Zeit bewohnt sein müsse, und als meine Augen sich erst an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah ich in der Ecke eine Pfanne und eine angebrochene Flasche Branntwein.

Mitten im Raum lag ein flacher Stein, der als Tisch diente, und auf diesem lag, in ein Tuch eingewickelt, ein kleines Bündel – ohne Zweifel dasselbe, das ich durch das Fernrohr auf der Schulter des Jungen bemerkt hatte. Es enthielt einen Laib Brot, eine Büchse mit Zunge und zwei Dosen mit eingemachten Pfirsichen. Ich prüfte alle diese Gegenstände sorgfältig, und als ich sie wieder hinlegte, bemerkte ich plötzlich mit Herzklopfen, daß unter dem Bündel ein Blatt Papier lag, worauf etwas geschrieben war. Ich nahm es in die Hand und las folgende Worte, die in unbeholfenen Zügen mit Bleistift gekritzelt waren:

›Doktor Watson ist nach Coombe Tracey gefahren.‹

Eine Minute lang stand ich, das Papier in der Hand haltend, regungslos da. Was bedeutete diese kurze Botschaft? So war ich es also und nicht Sir Henry, der von diesem geheimnisvollen Mann belauert wurde? Er war mir nicht selber gefolgt, sondern hatte einen Agenten – vielleicht den Jungen – auf meine Spur gesetzt, und dies war der Bericht. Vielleicht hatte ich seit meiner Ankunft auf dem Moor keinen einzigen Schritt getan, der nicht beobachtet und berichtet worden war. Immer wieder drängte sich mir das Gefühl auf, daß eine unsichtbare Macht uns umgab, daß mit außerordentlicher Geschicklichkeit und Sorgfalt ein feines Netz um uns gesponnen wurde – ein so leichtes und feines Netz, daß wir uns nur in gewissen, entscheidenden Augenblicken bewußt wurden, in seine Maschen verstrickt zu sein.

Wenn der Fremde einen Bericht bekommen hatte, so mochten wohl deren mehrere vorhanden sein. Aber ich fand nicht die allergeringste Spur davon. Ebensowenig entdeckte ich irgend ein Anzeichen, woraus ich auf den Charakter oder die Absichten des Mannes hätte schließen können, der sich eine so ungewöhnliche Wohnung ausgesucht hatte. Nur so viel ergab sich klar und deutlich, daß er ein Mann von spartanischen Lebensgewohnheiten sein mußte, und daß er sich aus bequemer Häuslichkeit wenig machte. Wenn ich an die schweren Regengüsse der letzten Zeit dachte und mir die klaffenden Lücken der Bedachung ansah, so konnte ich mich der Überzeugung nicht verschließen, daß nur eine starke und unerschütterliche Willenskraft ihn vermögen konnte, an einem so unwirtlichen Platz zu bleiben. War er unser erbitterter Feind oder etwa unser Schutzengel? Ich nahm mir fest vor, die Hütte nicht eher zu verlassen, als bis ich mir darüber Klarheit verschafft hatte.

Draußen ging gerade die Sonne unter, und über den westlichen Himmel ergoß sich eine Glut von Rot und Gold. Ihr Widerschein lag in rötlichen Flecken auf den Wasserlachen im fernen, großen Grimpener Sumpf. Ich sah die beiden Türme von Baskerville Hall, und eine undeutliche Rauchsäule zeigte mir den Ort an, wo das Dorf Grimpen lag. Zwischen diesen beiden Punkten, hinter dem Hügel, sah ich das Stapletonsche Haus. So sanft und friedlich lag das alles da in der goldenen Abendsonne, und doch, als mein Blick darüber schweifte, da fühlte meine Seele nichts von dem Frieden der Natur, sondern sie erbebte nur in einem unbestimmten Grauen vor dem Zusammentreffen, das jede Minute näher rückte. Aufgeregt, aber fest entschlossen, saß ich im finsteren Versteck der Hütte und erwartete mit düsterer Geduld die Heimkehr ihres Bewohners.

Endlich hörte ich ihn. Ein scharfes Klappen von einem Stiefel, der fest auf den Felsgrund auftrat. Und noch ein Klappen und wieder und wieder eins, näher und immer näher. Ich zog mich ganz in die dunkelste Ecke zurück und spannte den Revolver in meiner Tasche, fest entschlossen, meine Anwesenheit nicht eher zu verraten, als bis es mir gelungen war, einen Blick auf den Fremden zu werfen. Dann kam eine lange Pause; ich hörte nichts mehr – offenbar war er stehen geblieben. Dann kamen wieder die Fußtritte näher, und ein Schatten fiel quer über die Türöffnung.

»Es ist ein schöner Abend, mein lieber Watson,« sagte eine wohlbekannte Stimme. »Ich glaube wirklich, du sitzt hier draußen angenehmer als drinnen.«


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