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Sir Henry Baskerville und Dr. Mortimer waren am verabredeten Tag reisefertig und zur verabredeten Stunde fuhren wir vom Bahnhof Paddington ab. Sherlock Holmes fuhr mit mir zum Bahnhof und gab mir zum Abschied noch seine letzten Weisungen und Ratschläge.
»Ich will dich nicht mit Mutmaßungen und Verdachtsgründen beeinflussen, Watson; ich wünsche von dir nichts weiter, als daß du mir so ausführlich wie möglich alle Tatsachen berichtest; die Theorien kannst du mir überlassen.«
»Was für Tatsachen soll ich berichten?« fragte ich.
»Alles, was dir in irgend einem, wenn auch noch so losem Zusammenhang mit dem Fall zu stehen scheint, besonders die Beziehungen zwischen dem jungen Baskerville und seinen Nachbarn, oder alle neuen Umstände, die in Bezug auf Sir Charles' Tod bekannt werden. Ich habe in den letzten Tagen auf eigene Hand einige Erkundigungen eingezogen, aber ohne Ergebnisse. Ganz sicher scheint nur eines festzustehen, nämlich daß James Desmond, der nächstberechtigte Erbe, ein älterer Herr von sehr liebenswürdigem Wesen ist, und daß daher die Bedrohung nicht von ihm ausgeht. Ich glaube wirklich, wir können ihn gänzlich aus unseren Berechnungen streichen. Dann bleiben noch die Leute, die Sir Henry Baskervilles Umgebung auf dem Moor bilden werden.«
»Wäre es nicht gut, zu allererst dieses Ehepaar Barrymore wegzujagen?«
»Um Gottes Willen nicht! Du könntest gar keinen schlimmeren Fehler machen. Wenn sie unschuldig sind, so wäre es eine grausame Ungerechtigkeit; sind sie aber schuldig, so würden wir uns damit jede Aussicht nehmen, sie zu überführen. Nein, nein, wir wollen sie nur auf unserer Liste von Verdächtigen belassen und weiter nichts. Außer ihnen ist, wenn ich mich recht erinnere, im Schloß noch ein Stallknecht. Ferner wohnen in der Nähe zwei Moorbauern. Dann haben wir unseren Freund Dr. Mortimer, der, wie ich glaube, vollkommen ehrenhaft ist, und dessen Frau, von der wir nichts wissen. Dann kommt der Naturforscher, Stapleton, und dessen Schwester, die eine recht anziehende junge Dame sein soll. Ferner Herr Frankland von Lafter Hall, ebenfalls ein unbekannter Faktor für uns, und noch ein oder zwei andere Nachbarn. Das sind die Leute, die du zum Gegenstand deiner ganz besonderen Beobachtung machen mußt.«
»Ich will mein Bestes tun.«
»Du hast doch Waffen bei dir?«
»Ja, ich dachte, es wäre gut, sie mitzunehmen.«
»Ganz gewiß. Halte Tag und Nacht deinen Revolver bereit und ergreife alle Vorsichtsmaßnahmen.«
Unsere Bekannten hatten bereits ein Abteil erster Klasse belegt und warteten auf dem Bahnsteig auf uns.
»Nein, wir haben durchaus nichts Neues zu berichten,« sagte Dr. Mortimer in Beantwortung der Frage meines Freundes. »Aber auf eins kann ich einen Eid ablegen, nämlich, daß wir während der beiden letzten Tage nicht beobachtet worden sind. Wir sind niemals ausgegangen, ohne auf das Schärfste aufzupassen, und es würde niemand unserer Aufmerksamkeit entgangen sein.«
»Sie sind, wie ich annehme, stets zusammen ausgegangen?«
»Ja, mit Ausnahme von gestern nachmittag. Wenn ich in London bin, so widme ich für gewöhnlich einen Tag dem reinen Vergnügen; ich ging daher in das Museum der Chirurgischen Gesellschaft.«
»Und ich sah mir ein bißchen das Getriebe im Park an,« sagte Baskerville. »Aber wir hatten keine Unannehmlichkeiten irgendwelcher Art.«
»Es war aber trotzdem unvorsichtig,« sagte Holmes kopfschüttelnd und mit sehr ernstem Gesicht. »Ich bitte Sie, Sir Henry, nicht allein auszugehen. Es könnte Ihnen sonst ein großes Unglück zustoßen. Haben Sie Ihren anderen Schuh wiederbekommen?«
»Nein, er ist verschwunden geblieben.«
»Wirklich! Das ist sehr interessant. Nun, gute Reise,« sagte er noch, da der Zug den Bahnsteig entlang zu gleiten begann. »Beherzigen Sie, Sir Henry, einen von den Sätzen in der seltsamen alten Geschichte, die Dr. Mortimer uns vorgelesen hat, und meiden Sie das Moor in jenen Stunden der Finsternis, da die bösen Mächte ihr Spiel treiben.«
Ich blickte noch einmal zum Bahnsteig zurück, als wir schon weit weg waren, und sah Sherlock Holmes' große, ernste Gestalt regungslos dastehen und uns nachstarren.
Die Reise verlief schnell und angenehm; ich nutzte sie, um mit meinen beiden Gefährten näher bekannt zu werden. Nach ein paar Stunden folgte dem braunen Boden rötliche Erde, statt der Ziegelhäuser sah man Granitbauten, und rotbunte Kühe grasten auf wohlumzäumten Wiesen, deren saftiger und üppiger Graswuchs auf ein milderes, wenngleich auch feuchteres Klima hindeutete. Der junge Baskerville sah eifrig aus dem Fenster und stieß einen lauten Ruf des Entzückens aus, als er die altvertrauten Züge der Devonlandschaft wiedererkannte.
»Ich habe ein gutes Stück von der Welt gesehen, seitdem ich von hier fortging, Dr. Watson, aber niemals sah ich eine Gegend, die sich mit dieser vergleichen läßt.«
»Ich sah noch niemals einen Devonshirer, der nicht auf seine Heimat geschworen hätte,« bemerkte ich lachend.
»Das liegt ebenso sehr an der Menschenrasse wie an der Gegend,« sagte Dr. Mortimer. »Ein flüchtiger Blick auf unseren Freund hier zeigt uns den runden Keltenschädel, worin sich keltische Begeisterungsfähigkeit und Anhänglichkeit birgt. Des armen Sir Charles' Schädel bot einen sehr seltenen Typus; die Hauptkennzeichen waren teils gälisch, teils irisch. Aber Sie waren wohl noch sehr jung, als Sie das letztemal Baskerville Hall sahen, nicht wahr?«
»Ich war ein halbwüchsiger Bursche, als mein Vater starb, und hatte unseren Stammsitz niemals gesehen, denn wir wohnten in einem kleinen Landhaus an der Südküste. Von dort ging ich direkt zu einem Freund nach Amerika. Ich muß sagen, die Gegend von Baskerville Hall ist für mich so neu wie für Herrn Dr. Watson, und ich bin über die Maßen begierig, das Moor zu sehen.«
»Wirklich? Nun, Ihr Wunsch ist schnell erfüllt, denn hier haben Sie den ersten Blick aufs Moor,« sagte Dr. Mortimer.
Über den grünen Wiesengevierten und einem niedrigen Wald erhob sich in der Ferne ein grauer, melancholischer Hügel, mit seltsam zerklüftetem Gipfel, trübe und unbestimmt wie eine phantastische Traumlandschaft.
Baskerville saß lange da, die Augen auf dieses Bild geheftet, und ich las auf seinem ausdrucksvollen Gesicht, wie tief ihn der erste Anblick der Gegend rührte, wo seine Vorväter so lange geherrscht und so tiefe Spuren hinterlassen hatten. Da saß der Mann mit seinem amerikanischen Akzent, in seinen eleganten Sommeranzug gekleidet, in der Ecke eines höchst alltäglichen Eisenbahnabteils; und doch, als ich ihm in das ausdrucksvolle Gesicht sah, da fühlte ich mehr denn je, daß er ein echter Sproß jenes alten Geschlechtes von reinblütigen feurigen Herrenmenschen war. Stolz, Tapferkeit, Kraft sprachen aus seinen buschigen Brauen, den beweglichen Nasenflügeln, den großen nußbraunen Augen. Wenn vielleicht auf jenem abschreckenden Moor ein schwer zu lösendes und gefährliches Rätsel unserer harrte, so war er jedenfalls, das fühlte ich, ein Kamerad, für den man sich wohl in Gefahr begeben konnte, da man gewiß war, daß er sie mit mutigem Herzen teilen würde.
Der Zug hielt an einer Zwischenstation, und wir stiegen aus. Draußen, jenseits des niedrigen weiß angestrichenen Holzzaunes, wartete ein zweispänniger Jagdwagen. Unsere Ankunft war augenscheinlich ein großes Ereignis, denn Bahnhofsvorsteher und Kofferträger drängten sich an uns heran, um uns das Gepäck zu besorgen. Es war ein hübscher ländlicher Ort, aber ich bemerkte mit Überraschung, daß an der Ausgangspforte zwei soldatisch aussehende Männer in dunklen Uniformen standen; sie lehnten sich auf ihre kurzen Büchsen und sahen uns, als wir an ihnen vorübergingen, mit scharf musternden Blicken an. Der Kutscher, ein knorriger kleiner Mann mit harten Gesichtszügen, begrüßte Sir Henry Baskerville, und ein paar Minuten später flogen wir schnell die breite weiße Straße entlang. Wiesen mit wogendem Gras zogen sich an beiden Seiten des Weges hin, alte Giebelhäuser schauten hinter dichtem Laubwerk hervor, aber drüben über der friedlichen, sonnenbeglänzten Landschaft erhob sich, schwarz vom Abendhimmel sich abzeichnend, die lange, öde Linie des Moors, nur ab und zu von häßlichen Felsenspitzen unterbrochen.
Der Wagen bog in einen Seitenweg ein, und wir fuhren bergan auf Straßen, die seit Jahrhunderten von Tausenden von Rädern tief ausgefahren waren, zwischen hohen mit dickem Moos bedeckten Wällen, auf denen üppige Farnkräuter und Brombeersträucher wuchsen. Immer sachte bergauf fahrend, kamen wir über eine schmale Steinbrücke, unter der brausend und schäumend ein schnelles Bergwasser zwischen grauen Felsblöcken dahinschoß. Das Tal, durch das der Weg sich allmählich aufwärts wand, war dicht mit Eichen- und Föhrengestrüpp bestanden. Bei jeder Wegbiegung jubelte Baskerville laut auf, sah sich entzückt um und richtete unzählige Fragen an den Doktor.
In seinen Augen war alles wunderschön, für mich aber lag etwas Melancholisches auf der Landschaft, der bereits der Herbst deutlich seinen Stempel aufgedrückt hatte. Gelbe Blätter bedeckten die Wege und rieselten von den Bäumen auf uns herab. Das Rollen unserer Räder erstarb auf dem dichten Teppich toter Blätter – mir war's als wäre das ein trauriger Empfang, den Mutter Natur dem heimkehrenden Sohn der Baskervilles bereitete.
»Hallo!« rief plötzlich Dr. Mortimer. »Was ist denn das?«
Eine steile, mit Haidekraut bewachsene Kuppe, ein Ausläufer des Moors, lag gerade vor uns. Auf der Höhe hielt scharf und klar wie ein Reiterstandbild auf seinem Piedestal sich abhebend, ein berittener Soldat, finster und ernst, die Büchse schußfertig im Arm. Er bewachte den Weg, den wir entlang fuhren.
»Was bedeutet das, Perkins?« fragte Dr. Mortimer.
Unser Kutscher drehte sich halb auf seinem Bock um und antwortete:
»Von Princetown ist ein Sträfling entflohen, Herr. Er ist nun seit drei Tagen draußen, und die Zuchthauswächter bewachen jeden Weg und jeden Bahnhof, aber bis jetzt haben sie ihn noch nicht zu Gesicht gekriegt. Den Bauern hier in der Gegend ist es nicht gerade angenehm, Herr, so viel steht fest.«
»Na, ich denke doch, sie bekommen fünf Pfund, wenn sie den Mann anzeigen können.«
»Das schon Herr, aber was ist denn die Aussicht, fünf Pfund zu kriegen, gegen die andere Aussicht, daß einem die Kehle durchgeschnitten wird? Sie müssen wissen, der Mann ist kein gewöhnlicher Sträfling. Das ist einer, der vor nichts zurückschrecken würde.«
»Wer ist es denn?«
»Selden, der Mörder von Notting Hill.«
Ich erinnerte mich des Falles sehr gut, denn Holmes hatte sich dafür interessiert, wegen der ganz außergewöhnlichen Grausamkeit, mit der das Verbrechen verübt worden war. Die Umwandlung des Todesurteils in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe war erfolgt, weil man einige Zweifel an der völligen Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten hegte, so unmenschlich waren seine Taten.
Unser Wagen war auf dem Gipfel einer Erhöhung angelangt, und vor uns erhob sich die weite Fläche des Moors mit seinen Steinhaufen und schroffen Felsenklippen. Ein kalter Wind wehte von ihm herunter und durchschauerte uns Mark und Bein. Irgendwo auf dieser trostlos öden Ebene hauste dieser teuflische Gesell, wie ein wildes Tier in einer Höhle sich bergend, das Herz voll bitterer Wut gegen das ganze Menschengeschlecht, das ihn ausgestoßen hatte. Dieser Gedanke fehlte noch gerade, um das schaurige Gefühl zu vervollständigen, das der Anblick des wüsten Moores, der eisige Wind, der dunkelnde Abendhimmel in uns erweckten. Sogar Baskerville wurde still und hüllte sich dichter in seinen Überzieher.
Das fruchtbare Land lag jetzt hinter und unter uns. Wie wir darauf zurückblickten, verwandelten die schrägen Strahlen der sinkenden Sonne die Bäche in goldene Fäden und beglänzten die frischgepflügten braunroten Äcker und die breiten Waldstreifen. Der Weg vor uns führte durch immer ödere und wildere, rötliche und grünlichbraune Abhänge, die mit riesigen Steinblöcken übersät waren. Ab und zu kamen wir an einem Moorbauernhaus vorbei: steinerne Mauern und steinerne Dächer, die harten Linien von keinem Rankengrün gemildert. Auf einmal sahen wir unter uns eine muldenförmige Vertiefung, die mit verkümmerten, vom Sturm zerzausten und verbogenen Eichen und Kiefern bewachsen war. Zwei hohe schlanke Türme erhoben sich über die Bäume empor. Der Kutscher streckte seine Peitsche aus und sagte:
»Baskerville Hall.«
Sein Herr war aufgestanden und sah mit geröteten Wangen und blitzenden Augen auf die Türme. Ein paar Minuten später fuhren wir durch das Parktor, phantastische Gittertüren aus Schmiedeeisen zwischen zwei verwitterten, bemoosten Steinpfeilern, auf denen sich die Eberköpfe des Baskervilleschen Wappens erhoben. Das Torwärterhaus war eine Ruine von schwarzem Granit und nackten Dachsparren, aber dieser gegenüber erhob sich ein halb vollendetes neues Gebäude – die Erstlingsfrucht von Sir Charles' südafrikanischem Gold.
Durch das Parktor gelangten wir in die Schloßallee. Wieder rollten die Räder über gefallenes Laub, und über unseren Häuptern schlossen die alten Bäume ihre Zweige zu einem düsteren Gewölbe. Baskerville schauerte zusammen, als er am Ende der langen dunklen Allee das Haus erblickte, das geisterhaft durch die Bäume schimmerte.
»War es hier?« fragte er leise.
»Nein, nein; die Taxusallee ist auf der anderen Seite.«
Der junge Mann sah sich mit düsterem Gesicht um und sagte:
»Es ist kein Wunder, wenn mein Onkel das Vorgefühl hatte, es werde ihm an diesem Ort ein Unglück zustoßen. Hier kann wohl jeden Mann ein unbehagliches Gefühl überkommen. Ehe sechs Monate um sind, will ich eine Reihe von elektrischen Bogenlampen hier anbringen lassen, und Sie werden die Allee nicht wiedererkennen, und gerade hier dem Schloßtor gegenüber soll mir eine tausendkerzige Svan- und Edison brennen.«
Die Allee führte auf eine weite Rasenfläche, und vor uns lag das Haus. Im Dämmerlicht konnte ich sehen, daß das Mittelgebäude ein gewaltiger Steinblock war, aus dem ein Portal vorsprang. Die ganze Vorderwand war mit Epheu überkleidet, in welchem hier und da ein Ausschnitt eine Stelle bezeichnete, wo sich ein Fenster oder ein Wappenschild befand. Über diesem Mittelbau erhoben sich die beiden alten zinnengekrönten, von Schießscharten durchbrochenen Türme. Rechts und links von den Türmen erstreckten sich modernere Flügel aus schwarzem Granit. Ein trübes Licht fiel aus einigen der altertümlichen Fenstern nach außen und aus einem der hohen Kamine, die sich über dem steilen Giebeldach erhoben, stieg eine dunkle Rauchwolke gen Himmel.
»Willkommen, Sir Henry. Willkommen auf Baskerville Hall.«
Ein großer Mann war aus dem Dunkel des Portals hervorgetreten, um den Schlag des Wagens zu öffnen. Die Gestalt einer Frau hob sich vor dem gelben Licht der Halle ab. Sie trat heraus und half dem Mann, unsere Reisetaschen vom Wagen zu nehmen.
»Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich gleich zu meinem Haus weiterfahre, Sir Henry?« fragte Dr. Mortimer. »Meine Frau erwartet mich.«
»Aber Sie bleiben doch, um ein paar Bissen mit uns zu essen?«
»Nein, ich muß gehen. Wahrscheinlich werde ich allerlei Arbeit vorfinden. Ich würde sonst bleiben, um Ihnen das Haus zu zeigen, aber Barrymore wird ein besserer Führer sein als ich. Leben Sie wohl, und schicken Sie unbedenklich bei Tag oder bei Nacht zu mir, wenn ich Ihnen irgendwie zu Diensten sein kann.«
Das Rasseln der Räder verhallte auf der Straße, während Sir Henry und ich die Halle betraten. Mit dumpfem Schlag fiel die Tür hinter uns zu. Wir befanden uns in einem schönen, weiten, hohen Raum mit einer schweren Decke aus altersgeschwärzten Eichenbalken. In dem großen altertümlichen Kamin prasselte und knisterte auf hohen eisernen Feuerböcken ein Holzfeuer. Sir Henry und ich streckten unsere Hände darüber aus, denn die lange Fahrt hatte uns völlig durchkältet. Dann sahen wir uns um: ein hohes schmales Fenster mit altem bunten Glas, eichenes Wandgetäfel, an den Wänden Hirschgeweihe und Wappenschilder, und dies alles trübe und dämmerig im gedämpften Licht der in der Mitte des Raumes herabhängenden Lampe.
»Gerade so ist's, wie ich's mir vorgestellt hatte.« rief Sir Henry. »Ist es nicht wie ein typisches Gemälde von einem alten Familiensitz? Wenn ich denke, daß dies die Halle ist, worin fünf Jahrhunderte lang meine Vorfahren gelebt haben. Mich stimmt's ganz feierlich.«
Ich sah, wie jugendliche Begeisterung sein dunkles Gesicht erhellte, als er sich so umsah. Er stand im vollen Schein des Lichtes, aber lange Schatten bedeckten die Wände und hingen wie ein schwarzes Gewölbe über ihm.
Barrymore war wieder eingetreten, nachdem er das Gepäck auf unsere Zimmer befördert hatte. Er stand jetzt in der unterwürfigen Haltung eines gut erzogenen Dieners vor uns. Ein auffallend hübscher Mann, groß, stattlich, mit einem breit abgeschnittenen Kinnbart und blassen, edel geformten Zügen.
»Wünschen Sie, daß das Essen sofort aufgetragen wird, Herr?«
»Ist es fertig?«
»In ein paar Minuten, Herr. Warmes Wasser finden Sie in Ihren Zimmern. Meine Frau und ich werden glücklich sein, Sir Henry, bei Ihnen zu bleiben, bis Sie Ihre Anordnungen getroffen haben, aber Sie werden begreifen, daß der Haushalt unter den neuen Verhältnissen eine beträchtliche Dienerschaft erfordern wird.«
»Was für neue Verhältnisse meinen Sie?«
»Ich wollte nur sagen, Herr, daß Sir Charles sehr zurückgezogen lebte und daß wir ausreichten, um seine Ansprüche zu befriedigen. Sie werden natürlich größere Gesellschaft um sich haben, und deshalb werden Sie auch Veränderungen im Haushalt treffen müssen.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie und Ihre Frau gehen wollen?«
»Nur, wenn es Ihnen völlig genehm ist, Herr.«
»Aber Ihre Familie ist doch mehrere Generationen hindurch bei uns gewesen, nicht wahr? Es sollte mir leid tun, wenn ich meine Niederlassung an diesem Ort damit beginnen müßte, eine solch alte Verbindung zu lösen.«
Es kam mir vor, als nähme ich auf dem blassen Gesicht des Kammerdieners einige Anzeichen von Rührung wahr.
»Ich habe dasselbe Gefühl, Herr, und meine Frau auch,« antwortete dieser. »Aber um die Wahrheit zu sagen, Herr, wir haben beide an Sir Charles gehangen; sein Tod ging uns sehr nahe, und seitdem weckt diese Umgebung nur noch schmerzvolle Erinnerungen in uns. Ich fürchte, wir werden, so lange wir auf Baskerville Hall sind, niemals unser frohes Gemüt wiederfinden.«
»Aber was haben Sie denn vor?«
»Ich zweifle nicht, Herr, daß es uns gelingen wird, irgend ein Geschäft zu eröffnen. Sir Charles' Freigiebigkeit hat uns die Mittel verschafft. Und nun, meine Herren, ist es wohl am besten, wenn ich Ihnen Ihre Zimmer zeige.«
Eine breite, von Balustraden eingefaßte Galerie lief dicht unter der Decke um die Halle herum; eine Doppeltreppe führte zu ihr hinauf. Von diesem Mittelpunkt aus erstreckten sich zwei lange Korridore, die die Türen zu allen Schlafzimmern enthielten, über die ganze Länge des Gebäudes hin. Mein Zimmer lag im selben Flügel wie das Sir Henrys, beinahe Tür an Tür. Diese Zimmer waren augenscheinlich viel moderner als der Mittelbau des Schlosses, und ihre hellen Tapeten sowie zahlreiche brennende Kerzen taten das ihre, um den düsteren Eindruck zu verscheuchen, der sich bei unserer Ankunft meines Geistes bemächtigt hatte.
Aber der Speisesaal, in den man von der Halle aus gelangte, war wieder trübselig und düster. Ein langes Zimmer mit einem erhöhten Ende, wo die Familie gespeist hatte; eine Stufe führte zu dem für die Dienstleute bestimmten niedrigeren Teil des Raumes. An einem Ende befand sich in halber Höhe eine Galerie, von wo aus die Barden ihre Vorträge gehalten hatten. Altersgeschwärzte Balken zogen sich über unseren Häuptern unter der rauchdunklen Decke hin. Von brennenden Fackeln erhellt, von den bunten Farben und der derben Heiterkeit eines mittelalterlichen Gelages erfüllt, mochte der Saal nicht so übel ausgesehen haben. Nun aber saßen in dem riesigen Raum nur zwei schwarzbefrackte Herren in dem kleinen Lichtkreis, der vom Schirm der Tischlampe begrenzt wurde, und da sank die Stimme zum Flüstern herab, und die Stimmung wurde melancholisch. Eine Reihe von Ahnenbildern in allen möglichen Trachten, vom Ritter der Elisabethischen Heldenzeit bis zum Dandy aus den Kreisen des Prinzregenten, starrten in der Halbdämmerung auf uns hernieder und bedrückten uns durch ihre schweigende Gesellschaft. Wir sprachen wenig, und ich für mein Teil war herzlich froh, als das Essen vorüber war und wir uns in das modern eingerichtete Billardzimmer zurückziehen konnten, um eine Zigarette zu rauchen.
»Es ist wahrlich kein sehr heiteres Haus,« begann Sir Henry. »Ich glaube wohl, daß man sich allmählich eingewöhnen kann, aber augenblicklich komme ich mir noch ein bißchen verwirrt vor. Ich wundere mich nicht, daß mein Onkel ein wenig absonderlich wurde, wenn er ganz allein in solch einem Haus wohnte ... Doch wenn es Ihnen recht ist, wollen wir heute früh zu Bett gehen; vielleicht sieht das Ganze im Morgenlicht doch heiterer aus.«
Ich zog, bevor ich mich zu Bett legte, die Vorhänge zurück und sah aus dem Fenster. Es ging auf den Rasenplatz vor dem Haupteingang. Im Hintergrund rauschten zwei Baumgruppen und wiegten sich im Nachtwind. Der Halbmond trat durch die Lücken der eilig ziehenden Wolken. In seinem kalten Licht sah ich hinter den Bäumen zackige Felsklippen und den langen niedrigen Bogen des melancholischen Moores. Ich zog die Vorhänge wieder zu; dieser letzte Eindruck paßte zu meiner bereits vorhandenen Stimmung.
Und doch war es noch nicht der allerletzte Eindruck. Ich war ermüdet und konnte trotzdem nicht einschlafen; unruhig warf ich mich von einer Seite auf die andere und suchte den Schlaf, der nicht kommen wollte. In der Ferne schlug jede Viertelstunde eine Glocke, sonst lag Totenstille über dem Haus. Dann plötzlich, in dem tiefen Grabesschweigen der Nacht, klang ein Laut an mein Ohr – ein heller, deutlicher, unverkennbarer Ton. Es war das Weinen einer Frau, ein unterdrücktes, halbersticktes Schluchzen, von Schmerz und Kummer gequält. . Ich setzte mich im Bett aufrecht und horchte mit gespannter Aufmerksamkeit. Das Geräusch konnte nicht weitab gewesen sein; ganz gewiß kam es aus dem Haus selbst. Eine halbe Stunde lang wartete ich mit Anspannung aller meiner Nerven, aber kein anderer Ton ließ sich hören als das Schlagen der Glocke und das Rascheln des Nachtwindes im Epheu draußen an der Wand.