Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

Stepan Trofimowitschs letzte Wanderung

 

I

Ich bin überzeugt, daß sich Stepan Trofimowitsch sehr ängstigte, als er merkte, daß der Termin für sein sinnloses Unternehmen heranrückte. Ich bin überzeugt, daß er unter dieser Furcht sehr gelitten hat, namentlich in der vorhergehenden Nacht, in jener furchtbaren Nacht. Nastasja hat später erzählt, er habe sich erst spät zu Bett gelegt und habe geschlafen. Aber Letzteres beweist nichts: sollen doch auch die zum Tode Verurteilten in der Nacht vor der Hinrichtung sehr fest schlafen. Obgleich er das Haus erst nach Tagwerden verließ, also zu einer Zeit, wo ein nervöser Mensch immer etwas mutiger wird (der Major, Wirginskis Verwandter, hörte sogar auf, an Gott zu glauben, sobald die Nacht vorüber war), so bin ich doch überzeugt, daß er sich vorher nie ohne Angst hat vorstellen können, wie er sich da so ganz allein auf der großen Landstraße und in einer solchen Lage befinden werde. Allerdings hatte wahrscheinlich eine Art von verzweifelter Tollkühnheit bei ihm zunächst die Wirkung, die volle Kraft jenes furchtbaren Gefühles der plötzlichen Vereinsamung abzuschwächen, das ihn sofort befiel, sobald er Stasie und sein zwanzigjähriges warmes Nest verlassen hatte. Aber auch bei der klarsten Erkenntnis all der Schrecknisse, die ihn erwarteten, wäre er dennoch auf die Landstraße hinausgegangen und auf ihr dahingewandert! Dazu trieb ihn ein gewisser Stolz, der ihn allem zum Trotz enthusiasmierte. Oh, er hätte Warwara Petrownas herrliche Anerbietungen annehmen, bei ihr bleiben und von ihren Almosen leben können » comme un gewöhnlicher Parasit!« Aber er hatte ihre Almosen nicht angenommen und war nicht geblieben. Und nun verließ er sie selbst und erhob »die Fahne der großen Idee« und schritt auf der großen Landstraße dahin, um für diese Idee zu sterben! Das müssen seine Empfindungen gewesen sein; in diesem Lichte mußte ihm sein Unternehmen erscheinen.

Ich habe mir zu wiederholten Malen die Frage vorgelegt: warum ging er gerade, das heißt im buchstäblichen Sinne: warum ging er gerade zu Fuß und fuhr nicht einfach auf einem Wagen? Anfangs erklärte ich mir das mit seiner fünfzigjährigen Unerfahrenheit in praktischen Dingen und mit einer phantastischen, durch ein starkes Gefühl hervorgerufenen Aberration der Ideen. Es schien mir, daß der Gedanke an einen Reiseschein zur Benutzung von Postpferden (selbst wenn die Pferde Glöckchen hätten) ihm gar zu einfach und prosaisch erscheinen mußte, die Pilgerschaft dagegen als eine weit schönere Rache des Liebenden. Aber heute, wo alles schon zu Ende ist, glaube ich, daß alles dies damals viel einfacher zuging: erstens fürchtete er sich, einen Wagen zu nehmen, weil Warwara Petrowna es erfahren und ihn mit Gewalt zurückhalten konnte, was sie auch gewiß getan hätte; er aber hätte sich ihr dann sicherlich gefügt, und – dann hätte er der großen Idee für immer Lebewohl sagen müssen. Zweitens mußte man, um einen Reiseschein zu nehmen, mindestens wissen, wohin man fahren wollte. Aber gerade daß er dies nicht wußte, war für ihn in diesem Augenblicke der größte Schmerz: er war absolut nicht imstande, einen Ort zu nennen und zu bestimmen. Denn wenn er sich für irgendeine Stadt entschieden hätte, so wäre sein Unternehmen sofort in seinen eigenen Augen absurd und unmöglich geworden; das sah er sehr wohl vorher. Denn was sollte er gerade in dieser bestimmten Stadt tun, und warum nicht in einer andern? Sollte er ce marchand suchen? Aber was für einen marchand? Hier trat ihm diese zweite, besonders furchtbare Frage entgegen. Im Grunde gab es für ihn nichts Schrecklicheres als ce marchand, den zu finden er sich so plötzlich Hals über Kopf aufmachte, und den zu finden er in Wirklichkeit selbstverständlich aufs äußerste fürchtete. Nein, das beste war schon einfach die Landstraße, so einfach auf sie hinauszugehen und sie entlang zu wandern und an nichts zu denken, solange das irgend anging. Die Landstraße, das ist etwas Langes, Langes, wobei kein Ende abzusehen ist, gerade wie das menschliche Leben, gerade wie menschliche Zukunftsträumereien. In der Landstraße liegt eine Idee; aber was für eine Idee liegt in einem Reiseschein? Ein Reiseschein, das ist das Ende der Idee ... Vive la grande route, und dann komme, was Gott sendet!

Nach dem plötzlichen, unerwarteten Zusammentreffen mit Lisa, das ich bereits erzählt habe, wanderte er in noch größerer Versunkenheit weiter. Die Landstraße führte in einer Entfernung von einer halben Werst an Skworeschniki vorbei, und seltsamerweise hatte er anfänglich gar nicht einmal bemerkt, wie er auf sie gekommen war. Etwas gründlich zu überlegen oder auch nur sich einer Sache klar bewußt zu sein war ihm in diesem Augenblicke ein Ding der Unmöglichkeit. Der feine Regen hörte bald auf, bald setzte er wieder ein; aber auch den Regen bemerkte er nicht. Ebensowenig bemerkte er es, daß er die Reisetasche über die Schulter geworfen hatte und ihm infolgedessen das Gehen leichter wurde. So mochte er eine oder anderthalb Werst gegangen sein, als er auf einmal stehen blieb und sich umschaute. Die alte, schwarze, von Wagengeleisen durchfurchte Landstraße zog sich, mit Weidenbäumen eingefaßt, vor ihm wie ein endloser Faden hin; zur Rechten war eine kahle Fläche, längst abgeerntete Felder, zur Linken Gesträuch und weiter dahinter ein Wäldchen. Und fern, ganz fern die kaum wahrnehmbare Linie der in schräger Richtung vorüberfahrenden Eisenbahn und auf ihr der Rauch eines Zuges, von dem aber kein Geräusch mehr zu hören war. Stepan Trofimowitsch wurde ein wenig ängstlich, aber nur für einen Augenblick. Ohne besonderen Grund seufzte er, stellte seine Reisetasche unter eine Weide und setzte sich darauf, um sich auszuruhen. Während er sich niedersetzte, fühlte er im Körper einen Frostschauder und wickelte sich in das Plaid; da er gleichzeitig auch den Regen gewahr wurde, spannte er den Regenschirm auf. So saß er ziemlich lange, wisperte ab und zu etwas vor sich hin und preßte seine Hand fest um den Griff des Regenschirmes. Verschiedene Bilder zogen in fieberhafter Reihe, einander schnell ablösend, vor seinem geistigen Auge vorüber. »Lise, Lise,« dachte er, »und mit ihr ce Maurice. Sonderbare Menschen ... Aber was war das für eine sonderbare Feuersbrunst, und wovon redeten sie eigentlich, und wer ist da ermordet? ... Ich glaube, Stasie hat noch nichts davon gemerkt, daß ich für immer fortgegangen bin, und wartet noch auf mich mit dem Kaffee ... Im Kartenspiel? Habe ich denn Menschen im Kartenspiel verloren? Hm! Bei uns in Rußland, zur Zeit der sogenannten Leibeigenschaft ... Ach, mein Gott, aber Fedka?«

Er zuckte mit dem ganzen Leibe vor Schreck zusammen und blickte rings um sich.

»Aber wie, wenn hier irgendwo hinter einem Strauche dieser Fedka sitzt? Es heißt ja, er kommandiere hier eine ganze Räuberbande auf der Landstraße. O Gott, dann werde ich ... dann werde ich ihm die ganze Wahrheit sagen, daß ich schuldig bin ... und daß ich zehn Jahre lang um seinetwillen gelitten habe, mehr als er dort bei den Soldaten, und ... und ich werde ihm mein Portemonnaie geben. Hm! j'ai en tout quarante roubles; il prendra les roubles et il me tuera tout de même.«

Vor Angst machte er (es ist schwer zu sagen warum) den Regenschirm zu und legte ihn neben sich. In der Ferne, auf dem Wege von der Stadt, zeigte sich ein Bauernwagen; Stepan Trofimowitsch begann ihn unruhig zu betrachten.

»Grâce à Dieu, es ist ein Bauernwagen, und – er fährt Schritt; das kann nicht gefährlich sein. Diese hiesigen halbverhungerten Pferdchen ... Ich habe immer über die Rasse gesprochen ... Übrigens war es Peter Jljitsch, der im Klub von der Rasse zu reden anfing; aber ich habe ihn damals schön widerlegt, et puis ... Aber was ist denn da hinten ... wie es scheint, sitzt eine Bauerfrau auf dem Wagen. Eine Bauerfrau und ein Bauer cela commence à être rassurant. Die Frau hinten und der Bauer vorn – c'est très rassurant. Hinten ist an den Wagen eine Kuh an den Hörnern angebunden, c'est rassurant au plus haut degré.«

Der Wagen war herangekommen; es war ein ganz einfacher, ordentlicher Bauernwagen. Die Frau saß auf einem prall vollgestopften Sacke und der Bauer auf dem Wagenrande; die Beine ließ er nach Stepan Trofimowitschs Seite zu seitwärts heraushangen. Hinterdrein schleppte sich wirklich eine rote, an den Hörnern angebundene Kuh dahin. Der Bauer und die Frau betrachteten Stepan Trofimowitsch mit weit aufgerissenen Augen, und Stepan Trofimowitsch sah sie ganz ebenso an; aber als er sie bereits ungefähr zwanzig Schritte an sich hatte vorbeipassieren lassen, stand er plötzlich eilig auf und suchte sie einzuholen. In der Nachbarschaft des Wagens fühlte er sich natürlich sicherer; aber als er ihn eingeholt hatte, vergaß er sofort alles wieder und versank von neuem in seine fragmentarischen Gedanken und Vorstellungen. Er schritt dahin und ahnte natürlich nicht, daß er für den Bauer und dessen Frau in diesem Augenblicke den rätselhaftesten und interessantesten Gegenstand bildete, den man auf der Landstraße treffen kann.

»Was sind Sie denn für einer, wenn es nicht unhöflich ist, danach zu fragen?« konnte sich die Frau schließlich nicht enthalten zu fragen, als Stepan Trofimowitsch sie plötzlich in seiner Zerstreutheit anblickte.

Es war eine Frau von etwa siebenundzwanzig Jahren, kräftig gebaut, mit schwarzen Augenbrauen, frischer Gesichtsfarbe und freundlich lächelnden roten Lippen, aus denen die weißen, gleichmäßigen Zähne hervorschimmerten.

»Sie ... Sie wenden sich an mich?« murmelte Stepan Trofimowitsch verwundert und kummervoll.

»Gewiß ein Kaufmann,« sagte der Bauer zuversichtlich.

Er war ein großgewachsener Mann von etwa vierzig Jahren, mit breitem, klugem Gesichte und rötlichem, breitem Barte.

»Nein, Kaufmann eigentlich nicht, ich ... ich ... moi c'est autre chose,« antwortete Stepan Trofimowitsch, der Frage notdürftig ausweichend, und blieb für jeden Fall ein wenig vom Hinterteile des Wagens zurück, so daß er nun neben der Kuh ging.

»Sie müssen wohl ein Vornehmer sein,« urteilte der Bauer, der die nicht-russischen Worte gehört hatte, und schüttelte die Zügel.

»So kommen Sie uns auch ganz vor, wie wenn Sie einen Spaziergang machten!« bemerkte wieder neugierig die junge Frau.

»Soll das ... soll das eine Frage sein?«

»Die reisenden Ausländer pflegen auf der Bahn zu kommen; Sie haben auch solche Stiefel an, wie sie hier nicht getragen werden ...«

»Militärstiefel,« fügte selbstzufrieden und nachdrücklich der Bauer hinzu.

»Nein, ich bin eigentlich kein Militär, ich ...«

»Was für eine neugierige Frau,« dachte Stepan Trofimowitsch ärgerlich bei sich, »und wie sie mich ansehen ... mais enfin ... Kurz, es ist seltsam, daß ich vor ihnen gewissermaßen wie ein Schuldiger dastehe, und ich habe doch nichts gegen sie begangen.«

Die Frau flüsterte mit dem Bauer.

»Wenn Sie es nicht übelnehmen, so möchten wir Sie einladen aufzusteigen, falls es Ihnen angenehm ist.«

Stepan Trofimowitsch sammelte auf einmal seine Gedanken.

»Ja, ja, meine Freunde, ich nehme es mit großem Vergnügen an, da ich sehr müde bin; aber wie soll ich da hinaufkommen?«

»Wie wunderlich,« dachte er bei sich, »daß ich so lange neben dieser Kuh hergegangen bin und es mir nicht in den Sinn gekommen ist, die Leute zu bitten, mich auf den Wagen zu nehmen ... Dieses ›wirkliche Leben‹ hat doch etwas sehr Charakteristisches.«

Der Bauer hielt jedoch sein Pferd noch nicht an.

»Wohin wollen Sie denn?« erkundigte er sich einigermaßen mißtrauisch.

Stepan Trofimowitsch verstand ihn nicht sogleich.

»Gewiß nach Chatowo?«

»Nach Chatowo? Nein, eigentlich nicht nach Chatowo ... Ich kenne den Ort auch gar nicht, obwohl ich ihn habe nennen hören.«

»Chatowo ist ein Kirchdorf, ein Kirchdorf, neun Werst von hier.«

»Ein Kirchdorf? C'est charmant; mir ist, als hätte ich gerade das schon gehört ...«

Stepan Trofimowitsch ging immer noch, und sie ließen ihn immer noch nicht aufsteigen. Ein genialer Gedanke blitzte plötzlich in seinem Kopfe auf.

»Vielleicht glauben Sie,« sagte er, »daß ich ... Ich habe einen Paß, und ich bin Professor, das heißt, wenn Sie es so nennen wollen, Lehrer, aber höherer Lehrer. Ich bin höherer Lehrer. Oui, c'est comme ça qu'on peut traduire. Ich würde gern mitfahren und werde Ihnen dafür ... ich werde Ihnen dafür ein halbes Stof Branntwein kaufen.«

»Einen halben Rubel möchten wir uns ausbitten, Herr; es ist schlechter Weg.«

»Weniger können Sie uns schon nicht bieten,« fiel die junge Frau ein.

»Einen halben Rubel? Nun gut, einen halben Rubel. C'est encore mieux, j'ai en tout quarante roubles, mais ...«

Der Bauer hielt an, und Stepan Trofimowitsch wurde durch die vereinten Anstrengungen der beiden auf den Wagen hinaufgezogen und dort neben die Frau auf den Sack gesetzt. Der Wirbelsturm von Gedanken verließ ihn noch immer nicht. Zeitweilig hatte er selbst die Empfindung, daß er furchtbar zerstreut sei und nicht an das denke, woran er denken müsse, und wunderte sich darüber. Dieses Bewußtsein seiner krankhaften Denkschwäche war ihm in einzelnem Augenblicken sehr peinlich und sogar kränkend.

»Das ... das ist gewiß eine Kuh dahinten?« fragte er auf einmal von selbst die junge Frau.

»Na aber, Herr, als ob Sie noch nie eine gesehen hätten!« erwiderte sie lachend.

»Wir haben sie in der Stadt gekauft,« mischte sich der Bauer ein. »Unser eigenes Vieh ist uns schon im Frühjahr gefallen; an der Seuche. Bei uns rund herum ist alles gefallen, alles; nicht die Hälfte ist übriggeblieben; es ist zum Heulen.«

Er versetzte dem Pferdchen, das in dem tiefen Geleise beinah stecken blieb, wieder einen Schlag mit der Peitsche.

»Ja, das kommt bei uns in Rußland vor ... und überhaupt wir Russen ... nun ja, das kommt vor,« erwiderte Stepan Trofimowitsch, ohne zu Ende zu sprechen.

»Wenn Sie Lehrer sind, was wollen Sie denn dann in Chatowo? Oder wollen Sie noch weiter?«

»Ich ... das heißt ich will eigentlich nicht weiter ... C'est à dire, ich will zu einem Kaufmann.«

»Gewiß nach Spasow?«

»Ja, ja, ganz richtig, nach Spasow. Es ist übrigens ganz gleich.«

»Wenn Sie nach Spasow wollen, und zu Fuß, dann gehen Sie in Ihren Stiefeln ziemlich eine Woche,« bemerkte die junge Frau lachend.

»So, so; auch das ist ganz gleich, mes amis, ganz gleich,« brach Stepan Trofimowitsch ungeduldig das Gespräch ab.

»Ein furchtbar neugieriges Volk,« dachte er im stillen. »Die Frau redet übrigens besser als er, und ich bemerke, daß seit der Aufhebung der Leibeigenschaft sich die Ausdrucksweise dieser Leute etwas geändert hat, und ... und was geht es sie an, ob ich nach Spasow will oder nicht? Ich bezahle sie ja doch; also warum sind sie so zudringlich?«

»Wenn Sie nach Spasow wollen, dann müssen Sie mit dem Dampfer fahren,« setzte der Bauer das Gespräch doch noch fort.

»Das ist richtig,« fiel die junge Frau lebhaft ein; »denn wenn Sie zu Wagen am Ufer entlang fahren, so machen Sie einen Umweg von etwa dreißig Werst.«

»Vierzig werden's sein.«

»Es trifft sich gut, daß Sie gerade morgen um zwei in Ustjewo den Dampfer vorfinden,« versicherte die Frau.

Aber Stepan Trofimowitsch schwieg hartnäckig. Auch die Fragen der beiden hörten auf. Der Bauer schüttelte wiederholt die Zügel; die Frau wechselte mit ihm manchmal kurze Bemerkungen. Stepan Trofimowitsch schlummerte ein. Er war sehr verwundert, als ihn die Frau lachend anstieß und er sich in einem ziemlich großen Dorfe vor der Tür eines dreifenstrigen Bauernhauses sah.

»Haben Sie geschlafen, Herr?«

»Was ist das? Wo bin ich? Ach ja! Nun ... es ist ja ganz gleich,« sagte Stepan Trofimowitsch seufzend und stieg von dem Wagen herab.

Er blickte traurig um sich; das Aussehen des Dorfes erschien ihm seltsam und fremdartig.

»Ach, der halbe Rubel; den hatte ich vergessen!« wandte er sich an den Bauer mit einer unverhältnismäßig eiligen Bewegung.

Offenbar fürchtete er sich schon davor, sich von ihnen zu trennen.

»Bitte, bezahlen Sie in der Stube,« versetzte der Bauer und lud ihn mit einer Geste zum Eintritt ein.

»Da drinnen ist es ganz nett,« bemerkte die Frau ermunternd.

Stepan Trofimowitsch stieg die wackeligen Stufen vor der Haustür hinan.

»Aber wie ist das nur möglich?« flüsterte er verständnislos und angstvoll, ging aber in das Haus hinein. »Elle l'a voulu,« fügte er leise hinzu und fühlte wie einen Stich im Herzen.

Er vergaß wieder alles, sogar daß er in das Haus getreten war.

Es war ein helles, ziemlich sauberes Bauernhaus mit drei Fenstern und zwei Zimmern, nicht eigentlich eine Herberge; aber nach alter Gewohnheit kehrten vorbeifahrende Bekannte dort ein. Stepan Trofimowitsch ging ohne Verlegenheit in die vordere Ecke, wo die Heiligenbilder hingen, vergaß zu grüßen, setzte sich hin und versank in Gedanken. Inzwischen begann nach der kalten Nässe, die er unterwegs drei Stunden lang durchgemacht hatte, ein höchst angenehmes Wärmegefühl seinen Körper zu durchströmen. Sogar das kurze, periodische Frösteln, das ihm über den Rücken lief, wie das im Fieber bei besonders nervösen Personen beim plötzlichen Übergange von der Kälte in die Wärme immer der Fall ist, hatte für ihn auf einmal etwas eigentümlich Angenehmes. Er hob den Kopf in die Höhe, und der leckere Duft heißer Pfannkuchen, mit denen die Wirtin am Ofen beschäftigt war, kitzelte sein Geruchsorgan. Mit einem kindlichen Lächeln bog er sich zu der Wirtin hin und stammelte plötzlich:

»Was ist das? Sind das Pfannkuchen? Mais c'est charmant.«

»Sind Ihnen welche gefällig, mein Herr?« fragte die Wirtin sogleich, höflich anbietend.

»Ja, ich möchte gern davon, möchte gern davon, und ... ich möchte Sie auch um Tee bitten,« erwiderte Stepan Trofimowitsch, der etwas lebendiger wurde.

»Soll ich einen Samowar aufstellen? Mit großem Vergnügen!«

Auf einem großer Teller mit derbem, blauem Muster erschienen einige Pfannkuchen, die bekannten bäuerlichen dünnen, von Halbweizenmehl gebackenen, mit heißer, frischer Butter begossenen, sehr wohlschmeckenden Pfannkuchen. Stepan Trofimowitsch kostete sie mit Genuß.

»Wie fett und schmackhaft sie sind! Und wenn ich nur noch un doigt d'eau de vie haben könnte.«

»Wünschen Sie ein Schnäpschen, mein Herr?«

»Ganz richtig, ganz richtig, ein klein wenig, un tout petit rien.«

»Wohl für fünf Kopeken?«

»Für fünf, für fünf, für fünf, für fünf, un tout petit rien,« stimmte Stepan Trofimowitsch mit glückseligem Lächeln zu.

Man bitte jemand aus dem einfachen Volke, etwas für einen zu tun, und er wird, wenn er kann und will, einem eifrig und bereitwillig zu Diensten sein; aber man bitte ihn, ein Schnäpschen zu holen, und seine gewöhnliche, ruhige Dienstfertigkeit wird auf einmal in eine eilfertige, freudige Beflissenheit und in eine fast verwandtschaftliche Fürsorge für den Besteller übergehen. Derjenige, der den Schnaps holt, empfindet, obgleich ihn der andere trinken wird und nicht er, und obgleich er das vorher weiß, er empfindet trotzdem gewissermaßen einen Teil des Genusses, den der Trinkende davon haben wird ... Nach nicht mehr als drei, vier Minuten (die Schenke war nur wenige Schritte entfernt) stand vor Stepan Trofimowitsch auf dem Tische ein Fläschchen mit einem halben Stof Branntwein und ein großes, grünliches Glas.

»Und das alles soll für mich sein!« sagte er sehr erstaunt. »Ich habe immer Branntwein im Hause gehabt, aber nie gewußt, daß man für fünf Kopeken so viel bekommt.«

Er goß das Glas voll, stand auf und ging mit einer gewissen Feierlichkeit durch das Zimmer nach einer anderen Ecke, wo die junge Frau mit den schwarzen Augenbrauen, die mit ihm zusammen auf dem Sacke gefahren und ihm unterwegs mit ihren Fragen so lästig geworden war, Platz genommen hatte. Die junge Frau wurde verlegen und lehnte es zunächst ab; aber nachdem sie alles gesagt hatte, was zu sagen der Anstand vorschreibt, stand sie schließlich auf, trank das Glas fröhlich in drei Schlucken, wie die Frauen zu trinken pflegen, aus, reichte es mit einer gekünstelten Grimasse des Widerwillens zurück und verbeugte sich vor Stepan Trofimowitsch. Er erwiderte die Verbeugung und kehrte mit ordentlich stolzer Miene an seinen Tisch zurück.

Alles dies vollführte er wie infolge einer Art von Eingebung; er selbst hatte noch eine Sekunde vorher nicht gewußt, daß er hingehen und die junge Bauerfrau regalieren werde.

»Ich verstehe in vollendeter Weise, in vollendeter Weise, mit dem gewöhnlichen Volke umzugehen, und ich habe das meinen Bekannten immer gesagt,« dachte er selbstzufrieden und goß sich aus der Flasche den übriggebliebenen Branntwein ein; obgleich nicht mehr ein ganzes Glas herauskam, so belebte und erwärmte ihn der Branntwein doch und stieg ihm sogar ein bißchen in den Kopf.

»Je suis malade tout à fait. mais ce n'est pas trop mauvais d'être malade.«

»Wünschen Sie vielleicht etwas zu kaufen?« ließ sich neben ihm eine leise Frauenstimme vernehmen.

Er blickte auf und sah zu seinem Erstaunen eine Dame vor sich – une dame et elle en avait l'air – schon über dreißig Jahre alt, von sehr bescheidenem Aussehen, städtisch gekleidet, in einem dunklen Kleide und mit einem großen, grauen Tuche um die Schultern. In ihrem Gesichtsausdrucke lag eine außerordentliche Freundlichkeit, von der sich Stepan Trofimowitsch sogleich angezogen fühlte. Sie war soeben erst in das Zimmer zurückgekehrt, in welchem sie ihre Sachen auf einer Bank hatte liegen lassen, dicht neben dem Platze, den Stepan Trofimowitsch einnahm, unter anderm ein Portefeuille, das er, wie er sich erinnerte, beim Eintritt neugierig betrachtet hatte, und einen nicht besonders großen Sack von Wachsleinwand. Aus diesem Sacke hatte sie jetzt zwei schön gebundene Bücher mit eingepreßten Kreuzen herausgeholt und hielt sie Stepan Trofimowitsch hin.

»Eh ... mais je crois que c'est l'Évangile; mit dem größten Vergnügen ... Ah, jetzt verstehe ich ... Vous êtes ce qu'on appelle eine Bücherverkäuferin; ich habe es mehrmals gelesen ... Einen halben Rubel?«

»Fünfunddreißig Kopeken ein jedes,« antwortete die Bücherverkäuferin.

»Mit dem größten Vergnügen. Je n'ai rien contre l'Évangile, et ... Ich wollte es schon längst einmal wieder lesen ...«

Es fuhr ihm in diesem Augenblicke der Gedanke durch den Kopf, daß er die Evangelien mindestens seit dreißig Jahren nicht mehr gelesen und sich nur vor etwa sieben Jahren bei der Lektüre von Renans Vie de Jésus ein wenig daran erinnert hatte. Da er kein kleines Geld hatte, so zog er seine vier Zehnrubelscheine hervor, – alles, was er besaß. Die Wirtin übernahm es, einen derselben zu wechseln, und erst da bemerkte er aufblickend, daß sich eine ziemliche Anzahl von Menschen in der Stube angesammelt hatte und alle ihn schon lange beobachteten und, wie es schien, über ihn redeten. Sie sprachen auch über die Feuersbrunst in der Stadt, am meisten der Eigentümer des Wagens mit der Kuh, da er eben erst aus der Stadt zurückgekehrt war. Sie redeten von Brandstiftung und von den Schpigulinschen Arbeitern.

»Nun sieh mal, zu mir hat er nichts von dem Brande gesagt, als er mit mir zusammen fuhr, während er doch sonst von allem möglichen geredet hat,« dachte Stepan Trofimowitsch.

»Väterchen, Stepan Trofimowitsch, sehe ich Sie wirklich, gnädiger Herr? Das hätte ich mir nicht träumen lassen! ... Sie erkennen mich wohl nicht?« rief ein kleiner, bejahrter Mann, der wie ein altmodischer gutsherrlicher Diener aussah, mit glattrasiertem Gesichte, in einem Mantel mit breitem, zurückgeschlagenem Kragen. Stepan Trofimowitsch schrak zusammen, als er seinen Namen hörte.

»Entschuldigen Sie,« murmelte er, »ich kann mich Ihrer nicht recht entsinnen.«

»Sie haben mich vergessen! Ich bin ja Anisim, Anisim Iwanow. Ich stand im Dienst bei dem verstorbenen Herrn Gaganow und habe Sie, gnädiger Herr, wer weiß wie oft mit Warwara Petrowna bei der verstorbenen Awdotja Sergejewna gesehen. Ich bin mehrmals mit Büchern von ihr zu Ihnen geschickt worden und habe Ihnen zweimal Petersburger Konfekt von ihr gebracht ...«

»Ach ja, nun erinnere ich mich deiner, Anisim,« versetzte Stepan Trofimowitsch lächelnd. »Wohnst du jetzt hier?«

»Nein, in der Nähe von Spasow, beim Kloster W***, in der Vorstadt, bei Marfa Sergejewna, der Schwester von Awdotja Sergejewna; vielleicht erinnern Sie sich: sie fuhr zu einem Balle und brach sich beim Hinausspringen aus der Kutsche das Bein. Jetzt wohnt sie in der Nähe des Klosters und ich bei ihr; aber augenblicklich, sehen Sie, fahre ich nach der Gouvernementsstadt, um meine Angehörigen zu besuchen ...«

»Ja, ja.«

»Ich freute mich gewaltig, als ich Sie sah; Sie sind immer gütig gegen mich gewesen,« fuhr Anisim, entzückt lächelnd, fort. »Aber wohin reisen Sie denn, gnädiger Herr? Wie es scheint, so ganz mutterseelenallein ... Sie sind ja wohl früher niemals allein gereist?«

Stepan Trofimowitsch blickte ihn ängstlich an.

»Wollen Sie vielleicht zu uns nach Spasow?«

»Ja, ich will nach Spasow. Il me semble que tout le monde va à Spasof ...«

»Vielleicht zu Fjodor Matwejewitsch? Der Herr wird sich sehr über Ihren Besuch freuen. Er hat Sie ja früher schon sehr hoch geschätzt, und auch jetzt hat er mehrmals von Ihnen gesprochen ...«

»Ja, ja, auch zu Fjodor Matwejewitsch.«

»Gewiß, gewiß. Die Bauern hier wundern sich, gnädiger Herr, daß man Sie zu Fuß auf der Landstraße getroffen hat. Es ist ein dummes Volk.«

»Ich ... Ich habe ... Weißt du, Anisim, ich habe gewettet wie ein Engländer, daß ich zu Fuß gehen würde, und da habe ich ...«

Der Schweiß trat ihm auf der Stirn und an den Schläfen heraus.

»Gewiß, gewiß ...« sagte Anisim, der mit schonungsloser Neugier zuhörte. Aber Stepan Trofimowitsch konnte es nicht länger ertragen. Er war so verlegen, daß er schon aufstehen und aus der Stube gehen wollte. Aber da wurde der Samowar gebracht, und in demselben Augenblicke kehrte die Bücherverkäuferin zurück, die inzwischen irgendwohin weggegangen war. Mit der Gebärde jemandes, der sich aus schwerer Not rettet, wandte er sich an sie und bot ihr Tee an. Anisim trat zurück und ging hinaus.

In der Tat war unter den Bauern starke Verwunderung entstanden: »Was ist das für ein Mensch? Er ist zu Fuß auf der Landstraße gefunden worden; er sagt, er sei ein Lehrer, ist gekleidet wie ein Ausländer, hat soviel Verstand wie ein kleines Kind, antwortet ungereimt, wie wenn er jemandem davongelaufen wäre, und hat Geld!« Man dachte schon daran, die Obrigkeit zu benachrichtigen, »da es überdies in der Stadt nicht ganz ruhig sei«. Aber gerade da klärte Anisim alles auf. Sowie er auf den Flur kam, teilte er allen, die es hören wollten, mit, Stepan Trofimowitsch sei eigentlich kein Lehrer, sondern ein sehr großer Gelehrter und beschäftige sich mit hohen Wissenschaften; er habe selbst in der Gegend ein Gut besessen, wohne schon zweiundzwanzig Jahre bei der Generalin Stawrogina, wo er die wichtigste Person im Hause sei, und werde in der Stadt von allen Leuten außerordentlich hoch geachtet. Im adligen Klub habe er an einem einzigen Abend hundertfünfzig Rubel verspielt; im Range sei er Rat, was beim Militär einem Oberstleutnant gleichstehe und nur eine Stufe niedriger sei als ein Oberst. Und Geld habe er durch die Generalin Stawrogina wie Heu, und so weiter und so weiter.

»Mais c'est une dame et très comme il faut,« dachte Stepan Trofimowitsch, der sich von Anisims Überfall erholte und mit vergnüglicher Neugier seine Nachbarin, die Bücherverkäuferin, beobachtete, die übrigens wie die gewöhnlichen Leute den Tee aus der Untertasse trank und dazu von einem Stück Zucker abbiß. »Ce petit morceau de sucre ce n'est rien ... Sie hat etwas Vornehmes und Selbständiges an sich und gleichzeitig etwas Ruhiges. Le comme il faut tout pur, aber nur in etwas anderem Genre.«

Er erfuhr bald von ihr, daß sie Sofja Matwejewna Ulitina heiße und eigentlich in K*** wohne, wo sie eine verwitwete Schwester habe, eine Kleinbürgerin; sie selbst sei ebenfalls Witwe; ihr Mann sei nach längerer Dienstzeit vom Feldwebel zum Unterleutnant befördert worden, dann aber in Sewastopol gefallen.

»Aber Sie sind noch so jung; vous n'avez pas trente ans.«

»Vierunddreißig,« antwortete Sofja Matwejewna lächelnd.

»Wie? Sie verstehen auch französisch?«

»Ein wenig; ich habe nachher vier Jahre in einem adligen Hause gelebt und es da von den Kindern gelernt.«

Sie erzählte, sie sei im Alter von nur achtzehn Jahren Witwe geworden, sei dann eine Zeitlang in Sewastopol als Barmherzige Schwester tätig gewesen, habe darauf an verschiedenen Orten gelebt und ziehe jetzt umher und verkaufe Neue Testamente.

» Mais mon Dieu, sind Sie nicht die Bücherverkäuferin, mit der in unserer Stadt eine sonderbare, sehr sonderbare Geschichte passiert ist?«

Sie wurde rot; es stellte sich heraus, daß sie es gewesen war.

»Ces vauriens, ces malheureux! ...« begann er mit einer Stimme, die vor Empörung zitterte. Eine schmerzliche, verhaßte Erinnerung wurde in seinem Herzen rege und peinigte ihn. Für eine Weile versank er vollständig in seine Gedanken.

»Ah, sie ist wieder weggegangen,« sagte er zu sich, als er wieder zur Besinnung kam und bemerkte, daß sie nicht mehr bei ihm war. »Sie geht oft hinaus und muß mit etwas beschäftigt sein; ich bemerke, daß sie sich sogar in einer gewissen Aufregung befindet ... Bah, je deviens égoïste!«

Er blickte auf und sah wieder Anisim, aber diesmal mit einer höchst bedrohlichen Umgebung. Die ganze Stube war voll von Bauern, die offenbar sämtlich Anisim mitgeschleppt hatte. Da war der Besitzer des Hauses und der Bauer mit der Kuh, noch zwei Bauern (wie sich herausstellte, Lohnkutscher) und ferner noch ein kleiner, halbbetrunkener Mensch in bäuerlicher Kleidung, aber mit glattrasiertem Gesichte, der wie ein durch den Trunk heruntergekommener Kleinbürger aussah und mehr redete als alle andern. Und alle redeten sie von ihm, Stepan Trofimowitsch. Der Bauer mit der Kuh beharrte auf seiner Behauptung, daß es am Ufer entlang ein Umweg von vierzig Werst sei, und daß der Herr unbedingt mit dem Dampfer fahren müsse. Der halbbetrunkene Kleinbürger und der Hauswirt widersprachen ihm hitzig:

»Allerdings, Bruder, haben es Seine Hochwohlgeboren auf dem Dampfer über den See näher; das ist richtig; aber der Dampfer wird in dieser Jahreszeit womöglich gar nicht gehen.«

»Er geht, er geht; noch eine Woche lang wird er gehen,« rief Anisim, der sich noch mehr ereiferte als die andern.

»Das ist so eine Sache! Und er kommt nicht pünktlich, weil es schon spät im Jahre ist; manchmal muß man in Ustjewo drei Tage lang warten.«

»Morgen wird er da sein; morgen pünktlich um zwei Uhr wird er da sein. Noch vor Abend werden Sie nach Spasow kommen, gnädiger Herr!« rief Anisim, ganz außer sich.

»Mais qu'est-ce qu'il a, cet homme?« fragte sich zitternd Stepan Trofimowitsch, der voller Angst sein Schicksal erwartete.

Nun traten auch die Lohnkutscher vor und wollten den Preis abmachen; sie verlangten bis Ustjewo drei Rubel. Die übrigen schrien, das sei nicht zu viel; das sei der Preis; das habe die Fahrt von da nach Ustjewo den ganzen Sommer über gekostet.

»Aber ... hier ist es doch auch hübsch ... Und ich will gar nicht ...« stammelte Stepan Trofimowitsch undeutlich.

»Da haben Sie recht, gnädiger Herr!« rief Anisim, der ihn nicht verstanden hatte; »es ist jetzt hübsch bei uns in Spasow, sehr hübsch, und Fjodor Matwejewitsch wird sich so über Ihre Ankunft freuen!«

»Mon Dieu, mes amis, all das kommt mir so unerwartet.«

Endlich kehrte Sofja Matwejewna zurück. Aber sie setzte sich sehr niedergeschlagen und traurig auf die Bank.

»Ich komme nicht hin nach Spasow!« sagte sie zu der Wirtin.

»Wie? Sie wollen auch nach Spasow?« fragte Stepan Trofimowitsch aufgeregt.

Es ergab sich, daß eine Gutsbesitzerin, Nadeschda Jegorowna Swetlizyna, sie schon am vorhergehenden Tage aufgefordert hatte, auf sie in Chatowo zu warten, mit dem Versprechen, sie nach Spasow auf ihrem Wagen mitzunehmen, daß sie aber nun doch nicht gekommen war.

»Was soll ich nun anfangen?« klagte Sofja Matwejewna.

»Mais, ma chère et nouvelle amie, ich kann Sie ja ebensogut wie die Gutsbesitzerin nach diesem, wie heißt es doch? nach diesem Dorfe bringen, wohin ich einen Wagen angenommen habe, – und, und morgen fahren wir zusammen nach Spasow.«

»Fahren Sie denn auch nach Spasow?«

»Mais que faire? Et je suis enchanté! Ich werde Sie mit großer Freude mitnehmen. Sehen Sie, die Leute da wollen es, und ich habe schon einen Kutscher angenommen ... Wen von euch habe ich denn angenommen?« rief Stepan Trofimowitsch, der auf einmal die größte Lust bekommen hatte, nach Spasow zu fahren.

Nach einer Viertelstunde stiegen sie schon in eine geschlossene Britschke: er sehr lebhaft und völlig zufrieden, sie neben ihm mit ihrem Sacke und mit einem dankbaren Lächeln. Anisim war ihnen beim Einsteigen behilflich.

»Glückliche Fahrt, gnädiger Herr!« rief er, indem er sich eifrig an der Britschke zu schaffen machte. »Nein, wie habe ich mich gefreut, Sie wiederzusehen!«

»Lebe wohl, lebe wohl, mein Freund, lebe wohl!«

»Besuchen Sie nur Fjodor Matwejewitsch, gnädiger Herr ...«

»Ja, mein Freund, ja ... Ich werde Fjodor Petrowitsch besuchen ... aber nun leb wohl!«

 

II

»Sehen Sie, meine Freundin – Sie erlauben mir doch, mich Ihren Freund zu nennen, nicht wahr?« begann Stepan Trofimowitsch eilig, sobald sich die Britschke in Bewegung gesetzt hatte. »Sehen Sie, ich ... J'aime le peuple, c'est indispensable, mais il me semble que je ne l'avais jamais vu de près. Stasie ... cela va sans dire qu'elle est aussi du peuple ... mais le vrai peuple, das heißt das wirkliche Volk, das man auf der Landstraße trifft, kümmert sich, wie mir scheint, nur darum, wohin ich eigentlich reise ... Aber lassen wir alle Kränkungen beiseite. Ich rede wohl allerlei dummes Zeug durcheinander; aber das kommt wohl von der Eile.«

»Es scheint, daß Sie nicht ganz gesund sind,« sagte Sofja Matwejewna, indem sie ihn prüfend, aber respektvoll ansah.

»Nein, nein, ich brauche mich nur ordentlich einzuwickeln, und überhaupt ist so ein frischer Wind, sogar ein sehr frischer Wind; aber ... wir wollen daran nicht denken. Die Hauptsache ist: ich wollte etwas anderes sagen. Chère et incomparable amie, es scheint mir, daß ich beinah glücklich bin, und die Ursache davon sind Sie. Für mich ist es unvorteilhaft, glücklich zu sein, weil ich dann sogleich allen meinen Feinden vergebe ...«

»Aber das ist doch sehr gut.«

»Nicht immer, chère innocente. L'Évangile ... Voyez-vous, désormais nous le prêcherons ensemble, und ich werde gern Ihre schönen Bücher verkaufen. Ja, ich fühle, daß das vielleicht eine Idee ist, quelque chose de très nouveau dans ce genre. Das Volk ist religiös, c'est admis, aber es kennt das Evangelium noch nicht. Ich werde es ihm auslegen ... Bei der mündlichen Auslegung kann man die Fehler dieses merkwürdigen Buches verbessern, dem gegenüber ich mich natürlich höchst respektvoll zu verhalten beabsichtige. Auch auf der Landstraße werde ich nützlich sein. Ich bin immer nützlich gewesen; das habe ich immer meinen Freunden und meinen Gegnern gesagt et à cette chère ingrate ... Oh, vergeben wir, vergeben wir, vergeben wir vor allen Dingen allen und immer! Dann können wir hoffen, daß auch uns vergeben werden wird. Ja, denn wir alle und jeder haben uns einander gegenüber schuldig gemacht. Alle haben wir uns schuldig gemacht! ...«

»Da haben Sie etwas sehr Gutes gesagt.«

»Ja, ja ... Ich fühle, daß ich sehr gut rede. Ich werde sehr gut zu ihnen reden; aber, aber was wollte ich denn hauptsächlich sagen? Ich verwirre mich immer und kann mich nicht besinnen ... Wollen Sie mir wohl erlauben, daß ich mich nicht mehr von Ihnen trenne? Ich fühle, daß Ihr Blick und ... ich bin sogar erstaunt über Ihr Benehmen: Sie haben etwas Schlichtes und Einfaches; Ihre Aussprache ist nicht ganz korrekt; Sie gießen den Tee in die Untertasse und beißen von diesem häßlichen Stück Zucker ab; aber Sie haben etwas Reizendes, und ich sehe an Ihren Zügen ... Oh, erröten Sie nicht, und fürchten Sie mich nicht als Mann. Chère et incomparable, pour moi une femme c'est tout. Ich muß unbedingt neben einer Frau leben, aber nur neben ... Ich bin furchtbar in Verwirrung geraten ... Ich kann mich gar nicht besinnen, was ich sagen wollte. Oh, glücklich derjenige, dem Gott immer eine Frau sendet, und ... und ich denke sogar, daß ich mich in einer Art von Begeisterung befinde. Auch auf der Landstraße gibt es große Ideen! Sehen Sie, sehen Sie, das ist es, was ich sagen wollte: über die Idee; jetzt ist es mir eingefallen; aber vorher konnte ich gar nicht darauf kommen. Und warum haben uns diese Leute in einem Wagen weiter fortgeschickt? Dort war es doch auch hübsch, aber hier – cela devient trop froid. À propos, j'ai en tout quarante roubles et voilà cet argent; nehmen Sie es, nehmen Sie es; ich weiß nicht damit umzugehen; ich werde es verlieren, und man wird es mir wegnehmen, und ... Es scheint mir, daß ich sehr schläfrig bin; es dreht sich mir etwas im Kopfe herum. Ja, es dreht sich, es dreht sich, es dreht sich. Oh, wie gut Sie sind! Womit decken Sie mich da zu?«

»Sie haben offenbar ein richtiges Fieber, und ich habe Sie mit meinem Tuche zugedeckt. Aber was das Geld anlangt, so möchte ich ...«

»Oh, um Gotteswillen, n'en parlons phus; parce que cela me fait mal; oh, wie gut Sie sind!«

Er hörte auf einmal auf zu reden und versank außerordentlich schnell in einen fieberhaften, mit Frösteln verbundenen Schlaf. Der Landweg, auf dem sie diese siebzehn Werst fuhren, war sehr uneben, und der Wagen stieß gewaltig. Stepan Trofimowitsch wachte häufig auf, richtete sich schnell von dem kleinen Kissen in die Höhe, das ihm Sofja Matwejewna unter den Kopf geschoben hatte, ergriff sie bei der Hand und fragte: »Sind Sie hier?« als ob er fürchtete, sie könnte ihn verlassen haben. Er erzählte ihr auch, daß er von einem geöffneten Rachen mit Zähnen geträumt habe, und daß ihm das sehr widerwärtig gewesen sei. Sofja Matwejewna war in großer Unruhe um ihn.

Der Kutscher fuhr sie geradeswegs zu einem großen, vierfenstrigen Bauernhause mit mehreren ebenfalls zum Wohnen eingerichteten Nebengebäuden auf dem Hofe. Stepan Trofimowitsch erwachte, beeilte sich hineinzugehen und begab sich ohne weiteres in die zweite Stube des Hauses, die die geräumigste und beste war. Sein verschlafenes Gesicht nahm einen sehr geschäftigen Ausdruck an. Der Wirtin, einer hochgewachsenen, kräftig gebauten Frau von ungefähr vierzig Jahren, die sehr schwarzes Haar und beinah einen Schnurrbart hatte, erklärte er sofort, er verlange das ganze Zimmer für sich; sie solle die Tür zumachen und niemand mehr hereinlassen, »parce que nous avons à parler. Oui, j'ai beaucoup à vous dire, chère amie. Ich werde es bezahlen, ich werde es bezahlen!« fügte er, zur Wirtin gewandt, mit einer abwehrenden Handbewegung hinzu.

Obgleich er schnell sprach, bewegte er doch die Zunge nur unbeholfen. Die Wirtin hörte ihn mit unfreundlicher Miene an, schwieg aber zum Zeichen der Einwilligung; indes konnte man aus ihrem Wesen schon etwas Drohendes ahnen. Er jedoch merkte nichts davon und verlangte schleunigst (er hatte es furchtbar eilig), sie solle hinausgehen und sofort, so schnell wie nur möglich, das Mittagessen auftragen, »ohne den geringsten Verzug«.

Nun aber konnte sich die Frau mit dem Schnurrbart nicht mehr halten:

»Hier ist kein Wirtshaus, mein Herr; Mittagessen für Reisende liefern wir nicht. Wir kochen Krebse und stellen einen Samowar auf; aber weiter ist bei uns nichts zu haben. Frische Fische werden erst morgen da sein.«

Aber Stepan Trofimowitsch wiederholte in zorniger Ungeduld unter lebhaften Gestikulationen: »Ich werde es bezahlen; nur schnell, nur schnell!« Sie entschieden sich für Fischsuppe und ein gebratenes Huhn; die Wirtin versicherte zwar, im ganzen Dorfe sei kein Huhn zu bekommen, erklärte sich aber bereit, auf die Suche zu gehen, jedoch mit einer Miene, als ob sie ihnen die größte Gefälligkeit erwiese.

Kaum war sie hinausgegangen, als Stepan Trofimowitsch sich sofort auf das Sofa setzte und Sofja Matwejewna veranlaßte, neben ihm Platz zu nehmen. In der Stube befanden sich sowohl ein Sofa als Lehnstühle; aber diese Möbel sahen abstoßend aus. Überhaupt stellte das ganze, ziemlich geräumige Zimmer (durch eine Halbwand war ein Teil abgebuchtet, in welchem ein Bett stand) mit den gelben, alten, zerrissenen Tapeten, mit den schrecklichen mythologischen Lithographien an den Wänden, mit der langen Reihe von Heiligenbildern und messingnen Triptychen in der vorderen Ehrenecke und mit seinem sonderbar zusammengewürfelten Mobiliar eine häßliche Mischung des städtischen und des uralt-bäuerlichen Elementes dar. Aber er warf auf all das nicht einmal einen Blick und sah auch nicht durch das Fenster nach dem gewaltigen See hin, der etwa dreißig Schritte von dem Hause begann.

»Endlich sind wir allein, und wir werden niemand hereinlassen! Ich will Ihnen alles erzählen, alles von Anfang an.«

Sofja Matwejewna hielt ihn mit starker Unruhe davon zurück:

»Ist Ihnen auch wohl bekannt, Stepan Trofimowitsch ...«

»Comment, vous savez déjà mon nom?« fragte er, erfreut lächelnd.

»Ich habe ihn vorhin von Anisim Iwanow gehört, als Sie mit ihm sprachen. Ich möchte mir meinerseits erlauben, Ihnen etwas mitzuteilen ...«

Und indem sie nach der geschlossenen Tür hinblickte, damit niemand horche, flüsterte sie ihm eilig zu, hier in diesem Dorfe sei eine sehr üble Wirtschaft. Die Einwohner des Ortes seien zwar Fischer, erwürben sich aber ihren Unterhalt besonders dadurch, daß sie in jedem Sommer den bei ihnen logierenden Fremden ganz phantastische Preise abnähmen. Der Landweg führe nicht durch das Dorf hindurch, sondern ende hier, und die Fremden kämen lediglich deswegen her, weil hier der Dampfer anlege; wenn nun der Dampfer ausbleibe (und bei auch nur einigermaßen ungünstigem Wetter komme er unter keinen Umständen), so sammle sich hier für einige Tage viel Volk an, so daß alle Häuser im Dorfe besetzt seien, und darauf warteten die Hausbesitzer nur; denn dann nähmen sie für jeden Gegenstand den dreifachen Preis. Der Wirt dieses Hauses sei besonders stolz und hochmütig, weil er für hiesige Verhältnisse sehr reich sei; ein einziges seiner Netze sei tausend Rubel wert.

Stepan Trofimowitsch blickte der Redenden ordentlich vorwurfsvoll in das lebhaft erregte Gesicht und machte mehrmals eine Bewegung, als ob er sie unterbrechen wolle. Aber sie zeigte sich beharrlich und sprach zu Ende: nach ihrer Erzählung war sie schon im Sommer »mit einer hochadligen Dame aus der Stadt« hier gewesen; sie sagte, sie hätten hier ebenfalls zwei ganze Tage logiert, bis der Dampfer gekommen sei, und hätten so viel Ärger durchgemacht, daß die bloße Erinnerung daran schrecklich sei.

»Sehen Sie, Stepan Trofimowitsch, Sie haben dieses Zimmer für sich allein verlangt ... Ich sage es nur, um Sie zu warnen ... Dort in dem andern Zimmer sind schon Fremde, ein älterer Herr und ein junger Mensch und eine Dame mit Kindern, und morgen wird das ganze Haus bis zwei Uhr voll Menschen sein; denn da der Dampfer zwei Tage lang nicht gekommen ist, so wird er morgen bestimmt kommen. Und so werden denn die Wirtsleute für das besondere Zimmer und dafür, daß Sie von ihnen Mittagessen verlangt haben, und für die Benachteiligung der übrigen Reisenden von Ihnen einen Preis verlangen, wie er selbst in den Hauptstädten unerhört ist ...«

Aber er litt während ihrer Auseinandersetzung, litt wirklich.

»Assez, mon enfant, ich bitte Sie dringend, nous avons notre argent et après – et après le bon Dieu Ich wundere mich sogar, daß Sie bei der Höhe Ihrer Denkweise ... Assez, assez, vous me tourmentez>,« rief er in krankhafter Aufregung. »Unsere ganze Zukunft liegt vor uns, und da wollen Sie ... da wollen Sie mir vor der Zukunft bange machen ...«

Er begann sogleich seine ganze Lebensgeschichte vorzutragen, wobei er dermaßen hastete, daß es zuerst sogar schwer war, ihn zu verstehen. Diese Geschichte dauerte sehr lange. Es wurde die Fischsuppe gebracht, dann das Huhn, schließlich auch der Samowar; aber er redete immer noch ... Sein Reden machte einen etwas sonderbaren, krankhaften Eindruck; aber er war ja auch wirklich krank. Es war dies eine plötzliche Anspannung seiner Geisteskräfte, auf die mit Sicherheit (und Sofja Matwejewna sah das während seiner ganzen Erzählung mit Betrübnis voraus) nachher sofort in seinem bereits zerrütteten Organismus ein außerordentlicher Zusammensturz der Kräfte folgen mußte. Er begann beinah mit seiner Kindheit, als er »mit frischer Brust durch die Felder lief«; nach einer Stunde war er eben erst bei seinen beiden Ehen und dem Berliner Leben angelangt. Ich erlaube mir übrigens nicht, über ihn zu spotten. Es handelte sich für ihn tatsächlich um etwas Höheres und, um den modernsten Ausdruck zu gebrauchen, beinah um einen Kampf ums Dasein. Er sah die Frau vor sich, die er sich schon für seinen weiteren Lebensweg auserkoren hatte, und beeilte sich, ihr sozusagen die Weihe zu erteilen. Seine Genialität durfte für sie nicht länger ein Geheimnis bleiben ... Vielleicht sah er Sofja Matwejewna durch ein starkes Vergrößerungsglas; aber er hatte sie nun einmal auserkoren. Er konnte ohne eine Frau nicht existieren. Er selbst erkannte an ihrem Gesichte klar, daß sie ihn fast gar nicht verstand und gerade das Wichtigste nicht.

»Ce n'est rien, nous attendrons; aber einstweilen mag sie es mit dem Ahnungsvermögen erfassen,« dachte er.

»Meine Freundin, ich brauche nur Ihr Herz,« rief er, seine Erzählung unterbrechend, ihr zu, »und diesen lieben, bezaubernden Blick, mit dem Sie mich jetzt ansehen. Oh, erröten Sie nicht! Ich habe Ihnen bereits gesagt ...«

Besonders vieles blieb der armen notgedrungenen Zuhörerin Sofja Matwejewna nebelhaft, als die Lebensgeschichte beinah zu einer vollständigen Abhandlung darüber wurde, daß nie jemand Stepan Trofimowitsch habe verstehen können, und daß »bei uns in Rußland die Talente zugrunde gehen.« Es war »etwas sehr Kluges und Verständiges, was er sagte,« berichtete sie darüber später mit inniger Rührung. Sie hörte ihm mit sichtlichem Mitgefühle zu, indem sie dabei die Augen ein wenig aufriß. Als aber Stepan Trofimowitsch humoristisch wurde und witzige Sticheleien gegen unsere »Matadore und Koryphäen« vorbrachte, da versuchte sie in ihrer Betrübnis sogar in Erwiderung auf sein Lachen ein paarmal zu lächeln; aber das nahm sich noch schlechter aus als die Tränen, so daß Stepan Trofimowitsch sogar endlich selbst verlegen wurde und nun mit um so größerem Zorne und Ingrimm über die Nihilisten und die »neuen Männer« herzog. Damit aber erschreckte er sie geradezu, und sie atmete erst da wieder in einer allerdings sehr trügerischen Hoffnung einigermaßen auf, als der eigentliche Liebesroman begann. Frau bleibt Frau, und wenn sie eine Nonne wäre. Sie lächelte, wiegte den Kopf hin und her, errötete und schlug die Augen nieder, wodurch sie Stepan Trofimowitsch in das größte Entzücken und in helle Begeisterung versetzte, so daß er sogar vieles hinzulog. Warwara Petrowna wurde bei ihm eine reizende Brünette (»welche ganz Petersburg und viele andere Hauptstädte Europas bezaubert hatte«), und ihr Mann war gestorben, »in Sewastopol von einer Kugel niedergestreckt«, einzig und allein, weil er sich ihrer Liebe unwürdig fühlte und sie seinem Nebenbuhler, das heißt eben diesem Stepan Trofimowitsch, abtreten wollte ...

»Werden Sie nicht verlegen, meine sanfte, fromme Freundin!« rief er Sofja Matwejewna zu, indem er selbst fast alles glaubte, was er erzählte. »Dieses Verhältnis war etwas Erhabenes, etwas so Zartes, daß wir beide unser ganzes Leben lang uns nicht ein einziges Mal darüber ausgesprochen haben.«

Als Ursache dieser Lage der Dinge erschien im weiteren Verlaufe der Erzählung eine Blondine (wenn dies nicht Darja Pawlowna war, so wüßte ich nicht, wen Stepan Trofimowitsch sonst damit gemeint haben könnte). Diese Blondine war der Brünette den größten Dank schuldig und war als entfernte Verwandte im Hause derselben aufgewachsen. Als die Brünette endlich die Liebe der Blondinen zu Stepan Trofimowitsch wahrnahm, zog sie sich in sich selbst zurück. Die Blondine ihrerseits, als sie die Liebe der Brünette zu Stepan Trofimowitsch bemerkte, zog sich ebenfalls in sich selbst zurück. Und so schwiegen sie alle drei, ganz ermattet von gegenseitiger Großmut, zwanzig Jahre lang, indem sie sich in sich selbst zurückzogen. »Oh, was war das für eine Leidenschaft, was war das für eine Leidenschaft!« rief er aus, schluchzend im aufrichtigsten Entzücken. »Ich sah die volle Blüte ihrer Schönheit« (nämlich der Schönheit der Brünette); »ich sah sie mit tiefem Schmerze im Herzen, wie sie an mir vorüberging, als schäme sie sich ihrer Schönheit.« (Einmal sagte er: »als schäme sie sich ihrer Fülle«.) Endlich hatte er diesen ganzen zwanzigjährigen fieberhaften Traum von sich geworfen und war davongelaufen. Vingt ans! Und da war er jetzt nun auf der Landstraße ... Darauf begann er in einer Art von entzündetem Zustande des Gehirnes seiner Reisegefährtin zu erklären, was ihr heutiges so zufälliges und doch für ihr ganzes Leben so entscheidendes Zusammentreffen zu bedeuten habe. Sofja Matwejewna stand schließlich in schrecklicher Verlegenheit vom Sofa auf; er machte sogar einen Versuch, sich vor ihr auf die Knie niederzulassen, so daß sie zu weinen anfing. Die Dämmerung wurde dunkler: beide hatten in dem geschlossenen Zimmer schon mehrere Stunden verbracht ...

»Nein, lassen Sie mich jetzt lieber in das andere Zimmer gehen,« stammelte sie; »sonst denken sich die Leute womöglich etwas.«

Sie riß sich endlich los; er ließ sie gehen, nachdem er ihr sein Wort darauf gegeben hatte, daß er sich sofort schlafen legen werde. Beim Abschiednehmen klagte er darüber, daß ihm der Kopf sehr weh täte. Sofja Matwejewna hatte schon, als sie ins Haus gekommen war, ihren Sack und ihre Sachen im ersten Zimmer gelassen, da sie beabsichtigte, mit den Wirtsleuten zusammen zu schlafen; aber es sollte ihr nicht gelingen, sich zu erholen.

In der Nacht bekam Stepan Trofimowitsch einen seiner mir und all seinen Freunden so wohlbekannten Cholerineanfälle, der gewöhnliche Ausgang aller nervösen Anspannungen und seelischen Erschütterungen bei ihm. Die arme Sofja Matwejewna kam die ganze Nacht nicht zum Schlafen. Da sie anläßlich der Pflege des Kranken ziemlich oft durch das Zimmer der Wirtsleute aus dem Hause hinausgehen und auf demselben Wege wieder zu dem Kranken zurückkehren mußte, so murrten die dort schlafende Wirtin und die Fremden und fingen sogar schließlich an zu schimpfen, als sie gegen Morgen einen Samowar aufstellen wollte. Stepan Trofimowitsch war während der ganzen Zeit des Anfalls nur bei halbem Bewußtsein; manchmal kam es ihm vor, als werde ein Samowar aufgestellt, als gebe man ihm etwas zu trinken (Himbeerwasser), als wärme man ihm mit etwas den Leib und die Brust. Aber er fühlte fast jeden Augenblick, daß sie neben ihm war, daß sie kam und ging, ihn vom Bette nahm und wieder auf das Bett legte. Um drei Uhr morgens fühlte er sich besser; er richtete sich auf, streckte die Beine aus dem Bette heraus und fiel, ohne sich etwas dabei zu denken, vor ihr auf den Fußboden. Das war nicht die frühere Kniebeugung; er fiel ihr einfach zu Füßen und küßte den Saum ihres Kleides ...

»Lassen Sie doch; das bin ich ja nicht wert,« flüsterte sie, indem sie sich bemühte, ihn auf das Bett zu heben.

»Meine Retterin!« sagte er, andächtig vor ihr die Hände faltend. »Vous êtes noble comme une marquise! Ich ... ich bin ein Taugenichts! Oh, ich bin mein ganzes Leben lang ein Ehrloser gewesen ...«

»Beruhigen Sie sich!« bat Sofja Matwejewna.

»Ich habe Ihnen vorhin alles nur vorgelogen ... aus Prahlerei, zur Ausschmückung, aus Leichtfertigkeit ... alles, alles bis auf das letzte Wort; o ich Taugenichts, ich Taugenichts!«

Die Cholerine ging auf diese Art in einen anderen Anfall über, in einen Anfall von krankhafter Selbstanklage. Ich habe diese Anfälle bereits erwähnt, als ich von seinen Briefen an Warwara Petrowna sprach. Er erinnerte sich auf einmal an Lisa, an sein Zusammentreffen mit ihr am Morgen des vorhergehenden Tages.

»Das war so schrecklich, und ... da war gewiß ein Unglück geschehen, und ich habe nicht danach gefragt, mich nicht erkundigt! Ich dachte nur an mich! Oh, was ist mit ihr geschehen? Wissen Sie nicht, was mit ihr geschehen ist?« sagte er in flehendem Tone zu Sofja Matwejewna.

Dann schwor er, er werde »ihr« nicht untreu werden, er werde zu ihr zurückkehren (er meinte Warwara Petrowna).

»Wir wollen zu ihrer Haustür gehen« (er meinte sich und Sofja Matwejewna), »jeden Tag, wenn sie in den Wagen steigt, um ihre morgendliche Spazierfahrt zu machen, und wollen sie ganz still ansehen ... Oh, ich will, daß sie mich auch auf die andere Wange schlägt; mit Genuß will ich das. Ich werde ihr meine andere Wange darbieten comme dans votre livre! Jetzt, erst jetzt habe ich verstanden, was das heißt: die andere Backe darbieten. Ich hatte es früher nie verstanden!«

Für Sofja Matwejewna folgten nun zwei der furchtbarsten Tage ihres Lebens; noch jetzt zittert sie bei der bloßen Erinnerung. Stepan Trofimowitsch wurde so ernstlich krank, daß er nicht auf dem Dampfer wegfahren konnte, der diesmal pünktlich um zwei Uhr nachmittags ankam; sie aber brachte es nicht fertig, ihn allein zurückzulassen, und fuhr ebenfalls nicht nach Spasow. Wie sie später berichtete, freute er sich sogar sehr darüber, daß der Dampfer abgegangen war.

»Nun, das ist ja prächtig, das ist ja wunderschön,« murmelte er, im Bette liegend. »Ich hatte schon gefürchtet, wir würden wegfahren. Hier ist es so hübsch; hier ist es am allerschönsten ... Sie werden mich nicht verlassen? Oh, Sie haben mich nicht verlassen!«

Indessen war es »hier« durchaus nicht so hübsch. Von den Schwierigkeiten, die ihr erwuchsen, wollte er nichts wissen; sein Kopf war nur mit Phantasien angefüllt. Seine Krankheit hielt er für etwas Vorübergehendes, für eine Lappalie, und dachte an sie überhaupt nicht; er dachte nur daran, wie sie hingehen und »diese Bücher« verkaufen würden. Er bat sie, ihm aus dem Neuen Testamente vorzulesen.

»Es ist schon lange her, daß ich es gelesen habe ... im Original gelesen habe. Aber es könnte mich doch jemand nach etwas daraus fragen, und ich gäbe dann vielleicht falsche Auskunft; ich muß mich doch vorbereiten.«

Sie setzte sich neben ihn und schlug das Buch auf.

»Sie lesen sehr schön,« unterbrach er sie schon nach der ersten Zeile. »Ich sehe, ich sehe, daß ich mich nicht geirrt habe!« fügte er undeutlich, aber entzückt hinzu.

Und überhaupt war er ununterbrochen in einem Zustande des Entzückens. Sie las die Bergpredigt.

»Assez, assez, mon enfant, genug! ... Meinen Sie wirklich, daß das nicht genug ist?«

Er schloß kraftlos die Augen. Er war sehr schwach, hatte aber das Bewußtsein noch nicht verloren. Sofja Matwejewna wollte sich erheben, weil sie annahm, daß er zu schlafen wünsche; aber er hielt sie zurück.

»Meine Freundin, ich habe mein ganzes Leben lang gelogen. Sogar wenn ich die Wahrheit sagte. Ich habe nie um der Wahrheit willen geredet, sondern nur um meinetwillen; ich habe das auch früher schon gewußt; aber erst jetzt sehe ich es klar ein ... Oh, wo sind jene Freunde, die ich mit meiner Freundschaft mein ganzes Leben lang gekränkt habe? Und sie alle habe ich gekrankt, sie alle! Savez-vous, ich lüge vielleicht auch jetzt; gewiß lüge ich auch jetzt. Die Hauptsache ist, daß ich mir selbst glaube, wenn ich lüge. Das Allerschwerste im Leben ist: zu leben und nicht zu lügen ... und ... und an die eigene Lüge nicht zu glauben; ja, ja, gerade das! Aber warten Sie, von alledem wollen wir später einmal reden ... Wir bleiben zusammen, wir bleiben zusammen!« fügte er enthusiastisch hinzu.

»Stepan Trofimowitsch,« bat Sofja Matwejewna schüchtern, »möchten Sie nicht einen Arzt aus der Gouvernementsstadt holen lassen?«

Er war höchlichst überrascht.

»Wozu? Est-ce que je suis si malade? Mais rien de sérieux. Und wozu brauchen wir fremde Leute? Dann würde es bekannt werden, daß ich hier bin, und was dann? Nein, nein, keinen Fremden! Wir bleiben zusammen, wir bleiben zusammen!«

»Wissen Sie,« sagte er nach kurzem Stillschweigen, »lesen Sie mir noch etwas, etwas Beliebiges, worauf Ihr Auge gerade fällt.«

Sofja Matwejewna schlug das Buch auf und begann zu lesen.

»Wo das Buch aufklappt, wo es zufällig aufklappt,« sagte er noch einmal.

»Und dem Engel der Gemeine zu Laodicea schreibe ...«

»Was ist das? Wo ist das her?«

»Das ist aus der Offenbarung St. Johannis.«

»O, je m'en souviens, oui, l'Apocalipse. Lisez, lisez, ich möchte aus dem Buche eine Weissagung über unsere Zukunft entnehmen; ich möchte wissen, was herauskommt; lesen Sie von dem Engel, von dem Engel! ...«

»Und dem Engel der Gemeine zu Laodicea schreibe: das saget Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Kreatur Gottes. Ich weiß deine Werke; du bist weder kalt noch warm; o wenn du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Denn du sprichst: ich bin reich, ich habe viel Gut erlangt und bedarf nichts; aber du weißt nicht, daß du unglücklich bist und jämmerlich und arm und blind und nackt.«

»Das ... und das steht in Ihrem Buche!« rief er mit funkelnden Augen und richtete sich vom Kopfkissen in die Höhe. »Ich habe diese großartige Stelle nie gekannt! Hören Sie: eher kalt, kalt als lau, nur lau. Oh, ich werde es beweisen! Nur verlassen Sie mich nicht; lassen Sie mich nicht allein! Wir werden es beweisen, wir werden es beweisen!«

»Nein, ich werde Sie nicht verlassen, Stepan Trofimowitsch; niemals werde ich Sie verlassen!« rief sie, indem sie seine Hand ergriff, sie in den ihrigen drückte, sie an ihr Herz führte und ihn mit Tränen in den Augen anblickte. (»Er tat mir in diesem Augenblicke furchtbar leid,« berichtete sie später.)

Seine Lippen zuckten krampfhaft.

»Aber, Stepan Trofimowitsch, was sollen wir denn nun machen? Wollen Sie nicht einen Ihrer Bekannten oder vielleicht einen Ihrer Verwandten von Ihrer Krankheit benachrichtigen?«

Aber als er das hörte, erschrak er dermaßen, daß sie bedauerte, es noch einmal erwähnt zu haben. Zitternd und bebend flehte er sie an, niemanden zu rufen, nichts zu unternehmen; er nahm ihr das Wort darauf ab und sagte mehrmals: »Niemanden, niemanden! Wir wollen allein bleiben, ganz allein; nous partirons ensemble."

Recht übel war es auch, daß die Wirtsleute ebenfalls unruhig wurden, brummten und Sofja Matwejewna zu Leibe gingen. Sie bezahlte ihnen das Gelieferte und war darauf bedacht, sie sehen zu lassen, daß noch mehr Geld da sei; dies besänftigte die Leute für einige Zeit; aber der Wirt verlangte Stepan Trofimowitschs »Schein«. Der Kranke wies mit hochmütigem Lächeln auf seine kleine Reisetasche; in dieser fand Sofja Matwejewna die Verfügung über seine Entlassung oder etwas Derartiges, was er sein ganzes Leben lang als Legitimation benutzt hatte. Der Wirt gab sich damit nicht zufrieden und sagte: »Er muß irgendwo aufgenommen werden; denn bei uns ist kein Krankenhaus; und wenn er stirbt, so wird das am Ende noch eine unangenehme Geschichte; wir haben davon viel Schererei.« Sofja Matwejewna redete mit dem Wirte auch von einem Arzte; aber es ergab sich, daß, wenn man nach der Gouvernementsstadt schicken wollte, dies viel zu teuer werden würde; man mußte natürlich jeden Gedanken an einen Arzt fallen lassen. Bekümmert kehrte sie zu ihrem Kranken zurück. Stepan Trofimowitsch wurde immer schwächer und schwächer.

»Nun lesen Sie mir noch eine Stelle vor ... von den Schweinen,« sagte er auf einmal.

»Was?« fragte Sofja Matwejewna ganz erschrocken.

»Von den Schweinen ... das steht auch darin ... ces cochons ... ich erinnere mich, die Teufel fuhren in Schweine, und diese ertranken alle. Das müssen Sie mir unbedingt vorlesen: ich werde Ihnen nachher sagen, warum. Ich möchte es wörtlich hören. Ich muß es wörtlich hören.«

Sofja Matwejewna kannte das Neue Testament genau und fand sogleich bei Lucas eben jene Stelle, die ich als Motto an die Spitze dieser Geschichtserzählung gesetzt habe. Ich führe sie hier noch einmal an:

»Es weidete aber daselbst eine große Herde Säue auf dem Berge. Und die Teufel baten ihn, daß er ihnen erlaubte, in diese zu fahren. Da fuhren die Teufel aus von dem Menschen und fuhren in die Säue; und die Herde stürzte sich von dem Abhange in den See und ersoff. Da aber die Hirten sahen, was da geschah, flohen sie und verkündigten's in der Stadt und in den Dörfern. Da gingen die Einwohner hinaus, zu sehen, was da geschehen war, und kamen zu Jesu und fanden den Menschen, von welchem die Teufel ausgefahren waren, sitzend zu den Füßen Jesu, bekleidet und vernünftig; und sie erschraken. Und die es gesehen hatten, verkündigten's ihnen, wie der Besessene gesund geworden war.«

»Meine Freundin,« sagte Stepan Trofimowitsch in großer Aufregung, » savez-vous, diese wunderbare und ... ganz merkwürdige Stelle war mir mein ganzes Leben hindurch ein Stein des Anstoßes ... dans ce livre ... so daß ich diese Stelle noch von meiner Kindheit her im Gedächtnisse habe. Jetzt aber ist mir ein Gedanke gekommen, une comparaison; es kommen mir nämlich jetzt außerordentlich viele Gedanken. Sehen Sie, das ist genau so wie unser Rußland. Diese Teufel, die aus dem Kranken ausfahren und in die Säue fahren, das sind alle die Gifte, all die Miasmen, all die Unreinigkeit, all die großen und kleinen Teufel, die sich in unserm lieben, großen Kranken, in unserm Rußland, seit Jahrhunderten, seit Jahrhunderten angesammelt haben. Aber der große Gedanke und der große Wille werden ihm von oben her zu Hilfe kommen wie jenem sinnlosen Besessenen, und all jene Teufel werden von ihm ausfahren, all die Unreinigkeit, all die Nichtswürdigkeit, die faulend seine Oberfläche bedeckt ... und sie werden selbst bitten, in die Säue fahren zu dürfen. Ja, vielleicht sind sie schon in diese gefahren! Das sind wir, wir und jene und Peter ... et les autres avec lui, und ich bin vielleicht der erste an ihrer Spitze, und wir werden uns sinnlos und rasend vom Felsen ins Meer werfen und alle ertrinken, und das ist auch unser verdientes Los; denn zu etwas anderm sind wir nicht zu gebrauchen. Aber der Kranke wird gesund werden und ›zu den Füßen Jesu sitzen‹ ... und alle werden ihn mit Erstaunen ansehen ... Meine Liebe, vous comprendrez après; aber jetzt regt mich das zu sehr auf ... Vous comprendrez après ... Nous comprendrons ensemble.«

Er fing an zu phantasieren und verlor schließlich das Bewußtsein. So verging auch der ganze folgende Tag. Sofja Matwejewna saß neben ihm und weinte; sie hatte schon die dritte Nacht fast gar nicht geschlafen und vermied es, sich vor den Wirtsleuten blicken zu lassen, die, wie sie ahnte, bereits etwas ins Werk setzten. Ihre Erlösung erfolgte erst am dritten Tage. Am Morgen kam Stepan Trofimowitsch zu sich, erkannte sie und streckte ihr die Hand hin. Sie bekreuzte sich hoffnungsvoll. Er wollte gern durch das Fenster sehen.

»Tiens, un lac,« sagte er. »Ach, mein Gott, ich hatte ihn noch gar nicht gesehen ...«

In diesem Augenblicke fuhr vor der Tür des Bauernhauses polternd eine Equipage vor, und im Hause entstand ein geschäftiges Hin- und Herlaufen.

 

III

Das war Warwara Petrowna selbst, die in einem viersitzigen, vierspännigen Wagen mit zwei Dienern und mit Darja Pawlowna angekommen war. Dieses Wunder war auf ganz einfache Weise zustande gekommen. Anisim, der vor Neugier starb, war nach seiner Ankunft in der Stadt gleich am folgenden Tage in Warwara Petrownas Haus gegangen und hatte der Dienerschaft erzählt, er habe Stepan Trofimowitsch allein in einem Dorfe getroffen, nachdem ihn vorher Bauern auf der großen Landstraße allein und zu Fuß gefunden hätten; jetzt sei er in Gesellschaft Sofja Matwejewnas über Ustjewo nach Spasow abgefahren. Da Warwara Petrowna ihrerseits sich bereits furchtbar beunruhigte und, soweit es möglich war, nach ihrem entlaufenen Freunde Nachforschungen hatte anstellen lassen, so wurde ihr sofort über Anisim Meldung gemacht. Nachdem sie ihn angehört und ihn besonders eingehend über die Abfahrt nach Ustjewo in ein und derselben Britschke mit einer gewissen Sofja Matwejewna zusammen hatte berichten lassen, machte sie sich im Handumdrehen fertig und fuhr eilig auf der frischen Fährte selbst nach Ustjewo. Von seiner Krankheit hatte sie noch keine Kenntnis.

Es erscholl ihre strenge, gebieterische Stimme; selbst die Wirtsleute bekamen Angst. Sie ließ nur anhalten, um zu fragen und sich zu erkundigen, da sie überzeugt war, daß Stepan Trofimowitsch schon längst in Spasow sei; als sie nun erfuhr, daß er noch hier sei und krank liege, kam sie in großer Aufregung ins Haus.

»Nun, wo ist er denn? Ah, das bist du!« rief sie, als sie Sofja Matwejewna erblickte, die gerade in diesem Augenblicke auf der Schwelle des zweiten Zimmers erschien. »An deinem schamlosen Gesichte habe ich gleich gesehen, daß du das bist. Hinaus, Nichtswürdige! Mach sofort, daß du aus dem Hause kommst! Jagt sie hinaus; sonst werde ich dafür sorgen, meine Werteste, daß man dich lebenslänglich ins Gefängnis sperrt. Einstweilen soll sie in einem andern Hause in Gewahrsam gehalten werden. Sie hat schon einmal in der Stadt im Gefängnis gesessen und wird auch wieder sitzen. Ich ersuche dich, Wirt, niemanden hereinzulassen, solange ich hier bin. Ich bin die Generalin Stawrogina und nehme das ganze Haus für mich in Beschlag. Du aber, meine Verehrteste, wirst mir für alles Rechenschaft ablegen.«

Die bekannten Töne ließen Stepan Trofimowitsch zusammenfahren. Er fing an zu zittern. Aber schon trat sie zu ihm hinter die Halbwand. Ihre Augen funkelten; sie stieß mit dem Fuße einen Stuhl heran, ließ sich darauf nieder, warf den Kopf gegen die Lehne zurück und rief Dascha zu:

»Geh vorläufig hinaus und bleib bei den Wirtsleuten! Was ist das für eine Neugier? Und mach die Tür fest hinter dir zu!«

Eine Zeitlang sah sie ihm schweigend und mit dem Blicke eines Räubers in das erschrockene Gesicht.

»Nun, wie geht es Ihnen, Stepan Trofimowitsch? Haben Sie einen hübschen Spaziergang gemacht?« sagte sie dann plötzlich mit grimmiger Ironie.

»Chère,« stammelte Stepan Trofimowitsch fassungslos, »ich habe das wirkliche russische Leben kennen gelernt ... Et je prêcherai l'Évangile ...«

»O Sie schamloser, undankbarer Mensch!« schrie sie auf einmal und schlug die Hände zusammen. »Nicht genug, daß Sie mich so blamiert haben, mußten Sie auch gleich solche Beziehungen anknüpfen ... O Sie alter, schamloser Wüstling!«

»Chère ...«

Die Stimme versagte ihm; er konnte kein Wort herausbringen, sondern sah sie nur erschrocken mit weitgeöffneten Augen an.

»Was ist die für eine?«

»C'est un ange ... C'était plus qu'un ange pour moi; sie hat die ganze Nacht ... Oh, schreien Sie nicht; erschrecken Sie sie nicht, chère, chère ...« Er bekam einen Ohnmachtsanfall.

Warwara Petrowna sprang mit Gepolter vom Stuhle in die Höhe und schrie erschrocken: »Wasser, Wasser!« Er kam zwar bald wieder zu sich; aber sie zitterte immer noch vor Angst und blickte blaß in sein entstelltes Gesicht: erst jetzt begann sie den Ernst seiner Krankheit zu ahnen.

»Darja,« flüsterte sie dieser schnell zu, »laß sofort einen Arzt holen, Dr. Salzfisch; Jegorowitsch soll gleich hinfahren; er soll hier Pferde mieten und zur Rückfahrt von der Stadt einen anderen Wagen nehmen. Sag ihm, er müsse zur Nacht wieder hier sein.«

Dascha eilte davon, um den Auftrag auszuführen. Stepan Trofimowitsch hatte immer denselben erschrockenen Blick aus den weitgeöffneten Augen; seine blaßgewordenen Lippen zitterten.

»Gedulden Sie sich nur ein Weilchen, Stepan Trofimowitsch; gedulden Sie sich nur, Täubchen!« redete sie ihm zu wie einem kleinen Kinde. »Na, so gedulden Sie sich doch, gedulden Sie sich; Darja kommt ja gleich wieder und ... Ach Gott, Wirtin, Wirtin, komm du wenigstens her, Mütterchen!«

In ihrer Ungeduld lief sie zur Wirtin hin.

»Sofort, augenblicklich soll diese Frauensperson wieder zurückgerufen werden. Holt sie wieder her, holt sie wieder her!«

Zum Glück hatte sich Sofja Matwejewna noch nicht vom Hause entfernt, sondern war eben erst mit ihrem Sack und ihrem Bündel aus dem Tor getreten. Man holte sie zurück. Sie war so erschrocken, daß ihr sogar die Hände und die Beine zitterten. Warwara Petrowna packte sie am Arm, wie der Habicht ein Hühnchen, und zog sie ungestüm zu Stepan Trofimowitsch hin.

»Na, da haben Sie sie! Aufgefressen habe ich sie nicht. Sie dachten wohl, ich würde sie auffressen?«

Stepan Trofimowitsch ergriff Warwara Petrownas Hand, führte sie an seine Augen und brach in Tränen aus. Er schluchzte schmerzlich und krampfhaft.

»Na, beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich, mein Täubchen, na, Väterchen! Ach, mein Gott, so be-ru-hi-gen Sie sich doch!« schrie sie aufgebracht. »Oh, Sie sind mein Peiniger, mein Peiniger, lebenslänglich mein Peiniger!«

»Liebes Kind,« stammelte endlich Stepan Trofimowitsch, sich zu Sofja Matwejewna wendend, »gehen Sie ein Weilchen dorthin; ich möchte hier ein paar Worte reden ...«

Sofja Matwejewna beeilte sich sofort hinauszugehen.

»Chérie ... chérie ...« sagte er, schwer atmend.

»Warten Sie noch mit dem Sprechen, Stepan Trofimowitsch; warten Sie noch ein bißchen, bis Sie sich erholt haben! Da ist Wasser. So warten Sie doch!«

Sie setzte sich wieder auf den Stuhl. Stepan Trofimowitsch hielt sie fest an der Hand. Lange Zeit erlaubte sie ihm nicht zu reden. Er zog ihre Hand an seine Lippen und küßte sie. Sie preßte die Zähne aufeinander und blickte irgendwohin in eine Ecke.

»Je vous aimais!« stieß er endlich hervor. Nie hatte sie von ihm ein solches Wort und in dieser Weise ausgesprochen gehört.

»Hm!« brummte sie zur Antwort.

»Je vous aimais toute ma vie ... vingt ans!«

Sie schwieg immer noch, zwei, drei Minuten lang.

»Aber als Sie sich für Dascha angeputzt und mit Parfüm besprengt hatten ...« sagte sie auf einmal, in schrecklichem Tone flüsternd. Stepan Trofimowitsch wurde ganz starr.

»Auch ein neues Halstuch hatten Sie sich umgebunden ...«

Wieder ein Stillschweigen, das zwei Minuten dauerte.

»Denken Sie wohl noch an die Zigarre?«

»Meine Freundin,« murmelte er undeutlich in seinem Schrecken.

»An die Zigarre, abends, am Fenster ... der Mond schien ... nach dem Gespräche in der Laube ... in Skworeschniki? Erinnern Sie sich, erinnern Sie sich?« Sie sprang von ihrem Platze auf, faßte sein Kopfkissen an den beiden oberen Ecken und schüttelte es mitsamt seinem Kopfe. »Denken Sie wohl daran, Sie hohler, hohler, schändlicher, kleinmütiger, lebenslänglich hohler Mensch?« zischte sie in ihrem wütenden Flüstertöne, indem sie sich Gewalt antat, um nicht zu schreien. Endlich ließ sie ihn wieder fahren, sank auf den Stuhl zurück und verbarg das Gesicht in den Händen. »Genug davon!« sagte sie abbrechend und richtete sich auf. »Zwanzig Jahre sind dahingegangen; die bringt man nicht wieder zurück. Auch ich bin eine Törin gewesen.«

»Je vous aimais,« sagte er noch einmal und faltete die Hände.

»Aber wozu sagen Sie mir immer aimais und aimais! Hören Sie auf damit!« rief sie und sprang wieder auf. »Und wenn Sie nicht jetzt gleich schlafen, so werde ich ... Sie haben Ruhe nötig; schlafen Sie, schlafen Sie sofort; machen Sie die Augen zu! Ach, mein Gott, er möchte vielleicht etwas zum Frühstück essen! Was möchten Sie essen? Was kann er wohl essen? Ach, mein Gott, wo ist die? Wo ist sie?«

Sie wollte schon alles in Bewegung setzen. Aber Stepan Trofimowitsch flüsterte mit schwacher Stimme, er wolle wirklich schlafen, une heure, und dann un bouillon, un thé ... »Enfin je suis si heureux!« Er legte sich hm und schien tatsächlich einzuschlafen (wahrscheinlich stellte er sich nur so). Warwara Petrowna wartete eine kleine Weile und verließ dann auf den Zehen den abgebuchteten Raum.

Sie setzte sich in das Zimmer der Wirtsleute, jagte die Wirtsleute selbst hinaus und befahl Dascha, »jene Frauensperson« zu ihr zu bringen. Nun begann ein strenges Verhör.

»Erzähle jetzt, mein Kind, alles ganz genau; setz dich neben mich, so! Nun?«

»Ich traf Stepan Trofimowitsch ...«

»Halt, schweig! Ich will dir noch vorher sagen: wenn du mir etwas vorlügst oder verschweigst, so sollst du dein ganzes Leben lang vor mir keine ruhige Stunde haben. Nun?«

»Ich traf Stepan Trofimowitsch ... als ich nach Chatowo gekommen war ...« begann Sofja Matwejewna, die nur mühsam atmete ...

»Halt, schweig, warte mal! Warum so hastig? Erstens: was bist du selbst für ein Vogel?«

Die Bücherverkäuferin erzählte ihr, so gut es gehen wollte, übrigens in möglichster Kürze, einiges über sich selbst, wobei sie mit Sewastopol anfing. Warwara Petrowna hörte schweigend zu, indem sie gerade aufgerichtet auf ihrem Stuhle saß und mit strengem, unverwandtem Blicke der Erzählerin gerade in die Augen sah.

»Warum bist du denn so ängstlich? Warum siehst du auf die Erde? Ich habe es gern, wenn man mich gerade ansieht und sich nicht scheut, mit mir zu streiten. Fahre fort!«

Sie erzählte von der Begegnung, von den Büchern, und wie Stepan Trofimowitsch die Bauerfrau mit Branntwein regaliert habe.

»So ist's recht, so ist's recht! Laß auch die kleinsten Einzelheiten nicht aus!« sagte Warwara Petrowna ermunternd. Zuletzt erzählte sie, wie sie weggefahren waren, und wie Stepan Trofimowitsch in einem fort geredet habe; »er war schon ganz krank«, und wie er ihr hier seine ganze Lebensgeschichte vom allerersten Anfange an mehrere Stunden lang erzählt habe.

»Erzähle von seinem Leben!«

Sofja Matwejewna stockte auf einmal und wurde ganz verlegen.

»Davon verstehe ich nichts zu erzählen,« erwiderte sie beinahe weinend, »und ich habe auch beinah nichts davon begriffen.«

»Du lügst! Es ist unmöglich, daß du nichts begriffen hast.«

»Von einer brünetten, vornehmen Dame erzählte er lange,« berichtete Sofja Matwejewna tief errötend; übrigens bemerkte sie, daß Warwara Petrowna blondes Haar hatte und jener Brünette absolut unähnlich war.

»Von einer Brünette? Was erzählte er denn? Nun, sprich!«

»Diese vornehme Dame sei in ihn sehr verliebt gewesen, das ganze Leben lang, zwanzig Jahre hindurch; aber sie habe immer nicht gewagt sich zu entdecken und habe sich vor ihm geschämt, weil sie schon sehr korpulent gewesen sei.«

»Der Dummkopf!« sagte Warwara Petrowna nachdenklich, aber kurz und entschieden.

Sofja Matwejewna weinte nun schon vollständig.

»Ich verstehe das nicht ordentlich zu erzählen, weil ich selbst in großer Angst um ihn war und nicht begreifen konnte, was er sagte, da er ein so kluger Mann ist ...«

»Ob er klug ist, darüber hat ein so dummes Frauenzimmer wie du kein Urteil. Hat er dir seine Hand angeboten?«

Die Erzählerin fing an zu zittern.

»Hat er sich in dich verliebt? Sprich! Hat er dir seine Hand angeboten?« schrie Warwara Petrowna.

»Beinah kam es so heraus,« erwiderte jene weinend. »Aber ich hielt das alles nicht für Ernst, wegen seiner Krankheit,« fügte sie hinzu und schlug mit festem Blicke die Augen in die Höhe.

»Wie heißt du, mit Vor- und Vatersnamen?«

»Sofja Matwejewna.«

»Nun, so wisse denn, Sofja Matwejewna, daß dies das kläglichste, hohlste Menschlein ist ... O Gott, o Gott, du hältst mich wohl für eine nichtswürdige Person?«

Die andere riß erstaunt die Augen auf.

»Für eine nichtswürdige Person, für eine Tyrannin, die ihm das Leben verdorben hat?«

»Wie könnte ich so etwas denken, da Sie doch selbst weinen!«

Warwara Petrowna hatte wirklich die Augen voll Tränen.

»Nun, setz dich, setz dich, fürchte dich nicht! Sieh mir noch einmal in die Augen, gerade in die Augen; warum bist du so rot geworden? Dascha, komm einmal her und sieh sie an: was meinst du, hat sie ein reines Herz? ...«

Und zu Sofja Matwejewnas Erstaunen, vielleicht sogar zu ihrem noch größeren Schreck, klopfte sie ihr plötzlich auf die Backe.

»Schade nur, daß du eine Närrin bist. Närrischer, als man es nach deinem Lebensalter erwarten sollte. Nun gut, liebes Kind; ich werde für dich sorgen. Ich sehe, daß das alles dummes Zeug ist. Wohne einstweilen hier in der Nähe; es soll eine Wohnung für dich gemietet werden, und auch Beköstigung sowie alles andere wirst du von mir erhalten ... mittlerweile werde ich mich näher nach dir erkundigen.«

Sofja Matwejewna stotterte erschrocken, sie müsse ihre Reise baldigst fortsetzen.

»Du brauchst nirgend hinzureisen. Deine Bücher kaufe ich dir alle ab; bleib du nur hier! Schweig, ohne Widerrede! Wenn ich nicht gekommen wäre, hättest du ihn ja doch nicht verlassen?«

»Nein, um keinen Preis hätte ich ihn verlassen,« erwiderte Sofja Matwejewna leise in festem Tone und wischte sich die Tränen ab.

Doktor Salzfisch kam erst spät in der Nacht. Er war ein sehr achtbarer alter Herr und ein recht erfahrener Praktiker, der kürzlich bei uns wegen einer Verletzung seines Ehrgefühls mit seiner vorgesetzten Behörde in Streit geraten war und infolgedessen seine amtliche Stellung verloren hatte. Gleich von dieser Zeit an hatte Warwara Petrowna ihn aus aller Kraft zu protegieren begonnen. Er untersuchte den Kranken sorgfältig, stellte die nötigen Fragen und eröffnete der ungeduldig harrenden Warwara Petrowna, der Zustand des Patienten sei infolge einer eingetretenen Komplikation der Krankheit sehr bedenklich, und man müsse sich sogar auf das Schlimmste gefaßt machen. Warwara Petrowna, die sich in zwanzig Jahren völlig in den Gedanken hineingelebt hatte, in nichts, was von Stepan Trofimowitsch persönlich ausgehe, könne etwas Ernstes und Entscheidendes enthalten sein, war tief erschüttert; sie wurde sogar blaß.

»Ist wirklich keine Hoffnung mehr?«

»Man kann nicht sagen, daß absolut keine Hoffnung mehr wäre, aber ...«

Sie legte sich die ganze Nacht nicht schlafen und konnte kaum den Morgen erwarten. Sobald der Kranke die Augen aufschlug und zu sich kam (er war zu jener Zeit noch bei Bewußtsein, wiewohl er von Stunde zu Stunde schwächer wurde), trat sie mit sehr entschlossener Miene zu ihm:

»Stepan Trofimowitsch, man muß auf alles vorher bedacht sein. Ich habe nach dem Geistlichen geschickt. Sie haben eine Pflicht zu erfüllen ...«

Da sie seine Überzeugungen kannte, so fürchtete sie sehr eine Weigerung. Er sah sie erstaunt an.

»Unsinn, Unsinn!« rief sie, da sie meinte, er weigere sich bereits. »Jetzt ist nicht die richtige Zeit für leichtfertige Streiche. Sie haben genug Torheiten getrieben.«

»Aber ... bin ich etwa schon so krank?«

Er willigte nachdenklich ein. Und überhaupt erfuhr ich später von Warwara Petrowna mit großem Erstaunen, daß er sich vor dem Tode gar nicht gefürchtet habe. Vielleicht glaubte er einfach nicht an die Nähe desselben und hielt seine Krankheit immer noch für unbedeutend.

Er beichtete und kommunizierte sehr bereitwillig. Alle, auch Sofja Matwejewna und sogar die Diener, kamen, um ihm zum Empfange des heiligen Abendmahles Glück zu wünschen. Alle ohne Ausnahme weinten still beim Anblicke seines abgemagerten, welken Gesichtes und seiner blassen, zuckenden Lippen.

»Oui, mes amis, und ich wundere mich nur, daß Sie sich soviel Mühe und Sorge machen. Morgen werde ich wahrscheinlich aufstehen, und wir ... werden wegfahren ... Toute cette cérémonie ... vor der ich natürlich alle gebührende Achtung habe ... war ...«

»Ich bitte Sie, Väterchen, jedenfalls bei dem Kranken zu bleiben,« sagte Warwara Petrowna zu dem Geistlichen, der bereits seinen Ornat abgelegt hatte, um fortzugehen. »Sobald Tee gebracht wird, bitte ich Sie, jedenfalls ein religiöses Gespräch zu beginnen, um seinen Glauben zu stärken.«

Der Geistliche sagte zu; alle saßen oder standen um das Bett des Kranken herum.

»In unserer sündigen Zeit«, begann der Geistliche, mit der Teetasse in der Hand, in gleichmäßigem Tone, »ist der Glaube an den Allerhöchsten die einzige Zuflucht des Menschengeschlechtes in allen Leiden und Nöten des Lebens; und ebenso ist die zuversichtliche Hoffnung auf die den Gerechten verheißene ewige Seligkeit ...«

Stepan Trofimowitsch schien wieder ganz lebhaft zu werden; ein feines Lächeln spielte auf seinen Lippen.

»Mon père, je vous remercie, et vous êtes bien bon, mais ...«

»Gar kein mais, überhaupt kein mais!« rief Warwara Petrowna, von ihrem Stuhle auffahrend. »Väterchen,« wandte sie sich an den Geistlichen, »das, das ist ein solcher Mensch, das ist ein solcher Mensch ... nach einer Stunde wird er noch einmal beichten müssen! Sehen Sie, so ein Mensch ist das!«

Stepan Trofimowitsch lächelte ruhig.

»Meine Freunde,« sagte er, »Gott ist schon darum für mich notwendig, weil dies das einzige Wesen ist, das man lebenslänglich lieben kann ...«

Ob er in Wirklichkeit gläubig geworden war, oder ob die erhabene Zeremonie der Vollziehung des Sakramentes ihn ergriffen und die künstlerische Empfänglichkeit seiner Natur angeregt hatte, mag dahingestellt bleiben; aber er sprach in festem Tone und, wie man sagt, mit vielem Gefühl einige Worte, die in direktem Widerspruch zu vielem standen, wovon er früher überzeugt gewesen war.

»Meine Unsterblichkeit ist schon deswegen mit Notwendigkeit anzunehmen, weil Gott nicht ein Unrecht begehen und das einmal in meinem Herzen entbrannte Feuer der Liebe zu Ihm nicht wird ganz auslöschen wollen. Und was ist kostbarer als die Liebe? Die Liebe steht höher als das Dasein; die Liebe ist die Krone des Daseins, und wie wäre es möglich, daß das Dasein ihr nicht untertan sein sollte? Wenn ich Ihn liebgewonnen und mich über meine Liebe gefreut habe, ist es da möglich, daß Er mich und meine Freude auslöschen und uns in ein Nichts verwandeln sollte? Wenn Gott existiert, so bin auch ich unsterblich! Voilà ma profession de foi.«

»Gott existiert, Stepan Trofimowitsch; ich versichere Ihnen, daß Er existiert,« sagte Warwara Petrowna in flehendem Tone. »Wenn Sie doch wenigstens einmal im Leben all Ihre Dummheiten aufgeben und von sich werfen wollten!« (Sie hatte, wie es scheint, seine profession de foi nicht ganz verstanden.)

»Meine Freundin,« sagte er, immer lebhafter werdend, obgleich ihm die Stimme häufig versagte, »meine Freundin, da ich diese Geschichte von der darzubietenden Backe verstanden habe, so habe ich zugleich auch noch einiges verstanden. J'ai menti tonte ma vie, mein ganzes, ganzes Leben lang! Ich möchte gern ... übrigens morgen ... Morgen werden wir alle wegfahren.«

Warwara Petrowna fing an zu weinen. Er suchte jemand mit den Augen.

»Da ist sie, hier ist sie!« sagte sie, indem sie Sofja Matwejewna an der Hand nahm und zu ihm führte. Er lächelte gerührt.

»Oh, ich möchte gern wieder leben!« rief er mit einem starken Anschwellen der Energie. »Jede Minute, jeder Augenblick des Lebens muß dem Menschen Glückseligkeit sein ... unfehlbar Glückseligkeit sein! Das so einzurichten, ist die eigene Pflicht des Menschen; das ist sein Gesetz, ein verborgenes, aber mit Sicherheit existierendes Gesetz ... Oh, ich würde gern Peter noch einmal sehen ... und sie alle ... auch Schatow!«

Ich bemerke, daß über Schatow noch niemand etwas wußte, weder Darja Pawlowna noch Warwara Petrowna, nicht einmal Salzfisch, der zuletzt aus der Stadt gekommen war.

Stepan Trofimowitsch regte sich in krankhafter Weise immer mehr auf, mehr als ihm gut war.

»Schon der stete Gedanke daran, daß etwas unermeßlich viel Gerechteres und Glücklicheres existiert als ich, erfüllt mein ganzes Wesen mit unermeßlicher Rührung und – mit einem unermeßlichen Hochgefühl, oh, wer ich auch immer gewesen sein und was ich auch immer getan haben mag! Weit notwendiger als das eigene Glück ist es für den Menschen, zu wissen und jeden Augenblick daran zu glauben, daß es irgendwo bereits für alle und jeden ein vollkommenes, ruhiges Glück gibt ... Das ganze Gesetz des menschlichen Daseins besteht nur darin, daß der Mensch sich immer vor etwas unermeßlich Hohem beugen kann. Wenn man die Menschen des unermeßlich Hohen beraubt, so werden sie nicht am Leben bleiben, sondern in Verzweiflung sterben. Das Unermeßliche und Unendliche ist dem Menschen ebenso notwendig wie der kleine Planet, auf dem er wohnt ... O meine Freunde, Sie alle, alle: es lebe der Große Gedanke! Der ewige, unermeßliche Gedanke! Jeder Mensch, wer er auch sei, muß sich vor der Tatsache beugen, daß der Große Gedanke existiert. Sogar für den dümmsten Menschen ist wenigstens irgend etwas Großes ein notwendiges Lebensbedürfnis. Peter ... Oh, wie gern möchte ich sie alle wiedersehen! Sie wissen nicht, sie wissen nicht, daß auch in ihnen derselbe ewige Große Gedanke verborgen liegt!«

Doktor Salzfisch war bei der heiligen Handlung nicht zugegen gewesen. Als er jetzt eintrat, bekam er einen Schreck und trieb die Versammlung auseinander, indem er darauf bestand, der Kranke müsse vor Aufregung bewahrt werden.

Stepan Trofimowitsch verschied drei Tage darauf, aber bereits in völliger Bewußtlosigkeit. Er erlosch still wie ein zu Ende gebranntes Licht. Warwara Petrowna ließ das Totenamt für ihn an Ort und Stelle halten und überführte dann den Körper ihres armen Freundes nach Skworeschniki. Sein Grab befindet sich auf dem die Kirche umgebenden Friedhöfe und ist bereits mit einer Marmorplatte bedeckt. Die Anbringung einer Inschrift und die Aufstellung eines Gitters sind bis zum Frühjahr verschoben.

Warwara Petrownas Abwesenheit aus der Stadt dauerte im ganzen acht Tage. Mit ihr zusammen, neben ihr im Wagen sitzend, kam auch Sofja Matwejewna an, um, wie es scheint, für immer bei ihr zu wohnen. Ich bemerke, daß, sowie Stepan Trofimowitsch das Bewußtsein verloren hatte (was noch an demselben Vormittage geschah), Warwara Petrowna sofort Sofja Matwejewna wieder entfernte, ganz aus dem Hause hinaus, und den Kranken persönlich und allein bis zu seinem Ende pflegte, daß sie sie aber, sowie er den Geist aufgegeben hatte, wieder herbeirief. Sofja Matwejewna war über den Vorschlag (richtiger: Befehl), für immer nach Skworeschniki überzusiedeln, sehr erschrocken; aber Warwara Petrowna wollte auf keine Einwendungen hören.

»Das ist lauter dummes Zeug! Ich werde selbst mit dir zusammen Neue Testamente verkaufen gehen. Ich habe jetzt niemand mehr auf der Welt.«

»Sie haben ja doch noch Ihren Sohn,« bemerkte Salzfisch.

»Ich habe keinen Sohn!« erwiderte Warwara Petrowna kurz, – und das war gewissermaßen eine Prophezeiung.


 << zurück weiter >>