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Sechstes Kapitel

Die mühevolle Nacht

 

I

Wirginski hatte im Laufe des Tages ein paar Stunden darauf verwandt, bei den sämtlichen »Unsrigen« herumzulaufen und sie davon zu benachrichtigen, daß Schatow aller Wahrscheinlichkeit nach nicht denunzieren werde, da seine Frau zurückgekehrt sei und ein Kind bekommen habe; »auf Grund der Kenntnis des menschlichen Herzens« sei nicht anzunehmen, daß er in diesem Augenblicke gefährlich sein könne. Aber zu seiner unangenehmen Überraschung traf er außer Erkel und Ljamschin niemand zu Hause. Erkel hörte ihn schweigend an und sah ihm klar in die Augen; auf die direkte Frage, ob er denn nun doch um sechs Uhr hingehen werde, antwortete er mit demselben klaren Lächeln, selbstverständlich werde er hingehen.

Ljamschin lag, anscheinend sehr ernstlich krank, im Bette und hatte sogar den Kopf in die Decke eingehüllt. Vor dem eintretenden Wirginski bekam er einen großen Schreck, und sobald dieser zu reden anfing, machte er mit den Händen unter der Decke hervor abwehrende Bewegungen und bat flehentlich, er möchte ihn in Ruhe lassen. Indes hörte er die Nachrichten über Schatow alle an; aber über die Mitteilung, daß niemand zu Hause sei, war er aus irgendwelchem Grunde außerordentlich betroffen. Es stellte sich auch heraus, daß er über Fedkas Tod bereits unterrichtet war (durch Liputin), und er erzählte selbst seinem Besucher Wirginski eilig in unzusammenhängender Weise von dieser Sache, wodurch er seinerseits letzteren in Unruhe versetzte. Auf Wirginskis direkte Frage aber, ob man unter diesen Umständen hingehen solle oder nicht, begann er auf einmal wieder unter starken Gestikulationen zu beteuern, er könne nichts dafür und wisse von nichts, und zu bitten, man möge ihn in Ruhe lassen.

Niedergeschlagen und in starker Aufregung kehrte Wirginski nach Hause zurück; peinlich war ihm auch, daß er die Angelegenheit vor seiner Familie geheimhalten mußte; er war gewohnt, alles seiner Frau mitzuteilen, und wenn nicht in seinem entzündeten Gehirn in diesem Augenblicke ein neuer Gedanke, ein neuer, versöhnender Plan für die weitere Tätigkeit aufgeblitzt wäre, so hätte er sich vielleicht ebenso wie Ljamschin ins Bett gelegt. Aber der neue Gedanke verlieh ihm wieder Kraft; ja er wartete nun sogar mit Ungeduld auf das Heranrücken der bestimmten Stunde und brach sogar früher, als nötig gewesen wäre, zu dem Rendezvousplatze auf.

Es war dies ein sehr düsterer Ort am Ende des gewaltigen Stawroginschen Parkes. Ich bin später expreß hingegangen, um ihn mir anzusehen; was für einen unheimlichen Eindruck muß er erst an jenem rauhen Herbstabend gemacht haben! Hier begann der alte fiskalische Wald; die riesigen alten Fichten hoben sich als undeutliche dunkle Flecke in der Finsternis ab. Die Finsternis war so groß, daß man einander kaum auf zwei Schritt erkennen konnte; aber Peter Stepanowitsch, Liputin und dann auch Erkel brachten Laternen mit. Man weiß nicht, wozu und wann vor undenklicher Zeit hier aus rohen, unbehauenen Steinen eine ziemlich lächerlich aussehende Grotte erbaut worden ist. Der Tisch und die Bänke im Innern der Grotte waren schon längst verfault und auseinandergefallen. Etwa zweihundert Schritte rechts davon endete der dritte Parkteich. Diese drei Teiche, die dicht beim Hause begannen, zogen sich, einer nach dem andern, über eine Werst weit hin, bis ganz zum Ende des Parkes. Es war schwer anzunehmen, daß irgendwelcher Lärm, ein Schrei oder selbst ein Schuß zu den Bewohnern des fast verlassenen Stawroginschen Hauses hätte dringen können. Nachdem am vorhergehenden Tage Nikolai Wsewolodowitsch abgereist war und auch Alexei Jegorowitsch sich entfernt hatte, waren im ganzen Hause nicht mehr als fünf oder sechs Bewohner zurückgeblieben, die sämtlich sozusagen etwas Invalides hatten. Jedenfalls konnte man mit größter Wahrscheinlichkeit annehmen, daß, wenn auch einer von diesen einsamen Bewohnern ein Geschrei oder einen Hilferuf hören sollte, dies doch nur Furcht erregen, keiner von ihnen aber sich zum Zwecke der Hilfeleistung vom warmen Ofen und der warmen Ofenbank wegrühren werde.

Zwanzig Minuten nach sechs hatten sich bereits alle an dem Versammlungsplatze eingefunden, mit Ausnahme des zu Schatow abkommandierten Erkel. Peter Stepanowitsch verspätete sich diesmal nicht; er kam mit Tolkatschenko. Tolkatschenko machte ein finsteres, sorgenvolles Gesicht; seine ganze erkünstelte, frech prahlerische Entschlossenheit war verschwunden. Er wich fast nicht von Peter Stepanowitschs Seite, bekundete auf einmal eine grenzenlose Ergebenheit gegen diesen und flüsterte ihm häufig und eifrig etwas zu; der aber antwortete ihm fast gar nicht oder murmelte ärgerlich etwas, um von ihm loszukommen.

Schigalew und Wirginski waren sogar etwas früher erschienen als Peter Stepanowitsch und gingen bei dessen Erscheinen sogleich in tiefem und offenbar absichtlichem Schweigen ein wenig beiseite. Peter Stepanowitsch hob die Laterne in die Höhe und musterte sie mit ungenierter, beleidigender Aufmerksamkeit. »Die wollen etwas sagen,« ging es ihm schnell durch den Kopf.

»Ist Ljamschin nicht da?« fragte er Wirginski. »Wer sagte doch, daß er krank sei?«

»Ich bin hier,« antwortete Ljamschin, der plötzlich hinter einem Baume hervortrat.

Er trug einen warmen Überzieher und hatte sich fest in ein Plaid gewickelt, so daß es selbst mit einer Laterne schwer war, sein Gesicht zu erkennen.

»Also fehlt nur Liputin.«

Liputin trat schweigend aus der Grotte heraus. Peter Stepanowitsch hob wieder die Laterne in die Höhe.

»Warum haben Sie sich da versteckt? Weshalb sind Sie nicht herausgekommen?«

»Ich nehme an, daß wir alle das Recht haben, uns nach Gutdünken zu bewegen,« murmelte Liputin, übrigens wahrscheinlich ohne selbst recht zu wissen, was er sagen wollte.

»Meine Herren,« begann Peter Stepanowitsch mit erhobener Stimme und unterbrach so zum ersten Male das bisherige halbe Geflüster, was einen starken Eindruck machte. »Ich glaube, Sie wissen recht wohl, daß wir jetzt keinen Anlaß haben, noch zu schwatzen. Alles ist gestern klar und deutlich gesagt und wiederholt worden. Aber vielleicht wünscht jemand, wie ich an den Gesichtern sehe, eine Erklärung abzugeben; in diesem Falle bitte ich, es schnell zu tun. Hol's der Teufel, wir haben wenig Zeit; Erkel kann ihn jeden Augenblick bringen ...«

»Er wird ihn jedenfalls bringen,« fügte Tolkatschenko hinzu.

»Wenn ich nicht irre, wird zuerst die Übergabe der Druckerei stattfinden?« erkundigte sich Liputin; auch jetzt schien er selbst nicht zu wissen, warum er die Frage stellte.

»Nun, selbstverständlich dürfen die Sachen nicht verloren gehen,« versetzte Peter Stepanowitsch und hob die Laterne zu seinem Gesichte in die Höhe. »Aber wir sind ja gestern alle übereingekommen, daß die faktische Übergabe nicht nötig ist. Mag er Ihnen nur den Fleck zeigen, wo er sie vergraben hat; ausgraben können wir sie dann selbst. Ich weiß, daß es hier irgendwo zehn Schritte von einer Ecke dieser Grotte entfernt ist ... Aber hol's der Teufel, wie haben Sie das nur vergessen können, Liputin? Es war doch verabredet, daß Sie ihm allein entgegengehen und wir erst nachher herauskommen sollten! ... Sonderbar, daß Sie erst noch solche Fragen stellen; oder tun Sie es nur so zwecklos?«

Liputin schwieg mit finsterer Miene. Der Wind schaukelte die Wipfel der Fichten.

»Ich hoffe doch, meine Herren, daß ein jeder seine Pflicht tun wird,« sagte Peter Stepanowitsch heftig und ungeduldig.

»Ich weiß, daß Schatows Frau zu ihm gekommen ist und ein Kind bekommen hat,« begann Wirginski auf einmal; er war in großer Aufregung, überhastete sich, so daß er die Worte nicht ordentlich aussprach, und gestikulierte heftig, »Auf Grund der Kenntnis des menschlichen Herzens kann man überzeugt sein, daß er jetzt nicht denunzieren wird ... weil er glücklich ist ... Daher bin ich heute bei allen gewesen, habe allerdings nur wenige getroffen. Ich möchte meinen, daß vielleicht jetzt überhaupt nichts nötig ist ...«

Er hielt inne; der Atem stockte ihm.

»Wenn Sie, Herr Wirginski, auf einmal glücklich würden,« erwiderte Peter Stepanowitsch, auf ihn zutretend, »würden Sie dann – nicht eine Denunziation, davon kann nicht die Rede sein, sondern irgendeine gewagte, einem Bürger wohlanstehende Tat aufschieben, die Sie sich vor dem Glücke vorgenommen hätten, und die Ihnen trotz der Gefahr, das Glück zu verlieren, als Ihre Pflicht und Schuldigkeit erschiene?«

»Nein, ich würde sie nicht aufschieben! Unter keinen Umständen würde ich sie aufschieben!« versetzte mit ganz sinnlosem Eifer Wirginski, dessen ganzer Körper in Bewegung geriet.

»Sie würden eher wieder unglücklich werden wollen als ein Schuft?«

»Ja, ja ... Ich würde sogar ganz im Gegenteil ... ich würde lieber ein vollständiger Schuft sein wollen ... das heißt nein ... ein Schuft überhaupt nicht, sondern im Gegenteil: ich würde lieber vollständig unglücklich sein wollen als ein Schuft.«

»Nun, so wissen Sie denn, daß Schatow diese Denunziation nach seiner tiefsten Überzeugung für eine ihm als Bürger wohlanstehende Tat hält; der Beweis dafür ist, daß er selbst der Behörde gegenüber bis zu einem gewissen Grade Gefahr läuft, wiewohl man ihm gewiß zum Dank für die Denunziation vieles verzeihen wird. Ein solcher Mensch tritt unter keinen Umständen von seinem Vorhaben zurück. Kein Glück kann ihn davon abbringen; nach Verlauf eines Tages kommt er zur Besinnung, macht sich Vorwürfe, geht hin und führt seine Absicht aus. Überdies sehe ich gar kein Glück darin, daß seine Frau nach drei Jahren zu ihm gekommen ist, um ein Stawroginsches Kind zu gebären.«

»Aber es hat ja niemand die Denunziation gesehen,« äußerte Schigalew plötzlich mit großem Nachdruck.

»Ich habe die Denunziation gesehen,« rief Peter Stepanowitsch; »sie ist vorhanden, und dieses ganze Gerede jetzt ist sehr dumm, meine Herren!«

»Aber ich,« brauste Wirginski auf, »ich protestiere ... ich protestiere aus aller Kraft ... Ich will ... Was ich will, ist dies: ich will, daß, wenn er kommt, wir alle heraustreten und ihn alle fragen, und daß wir, wenn es wahr ist und er es bereut, das annehmen und ihn, wenn er sein Ehrenwort gibt, loslassen. Jedenfalls ist ein ordentliches Gericht nötig; es muß gerichtsmäßig verfahren werden. Aber daß wir uns alle verstecken und dann über ihn herfallen, das ist nicht das Richtige.«

»Auf ein Ehrenwort hin die gemeinsame Sache gefährden, das ist der Gipfel der Torheit! Hol's der Teufel, wie dumm ist das alles jetzt, meine Herren! Und was wollen Sie jetzt im Augenblicke der Gefahr für eine Rolle spielen?«

»Ich protestiere, ich protestiere,« wiederholte Wirginski.

»Schreien Sie wenigstens nicht; sonst hören wir das Signal nicht. Schatow, meine Herren ... (Hol's der Teufel, wie dumm das jetzt ist!). Ich habe Ihnen schon gesagt, daß Schatow Slawophile ist, das heißt einer der dümmsten Menschen ... Übrigens, zum Teufel, das ist ganz gleichgültig und schert uns nichts! Sie machen mich nur ganz wirr! ... Schatow, meine Herren, war ein verbitterter Mensch, und da er trotzdem, ob nun gern oder ungern, zu unserer Gesellschaft gehörte, so hoffte ich bis zum letzten Augenblick, es würde möglich sein, ihn zum Besten der gemeinsamen Sache zu benutzen und ihn in seiner Eigenschaft als verbitterter Mensch zu verwenden. Ich habe ihn geschont trotz der striktesten Vorschriften ... Ich habe ihn hundertmal mehr geschont, als er verdiente! Aber nun hat er zu guter Letzt eine Denunziation aufgesetzt; pfui Teufel! ... Und nun versuche es einmal einer von Ihnen, sich jetzt davonzuschleichen! Keiner von Ihnen ist berechtigt, die gemeinsame Sache im Stich zu lassen! Sie können sich mit ihm küssen, wenn Sie wollen; aber dadurch, daß Sie einem Ehrenworte vertrauen, die gemeinsame Sache preiszugeben, dazu sind Sie nicht berechtigt! So handeln Lumpe und von der Regierung erkaufte Subjekte!«

»Wer ist denn hier von der Regierung erkauft?« fragte Liputin mürrisch.

»Sie vielleicht. Sie würden besser tun zu schweigen, Liputin; Sie reden ja doch nur, um zu reden, aus Angewohnheit. Erkauft, meine Herren, sind alle diejenigen, die sich im Augenblicke der Gefahr feige benehmen. Aus Furcht findet sich immer ein Dummkopf, der im letzten Augenblicke hinläuft und schreit: ›Ach, begnadigt mich, und ich will alle angeben!‹ Aber seien Sie sich darüber klar, meine Herren, daß Sie jetzt durch keine Denunziation mehr Begnadigung erlangen werden. Wenn man Ihnen auch eine Milderung der Strafe um zwei Stufen bewilligt, so blüht doch einem jeden von Ihnen Sibirien, und außerdem werden Sie auch einem anderen Schwerte nicht entgehen. Und dieses andere Schwert ist schärfer als das der Regierung.«

Peter Stepanowitsch war in Wut und sprach manches Ungehörige. Schigalew trat mit Festigkeit drei Schritte auf ihn zu.

»Seit gestern abend habe ich die Sache überdacht,« begann er im Tone der Überzeugung und, wie immer, in seiner methodischen Manier (ich glaube, wenn die Erde unter ihm eingestürzt wäre, so hätte er selbst dann den Ton seiner Stimme nicht verstärkt und die Akkuratesse seiner methodischen Darlegung auch nicht um ein Pünktchen vermindert.) »Bei dieser Überlegung bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß der beabsichtigte Mord nicht nur den Verlust kostbarer Zeit bedeutet, die zur Erreichung wichtigerer und näherliegender Ziele verwendet werden könnte, sondern sich überdies auch als ein verderbliches Abweichen von dem normalen Wege darstellt, das der Sache stets den größten Schaden gebracht und ihren Erfolg um Jahrzehnte verzögert hat, indem man sich dem Einflusse leichtfertiger Menschen und insbesondere politischer Intriganten unterwarf statt demjenigen reiner Sozialisten. Ich bin hier erschienen, einzig und allein um zur Belehrung aller gegen das beabsichtigte Unternehmen zu protestieren und mich dann im gegenwärtigen Augenblicke, den Sie, ich weiß nicht warum, den Augenblick der Gefahr nennen, zu entfernen. Ich gehe fort, nicht aus Furcht vor dieser Gefahr und nicht aus Sympathie für Schatow, mit dem mich zu küssen ganz und gar nicht in meiner Absicht liegt, sondern einzig und allein weil diese ganze Sache von Anfang bis zu Ende meinem Programme vollständig zuwiderläuft. Was etwaige Besorgnisse anlangt, ich könnte denunzieren oder mich von der Regierung erkaufen lassen, so können Sie ganz beruhigt sein: ich werde nicht denunzieren.«

Er drehte sich um und ging weg.

»Hol's der Teufel, er wird ihnen begegnen und Schatow warnen!« rief Peter Stepanowitsch und zog seinen Revolver heraus.

Man hörte das Knacken vom Spannen des Hahnes. »Sie können überzeugt sein,« sagte Schigalew, sich noch einmal umwendend, »daß, wenn ich Schatow auf dem Wege treffen sollte, ich ihn vielleicht grüßen, aber ihn nicht warnen werde.«

»Aber wissen Sie auch wohl, daß Sie mir für dieses Verhalten vielleicht werden büßen müssen, Herr Fourier?«

»Ich bitte Sie, zu beachten, daß ich kein Fourier bin. Dadurch, daß Sie mich mit diesem süßlichen, abstrakten Faselhans in einen Topf werfen, zeigen Sie nur, daß mein Manuskript, obwohl Sie es in Händen gehabt haben, Ihnen doch völlig unbekannt geblieben ist. Was Ihre Rache anlangt, so muß ich Ihnen sagen, daß Sie den Hahn ganz zwecklos gespannt haben; in diesem Augenblicke ist das für Sie durchaus unvorteilhaft. Wenn Sie mir aber für morgen oder für übermorgen drohen, so werden Sie außer überflüssigen Sorgen und Mühen auch wiederum nichts für sich dadurch gewinnen, daß Sie mich erschießen: Sie können mich töten, werden aber doch früher oder später auf mein System herauskommen. Leben Sie wohl!«

In diesem Augenblicke ertönte in einer Entfernung von etwa zweihundert Schritten aus dem Parke von der Seite des Teiches her ein Pfiff. Liputin antwortete, gemäß der Abrede vom vorhergehenden Tage, sofort ebenfalls mit einem Pfiffe (zu diesem Zwecke hatte er sich, da er sich auf seinen ziemlich zahnlosen Mund nicht verlassen konnte, schon am Morgen auf dem Markte für eine Kopeke ein tönernes Kinderpfeifchen gekauft). Erkel hatte zu Schatow schon vorher gesagt, es werde gepfiffen werden, so daß bei diesem kein Argwohn entstehen konnte.

»Seien Sie unbesorgt; ich werde um die beiden seitwärts herumgehen, und sie werden mich überhaupt nicht bemerken,« flüsterte Schigalew beruhigend.

Und darauf begab er sich ohne Eile, und ohne seinen Schritt zu beschleunigen, endgültig durch den dunklen Park nach Hause.

Jetzt ist es vollständig, bis in die kleinsten Einzelheiten bekannt, wie dieses schreckliche Ereignis sich abgespielt hat. Zuerst trat Liputin den beiden Ankömmlingen Erkel und Schatow dicht bei der Grotte entgegen; Schatow grüßte ihn nicht und reichte ihm nicht die Hand, sondern sagte sogleich eilig und laut:

»Nun, wo haben Sie denn hier einen Spaten, und haben Sie nicht noch eine zweite Laterne? Fürchten Sie nichts; hier umher ist keine Menschenseele, und die Leute in Skworeschniki würden es jetzt nicht hören, selbst wenn hier mit Kanonen geschossen würde. Hier ist es, hier, an dieser Stelle ...«

Er stieß mit dem Fuße auf die Erde, wirklich gerade zehn Schritte von einer hinteren Ecke der Grotte, nach dem Walde zu. Gerade in diesem Augenblicke stürzte Tolkatschenko, hinter einem Baum hervorspringend, sich von hinten auf ihn, und Erkel packte ihn von hinten an den Ellbogen. Liputin fiel von vorn über ihn her. Alle drei warfen ihn sofort zu Boden und drückten ihn auf die Erde nieder. Nun sprang Peter Stepanowitsch mit seinem Revolver hinzu. Es wird erzählt, Schatow habe noch die Möglichkeit gehabt, den Kopf zu ihm hinzuwenden, ihn zu sehen und zu erkennen. Drei Laternen beleuchteten die Szene. Schatow stieß plötzlich einen kurzen, verzweifelten Schrei aus; aber zu weiterem Schreien ließ man ihm nicht Zeit: Peter Stepanowitsch setzte ihm den Revolver genau und fest, gerade von vorn, gegen die Stirn und drückte ihn ab. Der Schuß tönte, wie es scheint, nicht sehr laut; wenigstens hörte man in Skworeschniki nichts davon. Schigalew, der kaum dreihundert Schritte weggegangen war, hörte natürlich sowohl den Schrei als auch den Schuß, drehte sich aber nach seiner eigenen späteren Aussage nicht um und blieb nicht einmal stehen. Der Tod trat fast augenblicklich ein. Die volle Fähigkeit, die weiteren Anordnungen zu treffen, bewahrte sich nur Peter Stepanowitsch; daß er auch kaltblütig geblieben wäre, möchte ich nicht glauben. Sich niederkauernd durchsuchte er eilig, aber mit fester Hand die Taschen des Ermordeten. Geld fand sich nicht (das Portemonnaie war unter Marja Ignatjewnas Kopfkissen geblieben). Es fanden sich zwei oder drei wertlose Papiere: ein Zettel mit Kontornotizen, das Titelblatt eines Buches und eine alte ausländische Wirtshausrechnung, die Gott weiß wie zwei Jahre lang in seiner Tasche stecken geblieben war. Diese Papiere steckte Peter Stepanowitsch in seine eigene Tasche, und da er auf einmal bemerkte, daß alle starr dastanden, den Leichnam anblickten und nichts taten, so begann er ärgerlich und unhöflich zu schimpfen und sie anzutreiben. Zur Besinnung kommend, liefen Tolkatschenko und Erkel davon und brachten im Nu aus der Grotte zwei Steine, die sie dort schon am Vormittag niedergelegt hatten; jeder wog etwa zwanzig Pfund und war bereits zurechtgemacht, das heißt fest und haltbar mit Stricken umwunden. Da in Aussicht genommen war, den Leichnam nach dem nächsten (dem dritten) Teiche zu tragen und ihn dort zu versenken, so machte man sich daran, ihm diese Steine an die Füße und an den Hals zu binden. Das Anbinden besorgte Peter Stepanowitsch, während Tolkatschenko und Erkel nur die Steine und Stricke hielten und sie ihm einer nach dem andern hinreichten. Zuerst tat dies Erkel, und während Peter Stepanowitsch brummend und schimpfend mit einem Stricke die Füße des Leichnams zusammenschnürte und an ihnen diesen ersten Stein anband, hielt Tolkatschenko seinen Stein diese ganze ziemlich lange Zeit über in den Händen, wobei er sich mit dem ganzen Oberkörper stark und gleichsam respektvoll vorbeugte, um ihn unverzüglich auf das erste Verlangen hin darzureichen; es kam ihm gar nicht in den Sinn, seine Last inzwischen auf die Erde zu legen. Als endlich beide Steine angebunden waren und Peter Stepanowitsch sich von der Erde erhob, um die Gesichter der Anwesenden zu mustern, da trug sich plötzlich etwas Seltsames, ganz Unerwartetes und für alle Überraschendes zu.

Wie schon gesagt, standen mit Ausnahme von Tolkatschenko und Erkel alle da, ohne etwas zu tun. Wirginski hatte zwar, als alle sich auf Schatow stürzten, dies ebenfalls getan, hatte aber Schatow nicht angefaßt und nicht geholfen, ihn festzuhalten. Ljamschin hatte sich erst nach dem Schusse zu der Gruppe gesellt. Darauf waren sie alle die ganze Zeit über, während der Leichnam zurechtgemacht wurde, was wohl zehn Minuten dauerte, eines Teiles ihres Bewußtseins beraubt gewesen. Sie standen um den Leichnam herum und schienen nicht sowohl Unruhe und Aufregung als vielmehr nur Erstaunen zu empfinden. Liputin stand ganz vorn, dicht bei dem Leichname. Wirginski stand hinter ihm und sah ihm mit einer besonderen Art von Neugier, als ob er unbeteiligt wäre, über die Schulter; er hob sich sogar auf die Fußspitzen, um besser zu sehen. Ljamschin versteckte sich hinter Wirginski, schaute nur selten und furchtsam hinter ihm hervor und verbarg sich immer sogleich wieder. Als die Steine angebunden waren und Peter Stepanowitsch sich aufrichtete, fing Wirginski auf einmal am ganzen Körper leise zu zittern an, schlug die Hände zusammen und rief traurig mit lauter Stimme:

»Das ist nicht das Richtige, nicht das Richtige! Nein, das ist gar nicht das Richtige!«

Er hätte vielleicht noch etwas zu seinem so spät kommenden Ausruf hinzugefügt; aber Ljamschin ließ ihn nicht weitersprechen; auf einmal umfaßte er ihn mit aller Kraft, preßte ihn von hinten zusammen und kreischte dabei in einer ganz unnatürlichen Weise. Es kommen Augenblicke eines starken Affekts, zum Beispiel des Schreckens, vor, wo der Mensch auf einmal mit einer fremdartigen Stimme aufschreit, mit einer Stimme, wie man sie bei ihm von vornherein gar nicht voraussetzen konnte, und das macht manchmal einen geradezu furchtbaren Eindruck. Ljamschin schrie nicht mit menschlicher, sondern mit einer Art von tierischer Stimme. Immer fester und fester, sich krampfhaft anstrengend, preßte er von hinten Wirginski mit seinen Armen zusammen; er kreischte ohne Pause und Unterbrechung, starrte alle mit weit aufgerissenen Augen an, machte den Mund weit auf und stampfte heftig mit den Füßen auf die Erde, als ob er auf ihr einen Trommelwirbel ausführen wolle. Wirginski war so erschrocken, daß er selbst wie von Sinnen aufschrie, und suchte in einer so grimmigen Wut, wie man sie bei ihm gar nicht hätte erwarten können, sich aus Ljamschins Armen loszureißen, wobei er ihn kratzte und stieß, soweit er mit den Armen nach hinten reichen konnte. Erkel half ihm schließlich, Ljamschin loszureißen. Aber als Wirginski voller Angst zehn Schritte beiseite gesprungen war, erblickte Ljamschin plötzlich Peter Stepanowitsch, heulte von neuem auf und stürzte sich nun auf diesen. Über den Leichnam stolpernd, fiel er über diesen hinweg auf Peter Stepanowitsch und umpackte diesen so fest mit seinen Armen, indem er sich mit seinem Kopfe gegen dessen Brust drückte, daß weder Peter Stepanowitsch noch Tolkatschenko noch Liputin im ersten Augenblicke etwas dagegen tun konnten. Peter Stepanowitsch schrie, schimpfte und schlug ihn mit den Fäusten auf den Kopf; als er sich endlich mit Not und Mühe losgerissen hatte, ergriff er seinen Revolver und richtete ihn gerade auf den offenen Mund des immer noch heulenden Ljamschin, den nun Tolkatschenko, Erkel und Liputin fest an den Armen gefaßt hatten; aber Ljamschin heulte trotz des Revolvers immer weiter. Schließlich ballte Erkel sein Taschentuch zusammen und stopfte es ihm geschickt in den Mund; auf diese Weise hörte das Schreien auf. Tolkatschenko hatte ihm inzwischen mit einem übriggebliebenen Ende Strick die Hände zusammengebunden.

»Das ist sehr sonderbar,« sagte Peter Stepanowitsch, der erstaunt und beunruhigt den Verrückten betrachtete.

Er war sichtlich betroffen.

»Ich hatte ihn ganz anders beurteilt,« fügte er nachdenklich hinzu.

Einstweilen ließ man Erkel bei ihm. Man mußte sich mit dem Toten beeilen: es war so viel Geschrei gewesen, daß es doch irgendwo gehört sein konnte. Tolkatschenko und Peter Stepanowitsch hoben die Laternen in die Höhe und faßten den Leichnam unter den Kopf. Liputin und Wirginski griffen nach den Beinen; so trugen sie ihn. Mit den beiden Steinen war die Last ziemlich schwer, und die Entfernung betrug mehr als zweihundert Schritte. Der Stärkste von allen war Tolkatschenko. Er riet, man solle Schritt halten; aber niemand antwortete ihm, und sie gingen, wie es sich gerade traf. Peter Stepanowitsch ging rechts und trug, ganz gebückt, den Kopf des Toten auf seiner Schulter; mit der linken Hand hielt er von unten den Stein. Da Tolkatschenko auf der ganzen ersten Hälfte des Weges nicht auf den Gedanken kam, beim Halten des Steines zu helfen, so schrie ihm Peter Stepanowitsch dies schließlich mit einem Schimpfworte zu. Dieses Zuschreien war ein plötzliches und vereinzeltes; dann trugen sie alle wieder schweigend, und erst dicht am Teiche rief Wirginski, der unter der Last gebeugt ging und von ihrem Gewichte matt geworden zu sein schien, auf einmal wieder mit ebenso lauter, weinerlicher Stimme wie vorher:

»Das ist nicht das Richtige, nein, nein, das ist gar nicht das Richtige!«

Der Ort, wo dieser dritte, ziemlich große Teich von Skworeschniki endete, und nach dem sie den Ermordeten hintrugen, war eine der ödesten und am wenigsten besuchten Stellen des Parkes, besonders in dieser späten Jahreszeit. Der Teich war an diesem Ende beim Ufer mit Gras durchwachsen. Die Laternen wurden hingestellt, der Leichnam geschwenkt und ins Wasser geworfen. Es erscholl ein dumpfer, lange nachhallender Ton. Peter Stepanowitsch hob eine Laterne in die Höhe; hinter ihm standen die andern, und alle spähten mit gespanntem Interesse, wie der Tote versinken würde; aber es war nichts mehr zu sehen: der Körper mit den beiden Steinen war sogleich untergegangen. Die starken Streifen, die über die Oberfläche des Wassers hinliefen, erstarben bald. Die Sache war beendet.

»Meine Herren,« wandte sich Peter Stepanowitsch an alle, »jetzt werden wir uns trennen. Ohne Zweifel empfinden Sie jenen freien Stolz, der mit der Erfüllung einer freien Pflicht verknüpft ist. Sollten Sie aber jetzt zu meinem Bedauern für solche Gefühle zu aufgeregt sein, so werden Sie das ohne Zweifel morgen empfinden, wo es schon eine Schande sein würde, es nicht zu empfinden. Ljamschins schmähliche Aufregung bin ich bereit als Fieberwahn anzusehen, um so mehr da er, wie ich höre, wirklich schon am Vormittag krank gewesen ist. Ihnen aber, Wirginski, wird ein Augenblick unbefangenen Nachdenkens zeigen, daß, wo das Interesse der gemeinsamen Sache in Frage kommt, man nicht im Vertrauen auf ein Ehrenwort handeln darf, sondern genau so handeln muß, wie wir es getan haben. Die Folgezeit wird Ihnen zeigen, daß eine Denunziation wirklich vorgelegen hat. Ich bin bereit, Ihre Äußerungen von vorhin zu vergessen. Was Gefahr anlangt, so ist eine solche aller Voraussicht nach nicht vorhanden. Niemandem wird es in den Sinn kommen, einen von Ihnen zu verdächtigen, besonders wenn Sie selbst es verstehen werden, sich richtig zu benehmen; so wird die Hauptsache von Ihnen selbst abhängen und von Ihrer vollständigen Überzeugung, daß wir recht getan haben, einer Überzeugung, in der Sie sich, wie ich hoffe, schon morgen befestigen werden. Eben darum unter anderm haben Sie sich ja zu einer besonderen, wohlorganisierten freien Vereinigung von Gesinnungsgenossen zusammengeschlossen, um zum Besten der gemeinsamen Sache im gegebenen Augenblick einer dem andern seine Energie mitzuteilen und, wenn es nötig sein sollte, einer den andern zu beobachten und zu kontrollieren. Jeder von Ihnen ist zu genauester Rechenschaft verpflichtet. Sie sind dazu berufen, altersschwache, durch langen Stillstand verfaulte Einrichtungen zu erneuern; halten Sie sich das immer zur Belebung Ihres Mutes vor Augen. Jede Ihrer Handlungen hat vorläufig zum Ziele, daß alles zusammenstürzt: sowohl der Staat als auch seine Moral. Nur wir werden übrigbleiben, die wir uns von vornherein zur Übernahme der Gewalt bestimmt haben: die Verständigen werden wir auf unsere Seite herüberziehen, und auf den Dummen werden wir herumreiten. Darüber müssen Sie sich klar sein. Wir müssen die jetzige Generation durch Erziehung umbilden, um sie der Freiheit würdig zu machen. Wir organisieren uns, um die Leitung zu übernehmen; wir müßten uns schämen, wenn wir nicht mit starker Hand nach alledem greifen wollten, was untätig daliegt und uns von selbst mit aufgesperrtem Maule dazu einladet. Ich werde sogleich zu Kirillow gehen, und morgen früh werde ich von ihm jenes Schriftstück erhalten, in welchem er kurz vor seinem Tode in Gestalt einer an die Regierung gerichteten Erklärung alles auf sich nimmt. Nichts kann wahrscheinlicher sein als eine solche Kombination. Erstens war er mit Schatow verfeindet; sie hatten zusammen in Amerika gelebt, also Zeit gehabt, sich miteinander zu zanken. Es ist notorisch, daß Schatow seinen früheren Anschauungen untreu geworden war; also beruhte ihre Feindschaft auf Verschiedenheit der Anschauungen und auf Furcht vor Denunziation, war somit die unversöhnlichste, die es überhaupt gibt. All das wird in dieser Weise niedergeschrieben werden. Endlich wird darin noch erwähnt werden, daß Fedka bei ihm im Filippowschen Hause Unterkunft gehabt hat. Auf diese Weise wird das alles jeden Verdacht von Ihnen völlig fernhalten, da es all diese Schafsköpfe ganz wirr im Kopfe machen wird. Morgen, meine Herren, werden wir uns nicht sehen; ich unternehme für ganz kurze Zeit eine Reise in den Kreis. Aber übermorgen werden Sie von mir Mitteilungen erhalten. Ich würde Ihnen raten, speziell morgen zu Hause zu bleiben. Jetzt wollen wir uns alle paarweis auf verschiedenen Wegen entfernen. Sie, Tolkatschenko, bitte ich, sich Ljamschins anzunehmen und ihn nach Hause zu bringen. Sie können auf ihn einwirken und ihm namentlich auseinandersetzen, wie sehr er in erster Linie sich selbst durch seinen Kleinmut schadet. An Ihrem Verwandten Schigalew, Herr Wirginski, will ich ebensowenig zweifeln wie an Ihnen selbst: er wird nicht denunzieren. Sein Verhalten bleibt sehr bedauerlich; aber er hat doch noch nicht erklärt, daß er aus unserer Gemeinschaft ausscheide, und daher ist es noch zu früh, ihn zu begraben. Nun schnell, meine Herren; wenn unsere Gegner auch Schafsköpfe sind, so kann Vorsicht doch nicht schaden ...«

Wirginski ging mit Erkel zusammen fort. Bevor Erkel Ljamschin an Tolkatschenko übergab, führte er ihn noch zu Peter Stepanowitsch hin und teilte diesem mit, Ljamschin sei zur Besinnung gekommen, bereue, bitte um Verzeihung und könne sich nicht einmal erinnern, was eigentlich mit ihm vorgegangen sei. Peter Stepanowitsch ging allein und schlug einen Umweg auf der andern Seite der Teiche am Park entlang ein. Dieser Weg war der längste. Zu seiner Verwunderung holte ihn auf halbem Wege Liputin ein.

»Peter Stepanowitsch, Ljamschin wird denunzieren!«

»Nicht doch; er wird zur Besinnung kommen und sich sagen, daß er als erster würde nach Sibirien gehen müssen, wenn er denunzierte! Jetzt wird niemand denunzieren. Auch Sie werden es nicht tun.«

»Und Sie?«

»Ohne Zweifel werde ich Sie alle beiseite schaffen, sobald Sie Miene machen, Verrat zu begehen, und Sie wissen das. Aber Sie werden keinen Verrat begehen. Sind Sie mir darum zwei Werst nachgelaufen?«

»Peter Stepanowitsch, Peter Stepanowitsch, wir werden uns vielleicht nie wiedersehen!«

»Wie kommen Sie auf einen solchen Gedanken?«

»Sagen Sie mir nur eines!«

»Nun, was? Übrigens wünsche ich, daß Sie sich davonscheren.«

»Nur eine einzige Antwort, aber eine wahre: sind wir das einzige Fünferkomitee auf der Welt, oder ist es richtig, daß noch mehrere hundert Fünferkomitees existieren? Ich frage vom höchsten Gesichtspunkte aus, Peter Stepanowitsch.«

»Das sehe ich an Ihrer hochgradigen Aufregung. Aber wissen Sie auch wohl, Liputin, daß Sie gefährlicher sind als Ljamschin?«

»Ich weiß, ich weiß; aber – die Antwort, Ihre Antwort!«

»Sie sind ein dummer Mensch! Gerade jetzt, möchte ich meinen, kann Ihnen das ganz gleichgültig sein, ob es ein Fünferkomitee gibt oder tausend.«

»Also nur eines! Das hatte ich doch gewußt!« rief Liputin. »Ich habe es diese ganze Zeit her gewußt, daß es nur eines gibt, bis auf diesen Augenblick ...«

Und ohne eine andere Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verschwand schnell in der Dunkelheit.

Peter Stepanowitsch dachte ein wenig nach.

»Nein, es wird keiner denunzieren,« sagte er in entschiedenem Tone vor sich hin. »Aber die Gruppe muß zusammenbleiben und gehorchen, oder ich will sie ... Ach, ist das aber eine jämmerliche Gesellschaft!«

 

II

Er ging zuerst nach seiner Wohnung und packte sorgsam und ohne Hast seinen Koffer. Um sechs Uhr morgens ging ein Sonderzug. Dieser frühe Sonderzug ging nur einmal in der Woche und war erst kürzlich eingerichtet worden, zunächst nur probeweise. Obgleich Peter Stepanowitsch den »Unsrigen« angekündigt hatte, daß er auf kurze Zeit eine Reise innerhalb des Kreises machen wolle, so waren doch, wie sich in der Folge herausstellte, seine Absichten ganz andere. Als er mit dem Koffer fertig war, erledigte er seine Abrechnung mit der Wirtin, die er schon vorher benachrichtigt hatte, und fuhr mit einer Droschke zu Erkel, der nahe beim Bahnhofe wohnte. Und dann erst, kurz vor ein Uhr nachts, begab er sich zu Kirillow, zu dem er sich wieder auf Fedkas geheimem Wege Zugang verschaffte.

Peter Stepanowitschs Stimmung war schauderhaft. Außer anderen für ihn sehr wichtigen Unannehmlichkeiten (er hatte immer noch nichts über Stawrogin in Erfahrung bringen können) hatte er, wie es scheint (denn eine bestimmte Behauptung kann ich nicht aussprechen), im Laufe des Tages irgendwoher, am wahrscheinlichsten aus Petersburg, eine geheime Nachricht über eine Gefahr erhalten, die ihm in nächster Zeit drohe. Allerdings sind über diese Zeit bei uns in der Stadt jetzt sehr viele Legenden in Umlauf, und selbst wenn etwas Sicheres bekannt ist, so wissen es doch wohl nur diejenigen, die damit amtlich zu tun haben. Ich meinerseits bin persönlich der Ansicht, daß Peter Stepanowitsch auch irgendwo außerhalb unserer Stadt Geschäfte haben und von daher tatsächlich eine Benachrichtigung erhalten konnte. Ich bin sogar trotz des von Liputin geäußerten dreisten, argen Zweifels überzeugt, daß er tatsächlich noch zwei oder drei Fünferkomitees außer den »Unsrigen« haben konnte, zum Beispiel in den Hauptstädten, und wenn nicht Fünferkomitees, so doch Verbindungen und Beziehungen und vielleicht sogar von sehr merkwürdiger Art. Erst drei Tage nach seiner Abreise ging bei uns in der Stadt aus der Hauptstadt der Befehl ein, ihn unverzüglich zu verhaften, wofür eigentlich, ob für Dinge, die er bei uns begangen hatte, oder für andere, das weiß ich nicht. Dieser Befehl steigerte damals gerade noch das quälende Gefühl einer beinah mystischen Angst, das sich unserer Obrigkeit und der bis dahin in so hartnäckigem Leichtsinn befangenen Gesellschaft beim Bekanntwerden der geheimnisvollen, bedeutsamen Ermordung des Studenten Schatow und der außerordentlich rätselhaften Begleitumstände bemächtigt hatte, einer Mordtat, die das Maß der bei uns vorgekommenen unerhörten Dinge voll machte. Aber der Befehl kam zu spät: Peter Stepanowitsch befand sich damals schon unter fremdem Namen in Petersburg; dort spürte er, wie die Sache stand, und entwischte im Nu ins Ausland – Aber ich greife gar zu sehr vor.

Er trat bei Kirillow mit böser, ärgerlicher Miene ein. Er wollte, wie es schien, abgesehen von der Hauptsache, mit Kirillow noch persönlich ein Hühnchen pflücken, sich für etwas an ihm rächen. Kirillow freute sich anscheinend über sein Kommen; offenbar hatte er schon sehr lange und mit schmerzlicher Ungeduld auf ihn gewartet. Sein Gesicht war ungewöhnlich blaß, der Blick der schwarzen Augen starr und unbeweglich.

»Ich dachte schon, Sie würden gar nicht mehr kommen,« sagte er mit schwerfälliger Stimme von der Sofaecke aus, aus der er sich übrigens nicht rührte, um den Besuch zu begrüßen.

Peter Stepanowitsch trat vor ihn hin und blickte ihm, ehe er ein Wort sprach, forschend ins Gesicht.

»Also ist alles in Ordnung, und wir werden von unserem Vorhaben nicht zurücktreten, Sie tapferer Held!« sagte er mit einem beleidigenden, gönnerhaften Lächeln. »Nun, was macht das?« fügte er mit häßlicher Scherzhaftigkeit hinzu; »wenn ich mich verspätet habe, so können Sie sich darüber nicht beklagen: ich habe Ihnen ja dadurch drei Stunden geschenkt!«

»Ich will von Ihnen keine Stunden dazugeschenkt haben, und Sie können mir nichts schenken, Sie Dummkopf!«

»Wie?« wollte Peter Stepanowitsch auffahren; aber er bezwang sich sofort wieder. »Ist das eine Empfindlichkeit! Ei, ei, sind wir so wütend?« fuhr er langsam und deutlich fort, immer mit derselben Miene beleidigenden Hochmutes. »In einem solchen Augenblicke dürfte vielmehr Ruhe vonnöten sein. Am besten wär's, wenn Sie sich jetzt für einen Kolumbus hielten und auf mich wie auf eine Maus herabblickten, die Sie nicht beleidigen könne. Das hatte ich Ihnen schon gestern empfohlen.«

»Ich will nicht auf Sie wie auf eine Maus herabblicken.«

»Was soll das heißen? Soll es ein Kompliment sein? Übrigens ist auch Ihr Tee kalt; also geht bei Ihnen alles drunter und drüber. Nein, da ist eine gewisse Unzuverlässigkeit zu spüren. Ah! Da sehe ich etwas auf dem Fensterbrett, auf einem Teller« (er trat an das Fenster heran). »Oho, ein gekochtes Huhn mit Reis! ... Aber warum ist noch nicht davon gegessen? Also haben Sie sich in einer solchen Stimmung befunden, daß sogar ein Huhn ...«

»Ich habe gegessen, und das ist nicht Ihre Sache; schweigen Sie!«

»Oh, gewiß, und es ist ja auch ganz egal. Aber für mich ist das jetzt nicht ganz egal: denken Sie sich: ich habe fast gar nicht zu Mittag gegessen, und darum, wenn Sie jetzt dieses Huhn, wie ich annehme, nicht mehr nötig haben, wie?«

»Essen Sie es, wenn Sie können!«

»Nun, dann danke ich Ihnen; aber dann auch Tee!«

Er richtete sich im Nu am Tische in der anderen Sofaecke ein und machte sich mit außerordentlichem Appetit ans Essen, beobachtete aber gleichzeitig alle Augenblicke sein Opfer. Kirillow sah ihn mit zornigem Widerwillen unverwandt an, wie wenn er nicht imstande wäre, seinen Blick von ihm loszureißen.

»Aber«, rief Peter Stepanowitsch plötzlich, ohne mit Essen aufzuhören, »wollen wir zur Sache kommen? Also wir treten nicht zurück, nicht wahr? Und das Schriftstück?«

»Ich bin heute nacht zu dem Schlusse gelangt, daß mir alles egal ist. Ich werde es niederschreiben. Über die Proklamationen?«

»Ja, auch über die Proklamationen. Ich werde es Ihnen übrigens diktieren. Ihnen ist es ja ganz egal. Wie könnte Sie denn auch der Inhalt in einem solchen Augenblicke beunruhigen!«

»Das ist nicht Ihre Sache.«

»Gewiß, das ist nicht meine Sache. Übrigens sind nur ein paar Zeilen erforderlich: daß Sie mit Schatow Proklamationen verbreitet haben, unter anderm mit Beihilfe Fedkas, der sich in Ihrer Wohnung verborgen gehalten habe. Dieser letzte Punkt über Fedka und die Wohnung ist sehr wichtig, sogar der wichtigste. Sie sehen, ich bin gegen Sie ganz offenherzig.«

»Mit Schatow? Warum mit Schatow? Über Schatow schreibe ich um keinen Preis etwas.«

»Na aber! Was haben Sie denn? Schaden können Sie ihm dadurch nicht mehr.«

»Seine Frau ist zu ihm gekommen. Sie wachte vorhin auf und schickte zu mir, um fragen zu lassen, wo er wäre.«

»Sie hat sich bei Ihnen erkundigen lassen, wo er wäre? Hm ... das paßt nicht in meinen Kram. Da wird sie womöglich noch einmal herschicken; es darf aber niemand wissen, daß ich hier bin ...«

Peter Stepanowitsch geriet in Unruhe.

»Sie wird es nicht erfahren; sie schläft wieder; die Hebamme ist bei ihr, Arina Wirginskaja.«

»So so, und ... sie wird es nicht erfahren, hoffe ich? Wissen Sie, Sie sollten Ihre Haustür zuschließen.«

»Sie wird nichts erfahren. Und wenn Schatow kommt, werde ich Sie in jenes Zimmer dort verstecken.«

»Schatow wird nicht kommen; schreiben Sie, daß Sie mit ihm wegen seines Verrates und wegen seiner Denunziation in Streit geraten seien ... heute abend ... und daß Sie an seinem Tode schuld seien.«

»Er ist tot!« rief Kirillow und sprang vom Sofa auf.

»Heute abend zwischen sieben und acht, oder richtiger gestern abend zwischen sieben und acht, da es jetzt schon ein Uhr ist.«

»Sie haben ihn ermordet! ... Das habe ich gestern geahnt!«

»Das war nicht schwer zu ahnen. Sehen Sie, mit diesem Revolver« (er zog den Revolver heraus, anscheinend, um ihn zu zeigen; aber er steckte ihn nicht wieder ein, sondern behielt ihn schußbereit in der rechten Hand). »Sie sind aber doch ein sonderbarer Mensch, Kirillow; Sie haben doch selbst gewußt, daß es mit diesem dummen Menschen ein solches Ende nehmen mußte. Was war da noch viel zu ahnen? Ich habe Ihnen die Sache ja mehrmals auseinandergesetzt. Schatow bereitete eine Denunziation vor; ich spürte das aus; das durfte unter keinen Umständen geschehen. Und auch Ihnen war ja die Instruktion erteilt worden, ihn zu beobachten, und Sie selbst haben mir vor drei Wochen mitgeteilt ...«

»Schweigen Sie! Das haben Sie deswegen getan, weil er Ihnen in Genf ins Gesicht gespuckt hat!«

»Deswegen und aus anderen Gründen. Aus vielen anderen Gründen; übrigens ohne allen Groll. Warum sind Sie denn aufgesprungen? Was nehmen Sie denn für Posen ein? So meinen Sie das?«

Er sprang auf, hob den Revolver in die Höhe und hielt ihn vor sich hin. Die Sache war die, daß Kirillow auf einmal vom Fensterbrette seinen Revolver genommen hatte, den er schon am Vormittage in Bereitschaft gesetzt und geladen hatte. Peter Stepanowitsch stellte sich in Positur und richtete seine Waffe auf Kirillow. Dieser lachte höhnisch auf.

»Gestehen Sie nur, Sie Schuft, daß Sie Ihren Revolver hervorgeholt haben, weil Sie fürchteten, ich würde Sie erschießen ... Aber ich werde Sie nicht erschießen ... obgleich ... obgleich ...«

Er hob den Revolver gegen Peter Stepanowitsch in die Höhe, wie wenn er auf ihn zielte, wie wenn er sich nicht den Genuß versagen könnte, sich vorzustellen, daß er ihn erschösse. Peter Stepanowitsch, immer noch in Positur, wartete und wartete bis zum letzten Augenblicke, ohne den Hahn loszudrücken, obwohl er dabei riskierte, selbst zuerst eine Kugel in die Stirn zu bekommen: von dem »Schauspieler« konnte er sich dessen versehen. Aber der »Schauspieler« ließ schließlich die Hand sinken; er atmete mühsam, zitterte und war nicht imstande zu sprechen.

»Sie haben eine Szene aufgeführt; nun genug!« sagte Peter Stepanowitsch und ließ ebenfalls die Waffe sinken. »Ich wußte, daß Sie nur schauspielerten; aber wissen Sie, Sie liefen dabei Gefahr: ich konnte losdrücken.«

Er setzte sich ziemlich ruhig auf das Sofa und goß sich Tee ein, wobei ihm die Hand allerdings ein wenig zitterte. Kirillow legte den Revolver wieder auf das Fensterbrett und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Ich werde nicht schreiben, daß ich Schatow getötet hätte, und ... ich werde jetzt überhaupt nichts schreiben. Es wird kein Schriftstück geben.«

»Nicht?«

»Nein.«

»Was für eine Gemeinheit und was für eine Dummheit!« rief Peter Stepanowitsch, ganz grün vor Bosheit. »Ich hatte mir das übrigens vorhergedacht. Bilden Sie sich nicht ein, daß Sie mich damit überrumpeln! Aber wie Sie wollen! Wenn ich Sie mit Gewalt zwingen könnte, so würde ich es tun. Übrigens sind Sie ein Schuft,« fuhr Peter Stepanowitsch fort, der immer mehr die Herrschaft über sich verlor: »Sie haben uns damals um Geld gebeten und alles mögliche versprochen ... Aber ich will doch nicht ganz resultatlos weggehen; ich will wenigstens mit ansehen, wie Sie sich eine Kugel vor den Kopf schießen.«

»Ich will, daß Sie sofort weggehen,« sagte Kirillow und stellte sich ihm fest gegenüber.

»Nein, das tue ich bestimmt nicht,« versetzte Peter Stepanowitsch und griff wieder nach dem Revolver. »Jetzt kommt Ihnen womöglich aus Bosheit und Feigheit in den Sinn, alles aufzuschieben und morgen hinzugehen und zu denunzieren, um wieder ein Stück Geld zu bekommen; denn dafür bezahlt ja die Behörde Geld. Hol Sie der Teufel; solche Subjekte, wie Sie, sind zu allem fähig! Aber seien Sie unbesorgt; ich habe alles vorhergesehen: ich gehe nicht fort, ehe ich Ihnen nicht mit diesem Revolver ein Loch in den Schädel gemacht habe, wie dem Schuft Schatow, wenn Sie selbst feige sind und die Ausführung Ihrer Absicht aufschieben; hol Sie der Teufel!«

»Sie wollen unbedingt auch mein Blut sehen?«

»Nicht aus Bosheit; begreifen Sie das doch, daß es mir ganz gleichgültig ist! Ich will es, um für unsere Sache unbesorgt sein zu können. Auf einen Menschen kann man sich nicht verlassen; das sehen Sie selbst. Ich habe kein Verständnis dafür, woher bei Ihnen die phantastische Idee, sich das Leben zu nehmen, stammt. Ich habe sie Ihnen nicht ersonnen, sondern Sie selbst, noch vor der Bekanntschaft mit mir, und Sie haben davon nicht zuerst mir, sondern Mitgliedern im Auslande Kenntnis gegeben. Und wohl zu beachten: niemand von ihnen hat Sie ausgeforscht, niemand von ihnen hat Sie überhaupt gekannt; sondern Sie selbst sind aus Gefühlsüberschwenglichkeit gekommen und haben Ihr Herz ausgeschüttet. Nun, was sollen wir anfangen, wenn dies gleich damals mit Ihrer Zustimmung und auf Ihren Vorschlag (wohl zu beachten: auf Ihren Vorschlag) zur Basis eines bestimmten Planes für die hiesigen Operationen gemacht wurde, eines Planes, dessen Umänderung jetzt nicht mehr möglich ist? Sie sind schon zu einer Stellung gelangt, in der Sie gar zu viel von unseren Geheimnissen wissen. Wenn Sie es nun mit der Angst bekommen und morgen hingehen und denunzieren, so wird das möglicherweise für uns nicht vorteilhaft sein; meinen Sie nicht auch? Nein, Sie haben sich verpflichtet; Sie haben Ihr Wort gegeben; Sie haben Geld genommen. Das können Sie schlechterdings nicht leugnen ...«

Peter Stepanowitsch war sehr in Hitze geraten; aber Kirillow hörte schon längst nicht mehr zu. Er ging wieder nachdenklich im Zimmer auf und ab.

»Mir tut Schatow leid,« sagte er, von neuem vor Peter Stepanowitsch stehen bleibend.

»Er tut mir ja auch leid, nun ja; und ist denn wirklich ...«

»Schweigen Sie, Sie Schuft!« brüllte Kirillow und machte eine furchtbare, unzweideutige Bewegung. »Ich schlage Sie tot!«

»Nun, nun, nun, ich habe gelogen; ich gebe es zu; er tut mir gar nicht leid; nun, lassen Sie es gut sein, lassen Sie es gut sein!« sagte Peter Stepanowitsch, indem er ängstlich aufsprang und die Hand vor sich hinstreckte.

Kirillow wurde plötzlich wieder ruhig und nahm seine Wanderung wieder auf.

»Ich werde es nicht aufschieben; ich will mir gerade jetzt das Leben nehmen: alle Menschen sind Schufte!«

»Na, sehen Sie; das ist ein Gedanke; allerdings sind alle Menschen Schufte, und da es für einen ordentlichen Menschen ekelhaft ist, auf der Welt zu leben, so ...«

»Sie Dummkopf; ich bin ebenso ein Schuft wie Sie und wie alle und kein ordentlicher Mensch. Einen ordentlichen Menschen hat es nirgend gegeben.«

»Endlich hat er's erraten! Haben Sie wirklich bisher trotz Ihres Verstandes das nicht begriffen, daß alle Menschen von ein und derselben Sorte sind, und daß es keine besseren und schlechteren gibt, sondern nur klügere und dümmere, und daß, wenn alle Menschen Schufte sind (was übrigens Unsinn ist), niemand eine Ausnahme zu sein braucht?«

»Ah! Sie machen sich wirklich nicht über mich lustig?« fragte Kirillow, ihn einigermaßen verwundert ansehend. »Sie reden mit Wärme und einfach? ... Haben wirklich solche Leute, wie Sie, Überzeugungen?«

»Kirillow, ich habe nie begreifen können, warum Sie sich töten wollen. Ich weiß nur, daß Sie es infolge einer Überzeugung tun wollen, infolge einer festen Überzeugung. Aber wenn Sie das Bedürfnis verspüren, sozusagen Ihr Herz auszuschütten, so stehe ich zu Ihren Diensten ... Nur müssen wir dabei die Zeit im Auge behalten.«

»Was ist die Uhr?«

»Oh, gerade zwei,« antwortete Peter Stepanowitsch nach einem Blicke auf die Uhr und zündete sich eine Zigarette an.

»Es scheint, daß ich mich noch mit ihm werde einigen können,« dachte er bei sich.

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen,« murmelte Kirillow.

»Ich erinnere mich, daß Sie mir hier etwas von Gott sagten ... Sie haben es mir ein- oder sogar zweimal auseinandergesetzt. Wenn Sie sich erschießen, so werden Sie ja wohl ein Gott werden, nicht wahr?«

»Ja, ich werde ein Gott werden.«

Peter Stepanowitsch lächelte nicht einmal; er wartete; Kirillow sah ihn schlau an.

»Sie sind ein listiger Betrüger und Intrigant; Sie wollen mich auf die Philosophie bringen, mich in Enthusiasmus versetzen und eine Aussöhnung zustande bringen, um meinen Zorn zu verscheuchen und, wenn ich mich beschwichtigen lasse, die schriftliche Aussage zu verlangen, daß ich Schatow getötet habe.«

Peter Stepanowitsch antwortete beinah mit natürlicher Offenheit.

»Na, mag ich immerhin ein solcher Schuft sein; aber ist Ihnen in den letzten Augenblicken nicht alles egal, Kirillow? Nun, weswegen streiten wir uns eigentlich, sagen Sie selbst: Sie sind ein solcher Mensch und ich ein solcher; was folgt denn daraus? Und überdies sind wir alle beide ...«

»Schufte.«

»Ja, meinetwegen auch Schufte. Sie wissen ja, daß das nur Worte sind.«

»Mein ganzes Leben lang habe ich nicht gewollt, daß das nur Worte seien. Ich habe darum gelebt, weil ich das immer nicht wollte. Auch jetzt will ich jeden Tag, daß es nicht Worte seien.«

»Nun ja, ein jeder sucht sich den Ort, wo er es am besten hat. Der Fisch ... das heißt ein jeder sucht sich den Komfort, der ihm zusagt; das ist die ganze Sache. Das ist schon sehr lange bekannt.«

»›Komfort‹ sagten Sie?«

»Na, es lohnt sich nicht, über Worte zu streiten.«

»Nein, das haben Sie gut gesagt; bleiben wir bei ›Komfort‹. Gott ist notwendig, und darum muß er sein.«

»Nun, schön.«

»Aber ich weiß, daß er nicht existiert und nicht existieren kann.«

»Das ist richtiger.«

»Begreifen Sie wirklich nicht, daß ein Mensch mit diesen zwei Gedanken nicht unter den Lebenden bleiben kann?«

»Er muß sich also erschießen, wie?«

»Begreifen Sie wirklich nicht, daß man sich schon allein deshalb erschießen kann? Begreifen Sie nicht, daß es einen solchen Menschen geben kann, einen einzigen Menschen unter euren tausend Millionen, einen einzigen, der es nicht will und es nicht erträgt?«

»Ich begreife nur, daß Sie, wie es scheint, schwankend geworden sind ... Das ist sehr häßlich.«

»Stawrogin ist auch in die Gewalt einer Idee hineingeraten,« sagte Kirillow, der diese Bemerkung gar nicht gehört hatte und mit finsterer Miene im Zimmer auf und ab ging.

»Wie?« fragte Peter Stepanowitsch aufhorchend. »Was meinen Sie für eine Idee? Hat er selbst Ihnen etwas gesagt?«

»Nein, ich habe es selbst erraten: wenn Stawrogin glaubt, so glaubt er nicht, daß er glaubt. Wenn er aber nicht glaubt, so glaubt er nicht, daß er nicht glaubt.«

»Na, Stawrogin hat wohl andere Dinge im Kopfe, die klüger sind als das ...« murmelte Peter Stepanowitsch ärgerlich und verfolgte mit Unruhe die neue Wendung des Gespräches und den blassen Kirillow.

»Hol's der Teufel, er wird sich nicht erschießen,« dachte er. »Ich habe es immer geahnt; es ist eine Pose des Intellekts und weiter nichts; ach, dieses Lumpenpack!«

»Sie sind der Letzte, mit dem ich zusammen bin: ich möchte von Ihnen nicht im Bösen scheiden,« sagte Kirillow auf einmal in freundlichem Tone.

Peter Stepanowitsch antwortete nicht sogleich. »Hol's der Teufel, was ist das nun wieder?« dachte er von neuem.

»Glauben Sie mir, Kirillow, ich habe persönlich nichts gegen Sie als Menschen, und ich habe immer ...«

»Sie sind ein Schuft und ein verlogenes Subjekt. Aber ich bin ein ebensolcher Mensch wie Sie und werde mich erschießen; Sie aber werden am Leben bleiben.«

»Das heißt, Sie wollen sagen, ich sei so gemein, daß ich unter den Lebenden bleiben möchte.«

Er hatte noch nicht darüber ins klare kommen können, ob es vorteilhaft oder unvorteilhaft sei, ein solches Gespräch in einem solchen Augenblicke fortzusetzen, und entschied sich dafür, sich den Umständen anzupassen. Aber der Ton der Überlegenheit und der unverhohlenen Verachtung, die Kirillow stets gegen ihn an den Tag gelegt hatte, hatte ihn auch früher schon immer gereizt und reizte ihn aus einem bestimmten Grunde jetzt noch mehr als früher: vielleicht weil Kirillow, dem es bevorstand, nach ungefähr einer Stunde zu sterben (denn daran hielt Peter Stepanowitsch immer noch fest), ihm gewissermaßen nur als ein halber Mensch erschien, als ein Mensch, dem man keinen Hochmut gestatten dürfe.

»Sie prahlen, wie es scheint, mir gegenüber damit, daß Sie sich erschießen werden?«

»Ich habe mich immer darüber gewundert, daß die andern alle am Leben bleiben,« sagte Kirillow, der seine Bemerkung nicht gehört hatte.

»Hm! Allerdings, das ist ein Gedanke; aber ...«

»Sie Affe, Sie stimmen mir bei, damit ich Ihnen den Willen tue. Schweigen Sie; Sie verstehen nichts davon. Wenn es keinen Gott gibt, so bin ich ein Gott.«

»Sehen Sie, diesen Punkt habe ich bei Ihnen niemals begreifen können: warum sind Sie ein Gott?«

»Wenn Gott existiert, so ist aller Wille sein, und ich kann ohne seinen Willen nichts tun. Wenn er aber nicht existiert, so ist aller Wille mein, und ich bin verpflichtet, Eigenwillen zu bekunden.«

»Eigenwillen? Aber warum verpflichtet?«

»Weil aller Wille mein geworden ist. Wird denn wirklich niemand auf dem ganzen Planeten, nachdem er mit Gott ein Ende gemacht und an seinen Eigenwillen zu glauben angefangen hat, es wagen, Eigenwillen zu bekunden, und zwar im wichtigsten Punkte? Das ist, wie wenn ein armer Mensch eine Erbschaft gemacht hätte und sich nun fürchtete und nicht wagte, an den Geldsack heranzugehen, in der Meinung, er sei zu schwach, um davon Besitz zu ergreifen. Ich will Eigenwillen bekunden. Mag ich auch der einzige sein; aber ich werde es tun.«

»Nun, dann tun Sie es!«

»Ich bin verpflichtet, mich zu erschießen, weil dies der wichtigste Punkt meines Eigenwillens ist, mich selbst zu töten.«

»Aber Sie sind ja nicht der einzige, der sich tötet; es gibt viele Selbstmörder.«

»Die haben ihre Ursachen. Aber ohne jede Ursache, nur des Eigenwillens wegen, da bin ich der einzige.«

»Er wird sich nicht erschießen,« ging es Peter Stepanowitsch wieder durch den Kopf.

»Wissen Sie was?« bemerkte er in gereiztem Tone, »ich würde an Ihrer Stelle, um Eigenwillen zu bekunden, einen anderen töten und nicht mich selbst. Sie können sich nützlich machen. Ich werde Ihnen jemand zeigen, wenn Sie keine Furcht haben. Dann brauchen Sie sich meinetwegen heute nicht zu erschießen. Wir können uns einigen.«

»Einen anderen zu töten, das würde der niedrigste Punkt meines Eigenwillens sein; das wäre ganz in Ihrer Art. Ich bin Sie: ich will den höchsten Punkt und werde mich selbst töten.«

»Nun ist er von selbst darauf gekommen,« murmelte Peter Stepanowitsch boshaft vor sich hin.

»Ich bin verpflichtet, meinen Unglauben an den Tag zu legen,« fuhr Kirillow, im Zimmer auf und ab gehend, fort. »Es gibt für mich nichts Höheres als den Gedanken, daß es keinen Gott gibt. Für mich spricht die ganze Weltgeschichte. Der Mensch hat sich Gott nur ausgedacht, um leben zu können, ohne sich zu töten; darauf beruht die ganze Weltgeschichte bis auf den heutigen Tag. Ich bin in der Weltgeschichte der erste und einzige, der sich Gott nicht hat ausdenken wollen. Mögen die Menschen das ein für allemal erfahren.«

»Er wird sich nicht erschießen,« dachte Peter Stepanowitsch beunruhigt.

»Wer soll es denn erfahren?« fragte er, um ihn aufzuhetzen. »Hier ist weiter niemand als ich und Sie. Soll es etwa Liputin erfahren?«

»Alle sollen es erfahren; alle werden es erfahren ... Es gibt nichts Geheimes, das nicht offenbar werden wird. Das hat Er gesagt.«

Er wies in fieberhafter Ekstase nach dem Bilde des Erlösers, vor dem ein Lämpchen brannte. Peter Stepanowitsch wurde ganz wütend.

»An Ihn glauben Sie also immer noch und haben ein Lämpchen angezündet; wohl ›für alle Fälle‹?«

Der andere schwieg.

»Wissen Sie was? Meiner Ansicht nach glauben Sie womöglich noch fester als ein Pope.«

»An wen? An Ihn? Hören Sie,« sagte Kirillow, indem er stehen blieb und mit einem starren, verzückten Blicke vor sich hin sah. »Hören Sie einen großen Gedanken: es war auf der Erde ein Tag, und mitten auf der Erde standen drei Kreuze. Einer der Gekreuzigten glaubte so fest, daß er zu einem der andern sagte: ›Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.‹ Der Tag ging zu Ende, beide starben, gingen hin und fanden weder ein Paradies noch eine Auferstehung. Was der eine gesagt hatte, bewahrheitete sich nicht. Hören Sie: dieser Mensch war der höchste auf der ganzen Erde; er stellte das Ziel dar, zu dessen Erreichung sie leben sollte. Der ganze Planet, mit allem, was auf ihm ist, ist ohne diesen Menschen nur ein Wahnsinn. Weder vor Ihm noch nach Ihm hat es einen ebensolchen Menschen gegeben; er war geradezu ein Wunder. Das Wunder besteht eben darin, daß es einen ebensolchen nie gegeben hat und nie geben wird. Wenn dem aber so ist, wenn die Naturgesetze nicht einmal mit Ihm Mitleid gehabt, ihr eigenes Wunderwerk nicht geschont, sondern auch Ihn gezwungen haben, inmitten der Unwahrheit zu leben und für eine Unwahrheit zu sterben, dann ist der ganze Planet Unwahrheit und beruht auf Unwahrheit und dummer Verhöhnung. Mithin sind die Gesetze des Planeten selbst Unwahrheit und eine vom Teufel ersonnene Komödie. Wozu soll man also leben? Antworten Sie, wenn Sie ein Mensch sind!«

»Dadurch bekommt die Sache eine andere Wendung. Mir scheint, Sie haben hier zwei verschiedene Ursachen durcheinandergemischt; das ist aber ein sehr unzuverlässiges Verfahren. Aber erlauben Sie, wie nun, wenn Sie ein Gott sind? Wenn die Unwahrheit ein Ende genommen hat und Sie es richtig erraten haben, daß die ganze Unwahrheit daher stammte, daß der frühere Gott existierte?«

»Endlich haben Sie es begriffen!« rief Kirillow enthusiastisch. »Also kann man es doch begreifen, wenn sogar ein solcher Mensch, wie Sie, es begriffen hat! Jetzt werden Sie begreifen, daß die ganze Rettung für alle darin besteht, daß man allen diesen Gedanken zeigt. Aber wer wird ihn zeigen? Ich! Ich begreife nicht, wie bisher ein Atheist hat wissen können, daß es keinen Gott gibt, ohne sich doch sofort zu töten. Zu wissen, daß es keinen Gott gibt, und gleichzeitig nicht zu wissen, daß man selbst ein Gott geworden ist, das ist eine Absurdität; man tötet sich sonst unfehlbar selbst. Wenn man es weiß, dann ist man ein König und tötet sich nicht mehr selbst, sondern lebt in Pracht und Herrlichkeit. Aber einer, derjenige, der der erste ist, der muß sich unbedingt selbst töten; denn wer wird sonst den Anfang machen und es zeigen? Und so werde ich mich unfehlbar selbst töten, um den Anfang zu machen und es zu zeigen. Ich bin jetzt nur noch wider meinen Willen ein Gott, und ich bin unglücklich, weil ich verpflichtet bin, Eigenwillen zu zeigen. Alle sind unglücklich, weil alle sich fürchten, Eigenwillen zu zeigen. Eben darum ist der Mensch bisher so unglücklich und arm gewesen, weil er sich gefürchtet hat, in dem wichtigsten Punkte Eigenwillen zu zeigen, und nur so in Nebendingen Eigenwillen gezeigt hat wie ein Schulknabe. Ich bin schrecklich unglücklich, weil ich mich schrecklich fürchte. Die Furcht ist der Fluch des Menschen ... Aber ich werde Eigenwillen zeigen; ich bin verpflichtet zu glauben, daß ich nicht glaube. Ich werde den Anfang machen und das Ende bringen und die Tür öffnen. Ich werde der Retter sein. Nur dieses Eine wird alle Menschen retten und sie gleich in der folgenden Generation physisch umgestalten; denn in der jetzigen physischen Gestalt kann, soweit ich das einsehe, der Mensch ohne den früheren Gott nicht existieren. Drei Jahre lang habe ich nach dem Attribute meiner Göttlichkeit gesucht und es endlich gefunden: das Attribut meiner Göttlichkeit ist der Eigenwille! Das ist alles, wodurch ich im wichtigsten Punkte meine Unbotmäßigkeit und meine neue furchtbare Freiheit zeigen kann. Denn furchtbar ist sie in hohem Grade. Ich werde mich töten, um meine Unbotmäßigkeit und meine neue furchtbare Freiheit zu zeigen.«

Sein Gesicht war unnatürlich blaß, sein Blick unerträglich starr. Er war wie im Fieber. Peter Stepanowitsch dachte schon, er werde im nächsten Augenblick umfallen.

»Geben Sie eine Feder her!« rief Kirillow auf einmal ganz unerwartet in einem Zustande entschiedener Verzückung. »Diktieren Sie, ich werde alles niederschreiben und unterzeichnen. Auch daß ich Schatow getötet habe. Diktieren Sie, solange mir noch lächerlich zumute ist! Ich fürchte das Urteil hochmütiger Sklaven nicht! Bald werden Sie selbst sehen, daß alles Geheime offenbar werden wird! Aber Sie werden erdrückt werden ... Ich glaube! Ich glaube!«

Peter Stepanowitsch sprang von seinem Platze auf, reichte ihm im Nu Tinte und Papier und begann, den günstigen Augenblick benutzend und in zitternder Angst um das Gelingen, zu diktieren.

»Ich, Alexei Kirillow, erkläre ...«

»Halt! Das will ich nicht! Wem erkläre ich das?«

Sein ganzer Leib wurde wie vom Fieber geschüttelt. Dieser Ausdruck »Ich erkläre« und ein besonderer plötzlicher Gedanke, der sich daran knüpfte, schienen auf einmal seine ganze Aufmerksamkeit zu absorbieren, wie wenn das ein Ausweg wäre, nach dem sein gequälter Geist wenigstens für einen Augenblick ungestüm hinstürzte.

»Wem erkläre ich das? Ich will wissen wem.«

»Niemandem, allen, dem ersten besten, der es liest. Wozu soll man das näher bestimmen? Der ganzen Welt!«

»Der ganzen Welt? Bravo! Und Reue soll nicht darin vorkommen. Ich will nichts bereuen. Und ich will mich nicht an die Obrigkeit wenden!«

»Nein doch! Das ist ja auch nicht nötig; hole der Teufel die Obrigkeit! So schreiben Sie doch, wenn es Ihnen Ernst ist! ...« rief Peter Stepanowitsch in krankhafter Aufregung.

»Halt! Ich will eine Fratze mit herausgestreckter Zunge darüber zeichnen.«

»Ach, dummes Zeug!« erwiderte Peter Stepanowitsch ärgerlich. »Das kann man auch ohne Zeichnung durch den bloßen Ton zum Ausdruck bringen.«

»Durch den Ton? Das ist gut. Ja, durch den Ton, durch den Ton! Diktieren Sie es mit dem Ton!«

»Ich, Alexei Kirillow,« diktierte Peter Stepanowitsch mit fester, gebieterischer Stimme, indem er sich über Kirillows Schulter beugte und jeden Buchstaben verfolgte, den dieser mit seiner vor Aufregung zitternden Hand hinschrieb, »ich, Kirillow, erkläre, daß ich heute, am ... ten Oktober, zwischen sieben und acht Uhr abends, den Studenten Schatow im Parke getötet habe, wegen Verräterei und wegen einer Denunziation betreffend die Proklamationen und Fedka, welcher bei uns beiden im Filippowschen Hause zehn Tage lang gewohnt und genächtigt hat. Ich töte mich selbst heute mit einem Revolver, nicht weil ich Reue empfände oder vor jemand Furcht hätte, sondern weil ich schon im Auslande den Entschluß gefaßt hatte, mir das Leben zu nehmen.«

»Weiter nichts?« rief Kirillow erstaunt und unwillig.

»Kein Wort weiter!« versetzte Peter Stepanowitsch mit einer abwehrenden Handbewegung und suchte ihm das Schriftstück zu entreißen.

»Halt!« rief Kirillow und legte seine Hand fest auf das Papier; »halt, Unsinn! Ich will angeben, in welcher Absicht ich mich getötet habe. Und wozu ist da Fedka erwähnt? Und wie ist's mit der Feuersbrunst? Ich will alles schreiben, und dann will ich noch in kräftigem Tone schimpfen, jawohl, in kräftigem Tone!«

»Genug, Kirillow, ich versichere Ihnen, daß es ausreicht!« sagte, beinahe flehend, Peter Stepanowitsch, der vor Angst zitterte, der andere könnte das Blatt zerreißen. »Damit es Glauben findet, muß es möglichst dunkel gehalten sein, gerade so, mit bloßen Andeutungen. Man darf nur ein Zipfelchen von der Wahrheit zeigen, eben nur so viel, daß es diese Leute reizt. Denn sie belügen sich selbst immer mehr, als wir sie belügen, und ebenso glauben sie sicherlich sich selbst mehr als uns, und das ist ja das Allerbeste, das Allerbeste! Geben Sie her! So, wie es ist, ist es vorzüglich; geben Sie her, geben Sie her!«

Er bemühte sich, ihm das Blatt zu entreißen. Kirillow hatte mit weit aufgerissenen Augen zugehört und anscheinend versucht, sich die Sache im Kopfe zurechtzulegen; aber er schien nichts davon verstanden zu haben.

»Aber zum Teufel!« rief Peter Stepanowitsch auf einmal ärgerlich. »Er hat ja noch nicht unterschrieben! Warum reißen Sie denn die Augen so aus? Unterschreiben Sie doch!«

»Ich will schimpfen,« murmelte Kirillow, nahm jedoch die Feder und unterschrieb. »Ich will schimpfen ...«

»Schreiben Sie darunter: Vive la république, und damit basta!«

»Bravo!« brüllte Kirillow ganz entzückt. » Vive la république démocratique, sociale et universelle ou la mort! ... Nein, nein, so nicht! Liberté, égalité, fraternité ou la mort. Das ist noch besser, das ist noch besser!« Und mit sichtlichem Genuß schrieb er dies unter seine Namensunterschrift.

»Genug, genug!« sagte Peter Stepanowitsch noch einmal.

»Halt, noch ein paar Worte ... Wissen Sie, ich werde noch einmal auf Französisch darunter schreiben: › de Kirilloff, gentilhomme russe et citoyen du monde.‹ Ha-ha-ha!« lachte er laut auf. »Nein, nein, nein, halt; ich habe das Allerbeste gefunden, heureka: gentilhomme-séminariste russe et citoyen du monde civilisé! Das ist das Allerbeste ...« Er sprang vom Sofa auf, nahm mit einem schnellen Griffe den Revolver vom Fensterbrette, lief mit ihm in das andere Zimmer und machte die Tür hinter sich fest zu.

Peter Stepanowitsch stand ungefähr eine Minute lang nachdenklich da und blickte nach der Tür hin.

»Wenn er sofort zu einem Entschlusse kommt, dann erschießt er sich wohl; aber wenn er erst anfängt nachzudenken, dann wird nichts daraus werden.«

Er nahm vorläufig das Blatt Papier, setzte sich hin und sah es von neuem durch. Die Fassung der Erklärung gefiel ihm auch jetzt wieder.

»Was ist zunächst erforderlich? Sie müssen für eine Weile ganz wirr gemacht und von der richtigen Spur abgelenkt werden. Der Park? In der Stadt ist kein Park; nun, sie werden von selbst darauf kommen, daß der Park von Skworeschniki gemeint ist. Bis sie darauf kommen, wird Zeit vergehen; ebenso wird das Suchen Zeit in Anspruch nehmen; dann werden sie den Leichnam finden und daraus ersehen, daß die Angabe des Schriftstücks wahr ist, und folgern, daß auch alles andere wahr ist, auch das über Fedka Gesagte. Aber was hat es mit Fedka für eine Bewandtnis? Fedka, das bedeutet die Brandstiftung, die Ermordung der Lebjadkins: also ist alles von hier, von dem Filippowschen Hause, ausgegangen, und sie haben nichts bemerkt, haben alles übersehen, – das wird ihnen den Kopf ganz schwindlig machen! An die ›Unsrigen‹ zu denken wird ihnen gar nicht in den Sinn kommen; Schatow und Kirillow und Fedka und Lebjadkin, und warum sie einander totgeschlagen haben, – das wird für sie eine nette Rätselfrage sein. Aber zum Teufel, es ist ja kein Schuß zu hören! ...«

Obgleich er las und an der Fassung des Schriftstückes seine Freude hatte, horchte er doch jeden Augenblick in peinlicher Unruhe auf und wurde auf einmal zornig. Erregt blickte er auf die Uhr; es war schon ziemlich spät; und seit Kirillow weggegangen war, waren schon etwa zehn Minuten vergangen ... Er ergriff das Licht und ging zur Tür des Zimmers hin, in welchem Kirillow verschwunden war. Als er schon dicht an der Tür war, wurde er auf einmal darauf aufmerksam, daß die Kerze schon sehr weit herabgebrannt war und in etwa zwanzig Minuten ganz ausgehen mußte und keine andere da war. Er faßte die Klinke an und horchte vorsichtig; es war nicht das geringste Geräusch hörbar. Er öffnete die Tür und hob das Licht in die Höhe: da brüllte etwas auf und stürzte auf ihn los. Aus aller Kraft schlug er die Tür zu und drückte sich wieder horchend an sie; aber alles war schon ruhig geworden, und es herrschte wieder Totenstille.

Lange stand er unentschlossen mit dem Lichte in der Hand da. In der Sekunde, als er die Tür geöffnet hatte, hatte er sehr wenig unterscheiden können; aber er hatte doch flüchtig das Gesicht Kirillows gesehen, der im Hintergrunde des Zimmers am Fenster stand, und die tierische Wut bemerkt, mit der dieser plötzlich auf ihn losgestürzt war. Peter Stepanowitsch zuckte zusammen, stellte schnell das Licht auf den Tisch, setzte seinen Revolver in Bereitschaft und sprang auf den Zehen in die entgegengesetzte Ecke, so daß, wenn Kirillow die Tür öffnete und mit dem Revolver zum Tische eilte, er noch früher als dieser zielen und abdrücken konnte.

An den Selbstmord glaubte Peter Stepanowitsch jetzt gar nicht mehr.

»Er stand mitten im Zimmer und dachte nach,« ging es ihm wie ein Wirbelwind durch den Kopf. »Und dazu das dunkle, unheimliche Zimmer ... Er brüllte los und stürzte auf mich zu – da sind zwei Möglichkeiten: entweder habe ich ihn gerade in der Sekunde gestört, als er den Hahn abdrücken wollte, oder ... oder er stand und überlegte, wie er mich töten könnte. Ja, so ist es; das hat er überlegt ... Er weiß, daß ich nicht weggehen werde, ohne ihn getötet zu haben, wenn er selbst sich feige zeigt; also muß er mich zuerst töten, damit ich ihn nicht töte ... Und nun wieder dort diese Stille! Es ist geradezu unheimlich: auf einmal wird er die Tür aufmachen ... Eine Gemeinheit ist es, daß er fester an Gott glaubt als ein Pope ... Um keinen Preis wird er sich erschießen! ... Solcher Leute, die ›durch ihren eigenen Verstand dahin gelangt sind‹, gibt es jetzt eine große Menge. Dieses Lumpenpack! Pfui Teufel, das Licht, das Licht! Es wird in einer Viertelstunde sicher zu Ende gebrannt sein ... Ich muß ein Ende machen, um jeden Preis ein Ende machen ... Nur zu, töten kann ich ihn jetzt ohne Besorgnis; mit diesem Papier wird niemand denken, daß ich ihn getötet habe. Man kann ihn so auf den Fußboden legen und in die richtige Positur bringen, mit dem abgeschossenen Revolver in der Hand, daß sie unfehlbar glauben werden, er habe selbst ... Ach, zum Teufel, wie soll ich ihn denn töten? Wenn ich die Tür aufmache, wird er wieder auf mich losstürzen und früher schießen als ich. Ach was, zum Teufel, selbstverständlich wird er mich verfehlen!«

So marterte er sich ab, zitternd angesichts der Unvermeidlichkeit des Vorhabens und infolge seiner Unentschlossenheit. Endlich nahm er das Licht und ging wieder zur Tür, den schußfertigen Revolver in der rechten Hand; mit der linken Hand, in der er das Licht hielt, drückte er auf die Türklinke. Aber hierbei verfuhr er nicht geschickt genug: die Klinke schnappte und gab einen kreischenden Ton. »Er wird ohne weiteres auf mich schießen!« dachte Peter Stepanowitsch im selben Momente. Er stieß aus aller Kraft die Tür mit dem Fuße auf, hob das Licht in die Höhe und streckte den Revolver nach vorn; aber es erfolgte kein Schuß und kein Schrei ... Im Zimmer war niemand.

Er fuhr zusammen. Das Zimmer war kein Durchgangszimmer; es hatte keinen andern Ausgang, und man konnte aus ihm nirgendshin entfliehen. Er hob die Kerze noch mehr in die Höhe und sah sich aufmerksam um: absolut niemand. Er rief halblaut: »Kirillow!« Dann zum zweiten Male lauter; niemand antwortete.

»Ist er wirklich durchs Fenster entflohen?«

In der Tat war an einem Fenster die Luftklappe geöffnet. »Unsinn, durch die Luftklappe hat er nicht entfliehen können.« Peter Stepanowitsch ging durch das ganze Zimmer geradeswegs zum Fenster hin. »Das ist unmöglich.« Plötzlich drehte er sich schnell um, und etwas Ungewöhnliches ließ ihn erzittern.

An der den Fenstern gegenüberliegenden Wand stand rechts von der Tür ein Schrank. Rechts von diesem Schranke, in der von der Wand und dem Schranke gebildeten Nische, stand Kirillow, und zwar stand er in ganz sonderbarer Weise da: regungslos, gerade aufgerichtet, mit den Händen an der Hosennaht, mit erhobenem Kopfe, den Hinterkopf fest gegen die Wand gedrückt, ganz in der Nische, anscheinend in der Absicht, sich ganz zu verbergen und unsichtbar zu machen. Nach allen Anzeichen hatte er sich da versteckt; und doch schien dies nicht recht glaublich. Peter Stepanowitsch stand der Nische etwas schräg gegenüber und konnte nur die hervorragenden Teile der Gestalt sehen. Er konnte sich immer noch nicht dazu entschließen, weiter nach links zu treten, um den ganzen Kirillow zu erkennen und das Rätsel zu lösen. Das Herz begann ihm heftig zu schlagen ... Und auf einmal bemächtigte sich seiner eine vollständige Wut: er riß sich von seinem Platze los, schrie auf und stürzte, mit den Füßen aufstampfend, zu der furchtbaren Stelle hin.

Aber als er nahe herangekommen war, blieb er wieder wie angeschmiedet stehen und wurde von noch größerem Schrecken gepackt. Ganz besonders überraschte es ihn, daß die Gestalt trotz seines Schreies und seines wütenden Ansprunges sich gar nicht bewegte, sich nicht rührte, auch nicht mit einem Gliede, gerade als ob sie versteinert oder aus Wachs wäre. Die Blässe des Gesichtes war unnatürlich; die völlig starren schwarzen Augen blickten nach irgendeinem Punkte in weiter Entfernung. Peter Stepanowitsch fuhr mit dem Lichte von oben nach unten und wieder nach oben, indem er so dieses Gesicht von allen Punkten beleuchtete und betrachtete. Plötzlich bemerkte er, daß Kirillow, obgleich er irgendwohin geradeaus blickte, ihn doch von der Seite sah und vielleicht sogar beobachtete. Da kam ihm der Gedanke, die Flamme des Lichtes gerade an das Gesicht »dieses Schurken« heranzuhalten, es zu verbrennen und zu sehen, was dieser dann tun werde. Auf einmal schien es ihm, als ob Kirillows Kinn sich bewegte und ein spöttisches Lächeln über seine Lippen dahinglitte, gerade wie wenn dieser seine Absicht erraten hätte. Er fuhr zusammen und packte, ohne selbst zu wissen, was er tat, Kirillow fest an der Schulter.

Da geschah etwas so Ungeheuerliches und mit solcher Schnelligkeit, daß Peter Stepanowitsch später nicht imstande war, Ordnung in seine Erinnerungen hineinzubringen. Kaum hatte er Kirillow berührt, als dieser schnell den Kopf niederbeugte und mit dem Kopfe selbst ihm das Licht aus der Hand schlug; der Leuchter fiel geräuschvoll auf den Fußboden, und das Licht erlosch. In demselben Augenblicke fühlte er einen furchtbaren Schmerz im kleinen Finger seiner linken Hand. Er schrie auf und erinnerte sich später nur, daß er ganz außer sich Kirillow, der ihn angefallen hatte und ihn in den Finger biß, dreimal aus voller Kraft mit dem Revolver auf den Kopf schlug. Endlich riß er ihm den Finger aus den Zähnen und stürzte nun, im Dunkeln den Weg suchend, Hals über Kopf davon, um aus dem Hause hinauszulaufen. Hinter ihm her erscholl aus dem Zimmer ein furchtbares Geschrei:

»Sogleich, sogleich, sogleich, sogleich! ...«

Wohl zehnmal. Aber er lief weiter und war schon auf den Flur gelangt, als ein lauter Schuß ertönte. Da blieb er auf dem Flur im Dunkeln stehen und überlegte etwa fünf Minuten lang; schließlich kehrte er wieder in die Wohnung zurück. Aber vor allen Dingen mußte er die Kerze wiederhaben. Er brauchte nur rechts bei dem Schranke auf dem Fußboden den ihm aus der Hand geschlagenen Leuchter zu suchen; aber wie sollte er den Lichtstumpf anzünden? Da tauchte in seinem Kopfe eine dunkle Erinnerung auf: er besann sich, daß er tags zuvor, als er in die Küche gelaufen war, um Fedka zu schelten, in der Ecke auf einem Wandbrette eine große rote Streichholzschachtel flüchtig bemerkt hatte. Tastend wandte er sich nach links zur Küchentür, fand sie, durchschritt den Vorraum und stieg die Stufen hinunter. Auf dem Wandbrette, gerade an der Stelle, an die er sich soeben erinnert hatte, fand er im Dunkeln eine volle, noch nicht angebrochene Schachtel mit Streichhölzern. Ohne Licht zu machen, kehrte er eilig nach oben zurück, und erst bei dem Schranke, an derselben Stelle, wo er den ihn beißenden Kirillow mit dem Revolver geschlagen hatte, erinnerte er sich auf einmal an seinen gebissenen Finger und empfand im selben Augenblicke in ihm einen beinah unerträglichen Schmerz. Die Zähne zusammenbeißend, zündete er mit Mühe und Not das Lichtstümpfchen an, steckte es wieder auf den Leuchter und blickte um sich: bei dem Fenster mit der geöffneten Luftscheibe lag, mit den Füßen nach der rechten Zimmerecke zu, der Leichnam Kirillows. Der Schuß war in die rechte Schläfe erfolgt, und die Kugel war oben links wieder herausgegangen, nachdem sie den Schädel durchschlagen hatte. Spritzer von Blut und Gehirn waren sichtbar. Der Revolver war in der auf den Fußboden gesunkenen Hand des Selbstmörders geblieben. Nachdem Peter Stepanowitsch alles mit größter Genauigkeit gemustert hatte, richtete er sich auf, ging auf den Zehen hinaus, machte die Tür zu, stellte das Licht auf den Tisch im ersten Zimmer, überlegte einen Augenblick und entschied sich dafür, es nicht auszulöschen, da er sich sagte, daß es keinen Brand verursachen könne. Nachdem er noch einen Blick auf das Schriftstück geworfen hatte, das auf dem Tische lag, lächelte er mechanisch und verließ dann, immer noch aus nicht recht verständlichem Grunde auf den Fußspitzen, das Haus. Er kroch wieder durch Fedkas Schlupfloch hindurch und schloß es wieder hinter sich sorgfältig.

 

III

Genau zehn Minuten vor sechs Uhr gingen auf dem Bahnhofe Peter Stepanowitsch und Erkel an der sich ziemlich lang hinziehenden Reihe von Waggons auf und ab. Peter Stepanowitsch reiste ab, und Erkel nahm von ihm Abschied. Das Gepäck war aufgegeben, die Reisetasche in einem Waggon zweiter Klasse auf den ausgewählten Platz gelegt. Das erste Glockenzeichen war bereits gegeben; sie warteten auf das zweite. Peter Stepanowitsch sah sich offen nach allen Seiten um und beobachtete die in die Waggons einsteigenden Passagiere. Aber nahe Bekannte traf er nicht; nur ein paarmal hatte er Abreisenden mit dem Kopfe zuzunicken: einem Kaufmann, den er entfernt kannte, und dann einem jungen Landgeistlichen, der zwei Stationen weit zu seiner Gemeinde fuhr. Erkel hatte offenbar große Lust, in den letzten Minuten von etwas Wichtigem zu reden, wiewohl er vielleicht selbst nicht einmal wußte, wovon eigentlich; aber er wagte immer nicht anzufangen. Er hatte immer die Empfindung, als ob sich Peter Stepanowitsch in seiner Gesellschaft unbehaglich fühle und ungeduldig auf die übrigen Glockenzeichen warte.

»Sie sehen alle so offen an,« bemerkte er etwas schüchtern, wie wenn er ihn warnen wollte.

»Warum denn nicht? Ich habe noch keinen Anlaß, mich zu verstecken; es ist noch früh. Seien Sie unbesorgt! Ich fürchte nur, daß der Teufel diesen Liputin herführt; wenn der etwas davon wittert, dann kommt er auch angelaufen.«

»Peter Stepanowitsch, die sind nicht zuverlässig,« sagte Erkel in bestimmtem Tone.

»Liputin?«

»Alle, Peter Stepanowitsch.«

»Unsinn; durch die gestrige Geschichte sind jetzt alle gebunden. Es wird keiner Verrat begehen. Wer wird in sein offenes Verderben rennen, wenn er nicht den Verstand verloren hat?«

»Peter Stepanowitsch, aber die haben ja den Verstand verloren.«

Dieser Gedanke war auch Peter Stepanowitsch offenbar schon in den Kopf gekommen, und darum ärgerte ihn Erkels Bemerkung noch mehr.

»Sind Sie etwa auch feige geworden, Erkel? Auf Sie setze ich doch mehr Vertrauen als auf die andern alle. Ich habe jetzt gesehen, was ein jeder wert ist. Bestellen Sie ihnen gleich heute alles mündlich; ich vertraue sie Ihnen ausdrücklich an. Gehen Sie heute vormittag bei ihnen umher! Meine schriftliche Instruktion lesen Sie ihnen morgen oder übermorgen vor; berufen Sie zu diesem Zwecke eine Versammlung, sobald sie fähig sein werden zuzuhören ... aber Sie können überzeugt sein, daß sie schon heute dazu fähig sein werden, da sie furchtbar feige sind und sich wie Wachs werden kneten lassen ... Die Hauptsache ist, daß Sie selbst nicht den Kopf hängen lassen ...«

»Ach, Peter Stepanowitsch, am besten wäre es, wenn Sie nicht wegführen!«

»Ich reise ja nur auf einige Tage fort; ich komme sehr bald wieder zurück.«

»Peter Stepanowitsch,« sagte Erkel vorsichtig, aber mit fester Stimme, »und wenn Sie selbst nach Petersburg reisten, ich weiß ja doch, daß Sie es nur tun, weil es für die gemeinsame Sache notwendig ist.«

»Weniger hatte ich von Ihnen auch nicht erwartet, Erkel. Wenn Sie erraten haben, daß ich nach Petersburg fahre, so werden Sie verstehen, daß ich denen gestern in jenem Augenblicke nicht sagen konnte, daß ich so weit wegfahren würde, damit sie nicht einen Schreck bekämen. Was das für Menschen sind, das haben Sie ja selbst gesehen. Aber Sie werden begreifen, daß ich um der Sache willen, um der großen, wichtigen Sache willen, um unserer gemeinsamen Sache willen verreise, und nicht um mich aus dem Staube zu machen, wie so ein Liputin argwöhnt.«

»Peter Stepanowitsch, und selbst wenn Sie ins Ausland reisen, so verstehe ich das; ich verstehe, daß Sie Ihre Person in acht nehmen müssen; denn Sie sind alles und wir nichts. Das verstehe ich, Peter Stepanowitsch.«

Dem armen Jungen zitterte sogar die Stimme.

»Ich danke Ihnen, Erkel ... Au, Sie sind mir an meinen schlimmen Finger gekommen« (Erkel hatte ihm ungeschickt die Hand gedrückt; der schlimme Finger war sauber mit schwarzem Taft umwickelt). »Aber ich sage Ihnen noch einmal auf das bestimmteste, daß ich nach Petersburg nur einmal hineinriechen will und vielleicht sogar nur vierundzwanzig Stunden dableiben und gleich wieder zurückkommen werde. Nach meiner Rückkehr werde ich um des äußeren Scheines willen auf dem Lande bei Gaganow wohnen. Wenn sie irgendwelche Gefahr befürchten, so werde ich in die Stadt kommen und die Gefahr als der erste an ihrer Spitze teilen. Sollte ich mich aber in Petersburg länger aufhalten müssen, so werde ich es Sie sofort wissen lassen ... auf dem bekannten Wege; und Sie mögen es ihnen dann mitteilen.«

Es ertönte das zweite Glockenzeichen.

»Ah, also nur noch fünf Minuten bis zur Abfahrt. Wissen Sie, ich möchte nicht, daß die hiesige Gruppe sich auflöst. Ich für meine Person fürchte mich nicht; um mich brauchen Sie sich keine Sorge zu machen: solcher Maschen des allgemeinen Netzes habe ich genug und brauche auf eine einzelne keinen besonderen Wert zu legen; aber doch kann eine Masche mehr nicht schaden. Übrigens bin ich für Sie unbesorgt, obgleich ich Sie fast allein mit diesen Mißgeburten hier zurücklasse: haben Sie keine Furcht; sie werden nicht denunzieren; das werden sie nicht wagen ... Ah, auch Sie heute hier?« rief er plötzlich mit ganz anderer, fröhlicher Stimme einem sehr jungen Menschen zu, der vergnügt auf ihn zutrat, um ihn zu begrüßen. »Ich wußte gar nicht, daß Sie ebenfalls mit dem Extrazug fahren wollten. Wohin wollen Sie denn? Zur Mama?«

Die Mutter des jungen Mannes war eine sehr reiche Gutsbesitzerin im Nachbargouvernement, und der junge Mensch war ein entfernter Verwandter Julija Michailownas und hatte sich in unserer Stadt besuchsweise vierzehn Tage lang aufgehalten.

»Nein, ich fahre weiter; ich will nach R***. Da werde ich acht Stunden im Waggon zubringen müssen. Sie reisen nach Petersburg?« fragte der junge Mensch lachend.

»Woher vermuten Sie, daß ich gerade nach Petersburg will?« versetzte Peter Stepanowitsch, ebenfalls lachend und sogar noch offenherziger.

Der junge Mann drohte ihm mit einem Finger seiner behandschuhten Hand.

»Nun ja, Sie haben es erraten,« flüsterte ihm Peter Stepanowitsch geheimnisvoll zu; »ich fahre mit Briefen von Julija Michailowna hin und muß dort bei drei, vier Leuten herumlaufen, Sie können sich wohl denken, bei was für welchen; offen gesagt, hol die Kerle der Teufel! Eine nichtswürdige Obliegenheit!«

»Aber sagen Sie nur, warum ist sie denn so ängstlich?« fragte der junge Mann, ebenfalls flüsternd. »Gestern hat sie nicht einmal mich zu sich gelassen; meiner Ansicht nach braucht sie für ihren Mann keine Besorgnisse zu hegen; im Gegenteil, er ist ja doch bei der Feuersbrunst in sehr gut aussehender Weise zu Fall gekommen, indem er sozusagen sogar sein Leben opferte.«

»Na, das lassen Sie nur gut sein!« erwiderte Peter Stepanowitsch lachend. »Sehen Sie, sie fürchtet, daß von hier aus bereits dorthin geschrieben ist ... das heißt von seiten gewisser Herren ... Kurz, die Hauptsache dabei ist Stawrogin; das heißt Fürst K***. Ach, das ist eine ganze Geschichte; ich werde Ihnen, wenn Sie mögen, unterwegs einiges davon mitteilen, soviel mir die Ritterlichkeit erlaubt ... Das hier ist ein Verwandter von mir, Fähnrich Erkel, aus dem Kreise.«

Der junge Mann blickte Erkel von der Seite an und berührte flüchtig seinen Hut; Erkel erwiderte die Verbeugung.

»Ja, wissen Sie, Werchowenski, acht Stunden im Waggon, das ist ein gräßliches Schicksal. Da fährt mit mir in der ersten Klasse ein Oberst Berestow, ein sehr komischer Herr, mein Gutsnachbar: seine Frau ist eine geborene Garina ( née de Garine), und wissen Sie, er ist ein ordentlicher Mensch. Er hat sogar eigene Gedanken. Er hat sich hier nur zwei Tage aufgehalten. Er ist ein leidenschaftlicher Whistfreund; wollen wir ihn nicht auffordern, wie? Einen vierten Mann habe ich auch schon im Auge: Pripuchlow, einen bärtigen Kaufmann aus unserm T***, einen Millionär, das heißt einen wirklichen Millionär, sage ich Ihnen ... ich werde Sie vorstellen; er ist ein höchst interessanter Geldsack; wir werden etwas zu lachen haben.«

»Whist spiele ich sehr gern und besonders im Waggon; aber ich fahre zweiter Klasse.«

»Ach was, reden Sie nicht, das geht nicht! Setzen Sie sich zu uns! Ich werde sofort Ihren Übergang in die erste Klasse bewerkstelligen. Der Zugführer wird mir schon den Willen tun. Was haben Sie bei sich? Eine Reisetasche? Ein Plaid?«

»Wundervoll! Gehen wir!«

Peter Stepanowitsch nahm seine Reisetasche, sein Plaid und ein Buch und siedelte sogleich mit der größten Bereitwilligkeit in die erste Klasse über. Erkel war dabei behilflich. Das dritte Glockenzeichen ertönte.

»Nun, Erkel,« sagte Peter Stepanowitsch und streckte eilig noch aus dem Wagenfenster zum letzten Male die Hand hinaus, mit einem Gesichte, als sei er anderweitig in Anspruch genommen, »da werde ich mich denn mit den Herren zum Kartenspiel hinsetzen.«

»Aber wozu erklären Sie mir das, Peter Stepanowitsch? Ich verstehe es ja, ich verstehe alles, Peter Stepanowitsch.«

»Nun, also auf frohes Wiedersehen,« versetzte dieser und wandte sich schnell infolge eines Anrufes von seiten des jungen Mannes ab, der ihn rief, um ihn den Mitspielern vorzustellen.

Und Erkel sah seinen Peter Stepanowitsch nie wieder.

Er kehrte sehr niedergeschlagen nach Hause zurück. Nicht daß er gefürchtet hätte, Peter Stepanowitsch werde sie so plötzlich verlassen; aber ... aber dieser hatte sich so schnell von ihm abgewandt, als ihn der junge Stutzer gerufen hatte, und ... er hätte zu ihm doch noch etwas anderes sagen können als nur »Auf frohes Wiedersehen« oder ... oder ihm wenigstens fester die Hand drücken können.

Letzteres war die Hauptsache. Aber auch etwas anderes begann sein armes Herz zu peinigen, etwas, was er selbst noch nicht verstand, und was mit dem gestrigen Abend in Verbindung stand.


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