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Viertes Kapitel

Die Lahme

 

I

Schatow benahm sich nicht eigensinnig und erschien infolge meines Zettels um zwölf Uhr bei Lisaweta Nikolajewna. Wir traten fast gleichzeitig ein; ich war ebenfalls gekommen, um meinen ersten Besuch zu machen. Sie saßen alle, das heißt Lisa, die Mama und Mawriki Nikolajewitsch, in dem großen Salon und stritten sich miteinander. Die Mama hatte verlangt, Lisa solle ihr einen bestimmten Walzer auf dem Klavier vorspielen; als diese aber den verlangten Walzer angefangen hatte, hatte die Mama behauptet, das sei nicht der richtige. Mawriki Nikolajewitsch war in seiner schlichten Aufrichtigkeit für Lisa eingetreten und hatte versichert, daß es wirklich eben jener Walzer sei; die Alte aber hatte vor Ärger angefangen zu weinen. Sie war krank und konnte nur mit Mühe gehen. Die Füße waren ihr geschwollen, und so hatte sie denn seit einigen Tagen nichts anderes getan als die übrigen durch ihre Launen gequält und mit ihnen Händel gesucht, trotzdem sie vor Lisa immer etwas Furcht hatte. Über unser Kommen freuten sie sich. Lisa wurde ganz rot vor Freude und sagte zu mir merci natürlich mit Bezug darauf, daß ich Schatow zum Kommen veranlaßt hatte; dann trat sie zu ihm hin und betrachtete ihn neugierig.

Schatow war linkisch an der Tür stehen geblieben. Nachdem sie ihm für sein Kommen gedankt hatte, führte sie ihn zur Mama.

»Dies ist Herr Schatow, über den ich schon mit Ihnen gesprochen habe, und dies ist Herr G***w, ein guter Freund von mir und von Stepan Trofimowitsch. Mawriki Nikolajewitsch ist gestern auch schon mit ihm bekannt geworden.«

»Und welcher von beiden ist der Professor?«

»Ein Professor ist überhaupt nicht da, Mama.«

»Aber du hast doch selbst gesagt, es werde ein Professor herkommen; gewiß ist es der,« sagte sie, indem sie nachlässig auf Schatow zeigte.

»Ich habe nie zu Ihnen gesagt, daß ein Professor zu uns kommen werde. Herr G***w ist Beamter, und Herr Schatow ist früher Student gewesen.«

»Student, Professor, das kommt doch auf eins heraus; die sind beide von der Universität. Du willst immer nur streiten. Der in der Schweiz trug einen Vollbart.«

»Mama nennt den Sohn von Stepan Trofimowitsch immer Professor,« sagte Lisa und führte Schatow nach dem andern Ende des Salons zu einem Sofa. »Wenn ihr die Füße geschwollen sind, ist sie immer so; Sie verstehen wohl: sie ist krank,« flüsterte sie Schatow zu und fuhr dabei fort, ihn und besonders den aufrechtstehenden Haarbüschel auf seinem Kopfe mit größtem Interesse zu betrachten.

»Sind Sie beim Militär?« fragte mich die Alte, der mich Lisa erbarmungslos überlassen hatte.

»Nein, ich bin Beamter ...«

»Herr G***w ist ein guter Freund von Stepan Trofimowitsch,« rief Lisa sogleich.

»Sind Sie bei Stepan Trofimowitsch angestellt? Der ist ja auch Professor?«

»Ach Mama, Sie träumen gewiß auch in der Nacht von Professoren!« rief Lisa ärgerlich.

»Ich habe auch schon bei Tage genug davon! Aber du mußt doch auch immer deiner Mutter widersprechen. Waren Sie hier, als Nikolai Wsewolodowitsch vor vier Jahren herkam?«

Ich antwortete bejahend.

»War da ein Engländer mit Ihnen zusammen hier?«

»Nein, es war keiner hier.«

Lisa lachte.

»Siehst du wohl, es ist gar kein Engländer dagewesen; also ist das Schwindel. Warwara Petrowna und Stepan Trofimowitsch schwindeln alle beide. Alle Menschen schwindeln.«

»Nämlich die Tante und Stepan Trofimowitsch«, sagte Lisa erklärend zu uns, »fanden gestern eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Nikolai Wsewolodowitsch und dem Prinzen Harry in Shakespeares Heinrich dem Vierten, und daher fragt Mama, ob kein Engländer dagewesen sei.«

»Wenn kein Harry da war, dann war auch kein Engländer da. Nikolai Wsewolodowitsch hat seine Tollheiten allein begangen.«

»Ich versichere Ihnen, daß Mama absichtlich so redet,« fand Lisa für nötig zu Schatow zur Erklärung zu sagen. »Sie weiß sehr gut mit Shakespeare Bescheid. Ich habe ihr selbst den ersten Akt des Othello vorgelesen; aber sie ist jetzt sehr leidend. Mama, hören Sie? Es schlägt zwölf; es ist Zeit, daß Sie Ihre Medizin einnehmen.«

»Der Doktor ist gekommen,« meldete das Stubenmädchen, das in der Tür erschien.

Die alte Dame stand auf und rief ihr Hündchen:

»Semirka, Semirka, komm mit mir mit!«

Das kleine, alte, häßliche Hündchen Semirka gehorchte indessen nicht, sondern kroch unter das Sofa, auf dem Lisa saß.

»Du willst nicht? Dann will ich dich auch gar nicht haben. Leben Sie wohl, mein Lieber; ich kenne Ihren Vor- und Vatersnamen nicht,« wandte sie sich an mich.

»Anton Lawrentjewitsch ...«

»Nun, es ist ganz gleich, ob ich es höre oder nicht; so etwas geht bei mir zum einen Ohre herein und aus dem andern hinaus. Sie brauchen mich nicht zu begleiten, Mawriki Nikolajewitsch; ich hatte nur Semirka gerufen. Ich kann ja, Gott sei Dank, noch allein gehen, und morgen will ich spazieren fahren.«

Ärgerlich verließ sie den Salon.

»Anton Lawrentjewitsch, unterhalten Sie sich solange mit Mawriki Nikolajewitsch; ich versichere Ihnen, daß Sie beide Gewinn davon haben werden, wenn Sie einander näher kennen lernen,« sagte Lisa und lächelte dem Offizier freundlich zu, dessen Gesicht unter ihrem Blick freudig aufleuchtete.

Es war weiter nichts zu machen; es blieb mir nichts übrig, als mich mit Mawriki Nikolajewitsch zu unterhalten.

 

II

Zu meiner Verwunderung stellte es sich heraus, daß Lisaweta Nikolajewna mit Schatow tatsächlich nur über ein literarisches Unternehmen sprechen wollte. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte mir eingebildet, sie habe ihn zu irgendeinem andern Zwecke zu sich kommen lassen. Da wir, das heißt ich und Mawriki Nikolajewitsch, sahen, daß die beiden aus der Sache kein Geheimnis vor uns machten und ganz laut sprachen, so fingen wir an zuzuhören; dann wurden wir sogar zu Rate gezogen. Die ganze Sache bestand darin, daß Lisaweta Nikolajewna schon lange die Herausgabe eines ihrer Meinung nach nützlichen Buches plante, aber bei ihrer völligen Unerfahrenheit eines Mitarbeiters bedurfte. Der Ernst, mit welchem sie sich daran machte, Schatow ihren Plan auseinanderzusetzen, setzte mich geradezu in Erstaunen.

»Also auch eine von der modernen Richtung,« dachte ich; »sie scheint nicht umsonst in der Schweiz gewesen zu sein.«

Schatow hörte, den Blick auf den Boden geheftet, aufmerksam zu und bekundete nicht die geringste Verwunderung darüber, daß eine durch ganz andere Interessen in Anspruch genommene Dame der höheren Gesellschaftskreise sich mit solchen ihr anscheinend fernliegenden Dingen abgab.

Das literarische Unternehmen war von folgender Art. Es erscheinen in Rußland in den Hauptstädten und in der Provinz eine Menge von Zeitungen und anderen Journalen, und in ihnen wird täglich über eine Menge von Ereignissen berichtet. Das Jahr geht zu Ende, die Zeitungen werden überall entweder in Schränke gepackt oder beschmutzt und zerrissen oder zum Einwickeln und zu Nachtmützen verwendet. Viele der publizierten Tatsachen machen Eindruck und haften eine Weile im Gedächtnisse, werden aber dann im Laufe der Jahre vergessen. Viele Leute möchten sich dann gern über solche Dinge informieren; aber was ist es für eine Arbeit, in diesem Meere von Blättern etwas zu suchen, wenn man oft weder den Tag noch den Monat des betreffenden Ereignisses kennt? Wenn aber alle diese Tatsachen für ein ganzes Jahr in einem einzigen Buche nach einem bestimmten Plane und einer bestimmten Idee vereinigt würden, mit Inhaltsverzeichnissen und Hinweisungen, nach Monaten und Tagen geordnet, dann würde ein solches Sammelwerk eine vollständige Charakteristik des russischen Lebens für ein Jahr bieten können, auch wenn von allen Tatsachen, die sich wirklich begeben haben, nur ein verhältnismäßig sehr kleiner Teil veröffentlicht würde.

»Statt einer Menge von Blättern hätten wir dann ein paar dicke Bücher; das wäre alles,« bemerkte Schatow.

Aber Lisaweta Nikolajewna verteidigte ihren Gedanken mit Wärme, obwohl es ihr bei ihrer Unerfahrenheit Mühe machte sich auszudrücken. Es sollte nur ein einziges Buch werden, nicht einmal sehr dick, versicherte sie. Aber selbst wenn es dick würde, so würde es doch klar und übersichtlich sein; denn die Hauptsache sei die ganze Anlage und die Art, in der die Tatsachen dargestellt würden. Allerdings dürfe man nicht alles sammeln und abdrucken. Kaiserliche Erlasse, Verfügungen der Regierung, Anordnungen der Lokalbehörden, Gesetze, all das seien zwar sehr wichtige Tatsachen; aber in der beabsichtigten Ausgabe könnten derartige Tatsachen ganz fortgelassen werden. Man könne gar vieles fortlassen und sich auf eine Auswahl von Ereignissen beschränken, die für das sittliche individuelle Leben des Volkes, für die Individualität des russischen Volkes in einem bestimmten Zeitabschnitte mehr oder weniger charakteristisch wären. Natürlich könne allerlei ausgenommen werden: Kuriosa, Feuersbrünste, Spenden, gute und schlechte Handlungen aller Art, Aussprüche und Reden aller Art, vielleicht auch Nachrichten von Überschwemmungen, vielleicht auch einige Regierungsverfügungen; aber es müsse aus dem Gesamtmaterial nur das ausgewählt werden, was die betreffende Periode kennzeichne. Bei der Aufnahme müsse ein bestimmter Gesichtspunkt, eine bestimmte Absicht, eine bestimmte Idee maßgebend sein, eine Idee, die das Ganze, die ganze Sammlung durchleuchte. Und endlich müsse das Buch auch eine interessante, leichte Lektüre abgeben, ganz abgesehen von seiner Unentbehrlichkeit als Nachschlagewerk! Es würde das sozusagen ein Bild des geistigen, sittlichen, inneren russischen Lebens innerhalb eines ganzen Jahres sein. »Alle müssen es kaufen; das Buch muß ein weitverbreitetes Handbuch werden,« sagte Lisa nachdrücklich. »Ich sehe sehr wohl ein, daß dabei alles auf die Anlage ankommt, und deshalb wende ich mich an Sie,« schloß sie. Sie war sehr in Eifer geraten, und trotzdem sie sich nur unklar und unvollständig ausgesprochen hatte, begann Schatow doch sie zu verstehen.

»Also es wird etwas mit einer bestimmten Tendenz herauskommen, eine nach einer bestimmten Tendenz getroffene Auswahl von Tatsachen,« murmelte er, noch immer ohne den Kopf in die Höhe zu heben.

»Durchaus nicht; die Auswahl darf nicht tendenziös sein; eine Tendenz ist ausgeschlossen. Die einzige Tendenz muß die Unparteilichkeit sein.«

»Eine Tendenz wäre kein Schade,« versetzte Schatow, der nun in Bewegung kam; »und sie läßt sich auch nicht vermeiden, sobald man ans Auswählen geht. In der Auswahl der Tatsachen wird auch ein Hinweis darauf liegen, wie sie aufzufassen sind. Ihre Idee ist nicht übel.«

»Also ist ein solches Buch möglich?« fragte Lisa erfreut.

»Das muß man noch näher überlegen und erwägen. Es ist ein gewaltiges Unternehmen. Mit einemmal kann man es nicht durchdenken. Man muß erst Erfahrungen machen. Und auch wenn wir das Buch herausbringen, werden wir kaum schon den besten Modus erkannt haben. Vielleicht nach vielen Versuchen; aber der Gedanke wird sich durch die Eierschale hindurchpicken. Der Gedanke ist nützlich.«

Er hob endlich die Augen in die Höhe, und sie leuchteten sogar vor Vergnügen, so interessierte er sich für die Sache.

»Haben Sie sich das selbst ausgedacht?« fragte er Lisa freundlich und gewissermaßen, als ob er sich schämte.

»Das Ausdenken war nicht schwer; was schwer ist, das ist die Anlage,« erwiderte Lisa lächelnd. »Ich verstehe wenig von solchen Dingen und bin nicht sehr klug und verfolge nur das, was mir selbst klar ist ...«

»Sie verfolgen es?«

»Das ist wohl nicht der richtige Ausdruck?« fragte Lisa schnell.

»Man kann so sagen; ich habe nichts dagegen einzuwenden.«

»Schon als ich noch im Auslande war, habe ich mir gesagt, auch ich könnte irgendwie nützlich sein. Ich besitze eigenes Geld, das unnütz daliegt; warum sollte nicht auch ich für die gemeinsame Sache arbeiten? Zudem kam mir diese Idee auf einmal ganz von selbst; ich habe sie nicht mühsam ersonnen und freute mich sehr über sie; aber ich sah sogleich ein, daß ich ohne einen Mitarbeiter nichts würde ausrichten können, weil ich selbst nichts davon verstehe. Der Mitarbeiter wird natürlich zugleich Mitherausgeber des Buches werden. Wir wollen jeder die Hälfte beisteuern: Sie den Entwurf des Planes und die Arbeit, ich die erste Idee und die Mittel zur Herausgabe. Das Buch wird sich schon bezahlt machen!«

»Wenn wir die richtige Anlage finden, dann wird das Buch gehen.«

»Ich sage Ihnen von vornherein, daß ich es nicht des Gewinnes wegen tue; aber ich wünsche dem Buche sehr einen guten Absatz und werde auf den Gewinn stolz sein.«

»Nun, und wie soll ich mich bei der Sache beteiligen?«

»Ich fordere Sie ja auf, mein Mitarbeiter zu sein; wir machen halbpart. Sie sollen den Plan zur Anlage entwerfen.«

»Woher glauben Sie denn, daß ich imstande bin, einen solchen Plan zu entwerfen?«

»Man hat mir von Ihnen erzählt, und hier habe ich von Ihnen gehört ... ich weiß, daß Sie sehr klug sind und ... sich mit ernster Arbeit beschäftigen und ... viel denken; Peter Stepanowitsch Werchowenski hat in der Schweiz zu mir von Ihnen gesprochen,« fügte sie eilig hinzu. »Er ist ein sehr kluger Mensch, nicht wahr?«

Schatow sah sie mit einem schnellen, huschenden Blicke an, schlug dann aber sogleich die Augen nieder.

»Auch Nikolai Wsewolodowitsch hat mir viel von Ihnen gesagt.«

Schatow errötete plötzlich.

»Übrigens, hier sind schon einige Zeitungen,« fuhr Lisa fort, indem sie schnell ein bereitliegendes, zusammengebundenes Paket Zeitungen von einem Stuhle nahm. »Ich habe hier versuchsweise eine Anzahl von Tatsachen für die Sammlung ausgewählt, angestrichen und numeriert ... Sie werden ja sehen.«

Schatow nahm das Päckchen hin.

»Nehmen Sie es mit nach Hause, und sehen Sie es in Ruhe durch; wo wohnen Sie denn?«

»In der Bogojawlenskaja-Straße, im Filippowschen Hause.«

»Ach ja, ich weiß. Da wohnt ja wohl, wie es heißt, auch ein Hauptmann mit Ihnen, ein Herr Lebjadkin?« fragte Lisa in derselben raschen Art wie vorher.

Schatow saß mit dem Päckchen in der Hand eine volle Minute lang in derselben Haltung, wie er es hingenommen hatte, ohne zu antworten da und blickte zu Boden.

»Für diese Angelegenheiten müßten Sie sich einen andern aussuchen; ich werde Ihnen da nicht dienen können,« sagte er schließlich auffallend leise, fast flüsternd.

Lisa wurde dunkelrot.

»Von was für Angelegenheiten reden Sie? Mawriki Nikolajewitsch!« rief sie. »Bitte, geben Sie doch den gestrigen Brief her!«

Ich ging ebenfalls hinter Mawriki Nikolajewitsch her zum Tische hin.

»Sehen Sie einmal dies hier an!« wandte sie sich auf einmal an mich, indem sie in großer Aufregung den Brief auseinanderschlug. »Haben Sie je etwas Ähnliches gesehen? Bitte, lesen Sie es laut vor; ich möchte, daß es auch Herr Schatow hört.«

Mit nicht geringem Erstaunen las ich laut folgende Epistel:

 

»An das in jeder Hinsicht vollkommene Fräulein Tuschina.

Gnädiges Fräulein
Jelisaweta Tuschina!

Schön und allerliebst ist ja Lisaweta Tuschina,
Wenn sie mit ihrem Verwandten auf dem Damensattel reitet geschwind
Und ihre Locken flattern im Wind,
Oder wenn sie mit ihrer Mutter in der Kirche kniet
Und man die Röte der andächtigen Gesichter sieht.
Dann geht nach den Freuden der Ehe mein Sehnen,
Und ich vergieße hinter ihr und ihrer Mutter Tränen.

Gedichtet von einem Ungelehrten infolge einer Wette.

Gnädiges Fräulein!

Am meisten bedauere ich, daß ich nicht in Sewastopol einen Arm um des Ruhmes willen verloren habe; ich bin überhaupt nicht da gewesen, sondern war während des ganzen Feldzuges bei der Austeilung gemeinen Proviants tätig, was ich für unwürdig hielt. Sie sind eine Göttin des Altertums; ich aber bin ein Nichts und habe die Grenzenlosigkeit geahnt. Sehen Sie das Obige als Verse an; denn Verse sind dummes Zeug, und man darf in ihnen das sagen, was in Prosa für Dreistigkeit gilt. Kann die Sonne dem Infusionstierchen zürnen, wenn dieses an sie aus dem Wassertropfen schreibt, wo ihrer eine Menge vorhanden sind, wenn man durchs Mikroskop sieht? Sogar jener Verein bei der höchsten Gesellschaft in Petersburg, der gegen die großen Tiere so menschenfreundlich ist und mit den Hunden und Pferden Mitleid hat, verachtet das winzige Infusionstierchen und erwähnt es gar nicht, weil es so klein ist. Auch ich bin ein kleines Wesen. Der Gedanke an eine Ehe könnte humoristisch erscheinen; aber ich werde bald zweihundert frühere Seelen durch einen Menschenfeind besitzen, der Ihrer Verachtung wert ist. Ich kann vieles mitteilen und erbiete mich auf Grund von schriftlichen Beweisen sogar nach Sibirien. Verachten Sie meinen Antrag nicht. Das von dem Infusionstierchen Gesagte ist poetisch gemeint.

Hauptmann Lebjadkin, Ihr ergebenster
'Freund und hat viel freie Zeit.«

 

»Das hat einer in der Betrunkenheit geschrieben und zugleich ein Taugenichts!« rief ich empört. »Ich kenne den Menschen.«

»Diesen Brief habe ich gestern erhalten,« sagte uns Lisa zur Erklärung; sie war rot geworden und sprach hastig. »Ich sah sofort selbst, daß er von einem Narren herrührt, und habe ihn Mama bis jetzt noch nicht gezeigt, um sie nicht noch mehr aufzuregen. Aber wenn er damit fortfahren sollte, so weiß ich nicht, wie ich mich verhalten soll. Mawriki Nikolajewitsch will hingehen und es ihm verbieten. Da ich Sie als meinen Mitarbeiter betrachte,« fuhr sie, zu Schatow gewendet, fort, »und da Sie in demselben Hause wohnen, so wollte ich Sie fragen, um beurteilen zu können, was noch weiter von ihm zu erwarten ist.«

»Er ist ein Trunkenbold und ein Taugenichts,« murmelte Schatow wie mit Überwindung.

»Ist er immer so dumm, wie?«

»O nein, wenn er nicht betrunken ist, ist er gar nicht so dumm.«

»Ich habe einen General gekannt, der genau ebensolche Verse schrieb,« bemerkte ich lachend.

»Sogar aus diesem Briefe ist zu ersehen, daß es ihm nicht an Verstand fehlt,« warf der schweigsame Mawriki Nikolajewitsch unerwartet dazwischen.

»Er lebt, wie es heißt, mit einer Schwester zusammen?« fragte Lisa.

»Ja, allerdings!«

»Und es wird gesagt, er tyrannisiere sie; ist das wahr?«

Schatow blickte Lisa wieder an, machte ein finsteres Gesicht und brummte: »Was kümmert es mich?« Dann ging er zur Tür.

»Ach, warten Sie doch!« rief Lisa erregt. »Wo wollen Sie denn hin? Wir haben ja noch so vieles miteinander zu besprechen ...«

»Worüber sollen wir denn noch reden? Ich werde Sie morgen benachrichtigen ...«

»Über das Wichtigste, die Druckerei. Sie können mir glauben, daß ich keinen Scherz treibe, sondern ernstlich etwas leisten will,« versicherte Lisa in immer wachsender Erregung. »Wenn wir uns dazu entschließen, das Buch herauszugeben, wo werden wir es dann drucken lassen? Das ist ja doch die wichtigste Frage; denn nach Moskau werden wir doch deswegen nicht reisen, und in einer hiesigen Druckerei ist die Herstellung einer solchen Ausgabe unmöglich. Ich habe mich schon längst dafür entschieden, eine eigene Druckerei einzurichten, wenn auch auf Ihren Namen, und Mama wird es sicherlich erlauben, vorausgesetzt, daß es auf Ihren Namen geschieht ...«

»Woher wissen Sie denn, daß ich mit dem Drucken Bescheid weiß?« fragte Schatow grimmig.

»Peter Stepanowitsch hat mir, als ich noch in der Schweiz war, ausdrücklich gesagt, Sie könnten eine Druckerei leiten und verständen sich auf dieses Metier. Er wollte mir sogar ein Briefchen an Sie mitgeben; aber ich habe es vergessen.«

In Schatows Gesicht ging, wie ich mich noch jetzt erinnere, eine auffällige Veränderung vor. Er blieb noch einige Sekunden stehen und ging auf einmal aus dem Zimmer.

Lisa wurde ärgerlich.

»Geht er immer so weg?« fragte sie, sich an mich wendend.

Ich zuckte die Achseln; aber plötzlich kehrte Schatow zurück, ging geradeswegs auf den Tisch zu und legte das Zeitungspaket, das er mitgenommen hatte, darauf.

»Ich werde nicht Ihr Mitarbeiter sein; ich habe keine Zeit ...«

»Warum denn nicht? Warum denn nicht? Es scheint, daß Sie etwas übelgenommen haben?« fragte Lisa in betrübtem, bittendem Tone.

Dieser Ton schien auf ihn Eindruck zu machen; ein paar Augenblicke sah er sie unverwandt an, wie wenn er geradezu in ihre Seele hineinschauen wollte.

»Ganz gleich!« murmelte er leise. »Ich will nicht ...«

Damit ging er endgültig fort. Lisa war ganz bestürzt, anscheinend sogar mehr, als es die Sache verdiente; wenigstens hatte ich diesen Eindruck.

»Ein höchst sonderbarer Mensch!« bemerkte Mawriki Nikolajewitsch laut.

 

III

Sonderbar war er allerdings; aber die ganze Sache war doch außerordentlich unklar. Es mußte etwas dahinterstecken. Ich glaubte entschieden nicht an diese Herausgabe eines Buches; ferner dieser dumme Brief, in dem sehr deutlich eine Denunziation »auf Grund von schriftlichen Beweisen« offeriert wurde; über diesen Punkt aber hatten alle geschwiegen und es vorgezogen, von etwas ganz anderem zu sprechen. Dazu dann endlich noch diese Druckerei und der Umstand, daß Schatow plötzlich weggegangen war, gerade weil Lisa von der Druckerei zu reden angefangen hatte. Alles dies brachte mich auf den Gedanken, daß hier schon vor meinem Besuche etwas vorgegangen sei, wovon ich nichts wisse, daß ich mithin überflüssig sei und die ganze Sache mich nichts angehe. Auch war es Zeit, daß ich wegging: für einen ersten Besuch war ich schon lange genug dagewesen. Ich trat an Lisaweta Nikolajewna heran, um mich zu verabschieden.

Sie schien völlig vergessen zu haben, daß ich im Zimmer war, und stand immer noch in Gedanken versunken auf demselben Flecke am Tische; den Kopf hielt sie geneigt und blickte regungslos auf einen bestimmten Punkt im Teppich.

»Ah, Sie wollen auch gehen; auf Wiedersehen!« sagte sie in ihrem gewöhnlichen, freundlichen Tone. »Empfehlen Sie mich Stepan Trofimowitsch, und reden Sie ihm zu, recht bald zu mir zu kommen! Mawriki Nikolajewitsch, Anton Lawrentjewitsch geht fort. Entschuldigen Sie, Mama kann nicht kommen, um Ihnen Adieu zu sagen ...«

Ich ging hinaus und war schon die Treppe hinabgestiegen und vor die Haustür gelangt, als mich ein Diener einholte.

»Das gnädige Fräulein läßt Sie sehr bitten, noch einmal zurückzukommen.«

Ich fand Lisa nicht mehr in jenem großen Salon, wo wir soeben gesessen hatten, sondern in dem anstoßenden Empfangszimmer. Die Tür nach dem Salon, in welchem jetzt Mawriki Nikolajewitsch allein zurückgeblieben war, war vollständig zugemacht.

Lisa lächelte mich an; aber sie war blaß. Sie stand mitten im Zimmer, sichtlich unentschlossen und sichtlich mit sich kämpfend; aber auf einmal faßte sie mich bei der Hand und führte mich schweigend schnell ans Fenster.

»Ich will unverzüglich dieses Mädchen sehen,« flüsterte sie, indem sie einen leidenschaftlichen, energischen, ungeduldigen Blick auf mich richtete, der nicht den geringsten Widerspruch duldete. »Ich muß sie mit meinen eigenen Augen sehen und bitte Sie um Ihre Hilfe.«

Sie war ganz außer sich und in Verzweiflung.

»Wen wollen Sie sehen, Lisaweta Nikolajewna?« fragte ich erschrocken.

»Dieses Fräulein Lebjadkina, diese Lahme ... Ist es wahr, daß sie lahm ist?«

Ich war starr vor Erstaunen.

»Ich habe sie nie gesehen; aber ich habe gehört, daß sie lahm sei; noch gestern habe ich es gehört,« stammelte ich eilig und dienstfertig und ebenfalls flüsternd.

»Ich muß sie unbedingt sehen. Könnten Sie das noch heute so einrichten?«

Sie tat mir schrecklich leid.

»Das ist unmöglich; ich weiß absolut nicht, wie ich das machen sollte,« begann ich; »ich will zu Schatow gehen ...«

»Wenn Sie es nicht bis morgen einrichten können, so gehe ich selbst zu ihr, ganz allein; denn Mawriki Nikolajewitsch hat sich geweigert. Sie sind meine einzige Hoffnung; außer Ihnen habe ich niemanden; dummerweise habe ich mit Schatow gesprochen ... Ich bin überzeugt, daß Sie ein durchaus ehrenhafter Mann und vielleicht mir ergeben sind; machen Sie es doch möglich!«

Es wurde in mir der leidenschaftliche Wunsch rege, ihr in allem behilflich zu sein.

»Also ich werde es so machen,« sagte ich nach kurzer Überlegung: »ich will heute selbst hingehen und es unter allen Umständen durchsetzen, daß ich sie zu sehen bekomme! Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort; nur müssen Sie mir erlauben, mich mit Schatow ins Einvernehmen zu setzen.«

»Sagen Sie ihm, daß es mein dringender Wunsch ist, und daß ich nicht länger warten kann, daß ich ihn aber soeben nicht zu täuschen gesucht habe. Er ist vielleicht deshalb weggegangen, weil er sehr ehrenhaft ist und es ihm mißfallen hat, daß ich ihn anscheinend zu täuschen suchte. Ich habe ihn nicht zu täuschen gesucht; ich will wirklich das Buch herausgeben und eine Druckerei gründen ...«

»Er ist ein ehrenhafter, durchaus ehrenhafter Mann,« bestätigte ich mit warmer Empfindung.

»Wenn es sich übrigens bis morgen nicht einrichten läßt, dann will ich selbst hingehen, mag daraus entstehen, was da will, und wenn es auch alle erfahren.«

»Vor drei Uhr kann ich morgen nicht bei Ihnen sein,« bemerkte ich nach einiger Überlegung.

»Also um drei Uhr? Also habe ich gestern bei Stepan Trofimowitsch richtig vermutet, daß Sie mir ein klein wenig ergeben sind?« sagte sie lächelnd, drückte mir eilig zum Abschiede die Hand und ging schnell zu dem alleingelassenen Mawriki Nikolajewitsch.

Als ich hinauskam, fühlte ich mich ganz niedergedrückt durch mein Versprechen und begriff gar nicht, was eigentlich vorgegangen war. Ich hatte eine Frau in wahrer Verzweiflung gesehen, so daß sie sich nicht davor gefürchtet hatte, sich durch ihr Vertrauen zu einem ihr fast ganz unbekannten Manne zu kompromittieren. Ihr weibliches Lächeln in einem für sie so schweren Augenblicke und der Hinweis darauf, daß sie schon gestern meine Gefühle bemerkt habe, gaben mir gewissermaßen einen Stich ins Herz; aber sie tat mir leid, sehr leid; das wars! Ihre Geheimnisse wurden für mich plötzlich etwas Heiliges, und wenn man sie mir sogar jetzt hätte enthüllen wollen, so hätte ich mir vermutlich die Ohren zugestopft und nichts weiter hören wollen. Ich ahnte nur etwas ... Und doch begriff ich gar nicht, auf welche Weise ich hier etwas ermöglichen könnte. Ja, ich wußte noch nicht einmal, was ich eigentlich ermöglichen sollte: eine Begegnung? Aber was für eine Begegnung? Und wie sollte ich die beiden zusammenbringen? Meine ganze Hoffnung beruhte auf Schatow, obgleich ich im voraus wissen konnte, daß er mir nicht behilflich sein werde. Aber dennoch eilte ich zu ihm.

 

IV

Erst am Abend, es war schon sieben durch, traf ich ihn zu Hause. Zu meinem Erstaunen hatte er Besuch: Alexei Nilowitsch war bei ihm und noch ein mir nur wenig bekannter Herr, ein gewisser Schigalew, ein Bruder von Frau Wirginskaja.

Dieser Schigalew hielt sich schon seit zwei Monaten in unserer Stadt auf; ich wußte nicht, wo er hergekommen war; ich hatte über ihn nur gehört, daß er einen Aufsatz in einer fortschrittlichen Petersburger Zeitschrift habe drucken lassen. Wirginski hatte mich mit ihm gelegentlich auf der Straße bekannt gemacht. In meinem ganzen Leben habe ich nie einen Menschen mit so finsterem, mürrischem, verdrossenem Gesichte gesehen. Er sah aus, als erwarte er den Weltuntergang, und zwar nicht etwa irgendwann auf Grund von Prophezeiungen, die auch trügen könnten, sondern mit völliger Bestimmtheit, also zum Beispiel übermorgen vormittag um zehn Uhr und fünfundzwanzig Minuten. Wir hatten übrigens damals kaum ein Wort miteinander gewechselt, sondern einander nur wie zwei Verschwörer die Hand gedrückt. Am meisten waren mir an ihm die Ohren aufgefallen, die von unnatürlicher Größe, lang, breit und dick waren und in eigentümlicher Weise vom Kopfe abstanden. Seine Bewegungen waren ungeschickt und langsam. Wenn Liputin sich manchmal in Zukunftsträumereien darüber erging, daß die Fourierschen sozialistischen Phantasien sich in unserm Gouvernement verwirklichen würden, so wußte dieser aufs genaueste Tag und Stunde, wann das geschehen werde. Er machte mir einen unheimlichen Eindruck; ich war erstaunt, ihn jetzt bei Schatow zu treffen, um so mehr da Schatow Besuch überhaupt nicht gern bei sich sah.

Schon als ich noch auf der Treppe war, hörte ich, daß sie sehr laut sprachen, alle drei zugleich, und, wie es schien, miteinander stritten; aber sowie ich erschien, verstummten sie alle. Sie hatten stehend gestritten; nun aber setzten sie sich auf einmal alle hin, so daß auch ich mich setzen mußte. Das dumme Stillschweigen wurde etwa drei volle Minuten lang nicht unterbrochen. Obgleich Schigalew mich wiedererkannte, tat er doch, als kenne er mich nicht, und das tat er gewiß nicht aus Feindschaft, sondern ohne besonderen Grund. Mit Alexei Nilowitsch begrüßte ich mich leichthin, aber schweigend und ohne Händedruck. Schigalew begann endlich, mich ernst und finster anzusehen, in dem sehr naiven Glauben, ich würde auf einmal aufstehen und hinausgehen. Schließlich erhob sich Schatow von seinem Stuhle, und alle andern sprangen plötzlich ebenfalls auf. Sie gingen hinaus, ohne Lebewohl zu sagen; nur sagte Schigalew, als sie schon in der Tür waren, zu Schatow, der ihnen das Geleit gab:

»Vergessen Sie nicht, daß Sie Rechenschaft schuldig sind.«

»Ich schere mich den Kuckuck um Ihre Rechenschaft und bin keinem Teufel etwas schuldig,« erwiderte Schatow und legte, als die beiden heraus waren, den Haken vor die Tür.

»Narren!« sagte er, indem er mich anblickte und das Gesicht zu einem schiefen Lächeln verzog.

Er sah zornig aus, und es kam mir ganz seltsam vor, daß er von selbst zu sprechen anfing. Gewöhnlich war früher der Hergang der gewesen: wenn ich zu ihm kam (was übrigens nur sehr selten geschah), so setzte er sich finster in eine Ecke, gab ärgerliche Antworten, wurde erst nach langer Zeit lebendig und begann dann mit Vergnügen zu reden. Dafür machte er beim Abschiede wieder jedesmal unfehlbar ein mürrisches Gesicht und entließ seinen Gast, wie wenn er sich einen persönlichen Feind vom Halse schaffte.

»Ich habe bei diesem Alexei Nilowitsch gestern Tee getrunken,« bemerkte ich. »Er scheint ja ein fanatischer Atheist zu sein.«

»Der russische Atheismus ist noch nie über die Witzelei hinausgekommen,« brummte Schatow, wahrend er eine neue Kerze an Stelle des bisherigen Stümpfchens aufsteckte.

»Nein, dieser schien mir nicht auf Witzeleien auszugehen; er versteht nicht einmal einfach zu reden, geschweige denn Witze zu machen.«

»Es sind schlappe Kerle; das kommt alles von der lakaienhaften Denkweise,« bemerkte Schatow ruhig, setzte sich in eine Ecke auf einen Stuhl und stützte sich mit beiden Handflächen auf die Knie.

»Haß ist auch dabei,« sagte er, nachdem er etwa eine Minute lang geschwiegen hatte. »Sie würden die ersten sein, die kreuzunglücklich wären, wenn Rußland plötzlich auf irgendwelche Weise umgestaltet würde, selbst nach ihren Wünschen, und auf einmal unermeßlich reich und glücklich würde. Dann hätten sie niemand, den sie hassen und verhöhnen könnten, nichts, worüber sie spotten könnten! Bei ihnen ist nur ein tierischer, grenzenloser Haß gegen Rußland zu finden, der sich in ihren Organismus hineingefressen hat ... Und von Tränen hinter dem sichtbaren Lachen, von ›Tränen, die die Welt nicht sieht‹, ist bei ihnen nicht die Rede! Noch nie ist in Rußland etwas Verlogeneres gesagt worden als dieses Wort von den ungesehenen Tränen!« rief er beinah wütend.

»Nun, nun, Sie sind ja aber ganz wild!« sagte ich lachend.

»Und Sie sind ein ›gemäßigter Liberaler‹,« erwiderte Schatow lächelnd. »Wissen Sie,« fügte er plötzlich hinzu, »ich habe den Ausdruck ›lakaienhafte Denkweise‹ vielleicht falsch gegriffen; Sie werden mir gewiß sofort sagen: ›Du selbst bist als Sohn eines Lakaien geboren; aber ich für meine Person bin kein Lakai.‹«

»Das wollte ich durchaus nicht sagen ... Was reden Sie da!«

»Entschuldigen Sie sich nicht; ich fürchte Sie nicht. Früher war ich nur der Sohn eines Lakaien; aber jetzt bin ich selbst ein Lakai geworden, ein ebensolcher wie Sie. Unser russischer Liberaler ist vor allen Dingen ein Lakai und lauert nur darauf, jemandem die Stiefel zu putzen.«

»Was für Stiefel? Was ist das für ein bildlicher Ausdruck!«

»Das ist gar kein bildlicher Ausdruck! Ich sehe, Sie lachen ... Stepan Trofimowitsch hat ganz recht, wenn er sagt, daß ich zusammengequetscht, aber noch nicht totgedrückt unter einem Steine liege und mich winde; das ist ein sehr treffender Vergleich von ihm.«

»Stepan Trofimowitsch behauptet, daß Sie in die Deutschen vernarrt seien,« bemerkte ich lachend. »Und wir haben ja auch viel geistiges Eigentum der Deutschen in unsere Tasche gesteckt.«

»Zwanzig Kopeken haben wir von ihnen genommen und hundert Rubel eigenes Geld hingegeben.«

Etwa eine Minute lang schwiegen wir beide.

»Diese Anschauungsweise hat er sich zu eigen gemacht, als er in Amerika dalag.«

»Wer? Wieso dalag?«

»Ich meine Kirillow. Ich und er haben da vier Monate lang in einer Hütte auf dem Fußboden gelegen.«

»Sind Sie denn in Amerika gewesen?« fragte ich verwundert. »Sie haben ja nie davon gesprochen.«

»Was ist davon zu erzählen? Vor zwei Jahren fuhren wir zu dreien auf einem Auswandererdampfer für unser letztes Geld nach den Vereinigten Staaten, ›um an uns das Leben eines amerikanischen Arbeiters zu erproben und auf diese Art durch ein am eigenen Leibe vorgenommenes Experiment den Zustand des Menschen in seiner schlimmsten sozialen Stellung zu konstatieren‹. In dieser Absicht begaben wir uns dorthin.«

»Herrgott!« rief ich lachend; »da hätten Sie nur in unserem Gouvernement zur Erntezeit irgendwohin als Arbeiter zu gehen brauchen, um das durch ein Experiment am eigenen Leibe zu erproben; die Fahrt nach Amerika konnten Sie sich sparen!«

»Wir verdingten uns da als Arbeiter bei einem Unternehmer; Russen waren wir insgesamt sechs Mann: Studenten, sogar Gutsbesitzer, die eigene Güter hatten, sogar Offiziere, und alle mit demselben großartigen Ziele. Nun, wir arbeiteten und quälten uns, daß wir ganz herunterkamen; schließlich gingen Kirillow und ich weg; wir waren krank geworden und konnten es nicht mehr aushalten. Der Unternehmer übervorteilte uns gehörig bei der Abrechnung: statt der kontraktmäßigen dreißig Dollar bezahlte er mir acht und ihm fünfzehn; auch waren wir dort wiederholt geprügelt worden. Na, da lagen wir denn, Kirillow und ich, ohne Arbeit in einem kleinen Städtchen vier Monate hintereinander auf dem Fußboden; er hing seinen Gedanken nach und ich den meinigen.«

»Hat der Unternehmer Sie wirklich geprügelt? Geschieht so etwas in Amerika? Na, aber gewiß hatten Sie ihn geschimpft!«

»Durchaus nicht. Im Gegenteil, Kirillow und ich waren sogleich zu der Einsicht gekommen, daß ›wir Russen den Amerikanern gegenüber kleine Kinder sind, und daß man in Amerika geboren sein oder wenigstens lange Jahre mit den Amerikanern zusammengelebt haben muß, um mit ihnen auf gleichem Niveau zu stehen‹. Ja, wenn man uns für einen Gegenstand, der eine Kopeke wert war, einen Dollar abverlangte, so zahlten wir ihn nicht nur mit Vergnügen, sondern sogar mit Begeisterung. Wir lobten alles: den Spiritismus, das Lynchgesetz, die Revolver, die Vagabunden. Einmal fuhren wir auf der Bahn, da griff einer in meine Tasche, zog meine Haarbürste heraus und bürstete sich damit; Kirillow und ich wechselten nur einen Blick miteinander und sagten uns im stillen, daß dieses Benehmen in der Ordnung sei und uns sehr gefalle ...«

»Sonderbar, daß bei uns mancher sich den Gedanken an ein solches Experiment nicht nur durch den Kopf gehen läßt, sondern ihn auch zur Ausführung bringt.«

»Aber die meisten sind schlappe Kerle,« sagte Schatow noch einmal.

»So über den Ozean zu fahren, auf einem Auswandererschiffe, nach einem unbekannten Lande, mit der Absicht, ›durch ein am eigenen Leibe vorgenommenes Experiment zu erfahren‹ und so weiter: darin liegt doch wirklich eine hochsinnige Festigkeit ... Aber wie sind Sie denn von dort zurückgekommen?«

»Ich schrieb an jemand in Europa, und er schickte mir hundert Rubel.«

Schatow hatte, während er sprach, die ganze Zeit über nach seiner Gewohnheit hartnäckig auf die Erde geblickt, selbst wenn er in Eifer geriet. Nun hob er auf einmal den Kopf in die Höhe:

»Wollen Sie den Namen des Menschen wissen?«

»Wer war es denn?«

»Nikolai Stawrogin.«

Er stand plötzlich auf, wandte sich zu seinem Schreibtische aus Lindenholz und begann auf ihm herumzukramen. Bei uns ging ein dunkles, aber glaubwürdiges Gerücht, daß seine Frau eine Zeitlang in Paris ein Verhältnis mit Nikolai Stawrogin gehabt habe, und zwar gerade vor zwei Jahren, also als Schatow in Amerika war, allerdings schon lange, nachdem sie ihn in Genf verlassen hatte. »Wenn es so steht, wie kommt er dann jetzt auf den Einfall, den Namen zu nennen und von der Geschichte zu reden?« dachte ich.

»Ich habe sie ihm bis jetzt noch nicht zurückgegeben,« sagte er, indem er sich wieder zu mir wandte; dann setzte er sich, mich unverwandt ansehend, auf seinen früheren Platz in der Ecke und fragte kurz in ganz anderem Tone:

»Sie sind doch gewiß mit einer Absicht hergekommen; was steht zu Ihren Diensten?«

Ich erzählte ihm sogleich alles in genauer historischer Ordnung und fügte hinzu, obgleich ich von meiner früheren Verliebtheit bereits zur Besinnung gekommen sei, befände ich mich doch in noch größerer Verlegenheit: ich sähe ein, daß es sich hier um etwas sehr Wichtiges für Lisaweta Nikolajewna handle, und hätte den dringenden Wunsch, ihr zu helfen; aber das ganze Unglück bestehe darin, daß ich nicht wüßte, wie ich das ihr gegebene Versprechen halten solle, ja, mir jetzt nicht einmal darüber im klaren sei, was ich ihr eigentlich versprochen hätte. Darauf versicherte ich ihm mit allem Nachdruck, daß es ihr durchaus ferngelegen habe, ihn täuschen zu wollen; es liege irgendein Mißverständnis vor, und sie sei sehr betrübt darüber, daß er heute in so ungewöhnlicher Art weggegangen sei.

Er hatte sehr aufmerksam zugehört.

»Vielleicht habe ich nach meiner Gewohnheit wirklich heute eine Dummheit gemacht ... Nun, wenn sie selbst nicht verstanden hat, warum ich so weggegangen bin, um so besser für sie.«

Er stand auf, trat zur Tür, öffnete sie ein wenig und horchte nach der Treppe zu.

»Sie wünschen diese Person selbst zu sehen?«

»Gerade das möchte ich; aber wie ist es zu machen?« rief ich, erfreut aufspringend.

»Wir wollen einfach hingehen, solange sie noch allein ist. Wenn er kommt und erfährt, daß wir dagewesen sind, dann schlägt er sie. Ich gehe oft heimlich zu ihr. Ich habe ihn heute durchgewalkt, als er wieder anfing, sie zu schlagen.«

»Was Sie sagen!«

»Allerdings; an den Haaren habe ich ihn von ihr weggerissen; er wollte mich dafür prügeln; aber ich habe ihn eingeschüchtert, und damit war die Sache zu Ende. Ich fürchte, wenn er betrunken zurückkommt und sich daran erinnert, so schlägt er sie gehörig dafür.«

Wir gingen sogleich nach unten.

 

V

Die Tür zu der Lebjadkinschen Wohnung war nur zugemacht, aber nicht verschlossen, und wir traten ungehindert ein. Ihre ganze Behausung bestand aus zwei häßlichen kleinen Zimmern mit verräucherten Wänden, an denen die schmutzigen Tapeten buchstäblich in Fetzen hingen. Es war dort früher einige Jahre lang eine Speisewirtschaft gewesen, bevor der Hausbesitzer Filippow sie in sein neues Haus verlegt hatte. Die übrigen Zimmer, die zur Speisewirtschaft gedient hatten, waren jetzt zugeschlossen, und diese beiden waren dem Hauptmann Lebjadkin überlassen worden. Das Mobiliar bestand aus einfachen Bänken und Brettertischen, dazu noch aus einem sehr alten Lehnstuhl ohne Seitenlehnen. In dem zweiten Zimmer stand in einer Ecke ein mit einer baumwollenen Decke zugedecktes Bett, welches Mademoiselle Lebjadkina gehörte; der Hauptmann selbst warf sich, wenn er sich schlafen legte, jedesmal auf den Fußboden, nicht selten in den Kleidern. Überall waren Speisereste, Schmutz und Nässe zu sehen; ein großer, dicker, ganz nasser Lappen lag im ersten Zimmer mitten auf dem Fußboden, und ebendort lag in einer Lache ein alter ausgetretener Schuh. Es war klar, daß sich hier niemand um etwas kümmerte; die Öfen wurden nicht geheizt, Speisen nicht zubereitet; nicht einmal einen Samowar hatten sie, wie mir Schatow ausdrücklich erzählte. Der Hauptmann war mit seiner Schwester in größter Armut hier angekommen, wie Liputin gesagt hatte, und tatsächlich anfangs in einigen Häusern betteln gegangen; dann aber hatte er unerwartet Geld erhalten, sogleich angefangen zu trinken und war vom Branntwein so dumm und duselig geworden, daß er sich um den Haushalt gar nicht mehr kümmerte.

Mademoiselle Lebjadkina, die ich so sehr zu sehen wünschte, saß still und ruhig im zweiten Zimmer in einer Ecke auf einer Bank an einem bretternen Küchentisch. Sie redete uns nicht an, als wir die Tür öffneten, und rührte sich nicht einmal vom Platze. Schatow sagte, die Türen würden bei ihnen nie zugeschlossen, und einmal habe die Flurtür die ganze Nacht über sperrangelweit aufgestanden. Bei dem matten Scheine eines dünnen Lichtes, das in einem eisernen Leuchter steckte, erblickte ich eine weibliche Person von vielleicht dreißig Jahren, von schrecklicher Magerkeit, bekleidet mit einem alten dunklen Kattunkleide; der lange Hals war unbedeckt, die dünnen, dunklen Haare im Nacken in einen kleinen Kauz zusammengefaßt, der nicht größer war als die Faust eines zweijährigen Kindes. Sie blickte uns ganz heiter an; außer dem Leuchter befanden sich vor ihr auf dem Tische ein kleiner Spiegel in einem Holzrahmen, ein altes Spiel Karten, ein abgegriffenes Liederbüchelchen und eine Semmel, von der schon ein- oder zweimal abgebissen war. Bemerkenswert war, daß Mademoiselle Lebjadkina sich weiß und rot schminkte und sich die Lippen mit etwas bestrich. Auch malte sie sich die Augenbrauen schwarz, die auch ohnedies lang, schmal und dunkel waren. Auf ihrer schmalen, hohen Stirn zeichneten sich trotz der weißen Schminke drei lange Runzeln ziemlich scharf ab. Ich wußte bereits, daß sie lahm war; aber diesmal stand sie während unserer Anwesenheit nicht auf und ging nicht. Früher einmal, in der ersten Jugend, mochte dieses abgemagerte Gesicht ganz schön gewesen sein; aber die stillen, freundlichen grauen Augen waren auch jetzt noch merkwürdig; aus ihrem stillen, offenen, beinah fröhlichen Blicke leuchtete eine sanfte Träumerei heraus. Diese stille, ruhige Fröhlichkeit, die auch in ihrem Lächeln zum Ausdruck kam, setzte mich nach allem, was ich von der Kosakenpeitsche und den Roheiten des Bruders gehört hatte, in Erstaunen. Sonderbar: statt des peinlichen und sogar ängstlichen Gefühles, das man gewöhnlich in Gegenwart all solcher von Gott gestraften Wesen empfindet, war es mir gleich vom ersten Augenblicke an beinah angenehm, sie anzusehen, und das Gefühl, das sich nachher meiner bemächtigte, war nur Mitleid, aber keineswegs Widerwillen.

»So sitzt sie nun buchstäblich Tage lang allein da, ohne sich zu rühren, legt sich Karten oder sieht in den Spiegel,« sagte Schatow, auf sie hinweisend, als wir auf der Schwelle standen. »Er gibt ihr nichts zu essen. Die alte Frau aus dem Seitengebäude bringt ihr manchmal etwas aus Barmherzigkeit. Da sitzt sie nun hier so allein beim Lichte!«

Zu meiner Verwunderung redete Schatow laut, wie wenn sie gar nicht im Zimmer wäre.

»Guten Abend, lieber Schatow!« sagte Mademoiselle Lebjadkina freundlich.

»Ich habe dir einen Gast mitgebracht, Marja Timofejewna,« sagte Schatow.

»Nun, der Gast soll mir willkommen sein. Ich weiß nicht, wen du da hergebracht hast; ich kann mich auf so einen nicht besinnen,« erwiderte sie, indem sie mich ein Weilchen unverwandt hinter dem Lichte hervor betrachtete; dann aber wendete sie sich sogleich wieder zu Schatow; um mich kümmerte sie sich nun während des ganzen Gespräches gar nicht mehr, wie wenn ich überhaupt nicht anwesend wäre.

»Es ist dir wohl langweilig geworden, so allein in deinem Zimmer umherzuwandern?« sagte sie lachend, wobei zwei Reihen wunderschöner Zähne sichtbar wurden.

»Ja, es wurde mir langweilig, und dann wollte ich dich auch gern besuchen.«

Schatow rückte eine Bank an den Tisch, setzte sich hin und forderte mich auf, neben ihm Platz zu nehmen.

»Ein Gespräch habe ich immer gern; aber du kommst mir doch lächerlich vor, lieber Schatow; du siehst ja aus wie ein Mönch. Wann hast du dich denn zuletzt gekämmt? Komm, ich werde dich wieder einmal kämmen!« Mit diesen Worten zog sie ein Kämmchen aus der Tasche. »Seit ich dich zum letzten Male gekämmt habe, hast du wohl dein Haar nicht mehr angerührt?«

»Ich habe ja keinen Kamm!« versetzte Schatow lachend.

»Wirklich nicht? Dann werde ich dir meinen schenken; nicht diesen hier, sondern einen andern; aber du mußt mich daran erinnern.«

Mit dem ernstesten Gesichte machte sie sich daran, ihn zu kämmen, zog ihm sogar einen Scheitel auf der Seite, bog sich ein wenig zurück, um zu sehen, ob alles gut gelungen war, und steckte den Kamm wieder in die Tasche.

»Weißt du was, lieber Schatow,« sagte sie, den Kopf hin und her wiegend, »du bist doch sonst ein vernünftiger Mensch, aber doch langweilst du dich. Ich muß mich wundern, wenn ich euch alle so ansehe: ich verstehe gar nicht, wie sich die Leute langweilen können. Sehnsucht ist nicht langweilig. Ich bin ganz vergnügt.«

»Auch wenn dein Bruder da ist?«

»Du meinst Lebjadkin? Der ist mein Bedienter. Es ist mir ganz gleich, ob er da ist oder nicht. Wenn ich ihm befehle: ›Lebjadkin, bring Wasser! Lebjadkin, gib die Schuhe her!‹ dann läuft er nur so; manchmal versündige ich mich sogar und lache über ihn.«

»Und das ist wirklich genau so,« sagte Schatow wieder laut und ungeniert, indem er sich zu mir wandte. »Sie behandelt ihn ganz wie einen Bedienten; ich habe selbst gehört, wie sie ihn anherrschte: ›Lebjadkin, bring Wasser!‹ und dazu lachte; der Unterschied besteht nur darin, daß er nicht nach Wasser läuft, sondern sie dafür schlägt; aber sie fürchtet sich gar nicht vor ihm. Sie hat beinahe täglich eine Art von Nervenanfällen, die ihr das Gedächtnis benehmen, so daß sie nach ihnen alles vergißt, was soeben geschehen ist, und immer die Zeiten verwechselt. Sie denken wohl, daß sie sich daran erinnert, wie wir hereingekommen sind? Vielleicht tut sie es; gewiß aber hat sie alles schon in ihrer Weise umgestaltet und hält uns jetzt für ganz andere Menschen, obwohl sie sich erinnert, daß ich der liebe Schatow bin. Daß ich laut spreche, tut nichts; wenn man nicht mit ihr spricht, hört sie sofort auf zuzuhören und überläßt sich ihren Träumereien, in denen sie ganz versinkt. Sie ist eine erstaunliche Träumerin; sie sitzt manchmal acht Stunden, ja einen ganzen Tag lang auf einem Fleck. Da liegt nun eine Semmel; sie hat vielleicht seit dem Morgen nur einmal davon abgebissen und wird sie erst morgen zu Ende essen. Da! Jetzt hat sie angefangen, sich Karten zu legen ...«

»Ich lege und lege, lieber Schatow; aber es kommt nicht ordentlich heraus,« fiel auf einmal Marja Timofejewna ein, die die letzten Worte gehört hatte; und ohne hinzusehen, streckte sie die linke Hand nach der Semmel aus; wahrscheinlich hatte sie auch gehört, daß diese erwähnt wurde.

Endlich erfaßte sie die Semmel; aber nachdem sie sie eine Weile in der linken Hand gehalten hatte, ließ sie sich durch das neu in Gang kommende Gespräch fesseln und legte sie, ohne abgebissen zu haben, wieder auf den Tisch; sie war sich dieser Handlungen gar nicht bewußt geworden.

»Es kommt immer dasselbe heraus: eine Reise, ein böser Mensch, eine Hinterlist jemandes, ein Sterbebett, ein Brief von irgendwoher, eine unerwartete Nachricht, – ich meine, das ist alles Lug und Trug; wie denkst du darüber, lieber Schatow? Wenn die Menschen lügen, warum sollten die Karten nicht auch lügen?« Sie mischte die Karten. »Dasselbe sagte ich auch einmal zu Mutter Praskowja; das war eine sehr achtbare Frau, die kam immer zu mir in meine Zelle gelaufen, um sich ohne Wissen der Mutter Äbtissin Karten legen zu lassen. Und es kamen auch noch andere mit ihr mitgelaufen. Da sagten sie nun ›Ach!‹ und ›Oh!‹ und wiegten die Köpfe hin und her und redeten und schwatzten; aber ich lachte: ›Na, Mutter Praskowja,‹ sagte ich, ›wie werden Sie denn einen Brief bekommen, wenn zwölf Jahre lang keiner angekommen ist?‹ Ihre Tochter hatte der Mann derselben irgendwohin in die Türkei mitgenommen, und es war zwölf Jahre lang nichts von ihr zu hören gewesen. Aber da saß ich am folgenden Tage abends zum Tee bei der Mutter Äbtissin (sie war aus einer fürstlichen Familie), und bei ihr saß auch eine Dame von auswärts, eine große Phantastin, und auch ein Mönch vom Berge Athos, ein sehr komischer Mensch nach meiner Ansicht. Und was meinst du wohl, lieber Schatow? Dieser selbe Mönch hatte an demselben Morgen der Mutter Praskowja aus der Türkei von ihrer Tochter einen Brief gebracht, – siehst du, da ist Karo-Bube, eine unerwartete Nachricht! Also wir tranken da Tee, und der Mönch vom Athos sagte zur Mutter Äbtissin: ›Und am allermeisten, ehrwürdige Mutter Äbtissin, hat Gott Ihr Kloster dadurch gesegnet, daß Sie einen so kostbaren Schatz in seinen Mauern bewahren.‹ ›Was für einen Schatz?‹ fragte die Mutter Äbtissin. ›Die gottwohlgefällige Mutter Lisaweta,‹ antwortete der Mönch. Diese gottwohlgefällige Mutter Lisaweta war in der Umfassungsmauer des Klosters eingemauert, in einem Käfig, der drei Ellen lang und zwei Ellen hoch war, und saß da hinter einem eisernen Gitter schon siebzehn Jahre, Sommer und Winter im bloßen hänfenen Hemde, und stach immer mit einem Strohhalm oder einem Stöckchen in ihr Hemd, in die Leinwand, hinein und redete nichts und kämmte sich nicht und wusch sich nicht, die ganzen siebzehn Jahre lang. Im Winter schob man ihr einen Schafpelz durchs Gitter und alle Tage ein Körbchen mit Brot und einen Krug Wasser. Die Wallfahrer sahen sie an, staunten, seufzten und legten Geld hin. ›Na, ja, ein schöner Schatz,‹ versetzte die Mutter Äbtissin (sie ärgerte sich; denn sie konnte Lisaweta gar nicht leiden); ›Lisaweta sitzt da nur aus Bosheit, nur aus Eigensinn; es ist alles nur Verstellung.‹ Das gefiel mir nicht; ich wollte mich damals selbst einsperren lassen. ›Meiner Ansicht nach‹, sagte ich, ›ist Gott und die Natur ein und dasselbe.‹ Da riefen sie alle wie aus einem Munde: ›Aber so etwas!‹ Die Äbtissin lachte, fing an mit der fremden Dame zu flüstern, rief mich zu sich und streichelte mich, und die Dame schenkte mir ein rosa Band; wenn du willst, werde ich es dir zeigen. Na, und der Mönch hielt mir eine belehrende Rede und sprach so freundlich und ruhig und gewiß auch sehr verständig, und ich saß da und hörte zu. ›Hast du es verstanden?‹ fragte er. ›Nein,‹ antwortete ich, ›ich habe nichts verstanden; lassen Sie mich nur ganz in Ruhe!‹ Seitdem ließen sie mich ganz in Ruhe, lieber Schatow. Aber als ich einmal aus der Kirche kam, da flüsterte mir eine unserer Nonnen, die bei uns Buße tun mußte für ihre Weissagungen, leise zu: ›Was ist die Muttergottes? Was meinst du?‹ ›Die Muttergottes‹, antwortete ich, ›ist die Hoffnung des Menschengeschlechtes.‹ ›Ja,‹ sagte sie, ›die Muttergottes ist die kühle Mutter Erde, und sie schließt für den Menschen große Freude ein. Und jeder irdische Kummer und jede irdische Träne wird uns zur Freude; und wenn du mit deinen Tränen die Erde unter dir eine halbe Elle tief getränkt haben wirst, dann wirst du dich sogleich über alles freuen. Und du wirst keinen, gar keinen Kummer mehr haben,‹ sagte sie; ›eine solche Prophezeiung gibt es.‹ Dieses Wort prägte sich mir damals ein. Seitdem fing ich an, beim Gebete, wenn ich die tiefen Verbeugungen machte, jedesmal die Erde zu küssen; ich küßte sie und weinte. Und ich kann dir sagen, lieber Schatow: diese Tränen sind etwas Gutes; und wenn du auch keinen Kummer hast, so fließen deine Tränen doch vor lauter Freude. Die Tränen fließen von selbst, das ist sicher. Ich ging manchmal an das Seeufer: auf der einen Seite lag unser Kloster und auf der andern unser spitzer Berg; er hieß darum auch der Spitzberg. Ich stieg auf diesen Berg hinauf und wandte mich mit dem Gesichte nach Osten, fiel auf die Erde nieder, weinte und weinte und konnte mich nicht erinnern, wie lange ich geweint hatte, und konnte mich damals an nichts erinnern und wußte damals nichts. Dann stand ich auf und wandte mich um, und die Sonne ging unter, so groß und prächtig und herrlich, – siehst du gern in die Sonne, lieber Schatow? Es ist ein schöner, aber trauriger Anblick. Dann wandte ich mich wieder nach Osten, und der Schatten, der Schatten unseres Berges lief wie ein Pfeil weit über den See hin, schmal und lang, ganz lang, über eine Werst weit, bis zu der Insel im See, und da zerschnitt er diese steinige Insel in zwei Hälften, und wenn er sie in zwei Hälften zerschnitten hatte, dann ging die Sonne ganz unter, und alles erlosch plötzlich. Dann wurde ich ganz traurig; dann kam mir auf einmal die Erinnerung wieder, und ich fürchtete mich vor der Dunkelheit, lieber Schatow. Und am meisten weinte ich um mein Kindchen ...«

»Hast du denn eines gehabt?« fragte Schatow, der die ganze Zeit über sehr aufmerksam zugehört hatte, und stieß mich mit dem Ellbogen an.

»Gewiß doch! Ein ganz kleines, rosiges, mit so winzigen Nägelchen, und mein ganzer Kummer ist, daß ich mich nicht erinnern kann, ob es ein Knabe oder ein Mädchen war. Bald ist es mir, als sei es ein Knabe, bald, als sei es ein Mädchen gewesen. Und als ich es damals geboren hatte, wickelte ich es gleich in Batist und Spitzen und umwand es mit rosa Bändern und bestreute es mit Blumen und putzte es an und verrichtete ein Gebet über ihm und trug es ungetauft weg; ich trug es durch einen Wald und fürchtete mich vor dem Walde, und mir war so bange, und am meisten weinte ich darüber, daß ich es geboren hatte und meinen Mann nicht kannte.«

»Hast du denn einen gehabt?« fragte Schatow vorsichtig.

»Du kommst mir lächerlich vor, lieber Schatow, mit deinen Einwendungen. Ich hatte einen, ich werde wohl einen gehabt haben; aber was hilft mir das, wenn es ganz ebenso ist, als ob ich keinen gehabt hätte? Da hast du ein leichtes Rätsel; nun rate mal!« fügte sie lächelnd hinzu.

»Wo hast du das Kind denn hingetragen?«

»In den Teich habe ich es getragen,« antwortete sie seufzend.

Schatow stieß mich wieder mit dem Ellbogen an.

»Wie aber, wenn du überhaupt kein Kind gehabt hast und das alles nur ein Hirngespinst ist, wie?«

»Da legst du mir eine schwere Frage vor, lieber Schatow,« antwortete sie nachdenklich und ohne über eine solche Frage irgendwie erstaunt zu sein. »Darüber kann ich dir nichts sagen; vielleicht habe ich auch keins gehabt; meiner Meinung nach ist das von dir nur Neugier. Aber jedenfalls werde ich immer über das Kindchen weinen; habe ich es denn nicht im Traume gesehen?« Und große Tränen glänzten in ihren Augen. »Lieber Schatow, lieber Schatow, ist das wahr, daß dir deine Frau weggelaufen ist?« fragte sie, indem sie ihm plötzlich beide Hände auf die Schultern legte und ihn mitleidig anblickte. »Sei mir nicht böse wegen der Frage; mir ist ja auch traurig ums Herz. Weißt du, lieber Schatow, mir hat geträumt, er käme wieder zu mir und riefe lockend: ›Komm her, mein Kätzchen; komm zu mir, mein Kätzchen!‹ Am meisten freute ich mich darüber, daß er ›mein Kätzchen‹ sagte; er liebt mich noch, dachte ich.«

»Vielleicht wird er auch in Wirklichkeit kommen,« murmelte Schatow halblaut.

»Nein, lieber Schatow, das war ein Traum ... in Wirklichkeit kann er nicht kommen. Kennst du das Lied:

›Statt deines Prunkgemachs erwähle
Ich diese enge Zelle mir;
Daß meiner und auch deiner Seele
Sich Gott erbarme, bet' ich hier.‹

Ach, mein lieber, guter Schatow, warum fragst du mich nie nach etwas?«

»Du sagst ja doch nichts; deshalb frage ich dich erst gar nicht.«

»Ich werde nichts sagen, ich werde nichts sagen, und wenn man mich in Stücke reißt; ich werde nichts sagen,« fiel sie schnell ein. »Und wenn man mich brennt, werde ich nichts sagen. Was ich auch erdulden muß, ich werde nichts sagen, die Leute werden nichts erfahren.«

»Nun, siehst du, so hat also jeder sein Geheimnis,« sagte Schatow noch leiser und ließ den Kopf immer tiefer herabsinken.

»Aber wenn du mich bätest, würde ich es vielleicht doch sagen!« wiederholte sie verzückt. »Warum bittest du mich nicht? Bitte mich, bitte mich hübsch, lieber Schatow; vielleicht werde ich es dir sagen; bitte mich inständig, lieber Schatow, damit ich es gern tue ... lieber Schatow, lieber Schatow!«

Aber der liebe Schatow schwieg; das allgemeine Schweigen dauerte ungefähr eine Minute lang. Die Tränen rannen still über ihre blassen Wangen; sie saß da, ohne zu wissen, daß ihre beiden Hände noch auf Schatows Schultern lagen; aber sie blickte ihn nicht mehr an.

»Ach was! Was gehst du mich an! Es ist sogar unrecht!« rief Schatow und erhob sich plötzlich von der Bank. »Stehen Sie auf!« Er zog mir ärgerlich die Bank unter dem Leibe weg und stellte sie an ihren früheren Platz.

»Damit er nichts merkt, wenn er kommt. Es ist Zeit, daß wir gehen.«

»Ach, du sprichst immer von meinem Bedienten!« sagte Marja Timofejewna auflachend. »Du hast Angst vor ihm! Nun, lebt wohl, meine lieben Gäste; aber höre noch einen Augenblick, was ich sagen will! Heute kam dieser Nilowitsch mit dem rotbärtigen Hauswirt Filippow her, gerade als mein Bedienter auf mich losstürzte. Nein, wie der Hauswirt ihn packte und durch das Zimmer schleifte und mein Bedienter immer schrie: ›Ich trage keine Schuld; ich leide für fremde Sünden!‹ Kannst du es glauben: wir alle, die wir da waren, schüttelten uns nur so vor Lachen ...«

»Ach was, Timofejewna, das war ja ich und nicht der Rotbart; ich habe ihn ja heute an den Haaren von dir weggerissen. Der Hauswirt aber ist vorgestern zu euch gekommen, um euch zu schimpfen. Das hast du verwechselt.«

»Warte mal, das habe ich wirklich verwechselt; vielleicht bist du es gewesen. Nun, wozu sollen wir über Kleinigkeiten streiten; ihm kann es ganz gleich sein, wer ihn wegreißt,« sagte sie lachend.

»Kommen Sie!« rief Schatow und zog mich fort. »Das Tor hat geknarrt; wenn er uns hier antrifft, schlägt er sie.«

Wir waren kaum die Treppe hinaufgelaufen, als am Tore das Geschrei eines Betrunkenen und massenhafte Schimpfworte hörbar wurden. Schatow ließ mich in seine Wohnung hinein und schloß die Tür zu.

»Sie müssen ein Weilchen hier warten, wenn Sie nicht einen großen Skandal hervorrufen wollen. Hören Sie, er schreit wie ein Schwein; gewiß ist er wieder über die Schwelle gestrauchelt; jedesmal schlägt er da lang hin.«

Ohne Skandal ging es jedoch nicht ab.

 

VI

Schatow stand an seiner verschlossenen Tür und horchte nach der Treppe hin; auf einmal sprang er zurück.

»Er kommt hierher! Wußte ich es doch!« flüsterte er wütend. »Nun werden wir ihn vielleicht vor Mitternacht nicht los.«

Es erschollen einige starke Faustschläge gegen die Tür.

»Schatow, Schatow, mach auf!« brüllte der Hauptmann. »Schatow, lieber Freund! …

›Kam, dir meinen Mo-morgengruß zu bringen,
Dir zu me-melden, daß die liebe Sonne
Schon am Himmel str-r-rahlt, die Vöglein singen
Hell in Wald und Feld vor Lebenswonne,
Dir zu melden, daß auch ich erwachte,‹ (hol dich der Teufel!),
›Froh erwachte auf der Ba-bank von Rasen,‹ (wie auf der Prügelbank, ha-ha!),
›Dir zu melden, …‹

daß ich etwas trinken werde. Trinkt ja auch jedes Vöglein ein Schlückchen. Aber ich weiß nicht, was ich trinken werde. Na, hol der Teufel die dumme Neugier! Schatow, verstehst du auch wohl, wie schön es sich auf der Welt lebt?«

»Antworten Sie ihm nicht!« flüsterte mir Schatow wieder zu.

»Mach doch auf! Verstehst du auch wohl, daß es etwas Höheres gibt als Prügelei … bei der Menschheit? Es gibt bei einem e-edlen Menschen Augenblicke … Schatow, ich bin ein guter Mensch; ich verzeihe dir … Schatow, hol der Teufel die Proklamationen, was?«

Schweigen.

»Verstehst du auch wohl, du Esel, daß ich verliebt bin? Ich habe mir einen Frack gekauft; sieh mal, einen Liebesfrack, für fünfzehn Rubel; die Liebe eines Hauptmanns verlangt ein anständiges äußeres Auftreten … Mach auf!« brüllte er auf einmal wild und schlug wieder rasend mit den Fäusten an die Tür.

»Scher' dich zum Teufel!« schrie Schatow plötzlich.

»Kne-knecht! Ein leibeigner Knecht bist du, und deine Schwester ist eine Magd und … eine Diebin!«

»Du aber hast deine Schwester verkauft.«

»Du lügst! Ich leide ohne meine Schuld und kann durch eine einzige Aussage … verstehst du wohl, wer sie ist?«

»Nun, wer?« fragte Schatow und trat neugierig an die Tür heran.

»Verstehst du es auch wohl?«

»Ich werde es schon verstehen; sage nur, wer sie ist!«

»Ich habe den Mut, es zu sagen! Ich habe immer den Mut, alles öffentlich zu sagen! …«

»Na, du wirst wohl kaum den Mut dazu haben,« höhnte Schatow und winkte mir mit dem Kopfe, ich möchte zuhören.

»Ich habe nicht den Mut dazu?«

»Meiner Meinung nach hast du ihn nicht.«

»Ich habe nicht den Mut dazu?«

»So rede doch, wenn du nicht zu fürchten hast, daß dich ein Herr und Gebieter durchpeitschen läßt … Du bist ein Feigling, und das will ein Hauptmann sein!«

»Ich … ich … sie … sie ist …« stammelte der Hauptmann aufgeregt mit zitternder Stimme.

»Nun?« Schatow hielt das Ohr hin.

Es trat ein Stillschweigen ein, das mindestens eine halbe Minute dauerte.

»Schu-schurke!« ertönte es endlich auf der anderen Seite der Tür, und der Hauptmann retirierte, wie ein Samowar schnaufend, schnell nach unten, wobei er auf jeder Treppenstufe geräuschvoll stolperte.

»Nein, er ist schlau; auch wenn er betrunken ist, verplappert er sich nicht,« sagte Schatow und trat von der Tür zurück.

»Was bedeutet denn das alles?« fragte ich.

Schatow machte eine mißmutige Handbewegung, schloß die Tür auf und horchte wieder nach der Treppe hin; er horchte lange und stieg sogar leise ein paar Stufen hinunter. Endlich kehrte er zurück.

»Es ist nichts zu hören; er hat sie nicht geschlagen; also hat er sich ohne weiteres hingeworfen und ist eingeschlafen. Es ist Zeit, daß Sie gehen.«

»Hören Sie, Schatow, was soll ich denn jetzt aus alledem schließen?«

»Ach was! Schließen Sie daraus, was Sie wollen!« antwortete er müde und verdrossen und setzte sich an seinen Schreibtisch.

Ich ging weg. Ein sonderbarer Gedanke befestigte sich immer mehr in meinem Kopfe. Mit Sorge dachte ich an den morgigen Tag …

 

VII

Dieser »morgige Tag«, das heißt eben jener Sonntag, an welchem sich Stepan Trofimowitschs Schicksal unwiderruflich entscheiden sollte, war einer der merkwürdigsten Tage der Geschichte, die ich hier erzähle. Es war ein Tag der Überraschungen, ein Tag, an welchem frühere Knoten ihre Lösung fanden und neue sich schürzten, ein Tag greller Aufklärungen und noch ärgerer Verwirrungen. Am Mittag sollte ich, wie dem Leser bereits bekannt ist, meinen Freund zu Warwara Petrowna begleiten, und um drei Uhr nachmittags sollte ich bereits bei Lisaweta Nikolajewna sein, um ihr, ich wußte selbst nicht was, zu erzählen und ihr, ich wußte selbst nicht wobei, behilflich zu sein. Aber alles gestaltete sich in einer Weise, die niemand hatte voraussehen können. Kurz, es war ein Tag, an dem eine Anzahl von Zufällen wunderbar zusammentrafen.

Es begann damit, daß wir, Stepan Trofimowitsch und ich, als wir bei Warwara Petrowna ihrer Bestimmung gemäß pünktlich um zwölf Uhr erschienen, sie nicht zu Hause trafen; sie war noch nicht von der Messe zurückgekehrt. Mein armer Freund befand sich in einer solchen Stimmung oder, richtiger gesagt, in einer solchen Zerrüttung, daß dieser Umstand ihn sogleich niederschmetterte; halb ohnmächtig sank er im Salon auf einen Lehnstuhl. Ich bot ihm ein Glas Wasser an; aber obwohl er ganz blaß im Gesicht aussah und ihm sogar die Hände zitterten, wies er dies doch würdevoll zurück. Ich bemerke beiläufig, daß sich sein Kostüm bei dieser Gelegenheit durch ungewöhnliche Eleganz auszeichnete: er trug fast ballmäßige gestickte Batistwäsche, ein weißes Halstuch und neue strohgelbe Handschuhe; in der Hand hielt er einen neuen Hut, und er hatte sich sogar ein ganz klein wenig parfümiert. Kaum hatten wir uns hingesetzt, als Schatow, von dem Kammerdiener geführt, hereintrat; offenbar war auch er offiziell eingeladen worden. Stepan Trofimowitsch schickte sich schon an, aufzustehen, um ihm die Hand zu reichen; aber Schatow drehte, nachdem er uns beide aufmerksam angesehen hatte, sich kurz um, ohne uns auch nur zuzunicken, ging in eine Ecke und setzte sich dort hin. Stepan Trofimowitsch blickte mich wieder erschrocken an.

So saßen wir noch mehrere Minuten in völligem Stillschweigen da. Stepan Trofimowitsch fing an, mir etwas sehr schnell zuzuflüstern; aber ich konnte ihn nicht verstehen, und er selbst sprach vor Aufregung nicht zu Ende, sondern brach ab. Der Kammerdiener kam noch einmal herein, um etwas auf dem Tische in Ordnung zu bringen, wahrscheinlicher aber, um uns anzusehen. Plötzlich wandte sich Schatow an ihn mit der lauten Frage:

»Alexei Jegorowitsch, wissen Sie nicht, ob Darja Pawlowna mit ihr mitgefahren ist?«

»Warwara Petrowna sind allein nach dem Dom gefahren, und Darja Pawlowna sind oben in ihrem Zimmer geblieben; Fräulein sind nicht ganz wohl,« meldete Alexei Jegorowitsch feierlich und zeremoniös.

Mein armer Freund warf mir wieder einen flüchtigen, unruhigen Blick zu, so daß ich mich endlich von ihm abwandte. Plötzlich fuhr an der Haustür eine Equipage vor, und eine entfernte Bewegung im Hause benachrichtigte uns, daß die Hausfrau zurückgekehrt sei. Wir sprangen sämtlich von unseren Plätzen auf; aber es begab sich wieder etwas Unerwartetes: es wurde das Geräusch vieler Schritte hörbar, woraus sich entnehmen ließ, daß die Hausfrau nicht allein zurückgekehrt war, und dies war wirklich einigermaßen sonderbar, da sie uns doch selbst diese Stunde bestimmt hatte. Zuletzt hörten wir, daß jemand mit ungewöhnlicher Schnelligkeit herbeikam oder geradezu lief; so konnte doch Warwara Petrowna nicht kommen? Und auf einmal kam sie ins Zimmer hereingestürzt, ganz atemlos und in höchster Aufregung. Hinter ihr folgte in einigem Abstande und weit ruhiger Lisaweta Nikolajewna und mit Lisaweta Nikolajewna Arm in Arm – Marja Timofejewna Lebjadkina! Wenn mir das geträumt hätte, so hätte ich es nicht einmal da geglaubt.

Um dieses völlig unerwartete Ereignis zu erklären, muß ich eine Stunde zurückgreifen und ausführlich das ungewöhnliche Erlebnis erzählen, das Warwara Petrowna im Dom gehabt hatte.

Zur Messe hatte sich an diesem Sonntage fast die ganze Stadt zusammengefunden, ich meine damit die höchste Schicht unserer Gesellschaft. Man wußte, daß die Frau Gouverneur zum erstenmal nach ihrer Ankunft bei uns in der Kirche erscheinen werde. Ich bemerke, daß bei uns schon Gerüchte im Umlauf waren, sie sei eine Freidenkerin und huldige »neuen Prinzipien«. Ferner war allen Damen bekannt, daß sie prächtig und mit außerordentlichem Geschmack gekleidet sein werde; und deshalb zeichneten sich die Kostüme unserer Damen diesmal durch besondere Eleganz und Kostbarkeit aus. Nur Warwara Petrowna trug wie immer ihr bescheidenes schwarzes Kleid; so war sie unveränderlich die ganzen letzten vier Jahre gegangen. Als sie in den Dom gekommen war, nahm sie auf ihrem gewöhnlichen Sitz links in der ersten Reihe Platz, und ein Diener in Livree legte ein Samtkissen für das Niederknien vor ihr auf den Fußboden; kurz, es war alles wie gewöhnlich. Aber man konnte bemerken, daß sie diesesmal während des ganzen Gottesdienstes besonders eifrig betete; man behauptete sogar nachher, als man sich alles ins Gedächtnis zurückrief, es hätten ihr die Tränen in den Augen gestanden. Endlich war die Messe zu Ende, und unser Bischof, Vater Pawel, kam heraus, um eine feierliche Predigt zu halten. Seine Predigten waren bei uns sehr beliebt und wurden sehr geschätzt; man hatte ihm sogar schon oft zugeredet, sie drucken zu lassen; er hatte sich aber dazu noch nicht entschließen können. Diesmal fiel die Predigt besonders lang aus.

Und siehe da, als die Predigt schon begonnen hatte, fuhr beim Dome eine Dame in einer leichten Droschke alter Bauart vor, das heißt in einer jener Droschken, in denen Damen nur seitwärts sitzen können, sich an dem Leibgurt des Kutschers festhalten müssen und von den Stößen des Wagens wie ein Halm auf dem Felde im Winde hin und her schwanken. Solche Droschken fahren in unserer Stadt immer noch. Die Droschke hielt an der Ecke des Domes (denn am Portale standen eine Menge Equipagen und sogar Gendarmen); die Dame stieg aus und reichte dem Kutscher vier Kopeken.

»Das ist wohl zu wenig, Kutscher?« rief sie, als sie sah, was er für eine Grimasse schnitt. »Aber es ist alles, was ich habe,« fügte sie in kläglichem Tone hinzu.

»Na, in Gottes Namen; ich habe vorher keinen Preis festgemacht!« sagte der Kutscher mit einer Handbewegung des Verzichtes und sah sie an, wie wenn er dachte: »Es wäre ja auch Sünde, zu dir ein böses Wort zu sagen.«

Dann steckte er sein ledernes Geldbeutelchen vorn in die Brust, trieb sein Pferd an und fuhr davon, von den Spöttereien der dabeistehenden Droschkenkutscher begleitet. Ausdrucke des Spottes und der Verwunderung begleiteten auch die Dame die ganze Zeit über, wahrend sie sich zwischen den Equipagen und den auf das baldige Herauskommen ihrer Herrschaften wartenden Dienern hindurch nach dem Domportale hinarbeitete. Und es lag auch wirklich etwas Ungewöhnliches und für alle Überraschendes in dem Umstande, daß eine Dame dieser Art auf einmal von irgendwoher auf der Straße unter dem Volke erschien. Sie war von einer krankhaften Magerkeit und hinkte; das Gesicht war stark weiß und rot geschminkt, der lange Hals ganz bloß; sie trug kein Tuch und keinen Mantel, sondern nur ein altes, dunkles Kleid trotz des kalten und windigen, wenn auch hellen Septembertages; der Kopf war völlig unbedeckt; in die Haare, die im Nacken in einen winzigen Kauz zusammengefaßt waren, war auf der rechten Seite nur eine künstliche Rose hineingesteckt, von der Art, wie man sie zum Schmucke der Osterengel benutzt. Einen solchen Osterengel mit einem Kranze aus Papierrosen hatte ich Tags zuvor, als ich bei Marja Timofejewna saß, in der Ecke unter den Heiligenbildern bemerkt. Die Verwunderung wurde aufs höchste gesteigert dadurch, daß die Dame zwar mit bescheiden niedergeschlagenen Augen, aber doch gleichzeitig mit einem heiteren, schlauen Lächeln einherging. Hätte sie noch einen Augenblick gezaudert, so würde man sie vielleicht gar nicht in den Dom hineingelassen haben. Aber es gelang ihr hineinzuschlüpfen, und als sie das Gotteshaus betreten hatte, drängte sie sich unauffällig nach vorn.

Obgleich es mitten in der Predigt war und die ganze dicht gedrängte Menge, die das Gotteshaus anfüllte, ihr mit voller, lautloser Aufmerksamkeit lauschte, so schielten doch einige Augen neugierig und erstaunt nach der Eingetretenen hin. Sie warf sich auf den Fliesensteinen der Kirche nieder, beugte ihr blasses Gesicht zu ihnen hinab, lag lange so da und schien zu weinen; aber als sie den Kopf wieder in die Höhe gehoben und sich von den Knien aufgerichtet hatte, war sie sehr bald wieder gefaßt und munter. Heiter und mit sichtlichem, großem Vergnügen ließ sie ihre Augen über die Anwesenden und über die Wände des Doms hingleiten; mit besonderer Neugier betrachtete sie einige Damen und hob sich zu diesem Zwecke sogar auf die Fußspitzen; ja, sie lachte sogar ein paarmal mit seltsamem Kichern. Aber nun war die Predigt zu Ende, und es wurde das Kreuz herausgetragen. Die Frau Gouverneur war die erste, die auf das Kreuz zuging; aber als sie noch nicht zwei Schritte gemacht hatte, blieb sie stehen, in der offenkundigen Absicht, Warwara Petrowna den Vortritt zu lassen, die ihrerseits geradeswegs darauf losging, als ob sie niemanden vor sich bemerkte. In der ungewöhnlichen Höflichkeit der Frau Gouverneur lag zweifellos eine deutliche und in ihrer Art kluge Stichelei; so faßten es alle auf; so faßte es jedenfalls auch Warwara Petrowna auf; aber sie tat wie vorher, als ob sie niemanden bemerke, küßte mit einer Miene unerschütterlicher Würde das Kreuz und begab sich sogleich zum Ausgange. Ihr Livreediener bahnte ihr den Weg, obgleich auch ohne dies alle auseinandertraten. Aber unmittelbar am Ausgange, in der Vorhalle, versperrte ein dicht zusammengeballter Menschenhaufe ihr für einen Augenblick den Weg. Warwara Petrowna blieb stehen, und auf einmal drängte ein seltsames, auffallendes Wesen, eine Frauensperson mit einer Papierrose im Haar, sich durch die Menschen hindurch und fiel vor ihr auf die Knie. Warwara Petrowna, die sich nicht leicht aus der Fassung bringen ließ, namentlich nicht in der Öffentlichkeit, blickte sie würdevoll und streng an.

Ich beeile mich hier möglichst kurz zu bemerken, daß Warwara Petrowna zwar in den letzten Jahren außerordentlich ökonomisch, wie man sich ausdrückte, und sogar geizig geworden war, manchmal aber, und besonders zu wohltätigen Zwecken, mit dem Gelde nicht knauserte. Sie war Mitglied eines Wohltätigkeitsvereins in der Hauptstadt. In dem vorigen Hungerjahre hatte sie nach Petersburg an das Hauptkomitee zur Annahme von Unterstützungen für die Notleidenden fünfhundert Rubel geschickt, worüber bei uns viel gesprochen worden war. Ferner hatte sie in der allerletzten Zeit vor der Ernennung des neuen Gouverneurs die Gründung eines lokalen Damenkomitees zur Unterstützung der ärmsten Wöchnerinnen in der Stadt und im übrigen Gouvernement bereits so gut wie zustande gebracht. Man tadelte bei uns heftig ihren Ehrgeiz; aber das bekannte Ungestüm ihres Charakters, verbunden mit ihrer Ausdauer, hatte beinahe schon alle Hindernisse überwunden; der Verein hatte sich fast schon konstituiert, und der ursprüngliche Gedanke entwickelte sich in der entzückten Phantasie der Gründerin zu größeren Dimensionen: sie träumte schon von der Gründung eines ebensolchen Komitees in Moskau und von der allmählichen Ausbreitung der Wirksamkeit desselben über alle Gouvernements. Aber siehe da, durch den plötzlichen Personalwechsel in der Verwaltung des Gouvernements geriet alles ins Stocken; die neue Frau Gouverneur hatte, wie man sagte, in der Gesellschaft bereits einige spitze und, was die Hauptsache war, zutreffende sachliche Einwendungen in betreff der Undurchführbarkeit der Grundideen eines solchen Komitees zum Ausdruck gebracht, was, selbstverständlich mit Ausschmückungen, Warwara Petrowna bereits hinterbracht worden war. Nur Gott kennt die Tiefen des Menschenherzens; aber ich glaube, daß Warwara Petrowna jetzt sogar mit einem gewissen Vergnügen am Portal des Domes stehen blieb, da sie wußte, daß im nächsten Augenblicke die Frau Gouverneur und nach dieser alle andern Damen an ihr vorbeikommen mußten. Sie sagte sich: »Mag sie mit eigenen Augen sehen, wie gleichgültig es mir ist, was sie über mich denkt, und was sie über die Eitelkeit meiner Wohltätigkeitsbestrebungen witzelt. Nun könnt ihr alle zusehen!«

»Was wollen Sie, liebes Kind? Um was bitten Sie?« fragte Warwara Petrowna, indem sie die vor ihr Kniende aufmerksam betrachtete.

Diese sah mit einem überaus zaghaften, schüchternen, aber beinah andächtigen Blicke zu ihr auf und lachte auf einmal in derselben sonderbaren kichernden Manier wie vorher.

»Was hat sie? Wer ist sie?«

Warwara Petrowna ließ ihren befehlshaberischen, fragenden Blick bei den Umstehenden herumgehen. Alle schwiegen.

»Sind Sie unglücklich? Bedürfen Sie einer Unterstützung?«

»Ja ... ich bin gekommen ...« stammelte die »Unglückliche« mit einer Stimme, die vor Aufregung versagte. »Ich bin nur gekommen, um Ihnen die Hand zu küssen ...« Und wieder kicherte sie.

Mit einem ganz kindlichen Blicke, so wie Kinder blicken, wenn sie schmeichelnd um etwas bitten, streckte sie den Arm aus, um Warwara Petrownas Hand zu ergreifen, zog ihn aber, wie erschrocken, auf einmal wieder zurück.

»Nur deswegen sind Sie gekommen?« fragte Warwara Petrowna mit mitleidigem Lächeln, zog aber sofort ihr Perlmutterportemonnaie aus der Tasche, entnahm ihm einen Zehnrubelschein und reichte ihn der Unbekannten hin.

Diese nahm ihn. Warwara Petrownas Interesse war stark angeregt, und sie hielt die Unbekannte offenbar nicht für eine gewöhnliche Bittstellerin.

»Nun seht mal an, zehn Rubel hat sie ihr gegeben!« sagte jemand in der Menge.

»Gestatten Sie mir, bitte, Ihre Hand!« stammelte die »Unglückliche«; sie hielt mit den Fingern der linken Hand die empfangene Banknote an einer Ecke fest, so daß sie im Winde wehte.

Warwara Petrowna runzelte ein wenig die Stirn (es mußte ihr wohl etwas mißfallen) und hielt ihr mit ernster, fast strenger Miene die Hand hin; diese küßte sie ehrfurchtsvoll. In ihrem dankbaren Blicke leuchtete sogar eine Art von Entzücken. Und gerade in diesem Augenblicke kam die Frau Gouverneur heran, und hinter ihr her strömte die ganze Schar unserer Damen und höchsten Würdenträger. Die Frau Gouverneur mußte notgedrungen einen Augenblick im Gedränge stehen bleiben; und ebenso die andern.

»Sie zittern ja; frieren Sie?« fragte Warwara Petrowna plötzlich.

Sie warf ihren Mantel ab, den der Diener im Fallen auffing, nahm ihr schwarzes, sehr kostbares Schaltuch von den Schultern und hüllte den entblößten Hals der immer noch knienden Bittstellerin eigenhändig damit ein.

»Aber stehen Sie doch auf; erheben Sie sich; ich bitte Sie darum!«

Jene stand auf.

»Wo wohnen Sie? Weiß denn wirklich niemand, wo sie wohnt?« fragte Warwara Petrowna ungeduldig und sah sich rings um.

Aber die frühere Volksmenge war nicht mehr da; es waren nur bekannte, der besseren Gesellschaft angehörige Personen zu sehen, die den Vorgang verfolgten, die einen mit großem Erstaunen, andere mit schlauer Neugier und zugleich mit einer unschuldigen Freude an einem kleinen Skandal; wieder andere fingen sogar an, sich darüber lustig zu machen.

»Ich glaube, sie ist eine Angehörige eines gewissen Lebjadkin,« meldete sich schließlich ein gutmütiger Mensch mit einer Antwort auf Warwara Petrownas Frage, nämlich unser achtungswerter und von vielen hochgeschätzter Kaufmann Andrejew mit der Brille, dem grauen Barte, der russischen Tracht und dem in der Hand gehaltenen Zylinderhute. »Sie wohnen im Filippowschen Hause in der Bogojawlenskaja-Straße.«

»Lebjadkin? Im Filippowschen Hause? Davon habe ich schon etwas gehört ... Ich danke Ihnen, Nikon Semjonowitsch; aber wer ist dieser Lebjadkin?«

»Er nennt sich Hauptmann und ist, man muß sagen, ein unsolider Mensch. Dies aber ist jedenfalls seine Schwester. Ich denke mir, daß sie jetzt der Aufsicht entlaufen ist,« fügte Nikon Semjonowitsch leiser hinzu und blickte Warwara Petrowna bedeutsam an.

»Ich verstehe Sie, ich danke Ihnen, Nikon Semjonowitsch. Sie sind Fräulein Lebjadkina, liebes Kind?«

»Nein, ich heiße nicht Lebjadkina.«

»Aber vielleicht ist Lebjadkin Ihr Bruder?«

»Ja, Lebjadkin ist mein Bruder.«

»Also, da werde ich es so machen: ich werde Sie jetzt mit mir in meine Wohnung mitnehmen, liebes Kind, und von da sollen Sie zu Ihrer Familie gebracht werden. Wollen Sie mit mir mitfahren?«

»Ach ja, gern!« antwortete jene und klatschte in die Hände.

»Tante, Tante! Nehmen Sie mich auch mit!« rief Lisaweta Nikolajewna.

Ich bemerke, daß Lisaweta Nikolajewna mit der Frau Gouverneur zusammen der Messe beigewohnt hatte, während Praskowja Iwanowna unterdessen auf ärztliche Vorschrift spazieren gefahren war und zu ihrer Zerstreuung Mawriki Nikolajewitsch mitgenommen hatte. Nun verließ Lisa auf einmal die Frau Gouverneur und trat eilig zu Warwara Petrowna heran.

»Liebes Kind, du weißt, daß ich mich immer über das Zusammensein mit dir freue; aber was wird deine Mutter sagen?« begann Warwara Petrowna würdevoll, stutzte aber plötzlich, da sie Lisas ungewöhnliche Aufregung bemerkte.

»Tante, Tante, ich muß jetzt unter allen Umständen mit Ihnen mit,« bat Lisa inständig und küßte Warwara Petrowna.

»Mais qu'avez-vous donc, Lise?« fragte die Frau Gouverneur erstaunt und nachdrücklich.

»Ach, verzeihen Sie, mein Täubchen, chère cousine, ich muß zu meiner Tante!« erwiderte Lisa, indem sie sich schnell zu ihrer unangenehm überraschten chère cousine umwendete und sie zweimal küßte. »Und sagen Sie doch zu Mama, sie möchte gleich mit dem Wagen zur Tante fahren, um mich abzuholen; Mama wollte ganz bestimmt, ganz bestimmt mit herankommen; sie hat es vorhin selbst gesagt; ich habe vergessen, es Ihnen mitzuteilen,« sagte Lisa eilig. »Pardon! Seien Sie nicht böse, Julie, chère ... cousine ... Tante, ich bin bereit!«

»Wenn Sie mich nicht mitnehmen, Tante, so laufe ich hinter Ihrem Wagen her und schreie Ihnen nach,« flüsterte sie schnell und in Verzweiflung dicht an Warwara Petrownas Ohr.

Es war nur gut, daß es niemand gehört hatte. Warwara Petrowna trat sogar einen Schritt zurück und sah das wahnsinnige Mädchen mit einem durchdringenden Blicke an. Dieser Blick entschied alles: sie beschloß, Lisa unter allen Umständen mitzunehmen.

»Dem muß ein Ende gemacht werden!« entfuhr es ihr leise. »Nun gut, ich werde dich mit Vergnügen mitnehmen, Lisa,« fügte sie sogleich laut hinzu, »selbstverständlich nur, wenn Julija Michailowna einwilligt, dich fortzulassen,« wandte sie sich mit offener Miene und natürlicher Würde unmittelbar an die Frau Gouverneur.

»Oh, gewiß; ich will Sie dieses Vergnügens nicht berauben, um so weniger, da ich selbst ... begann Julija Michailowna auf einmal mit erstaunlicher Liebenswürdigkeit zu plaudern, »da ich selbst recht wohl weiß, was für ein phantastisches, eigenwilliges Köpfchen wir auf unseren Schultern haben.« Hier lächelte Julija Michailowna bezaubernd.

»Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar,« versetzte Warwara Petrowna mit einer höflichen, würdevollen Verbeugung.

»Und es ist mir um so angenehmer,« fuhr Julija Michailowna in ihrem Geplauder fort, die nun schon ganz entzückt war und vor angenehmer Erregung errötete, »da, abgesehen von dem Vergnügen, mit Ihnen zusammen zu sein, Lisa sich jetzt auch durch ein so schönes, durch ein, man kann sagen, so edles Gefühl hinreißen läßt ... durch das Mitleid ...« (hier warf sie einen Blick auf die »Unglückliche«) »... und ... und gerade in der Vorhalle des Gotteshauses ...«

»Eine solche Anschauung macht Ihnen Ehre,« versetzte Warwara Petrowna in würdigem, beifälligem Tone.

Julija Michailowna streckte ihr eifrig die Hand hin, und Warwara Petrowna berührte dieselbe sehr bereitwillig mit ihren Fingern. Der allgemeine Eindruck war ein sehr guter; die Gesichter mehrerer Anwesenden strahlten vor Vergnügen, und es erschien auf ihnen ein süßes, schmeichlerisches Lächeln.

Kurz, es wurde der ganzen Stadt auf einmal klar, daß nicht etwa Julija Michailowna durch Unterlassung einer Visite bisher eine Geringschätzung gegen Warwara Petrowna an den Tag gelegt, sondern umgekehrt diese letztere »die Frau Gouverneur in einem gewissen Abstande von sich gehalten habe, während dieselbe doch vielleicht sogar zu Fuß zu ihr gelaufen wäre, um ihr einen Besuch zu machen, wenn sie nur überzeugt gewesen wäre, daß Warwara Petrowna ihr nicht die Tür weisen werde«. Warwara Petrownas Ansehen hatte sich außerordentlich gehoben.

»Steigen Sie ein, liebes Kind!« sagte Warwara Petrowna zu Mademoiselle Lebjadkina und wies auf den Wagen, der vorgefahren war.

Die »Unglückliche« lief fröhlich zu dem Wagenschlage hin, wo ihr der Lakai beim Einsteigen behilflich war.

»Wie? Sie hinken?« rief Warwara Petrowna ganz erschrocken und wurde blaß. Alle bemerkten dies damals, ohne es zu verstehen ...

Die Equipage rollte davon. Warwara Petrownas Haus lag nicht weit vom Dom. Lisa erzählte mir später, Fräulein Lebjadkina habe während der drei Minuten dauernden Fahrt fortwährend hysterisch gelacht und Warwara Petrowna habe »wie in einem magnetischen Schlafe« dagesessen; das war Lisas eigener Ausdruck.


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