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Drittes Kapitel

Fremde Sünden

 

I

Es verging ungefähr eine Woche, und der Schwebezustand der Sache wurde peinlich.

Ich bemerke in Parenthese, daß ich in dieser unglücklichen Woche viel auszustehen hatte, da ich in meiner Eigenschaft als nächster Vertrauter fast ununterbrochen bei meinem armen verlobten Freunde blieb. Was ihn quälte, war besonders das Gefühl der Scham, obwohl wir in dieser Woche keinen Menschen zu sehen bekamen und immer allein saßen; aber er schämte sich sogar vor mir, und das ging so weit, daß er, je mehr er sich vor mir decouvrierte, um so mehr deswegen auf mich ärgerlich wurde. Bei seiner Neigung zum Argwohn bildete er sich ein, daß schon alles allen, der ganzen Stadt bekannt sei, und fürchtete sich davor, im Klub, ja selbst in seinem Verein zu erscheinen. Auch Spaziergänge zum Zwecke der notwendigen Bewegung unternahm er nur, wenn es schon vollständig dunkel geworden war.

Eine Woche war vergangen, und er wußte immer noch nicht, ob er Bräutigam war oder nicht, und vermochte das auf keine Weise trotz all seiner Bemühungen mit Sicherheit zu erfahren. Mit der Braut war er noch nicht zusammengekommen; er wußte nicht einmal, ob sie seine Braut sei; er wußte nicht einmal, ob an der ganzen Sache überhaupt etwas Ernsthaftes war. Aus unbekanntem Grunde lehnte Warwara Petrowna es entschieden ab, ihn zu empfangen. Auf einen seiner ersten Briefe (er hatte deren eine ganze Menge an sie geschrieben) antwortete sie ihm geradezu mit der Bitte, sie für einige Zeit von jedem Verkehr mit ihm zu dispensieren, weil sie sehr beschäftigt sei; sie habe ihm auch ihrerseits viele, sehr wichtige Mitteilungen zu machen, warte aber damit absichtlich auf eine minder besetzte Zeit, als es die jetzige sei, und werde es ihn selbst seinerzeit wissen lassen, wann er wieder zu ihr kommen könne. Weitere Briefe aber werde sie ihm uneröffnet zurückschicken; denn das sei doch nur Torheit. Diese Zuschrift habe ich mit eigenen Augen gelesen; er hat sie mir selbst gezeigt.

Aber der Verdruß darüber, daß Warwara Petrowna ihn so grob behandelte und in Ungewißheit ließ, war nichts im Vergleiche mit seiner Hauptsorge. Diese Sorge quälte ihn außerordentlich und ohne Aufhören; sie bewirkte, daß er abmagerte und kleinmütig wurde. Es handelte sich dabei um etwas, worüber er sich am allermeisten schämte, und worüber er nicht einmal mit mir reden wollte; vielmehr log er, wenn das Gespräch darauf kam, und machte vor mir Ausflüchte wie ein kleiner Knabe; trotzdem aber ließ er mich selbst alle Tage zu sich rufen; er konnte es nicht zwei Stunden ohne mich aushalten; er hatte mich nötig, wie man Wasser oder Luft nötig hat.

Ein solches Benehmen beleidigte mein Ehrgefühl einigermaßen. Es versteht sich von selbst, daß ich dieses sein Hauptgeheimnis schon längst im stillen erraten hatte und völlig durchschaute. Nach meiner tiefsten damaligen Überzeugung hätte die Enthüllung dieses Geheimnisses, dieser Hauptsorge Stepan Trofimowitschs, ihm keine Ehre gemacht, und daher war ich, als ein noch junger Mensch, über die Niedrigkeit seiner Gedanken und die Häßlichkeit gewisser argwöhnischer Vermutungen, die er hegte, etwas entrüstet. In meiner Hitze (und ich muß bekennen, weil es mir langweilig wurde, sein Vertrauter zu sein) beschuldigte ich ihn vielleicht zu hart. In meiner Grausamkeit zwang ich ihn, mir alles zu bekennen, obwohl ich mir sagte, daß manches davon zu bekennen allerdings recht peinlich sei. Er durchschaute mich seinerseits völlig, das heißt, er sah klar, daß ich ihn durchschaute und auf ihn ärgerlich war, und er war selbst auf mich ärgerlich, weil ich auf ihn ärgerlich war und ihn durchschaute. Vielleicht war meine Gereiztheit kleinlich und dumm; aber es schadet manchmal der wahren Freundschaft sehr, wenn zwei Freunde zu lange miteinander allein zusammen sind. Von einem gewissen Gesichtspunkte aus faßte er einige Seiten seiner Lage richtig auf und definierte sogar seine Lage sehr genau in denjenigen Punkten, bei denen er nicht für nötig fand, sich zu verstecken.

»Oh, was war sie damals für eine Frau!« sagte er manchmal zu mir mit Bezug auf Warwara Petrowna. »Was war sie früher für eine Frau, wenn ich mich mit ihr unterhielt! Wissen Sie wohl, daß sie damals noch zu reden verstand? Können Sie es glauben, daß sie damals noch Gedanken hatte, eigene Gedanken? Jetzt hat sich alles verändert! Sie sagt, das sei alles nur altmodisches Gerede! Sie verachtet das Frühere ... Jetzt hat sie so etwas Subalternes, Plebejisches, Erbittertes; immer ist sie aufgebracht ...«

»Warum ist sie denn jetzt aufgebracht, obwohl Sie doch ihr Verlangen erfüllt haben?« erwiderte ich ihm.

Er sah mich mit einem feinen Lächeln an.

» Cher ami, wenn ich nicht eingewilligt hätte, wäre sie furchtbar zornig geworden, ganz furcht-bar! Aber doch weniger als jetzt, wo ich eingewilligt habe.«

Dieser sein pointierter Ausspruch gefiel ihm sehr gut, und wir tranken an diesem Abend ein Fläschchen. Aber das dauerte nur einen Augenblick; am andern Tage war er verdrießlicher und mürrischer als je zuvor.

Aber am meisten ärgerte ich mich über ihn deswegen, weil er sich gar nicht entschließen konnte, zu den nunmehr eingetroffenen Drosdows zu gehen und ihnen zur Erneuerung der Bekanntschaft den notwendigen Besuch zu machen, was sie dem Vernehmen nach selbst wünschten, da sie, wie es hieß, nach ihm gefragt hatten; und auch er sehnte sich alle Tage zu ihnen hin. Von Lisaweta Nikolajewna redete er mit einem mir unbegreiflichen Entzücken. Ohne Zweifel hatte er sie in der Erinnerung, wie sie einst als Kind gewesen war, wo er sie außerordentlich gern gehabt hatte; aber außerdem hatte er eigentümlicherweise die Vorstellung, daß er beim Zusammensein mit ihr sogleich eine Erleichterung all seiner jetzigen Qualen verspüren und sogar über seine wichtigsten Zweifel ins klare kommen werde. Er erwartete in Lisaweta Nikolajewna ein ganz ungewöhnliches Wesen vorzufinden. Und doch ging er nicht zu ihr hin, wiewohl er es sich täglich vornahm. Die Hauptsache war, daß ich damals selbst den lebhaften Wunsch hatte, ihr vorgestellt zu werden, wobei ich einzig und allein auf Stepan Trofimowitsch angewiesen war. Großen Eindruck machten auf mich damals meine häufigen Begegnungen mit ihr, natürlich nur auf der Straße, wenn sie auf einem schönen Pferde in Begleitung ihres sogenannten Verwandten, des hübschen Offiziers, des Neffen des verstorbenen Generals Drosdow, spazieren ritt. Meine Verblendung dauerte nur ganz kurze Zeit, und ich erkannte dann sehr bald selbst die ganze Aussichtslosigkeit meiner Schwärmerei; aber wenn sie auch nur kurze Zeit dauerte, so war sie doch tatsächlich vorhanden, und daher kann man sich denken, wie empört ich damals manchmal über meinen armen Freund wegen seines eigensinnigen Einsiedlerlebens war.

Alle Mitglieder unseres Vereins waren gleich zu Anfang offiziell benachrichtigt worden, daß Stepan Trofimowitsch eine Zeitlang niemanden empfangen werde und bitte, ihn vollständig in Ruhe zu lassen. Er hatte auf einer Mitteilung an jeden einzelnen bestanden, obwohl ich ihm davon abgeraten hatte. Auf seine Bitte ging ich bei allen herum und sagte ihnen, Warwara Petrowna habe unserm »Alten« (so nannten wir alle Stepan Trofimowitsch unter uns) eine besondere Arbeit aufgetragen, nämlich eine mehrjährige Korrespondenz in Ordnung zu bringen; er habe sich eingeschlossen, und ich sei ihm dabei behilflich usw. usw. Nur zu Liputin war ich noch nicht gegangen und schob dies immer auf; richtiger gesagt, ich fürchtete mich davor, zu ihm hinzugehen. Ich wußte vorher, daß er mir kein Wort glauben, sondern unfehlbar denken werde, es stecke da ein Geheimnis dahinter, das man gerade vor ihm allein verbergen wolle, und daß er, sowie ich von ihm weggegangen sein würde, sogleich durch die ganze Stadt laufen werde, um sich zu erkundigen und es weiterzuklatschen. Während ich all das bei mir bedachte, traf es sich, daß ich mit ihm zufällig auf der Straße zusammenstieß. Es erwies sich, daß er von unseren Leuten, die durch mich soeben benachrichtigt waren, bereits alles erfahren hatte. Aber merkwürdig: er zeigte gar keine Neugier und erkundigte sich nicht weiter nach Stepan Trofimowitsch, sondern unterbrach mich sogar im Gegenteil, als ich mich entschuldigen wollte, daß ich nicht früher zu ihm gekommen wäre, und sprang sogleich auf ein anderes Thema über. Allerdings hatte sich bei ihm auch viel Gesprächsstoff angesammelt; er befand sich in sehr angeregter Stimmung und freute sich darüber, daß er an mir einen Zuhörer gefunden hatte. Er begann über die Stadtneuigkeiten zu reden, über die Ankunft der Frau Gouverneur, welche »neue Gesprächsthemata« mitgebracht habe, über die Opposition, die sich bereits im Klub bilde, über das Geschrei, das alle von den neuen Ideen machten, und wie dies den einzelnen stehe usw. usw. Er sprach in dieser Art etwa eine Viertelstunde, und so amüsant, daß ich mich nicht losreißen konnte. Obgleich ich ihn nicht leiden konnte, so muß ich doch bekennen, daß er die Gabe besaß, einen Zuhörer zu fesseln, besonders wenn er über etwas sehr aufgebracht war. Dieser Mensch war meiner Ansicht nach der richtige, geborene Spion. Er wußte in jedem Augenblicke die sämtlichen letzten Neuigkeiten und alle Geheimnisse unserer Stadt, namentlich die von skandalösem Genre, und man mußte sich darüber wundern, wie sehr er sich für Dinge interessierte, die ihn manchmal gar nichts angingen. Ich hatte von ihm immer den Eindruck, daß der Hauptzug seines Charakters der Neid sei. Als ich am Abend desselben Tages Stepan Trofimowitsch erzählte, daß ich am Morgen Liputin getroffen hätte, und was wir miteinander gesprochen hätten, da geriet dieser zu meinem Erstaunen in große Aufregung und fragte mich ganz wild: »Weiß Liputin es oder nicht?« Ich setzte ihm auseinander, daß es für jenen ein Ding der Unmöglichkeit sei, die Sache so schnell in Erfahrung zu bringen; von wem solle er auch etwas gehört haben; aber Stepan Trofimowitsch verblieb bei seiner Ansicht:

»Mögen Sie es nun glauben oder nicht,« schloß er unerwartet, »aber ich bin überzeugt, daß ihm nicht nur alles mit allen Einzelheiten über unsere« (so!) »Lage bereits bekannt ist, sondern daß er auch außerdem noch etwas weiß, was weder ich noch Sie bisher wissen, und was wir vielleicht niemals erfahren werden oder erst erfahren werden, wenn es schon zu spät ist und keine Umkehr mehr möglich ist! ...«

Ich schwieg; aber diese Worte enthielten doch viele Andeutungen. Nach diesem Gespräche taten wir ganze fünf Tage lang Liputins mit keinem Worte Erwähnung; es war mir klar, daß Stepan Trofimowitsch es sehr bedauerte, mir gegenüber einen solchen Verdacht geäußert und sich verplappert zu haben.

 

II

Eines Morgens, nämlich am siebenten oder achten Tage, nachdem Stepan Trofimowitsch eingewilligt hatte, Bräutigam zu werden, gegen elf Uhr, als ich wie gewöhnlich zu meinem betrübten Freunde eilte, hatte ich unterwegs ein Erlebnis.

Ich begegnete Karmasinow Mit dieser Figur ist Turgenjew gemeint. Anmerkung des Übersetzers., dem »großen Schriftsteller«, wie Liputin ihn nannte. Karmasinows Schriften hatte ich seit meiner Kindheit gelesen. Seine Novellen und Erzählungen sind der ganzen vorigen Generation und sogar noch der unsrigen bekannt; ich hatte mich an ihnen berauscht; ihre Lektüre war mir in meinem Knaben- und Jünglingsalter ein Genuß gewesen. Später war ich den Produkten seiner Feder gegenüber etwas kühler geworden; die Tendenznovellen, die er in der letzten Zeit geschrieben hatte, gefielen mir nicht mehr so gut wie seine ersten, ursprünglichen Schöpfungen, die soviel unmittelbare Poesie enthielten, und seine letzten Schriften gefielen mir gar nicht.

Wenn ich es wagen darf, über einen so heiklen Gegenstand auch meine Meinung zum Ausdruck zu bringen, so möchte ich allgemein Folgendes sagen. All diese unsere Herren Landsleute, die mit einem Talente mittlerer Sorte begabt sind, aber zu ihren Lebzeiten gewöhnlich beinah für Genies gehalten werden, verschwinden nicht nur mit ihrem Tode plötzlich und fast spurlos aus dem Gedächtnis der Menschen, sondern es kommt auch vor, daß sie schon bei ihren Lebzeiten unglaublich schnell von allen geringgeschätzt und vergessen werden, nämlich sobald eine neue Generation heranwächst und an die Stelle derjenigen tritt, zu deren Zeit sie gewirkt haben. Das vollzieht sich bei uns so plötzlich wie ein Dekorationswechsel im Theater. Oh, da geht es ganz anders zu als bei Männern wie Puschkin, Gogol, Molière, Voltaire und all diesen Großen, die vor die Welt hintraten, um Neues zu verkündigen! Auch das ist wahr, daß bei uns diese mit nur mittelmäßigem Talente begabten Herren sich gegen das Ende ihres an Ehren reichen Lebens gewöhnlich in der kläglichsten Weise ausschreiben, ohne es auch nur zu bemerken. Nicht selten dokumentiert ein Schriftsteller, dem man lange Zeit eine außerordentliche Tiefe der Ideen zugeschrieben und von dem man eine bedeutende, ernste Einwirkung auf die geistige Bewegung der Mitwelt erwartet hat, gegen das Ende seines Lebens eine solche Dürftigkeit und Kümmerlichkeit seines Fundamentalideechens, daß es niemand auch nur bedauert, daß er es fertiggebracht hat, sich so schnell auszuschreiben. Aber die grauhaarigen alten Herren bemerken das nicht und werden ärgerlich. Ihre Eitelkeit nimmt, namentlich gegen das Ende ihrer Laufbahn, mitunter erstaunliche Dimensionen an. Gott weiß, wofür sie sich dann zu halten anfangen, aber mindestens für Götter. Von Karmasinow erzählte man, daß ihm seine Beziehungen zu einflußreichen Leuten und zu den höchsten Gesellschaftskreisen fast wertvoller seien als sein eigenes Leben. Man erzählte von ihm, er empfange diejenigen, die zu ihm kämen, freundlich, benehme sich gegen sie liebenswürdig, entzücke und bezaubere sie durch seine Gutherzigkeit, namentlich wenn er ihrer irgendwie bedürfe, und selbstverständlich wenn sie ihm vorher gut empfohlen seien. Aber sowie ein Fürst hereintrete oder eine Gräfin oder jemand, den er fürchte, halte er es für seine heiligste Pflicht, jene andern Besucher mit der beleidigendsten Geringschätzung wie Holzspänchen oder Fliegen unbeachtet zu lassen, und zwar sofort, ehe sie noch aus der Tür seien; das halte er in allem Ernste für den feinsten und besten Ton. Trotz seiner genauen Kenntnis und vollständigen Beherrschung der guten Umgangsformen sei er so eitel und empfindlich, daß er seine Reizbarkeit als Autor nicht einmal in denjenigen Gesellschaftskreisen verbergen könne, in denen man sich für die Literatur wenig interessiere. Wenn ihn aber zufällig jemand durch seine Gleichgültigkeit befremde, so fühle er sich tief gekränkt und suche sich zu rächen.

Vor einem Jahre habe ich in einer Zeitschrift einen Artikel von ihm gelesen, der gewaltige Ansprüche darauf erhob, naive Poesie und feine psychologische Beobachtungen zu enthalten. Er schilderte den Untergang eines Dampfers an der englischen Küste, bei dem er selbst Zeuge gewesen war und gesehen hatte, wie Untergehende gerettet und Ertrunkene herausgezogen wurden. Dieser ganze ziemlich lange und redselige Artikel war einzig und allein in der Absicht geschrieben, den Verfasser selbst in das rechte Licht zu stellen. Man konnte es ordentlich zwischen den Zeilen lesen: »Interessiert euch für meine Persönlichkeit; seht, wie ich mich in diesen Augenblicken benommen habe! Was kümmert euch das Meer, der Sturm, die Felsen, die zerbrochenen Planken des Schiffes? Ich bin es ja gewesen, der euch das alles in großartigem Stile geschildert hat! Wozu blickt ihr nach dieser ertrunkenen Frau mit dem toten Kinde in den toten Armen? Seht lieber mich an, wie ich dieses Schauspiel nicht ertragen konnte und mich von ihm abwandte! Ich drehte ihm den Rücken zu; ich war vor Angst nicht imstande zurückzublicken; ich kniff die Augen zu ... nicht wahr, das ist interessant?« Als ich Stepan Trofimowitsch meine Meinung über den Karmasinowschen Artikel mitteilte, stimmte er mir bei.

Als es nun vor kurzem bei uns hieß, Karmasinow werde in unsere Stadt kommen, da wurde natürlich bei mir ein starkes Verlangen rege, ihn zu sehen und, wenn möglich, seine Bekanntschaft zu machen. Ich wußte, daß sich dies durch Stepan Trofimowitschs Vermittlung erreichen ließ; denn die beiden waren früher einmal befreundet gewesen. Und da begegnete ich ihm nun plötzlich an einer Straßenkreuzung. Ich erkannte ihn sofort; er war mir erst drei Tage vorher gezeigt worden, als er in einer Equipage zur Frau Gouverneur fuhr.

Er war ein sehr kleiner, gezierter alter Herr, übrigens nicht über fünfzig Jahre alt, mit ziemlich frischem Gesichtchen, mit dichten, grauen Löckchen, die unter seinem Zylinderhute hervorquollen und sich um seine sauberen, rosafarbenen kleinen Ohren kräuselten. Sein sauberes Gesichtchen war nicht besonders hübsch, die Lippen schmal, lang und schlau zusammengekniffen, die Nase etwas fleischig; die kleinen Augen hatten einen scharfen, klugen Blick. Er war etwas altmodisch gekleidet und trug eine Art Mantel zum Umwerfen, wie man ihn in dieser Jahreszeit etwa in der Schweiz oder in Oberitalien trägt. Aber wenigstens alle kleineren Bestandteile seines Kostüms: die Hemdknöpfchen, der Chemisettkragen, die Rockknöpfe, die Schildpattlorgnette an einem schmalen, schwarzen Bande, der Ring am Finger, waren sämtlich von der Art, wie man sie bei Leuten von untadelhaft gutem Tone findet. Ich bin überzeugt, daß er im Sommer bestimmt in Halbstiefeln von farbigem Wollenstoff mit Perlmutterknöpfen an der Seite geht. Als wir zusammentrafen, blieb er an der Straßenecke stehen und sah mich aufmerksam an. Da er bemerkte, daß ich ihn neugierig betrachtete, fragte er mich mit einem süßlichen, wiewohl etwas kreischenden Stimmchen:

»Gestatten Sie die Frage: wie komme ich am nächsten nach der Bykowa-Straße?«

»Nach der Bykowa-Straße? Die ist hier gleich,« rief ich in großer Aufregung. »Immer diese Straße geradeaus und dann bei der zweiten Ecke nach links.«

»Ich danke Ihnen bestens.«

Verflucht sei dieser Augenblick! Ich glaube, ich war verlegen geworden und machte ein knechtisches Gesicht! Im Nu hatte er alles bemerkt und gewiß sofort alles durchschaut, nämlich daß ich bereits wußte, wer er war, und daß ich seine Schriften seit meiner Kindheit gelesen und ihn verehrt hatte, und daß ich jetzt verlegen geworden war und ein knechtisches Gesicht machte. Er lächelte, nickte mir noch einmal mit dem Kopfe zu und ging geradeaus weiter, wie ich es ihm angegeben hatte. Ich weiß nicht, warum ich umdrehte und ihm nachging; ich weiß nicht, warum ich zehn Schritte neben ihm herlief. Auf einmal blieb er wieder stehen.

»Könnten Sie mir nicht angeben, wo hier in der Nähe Droschken stehen?« kreischte er mir wieder zu.

Ein widerwärtiges Kreischen, eine widerwärtige Stimme!

»Droschken? Droschken sind hier ganz nah ... beim Dom stehen sie; da stehen immer welche.«

Beinah hätte ich mich umgedreht und wäre hingelaufen, um ihm eine Droschke zu holen. Ich vermute, daß er eben dies auch von mir erwartet hatte. Natürlich kam ich sofort zur Besinnung und blieb stehen; aber er hatte meine Bewegung recht wohl bemerkt und mit demselben widerwärtigen Lächeln verfolgt. Nun begab sich etwas, was ich nie vergessen werde.

Er ließ auf einmal einen kleinen Sack fallen, den er in der linken Hand trug. Übrigens war es eigentlich kein Sack, sondern eine Art Schächtelchen oder richtiger ein Portefeuille oder noch besser ein Ridikül von der Art, wie ihn früher die Damen trugen; übrigens weiß ich nicht genau, was es war; ich weiß nur, daß ich darauf zustürzte, um es aufzuheben.

Ich bin vollkommen überzeugt, daß ich es nicht aufgehoben hätte; aber die erste Bewegung, die ich machte, war unbestreitbar; sie ließ sich nicht mehr verbergen, und ich wurde rot wie ein Dummkopf. Der schlaue Patron nutzte diesen Umstand sofort auf die denkbar beste Weise aus.

»Bemühen Sie sich nicht; ich kann ja selbst ...« sagte er in bezaubernd liebenswürdigem Tone; das heißt, erst als er sich vollständig davon überzeugt hatte, daß ich ihm seinen Ridikül nicht aufheben würde, erst da hob er ihn auf, wie wenn er mir zuvorkommen wollte, nickte mir noch einmal zu und ging seines Weges weiter, indem er mich wie einen dummen Jungen stehen ließ. Es kam ganz auf dasselbe hinaus, wie wenn ich ihm seinen Ridikül wirklich selbst aufgehoben hätte. Etwa fünf Minuten lang war ich der Ansicht, daß ich völlig und für mein ganzes Leben entehrt sei; aber als ich mich Stepan Trofimowitschs Hause näherte, lachte ich plötzlich laut auf. Die Begegnung kam mir so lächerlich vor, daß ich mir sofort vornahm, mit der Erzählung davon Stepan Trofimowitsch zu erheitern und ihm die ganze Szene sogar mimisch vorzuführen.

 

III

Aber diesmal fand ich ihn zu meiner Verwunderung ganz verändert vor. Er eilte mir allerdings, sowie ich eintrat, mit einem gewissen Eifer entgegen und begann, mir zuzuhören; aber er hörte mit so zerstreuter Miene zu, daß er anfangs offenbar gar nicht verstand, was ich sagte. Aber kaum hatte ich den Namen Karmasinow ausgesprochen, als er auf einmal ganz außer sich geriet.

»Reden Sie mir nicht von ihm! Nennen Sie seinen Namen nicht!« schrie er wie rasend. »Da, da, sehen Sie, sehen Sie! Lesen Sie!«

Er zog ein Schubfach auf, nahm drei kleine Zettel heraus und warf sie auf den Tisch; sie waren eilig mit Bleistift geschrieben, sämtlich in Warwara Petrownas Handschrift. Das erste Billett war vom vorgestrigen Tage, das zweite vom gestrigen, und das letzte war erst an diesem Tage gekommen, erst vor einer Stunde. Der Inhalt war ganz unwichtig: alle bezogen sie sich auf Karmasinow und bekundeten Warwara Petrownas unruhige, ehrgeizige Aufregung und Besorgnis, Karmasinow könne es vergessen, ihr einen Besuch zu machen. Hier ist der erste, der zwei (wahrscheinlich übrigens drei oder vier) Tage alt war.

»Wenn er Sie heute endlich beehren sollte, so sagen Sie, bitte, von mir keine Silbe! Nicht die geringste Andeutung! Fangen Sie von mir nicht an, und erwähnen Sie mich nicht! W. S.«

Der vom vorletzten Tage:

»Wenn er sich endlich entschließt, Ihnen heute vormittag einen Besuch zu machen, so wird es meines Erachtens das passendste sein, ihn überhaupt nicht anzunehmen. So denke ich darüber; ich weiß nicht, wie Sie die Sache auffassen. W. S.«

Der vom laufenden Tage, der letzte:

»Ich bin überzeugt, daß in Ihren Zimmern eine Fuhre Schmutz liegt und alles dick ist von Tabaksqualm. Ich werde Ihnen Marja und Fomuschka schicken; die sollen bei Ihnen eine halbe Stunde lang aufräumen. Aber stören Sie sie nicht dabei, und sitzen Sie so lange in der Küche, bis sie fertig sind! Ich sende Ihnen einen bucharischen Teppich und zwei chinesische Vasen, die ich Ihnen schon längst schenken wollte, und außerdem meinen Teniers (diesen leihweise). Die Vasen können Sie aufs Fensterbrett stellen, und den Teniers hängen Sie rechts auf, unter das Porträt Goethes; da ist er am besten zu sehen, und vormittags ist da immer Licht. Wenn er endlich erscheint, so empfangen Sie ihn mit vollendeter Höflichkeit; aber geben Sie sich Mühe, nur von Lappalien, von irgendetwas Gelehrtem zu reden, und machen Sie dabei ein Gesicht, als wenn Sie sich erst gestern von ihm getrennt hätten! Von mir keine Silbe! Vielleicht komme ich heute abend zu Ihnen heran. W. S.

P. S. Wenn er heute nicht kommt, so kommt er überhaupt nicht.«

Ich las die Zettel durch und wunderte mich, daß er über diese Possen in solche Aufregung geraten war. Als ich ihn fragend anblickte, bemerkte ich auf einmal, daß er, während ich las, sein stetiges weißes Halstuch mit einem roten vertauscht hatte. Sein Hut und sein Stock lagen auf dem Tische. Er selbst war blaß, und es zitterten ihm sogar die Hände.

»Ich will von ihrer Aufregung nichts wissen!« schrie er wütend als Antwort auf meinen fragenden Blick. » Je m' en fiche! Es beliebt ihr, sich über Karmasinow aufzuregen, und mir antwortet sie nicht auf meine Briefe! Da, da liegt ein unerbrochener Brief von mir, den sie mir gestern zurückgeschickt hat, da auf dem Tische, unter dem Buche, unter L'Homme qui rit. Was kümmert es mich, daß sie sich um ihren süßen Nikolai grämt! Je m'en fiche et je proclame ma liberté. Au diable le Karmazinoff! Au diable la Lembke! Ich habe die Vasen im Vorzimmer versteckt und den Teniers in der Kommode und habe von ihr verlangt, sie solle mich sofort empfangen. Hören Sie wohl: ich habe es verlangt! Ich habe ihr ebenso einen Zettel geschickt, mit Bleistift geschrieben, unversiegelt, durch Nastasja, und warte nun. Ich will, daß Darja Pawlowna selbst sich mir gegenüber ausspricht, mit eigenem Munde und vor dem Angesichte des Himmels oder wenigstens in Ihrer Gegenwart. Vous me seconderez, n'est-ce pas, comme ami et témoin. Ich will nicht erröten; ich will nicht lügen; ich will keine Geheimnisse; ich werde nicht dulden, daß es in dieser Sache Geheimnisse gibt! Mögen sie alles bekennen, in offener, ehrlicher, anständiger Weise, und dann ... dann werde ich vielleicht die ganze jetzt lebende Generation durch meine Seelengröße in Erstaunen versetzen! ... Bin ich ein Schurke, mein Herr?« schloß er plötzlich, indem er mich drohend ansah, wie wenn ich ihn für einen Schurken hielte.

Ich bat ihn, ein Glas Wasser zu trinken; ich hatte ihn noch nie in einer solchen Verfassung gesehen. Die ganze Zeit, wahrend er redete, war er im Zimmer von einer Ecke nach der andern gelaufen; nun aber blieb er plötzlich vor mir in einer ungewöhnlichen Pose stehen.

»Glauben Sie wirklich,« begann er von neuem mit krankhaftem Hochmute und sah mich dabei vom Kopfe bis zu den Füßen an, »können Sie wirklich meinen, daß ich, Stepan Werchowenski, in mir nicht genug sittliche Kraft finden sollte, um den Bettelsack auf meine schwachen Schultern zu legen, aus dem Haustore zu gehen und von hier für immer zu verschwinden, wenn das die Ehre und das hohe Prinzip der Unabhängigkeit fordern? Es wäre nicht das erstemal, daß Stepan Werchowenski einem Despotismus mit Seelengröße entgegentritt, wenn es sich hier auch nur um den Despotismus eines verrückten Weibes handelt, das heißt um den beleidigendsten, grausamsten Despotismus, den es nur auf der Welt geben kann, trotzdem Sie sich soeben, wie es scheint, erlaubten, über meine Worte zu lächeln, mein Herr! Oh, Sie glauben nicht, daß ich in mir so viel Seelengröße zu finden vermag, um mein Leben als Hauslehrer bei einem Kaufmann zu beschließen oder hinter einem Zaune zu verhungern! Antworten Sie, antworten Sie unverzüglich: glauben Sie es, oder glauben Sie es nicht?«

Aber ich schwieg absichtlich. Ich tat sogar, als könne ich mich nicht entschließen, ihn durch eine verneinende Antwort zu kränken, sei aber nicht imstande, bejahend zu antworten. In diesem ganzen gereizten Benehmen meines Freundes lag etwas, was mich entschieden verletzte, nicht mich persönlich, o nein! Aber ... ich werde das später erklären.

Er war sogar blaß geworden.

»Vielleicht sind Sie meiner Gesellschaft überdrüssig, G***w,« (dies ist mein Familienname), »und würden wünschen ... Ihre Besuche bei mir ganz einzustellen?« sagte er in jenem Tone gekünstelter Ruhe, der gewöhnlich einem heftigen Ausbruche vorhergeht.

Ich sprang erschrocken auf; in demselben Augenblicke kam Nastasja herein und reichte ihrem Herrn schweigend einen Zettel, auf dem etwas mit Bleistift geschrieben stand. Er sah ihn an und warf ihn mir hin. Auf dem Zettel standen von Warwara Petrownas Hand nur die wenigen Worte: »Halten Sie sich zu Hause!«

Stepan Trofimowitsch nahm schweigend Hut und Stock, ging schnell zur Tür und öffnete sie, um das Zimmer zu verlassen. Plötzlich wurden auf dem Flur Stimmen und das Geräusch schneller Schritte vernehmbar. Er blieb stehen wie vom Donner gerührt.

»Das ist Liputin! Ich bin verloren!« flüsterte er, indem er mich bei der Hand ergriff.

In demselben Augenblicke trat Liputin ins Zimmer.

 

IV

Inwiefern Liputins Ankunft bewirken könne, daß er verloren sei, das wußte ich nicht; ich legte auch diesem Ausdrucke keine Bedeutung bei; ich schrieb alles seiner Nervenerregung zu. Aber sein Schreck war doch ein sehr auffallender, und ich nahm mir vor, den weiteren Verlauf aufmerksam zu beobachten.

Schon die bloße Miene des eintretenden Liputin ließ erkennen, daß er diesmal trotz aller Verbote ein besonderes Recht zum Eintritt habe. Er brachte einen unbekannten Herrn mit, der von auswärts gekommen sein mußte. In Erwiderung auf den fassungslosen Blick des ganz starr gewordenen Stepan Trofimowitsch rief er sogleich laut:

»Ich bringe einen Gast mit, und einen besonderen Gast! Ich wage es, Sie in Ihrer Einsamkeit zu stören. Herr Kirillow, ein hervorragender Ingenieur und Architekt. Die Hauptsache aber ist: der Herr kennt Ihren Sohn, den hochverehrten Peter Stepanowitsch; sehr gut sogar; und er hat einen Auftrag von ihm. Der Herr hat ihn eben erst besucht.«

»Was Sie von einem Auftrage sagen, ist Ihr Zusatz,« bemerkte der Gast in scharfem Tone. »Einen Auftrag habe ich überhaupt nicht erhalten; aber Werchowenski kenne ich allerdings. Ich habe ihn vor zehn Tagen im Gouvernement Ch*** verlassen.«

Stepan Trofimowitsch reichte ihm mechanisch die Hand und forderte ihn auf, Platz zu nehmen; dann blickte er mich an, blickte Liputin an und setzte sich plötzlich, wie wenn er zur Besinnung käme, schnell selbst hin, wobei er aber Hut und Stock immer noch in der Hand behielt, ohne es zu bemerken.

»Ah, Sie wollten selbst ausgehen! Und mir war gesagt worden, Sie seien vor vieler Arbeit ganz krank geworden.«

»Ja, ich bin auch krank und wollte eben spazieren gehen; ich ...«

Stepan Trofimowitsch stockte, warf schnell den Hut und den Stock auf das Sofa und – errötete.

Ich hatte unterdessen schnell den Gast gemustert. Es war ein noch junger Mann von ungefähr siebenundzwanzig Jahren, anständig gekleidet, schlank und mager, brünett, mit blassem, etwas unreinem Teint und schwarzen, glanzlosen Augen. Er schien etwas nachdenklich und zerstreut zu sein, sprach abgebrochen und nicht ganz grammatisch richtig, stellte die Worte etwas sonderbar und verwirrte sich, wenn er einen längeren Satz bilden mußte. Liputin bemerkte sehr genau, was für einen Schreck Stepan Trofimowitsch bekommen hatte, und war davon sichtlich befriedigt. Er setzte sich auf einen Rohrstuhl, den er beinah in die Mitte des Zimmers gezogen hatte, um sich in gleicher Entfernung zwischen dem Wirte und dem Gaste zu befinden, die einander gegenüber auf zwei gegenüberstehenden Sofas Platz genommen hatten. Seine scharfen Augen fuhren neugierig in allen Winkeln umher.

»Ich ... ich habe Peter schon lange nicht gesehen ... Sie sind im Auslande mit ihm zusammengetroffen?« fragte Stepan Trofimowitsch mühsam murmelnd den Gast.

»Sowohl hier als im Auslande.«

»Alexei Nilowitsch kommt soeben selbst nach vierjähriger Abwesenheit aus dem Auslande,« fügte Liputin hinzu. »Er ist gereist, um sich in seinem Spezialfache zu vervollkommnen, und jetzt zu uns gekommen, weil er begründete Hoffnung hat, eine Anstellung beim Bau unserer Eisenbahnbrücke zu erhalten; er wartet jetzt auf die Antwort. Er ist durch Peter Stepanowitsch mit den Drosdowschen Herrschaften, mit Lisaweta Nikolajewna, bekannt geworden.«

Der Ingenieur saß mit finsterem Gesichte da und hörte unbehaglich und ungeduldig zu. Es schien mir, daß er sich über etwas ärgerte.

»Der Herr ist auch mit Nikolai Wsewolodowitsch bekannt.«

»Sie kennen auch Nikolai Wsewolodowitsch?« erkundigte sich Stepan Trofimowitsch.

»Ja, den auch.«

»Ich ... ich habe Peter außerordentlich lange nicht gesehen und ... habe somit kaum ein Recht, mich seinen Vater zu nennen ... c'est le mot; ich ... wie haben Sie ihn verlassen?«

»Nichts Besonderes zu sagen darüber ... Er wird selbst herkommen,« erwiderte Herr Kirillow wieder eilig, um von der Frage loszukommen.

Er war entschieden ärgerlich.

»Er wird herkommen! Endlich werde ich ... Sehen Sie, ich habe Peter schon gar zu lange nicht gesehen!« versetzte Stepan Trofimowitsch, der an dieser Phrase hängen blieb. »Ich erwarte jetzt meinen armen Jungen, gegen den ... o gegen den ich mich so vergangen habe! Das heißt, ich will eigentlich sagen, daß ich, als ich ihn damals in Petersburg verließ ... kurz gesagt, ich hielt ihn für eine Null, quelque chose dans ce genre. Wissen Sie, der Junge war nervös, sehr empfindsam und ... ängstlich. Wenn er sich schlafen legte, machte er tiefe Verbeugungen vor dem Heiligenbilde und bekreuzte sein Kopfkissen, um nicht in der Nacht zu sterben ... je m'en souviens. Enfin, kein Gefühl für das Schöne, das heißt für etwas Höheres, Fundamentales, kein Keim einer künftigen Idee ... c'était comme un petit idiot. Übrigens bin ich, wie mir vorkommt, selbst verwirrt; entschuldigen Sie, ich ... Sie treffen mich heute ...«

»Sagen Sie das im Ernst, daß er sein Kopfkissen bekreuzte?« erkundigte sich der Ingenieur mit besonderer Neugier.

»Ja, das tat er ...«

»Ich tue so etwas nicht; fahren Sie fort!«

Stepan Trofimowitsch blickte Liputin fragend an und wandte sich dann wieder an den Fremden.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Besuch; aber ich muß gestehen, ich bin jetzt ... nicht imstande ... Gestatten Sie aber die Frage: wo wohnen Sie?«

»In der Bogojawlenskaja-Straße, im Filippowschen Hause.«

»Ach, das ist dasselbe Haus, in dem Schatow wohnt,« bemerkte ich unwillkürlich.

»Ganz richtig, in demselben Hause,« rief Liputin; »nur wohnt Schatow oben, im Halbgeschoß, und dieser Herr hier hat sich unten einquartiert, beim Hauptmann Lebjadkin. Er kennt auch Schatow, und auch Schatows Frau kennt er. Er ist im Auslande mit ihr in sehr nahe Berührung gekommen.«

» Comment! Also wissen Sie wirklich etwas von der unglücklichen Ehe de ce pauvre ami und kennen diese Frau?« rief Stepan Trofimowitsch, auf einmal von seinem Gefühle fortgerissen. »Ich habe noch nie jemand getroffen, der diese Frau persönlich gekannt hätte; Sie sind der erste; und wenn nur ...«

»Was für dummes Zeug!« unterbrach ihn der Ingenieur, ganz rot vor Ärger. »Wie können Sie nur so etwas hinzuerfinden, Liputin! Ich habe Frau Schatowa gar nicht gesehen; nur einmal von weitem; aber näher kennen tue ich sie nicht ... Schatow kenne ich. Warum erfinden Sie denn allerlei hinzu?«

Er drehte sich mit kurzer Wendung auf dem Sofa herum und griff nach seiner Mütze; dann legte er sie wieder hin, nahm seine frühere Haltung wieder ein und richtete seine schwarzen Augen mit dem Ausdrucke zorniger Herausforderung auf Stepan Trofimowitsch. Ich vermochte mir eine so sonderbare Gereiztheit schlechterdings nicht zu erklären.

»Verzeihen Sie mir,« bemerkte Stepan Trofimowitsch im Tone eindringlicher Bitte; »ich begreife, daß das vielleicht eine sehr zarte Angelegenheit ist ...«

»Hier gibt es keine sehr zarte Angelegenheit; das ist ein ganz falscher Ausdruck; aber daß ich rief: ›Dummes Zeug!‹ das war nicht für Sie bestimmt, sondern für Liputin, weil er immer etwas hinzuerfindet. Schatow kenne ich; seine Frau aber kenne ich gar nicht ... gar nicht kenne ich sie!«

»Ich verstehe, ich verstehe, und wenn ich mir eine Frage erlaubte, so tat ich es nur deshalb, weil ich unsern armen Freund, notre irascible ami, liebe und mich immer für ihn interessiert habe ... Dieser Mensch hat meiner Ansicht nach seine früheren vielleicht zu jugendlichen, aber doch richtigen Anschauungen in gar zu schroffer Weise gewechselt. Und er erhebt jetzt gegen notre sainte Russie so vielerlei Anklagen, daß ich diesen Umschwung in seinem Organismus (anders kann ich es nicht bezeichnen) schon längst auf die starke Erschütterung seines Familienlebens und speziell auf seine unglückliche Ehe zurückführe. Ich, der ich mein armes Rußland studiert habe und kenne wie meine eigenen Finger und dem russischen Volke mein ganzes Leben geweiht habe, ich kann Ihnen versichern, daß er das russische Volk nicht kennt und überdies ...«

»Ich kenne das russische Volk auch gar nicht, und ... ich habe gar keine Zeit dazu, es zu studieren!« unterbrach ihn der Ingenieur von neuem und drehte sich wieder kurz auf dem Sofa herum.

Stepan Trofimowitsch war in der Mitte seiner Auseinandersetzung unterbrochen worden.

»Der Herr studiert es, er studiert es,« fiel Liputin ein; »er hat dieses Studium bereits begonnen und verfaßt eine interessante Abhandlung über die Ursachen der Zunahme der Selbstmorde in Rußland und überhaupt über die Ursachen, welche die Verbreitung des Selbstmordes in der menschlichen Gesellschaft befördern oder hemmen. Er ist zu staunenswerten Resultaten gelangt.«

Der Ingenieur geriet in eine schreckliche Erregung.

»Dazu haben Sie gar kein Recht,« murmelte er zornig; »ich schreibe gar keine Abhandlung. Solche Dummheiten mache ich nicht. Ich habe Sie vertraulich gefragt, nur ganz zufällig. Von einer Abhandlung ist hier überhaupt nicht die Rede; ich veröffentliche nichts, und Sie haben nicht das Recht ...«

Liputin hatte offenbar seine Freude daran.

»Pardon,« sagte er, »vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt, wenn ich Ihre literarische Arbeit eine Abhandlung nannte. Der Herr sammelt nur Beobachtungen und läßt sich auf den eigentlichen Kern der Frage oder sozusagen auf ihre moralische Seite überhaupt nicht ein und lehnt sogar die Moralität selbst völlig ab und hält sich an den neuesten Grundsatz der allgemeinen Zerstörung zum Zwecke der Erreichung guter Endziele. Er fordert schon mehr als hundert Millionen Köpfe, um die gesunde Vernunft in Europa zur Herrschaft zu bringen, also weit mehr, als auf dem letzten Weltkongreß gefordert wurden. In diesem Gedanken geht Alexei Nilowitsch weiter als alle andern.«

Der Ingenieur hatte mit einem geringschätzigen, schwachen Lächeln zugehört. Etwa eine halbe Minute lang schwiegen alle.

»Das sind lauter Dummheiten, Liputin,« sagte schließlich Herr Kirillow mit einer gewissen Würde. »Wenn ich Ihnen zufällig einige Punkte gesagt habe und Sie sie aufgeschnappt haben, so ist das Ihre Sache. Aber Sie haben kein Recht, es zu erwähnen, weil ich nie mit jemandem darüber rede. Es widersteht mir, darüber zu reden ... Wenn es Überzeugungen gibt, so ist es für mich klar ... aber damit haben Sie dumm gehandelt. Ich stelle keine Erwägungen über jene Punkte an, wo schon alles erledigt ist. Ich kann die Erwägungen nicht leiden. Ich mag nie Erwägungen anstellen ...«

»Vielleicht tun Sie daran ganz recht,« konnte Stepan Trofimowitsch sich nicht enthalten zu bemerken.

»Ich entschuldige mich bei Ihnen; aber ich bin hier auf niemand zornig,« fuhr der Gast mit fieberhafter Geschwindigkeit fort. »Ich habe vier Jahre lang nur mit wenigen Menschen verkehrt ... Ich habe vier Jahre lang nur wenig gesprochen und mich bemüht, nicht mit andern zusammenzukommen, um meiner Ziele willen, um die es sich hier nicht handelt, vier Jahre lang. Liputin hat das lächerlich gefunden und lacht darüber. Ich verstehe das und kümmere mich nicht darum. Ich bin nicht empfindlich; ich ärgere mich nur über seine Ungeniertheit. Wenn ich Ihnen aber meine Ideen nicht auseinandersetze,« schloß er unerwartet, indem er uns alle der Reihe nach mit festem Blicke ansah, »so unterlasse ich das ganz und gar nicht deswegen, weil ich von Ihnen eine Denunziation bei der Regierung fürchte; das nicht; denken Sie, bitte, nicht Torheiten in diesem Sinne ...«

Auf diese Worte antwortete niemand mehr etwas; wir sahen einander nur an. Sogar Liputin selbst vergaß zu kichern.

»Meine Herren, es tut mir sehr leid,« sagte Stepan Trofimowitsch, indem er entschlossen vom Sofa aufstand; »aber ich fühle mich unwohl und leidend. Entschuldigen Sie mich!«

»Aha, das bedeutet, daß wir fortgehen sollen,« sagte Herr Kirillow mit plötzlichem Verständnis und griff nach seiner Uniformmütze. »Es ist gut, daß Sie es noch einmal gesagt haben; ich bin so vergeßlich.«

Er stand auf und trat mit gutmütiger Miene und mit ausgestreckter Hand auf Stepan Trofimowitsch zu.

»Schade, daß Sie unwohl sind und ich gekommen bin.«

»Ich wünsche Ihnen bei uns allen Erfolg,« antwortete Stepan Trofimowitsch, indem er ihm wohlwollend und in Ruhe die Hand drückte. »Ich begreife vollkommen, daß, wenn Sie nach Ihrer Mitteilung so lange im Auslande gelebt und um Ihrer Ziele willen die Menschen gemieden und Rußland vergessen haben, Sie schließlich uns Stockrussen unwillkürlich mit einer gewissen Verwunderung ansehen müssen, und ebenso wir Sie. Nur eins ist mir nicht recht verständlich: Sie wollen unsere Brücke bauen und erklären gleichzeitig, Sie verträten das Prinzip der allgemeinen Zerstörung! Man wird Ihnen den Bau unserer Brücke nicht übertragen!«

»Wie? Was haben Sie da gesagt? ... Donnerwetter, ja!« rief Kirillow überrascht und brach auf einmal in ein helles, heiteres Lachen aus.

Für einen Augenblick nahm sein Gesicht einen ganz kindlichen Ausdruck an, der ihm meines Erachtens sehr gut stand. Liputin rieb sich die Hände, ganz entzückt über Stepan Trofimowitschs wohlgelungene Bemerkung. Ich aber wunderte mich immer noch im stillen, weshalb Stepan Trofimowitsch einen solchen Schreck über Liputins Ankunft bekommen und warum er, als er ihn hörte, gerufen hatte: »Ich bin verloren!«

 

V

Wir standen alle bei der Türschwelle. Es war jener Augenblick, wo Wirte und Gäste schnell die letzten, liebenswürdigsten Redensarten auszutauschen und dann befriedigt auseinanderzugehen pflegen.

»Daß der Herr heute so mürrisch ist,« warf Liputin, der schon ganz aus dem Zimmer hinausgegangen war, auf einmal noch wie beiläufig hin, »das kommt nur daher, daß er mit dem Hauptmann Lebjadkin vorhin wegen der Schwester desselben einen heftigen Zusammenstoß gehabt hat. Hauptmann Lebjadkin schlägt seine schöne, irrsinnige Schwester täglich mit der Peitsche, einer richtigen Kosakenpeitsche, morgens und abends. Aus diesem Grunde ist Alexei Nilowitsch sogar in ein Seitengebäude desselben Hauses gezogen, um davon nichts zu sehen und zu hören. Nun, auf Wiedersehen!«

»Seine Schwester? Eine Kranke? Mit der Peitsche?« schrie Stepan Trofimowitsch auf, wie wenn er selbst einen Hieb mit der Peitsche erhalten hätte. »Was für eine Schwester? Was ist das für ein Lebjadkin?«

Die frühere Angst war sofort zurückgekehrt.

»Lebjadkin? Das ist ein Hauptmann a. D.; früher bezeichnete er sich nur als Stabskapitän ...«

»Ach, was kümmert mich sein Rang? Was für eine Schwester? Mein Gott ... Sie sagen Lebjadkin? Aber bei uns war ja ein Lebjadkin ...«

»Eben der ist es, unser Lebjadkin; Sie erinnern sich wohl, er wohnte bei Wirginski?«

»Der ist ja aber mit falschen Banknoten abgefaßt worden.«

»Nun ist er zurückgekehrt, schon vor fast drei Wochen, und zwar unter ganz besonderen Umständen.«

»Aber da ist er ja ein Nichtswürdiger!«

»Als ob es bei uns keine nichtswürdigen Menschen geben könnte!« schmunzelte Liputin auf einmal und sah Stepan Trofimowitsch mit seinen listigen Augen an, wie wenn er ihn betastete.

»Ach, mein Gott, das will ich ja gar nicht sagen ... wiewohl ich übrigens über diesen Nichtswürdigen mit Ihnen durchaus einer Meinung bin, speziell mit Ihnen. Aber was weiter, was weiter? Was wollten Sie damit sagen? Sie wollen doch sicherlich damit etwas sagen!«

»Ach, das sind ja alles so unwichtige Dinge! ... Also dieser Hauptmann ist damals allem Anschein nach nicht wegen falscher Banknoten von uns weggereist, sondern lediglich, um diese seine Schwester zu suchen, die sich, wie es scheint, vor ihm an einem unbekannten Orte verborgen hielt; na, aber jetzt hat er sie hergebracht; das ist die ganze Geschichte. Warum haben Sie denn einen solchen Schreck bekommen, Stepan Trofimowitsch? Übrigens habe ich alles, was ich da sage, von ihm selbst gehört, als er in der Betrunkenheit ins Schwatzen gekommen war; wenn er nüchtern ist, schweigt er darüber. Er ist ein reizbarer Mensch und sozusagen ein militärischer Ästhetiker, der aber einen schlechten Geschmack hat. Diese Schwester aber ist nicht nur irrsinnig, sondern auch lahm. Es scheint, daß sie von jemand entehrt worden ist, und daß Herr Lebjadkin dafür schon seit vielen Jahren von dem Verführer eine jährliche Rente bezieht, wenigstens ist das aus seinem Geschwätze zu entnehmen – aber meiner Meinung nach ist das nur Gerede eines Betrunkenen. Er prahlt einfach. Das kann man allerdings auch tun, wenn man weniger Geld hat. Daß er aber bedeutende Summen besitzt, das ist ganz sicher; vor anderthalb Wochen ging er barfuß, und jetzt (das habe ich selbst gesehen) hat er Hunderte in Händen. Seine Schwester hat täglich eine Art von Anfällen; sie kreischt dann, und er ›bringt sie in Ordnung‹, nämlich mit der Peitsche. ›Einem Weibe‹, sagt er, ›muß man Respekt einflößen‹. Ich begreife nur nicht, wie Schatow noch über ihnen wohnen bleiben kann. Alexei Nilowitsch hat nur drei Tage bei ihnen gewohnt (er war mit ihm noch von Petersburg her bekannt); jetzt bewohnt er infolge der steten Aufregung ein Seitengebäude.«

»Ist das alles wahr?« wandte sich Stepan Trofimowitsch an den Ingenieur.

»Sie schwatzen sehr viel, Liputin,« brummte dieser zornig.

»Geheimnisse, Heimlichkeiten! Woher gibt es nur auf einmal bei uns so viele Geheimnisse und Heimlichkeiten?« konnte Stepan Trofimowitsch sich nicht enthalten auszurufen.

Der Ingenieur machte ein finsteres Gesicht, errötete, zuckte mit den Achseln und wollte das Zimmer verlassen.

»Alexei Nilowitsch hat ihm sogar die Peitsche aus der Hand gerissen, sie zerbrochen, aus dem Fenster geworfen und sich heftig mit ihm gezankt,« fügte Liputin hinzu.

»Warum schwatzen Sie soviel, Liputin? Das ist dumm. Warum tun Sie das?« sagte Alexei Nilowitsch und drehte sich augenblicklich wieder um.

»Warum soll man denn aus Bescheidenheit die edelsten Regungen seiner Seele verbergen? Das heißt, ich rede von Ihrer Seele, nicht von meiner eigenen.«

»Wie dumm das ist ... und ganz unnötig ... Lebjadkin ist ein ganz dummer Mensch, ein Hohlkopf und für unsere Aktion nicht zu gebrauchen; er kann da nur schaden. Warum schwatzen Sie allerlei Zeug? Ich gehe weg.«

»Ach, wie schade!« rief Liputin mit heiterem Lächeln. »Sonst hätte ich Sie, Stepan Trofimowitsch, noch durch ein kleines Geschichtchen erheitert. Ich bin sogar mit der Absicht hergekommen, es Ihnen mitzuteilen, obwohl Sie es übrigens wahrscheinlich schon selbst gehört haben. Nun, dann also ein andermal; Alexei Nilowitsch hat es so eilig ... Auf Wiedersehen! Das Geschichtchen ist mir mit Warwara Petrowna passiert; sie hat mich vorgestern zum Lachen gebracht; sie ließ mich expreß rufen; es war zum Kranklachen. Auf Wiedersehen!«

Aber nun klammerte sich Stepan Trofimowitsch ordentlich an ihm fest: er faßte ihn bei der Schulter, drehte ihn kurz um, zog ihn ins Zimmer zurück und zwang ihn, sich auf einen Stuhl zu setzen. Liputin wurde beinah ängstlich.

»Nun ja,« begann er von selbst, indem er Stepan Trofimowitsch von seinem Stuhle aus vorsichtig ansah, »sie ließ mich auf einmal rufen und fragte mich ›vertraulich‹, wie ich persönlich darüber dächte: ob Nikolai Wsewolodowitsch geistesgestört sei oder seinen Verstand habe. Ist das nicht erstaunlich?«

»Sie sind verrückt geworden,« murmelte Stepan Trofimowitsch, der ganz außer sich geraten war. »Liputin, Sie wissen ganz genau, daß Sie nur deshalb hergekommen sind, um mir eine gemeine Geschichte von dieser Art mitzuteilen und ... noch etwas Schlimmeres!«

In demselben Augenblicke fiel mir seine Vermutung ein, daß Liputin in unserer Angelegenheit nicht nur mehr wisse als wir, sondern auch noch etwas, was wir selbst nie erfahren würden.

»Erbarmen Sie sich, Stepan Trofimowitsch!« murmelte Liputin, wie wenn er schreckliche Furcht hätte. »Erbarmen Sie sich ...«

»Schweigen Sie, und fangen Sie an! Herr Kirillow, ich bitte Sie dringend, ebenfalls wieder umzukehren und dabei anwesend zu sein; dringend bitte ich Sie darum! Nehmen Sie Platz! Und Sie, Liputin, fangen Sie nun an: geradezu, einfach, ohne die geringsten Umschweife!«

»Hätte ich gewußt, daß Sie das so aufregen würde, dann hätte ich überhaupt nicht davon angefangen ... Und ich dachte, es wäre Ihnen schon alles durch Warwara Petrowna selbst bekannt!«

»Das haben Sie gar nicht gedacht! Fangen Sie an, fangen Sie an, sage ich Ihnen!«

»Tun Sie mir den Gefallen und setzen Sie sich selbst hin; wie kann ich denn dasitzen, wenn Sie in solcher Aufregung vor mir hin und her laufen? Das kommt ja unpassend heraus.«

Stepan Trofimowitsch tat sich Gewalt an und ließ sich in eindrucksvoller Weise auf einen Lehnsessel nieder. Der Ingenieur starrte finster auf den Fußboden. Liputin betrachtete beide mit größtem Genusse.

»Ja, wie soll ich denn anfangen? Sie haben mich ganz wirr gemacht …«

 

VI

»Vorgestern schickte sie auf einmal ihren Diener zu mir: ›Die gnädige Frau‹, sagte er, ›läßt Sie morgen um zwölf Uhr zu sich bitten.‹ Können Sie sich das vorstellen? Ich ließ also gestern meine Arbeit liegen und klingelte bei ihr Punkt zwölf. Ich wurde geradeswegs in den Salon geführt; ich wartete etwa eine Minute, da kam sie; sie forderte mich auf, Platz zu nehmen, und setzte sich selbst mir gegenüber. Da saß ich nun und traute meinen eigenen Sinnen nicht; Sie wissen selbst, wie sie mich immer behandelt hat! Sie begann geradezu und ohne Umschweife zu reden, wie das stets ihre Art ist. ›Sie erinnern sich‹, sagte sie, ›daß vor vier Jahren Nikolai Wsewolodowitsch, als er krank war, einige sonderbare Handlungen begangen hat, so daß die ganze Stadt erstaunt war, bis sich alles aufklärte. Eine dieser Handlungen betraf Sie persönlich. Nikolai Wsewolodowitsch hat Ihnen damals nach seiner Genesung auf meine Bitte einen Besuch gemacht. Es ist mir auch bekannt, daß er auch früher schon mehrere Male mit Ihnen gesprochen hatte. Sagen Sie offen und ehrlich, wie Sie …‹ (hier stockte sie ein wenig) ›wie Sie damals Nikolai Wsewolodowitsch gefunden haben. Wie haben Sie überhaupt über ihn geurteilt? Welche Meinung haben Sie sich damals über ihn gebildet, und … welche Meinung haben Sie jetzt von ihm?‹ Hier geriet sie nun gänzlich ins Stocken, so daß sie sogar eine ganze Minute wartete und auf einmal rot wurde. Ich bekam einen Schreck. Da fing sie wieder an, nicht etwa in gerührtem Tone (der würde ihr nicht stehen), sondern so recht nachdrücklich: ›Ich wünsche‹, sagte sie, ›daß Sie mich genau und richtig verstehen. Ich habe Sie jetzt rufen lassen, weil ich Sie für einen scharfsichtigen, klugen Menschen halte, der fähig ist, richtig zu beobachten.‹ (Was sagen Sie zu diesen Komplimenten?) ›Sie werden gewiß verstehen,‹ sagte sie, ›daß es eine Mutter ist, die mit Ihnen spricht. Nikolai Wsewolodowitsch hat in seinem Leben mancherlei Unglück und viele Umwälzungen durchgemacht. Alles das‹, sagte sie, ›konnte auf seine Geistesverfassung einwirken. Selbstverständlich‹, sagte sie, ›rede ich nicht von Irrsinn; der ist völlig ausgeschlossen!‹ Das sprach sie in festem, stolzem Tone. ›Aber es konnte sich bei ihm etwas Seltsames, Besonderes herausbilden, eine gewisse Gedankenrichtung, eine Neigung zu einer besonderen Anschauungsweise.‹ (Alles dies sind ihre eigenen Worte, und ich bin erstaunt, Stepan Trofimowitsch, mit welcher Genauigkeit Warwara Petrowna eine Sache klarzumachen versteht; sie ist eine geistig hochbegabte Dame!) ›Wenigstens‹, sagte sie, ›habe ich selbst an ihm eine beständige Unruhe und eine Richtung auf besondere Neigungen wahrgenommen. Aber ich bin die Mutter, und Sie sind ein Fremder und deshalb bei Ihrem Verstande fähig, sich eine unabhängigere Meinung zu bilden. Ich bitte Sie nun inständig,‹ (so drückte sie sich aus: ›ich bitte Sie inständig‹), ›mir die ganze Wahrheit zu sagen, ohne alle Grimassen; und wenn Sie mir dabei noch das Versprechen geben, nachher nie zu vergessen, daß ich Ihnen das im Vertrauen gesagt habe, so können Sie darauf rechnen, daß ich stets durchaus bereit sein werde, mich Ihnen bei jeder möglichen Gelegenheit dankbar zu zeigen.‹ Nun, was sagen Sie dazu?«

»Sie … Sie haben mich so überrascht …« stammelte Stepan Trofimowitsch, »daß ich Ihnen nicht glauben …«

»Nein, beachten Sie dies, beachten Sie dies,« fiel Liputin ein, wie wenn er nicht gehört hätte, was Stepan Trofimowitsch sagte: »wie groß mußte ihre Aufregung und Unruhe sein, wenn sie sich mit einer solchen Frage von ihrer Höhe herab an einen solchen Menschen, wie ich, wandte und sich obendrein dazu herabließ, mich selbst um Verschwiegenheit zu bitten! Wie ist das zu erklären? Haben Sie irgendwelche unerwarteten Nachrichten über Nikolai Wsewolodowitsch erhalten?«

»Ich weiß von keinen Nachrichten … ich bin mehrere Tage nicht mit ihr zusammengekommen; aber … aber ich muß Ihnen doch bemerken …« stotterte Stepan Trofimowitsch, der offenbar Mühe hatte, seine Gedanken zu sammeln, »ich muß Ihnen doch bemerken, Liputin, daß, wenn Ihnen dies im Vertrauen mitgeteilt ist und Sie jetzt vor aller Ohren …«

»Vollständig im Vertrauen! Und Gott strafe mich, wenn ich … Aber wenn ich hier … was ist denn da dabei? Sind wir denn etwa Fremde, auch Alexei Nilowitsch eingeschlossen?«

»Ich kann Ihre Anschauung nicht teilen; ohne Zweifel werden wir drei hier das Geheimnis bewahren; aber was Sie, den vierten, anlangt, so habe ich da meine Befürchtungen und traue Ihnen gar nicht.«

»Aber wie können Sie nur so etwas sagen? Ich habe doch von uns allen das größte Interesse daran, daß die Sache nicht auskommt, da mir für diesen Fall lebenslängliche Dankbarkeit versprochen ist! Aber ich wollte eigentlich bei eben diesem Anlaß auf eine sehr sonderbare Tatsache hinweisen, die übrigens sozusagen mehr psychologisch interessiert als einfach sonderbar ist. Gestern abend, wo ich noch unter der Einwirkung des Gespräches mit Warwara Petrowna stand (Sie können sich vorstellen, welchen Eindruck es auf mich gemacht hatte), wandte ich mich an Alexei Nilowitsch mit der beiläufigen Frage: ›Sie haben ja‹, sagte ich, ›sowohl im Auslande als auch schon früher in Petersburg Nikolai Wsewolodowitsch gekannt; wie urteilen Sie über ihn,‹ sagte ich, ›was Verstand und geistige Fähigkeiten anlangt?‹ Da antwortete er mir so lakonisch, wie das seine Art ist, er sei ein Mensch von feinem Verstande und gesunder Urteilskraft. ›Aber haben Sie nicht im Laufe der Jahre‹, sagte ich, ›eine gewisse Schieflenkung der Ideen oder eine besondere Verdrehung der Denktätigkeit oder sozusagen eine Art von geistiger Störung an ihm bemerkt?‹ Kurz, ich wiederholte Warwara Petrownas Frage. Stellen Sie sich vor: Alexei Nilowitsch wurde auf einmal nachdenklich und runzelte die Stirn geradeso wie jetzt und sagte: ›Ja, ich habe manchmal an ihm etwas Sonderbares bemerkt.‹ Und beachten Sie dabei noch dies: wenn selbst Alexei Nilowitsch an ihm etwas Sonderbares bemerken konnte, wie mag es dann erst in Wirklichkeit gewesen sein? Nicht wahr?«

»Ist das wahr?« wandte sich Stepan Trofimowitsch an Alexei Nilowitsch.

»Ich möchte nicht gern davon sprechen,« antwortete Alexei Nilowitsch; er hob plötzlich den Kopf in die Höhe, und seine Augen blitzten. »Ich bestreite Ihnen das Recht dazu, Liputin. Sie haben kein Recht, bei dieser Sache von mir zu reden. Ich habe überhaupt nicht meine ganze Meinung ausgesprochen. Wenn ich auch in Petersburg mit ihm bekannt war, so ist das doch schon lange her; und wenn ich ihn auch jetzt getroffen habe, so kenne ich Nikolai Stawrogin doch nur sehr wenig. Ich bitte Sie, mich aus dem Spiele zu lassen, und … das alles sieht wie ein elender Klatsch aus.«

Liputin breitete die Arme auseinander, wie wenn er eine verfolgte Unschuld wäre.

»Ich ein Klatschbruder! Warum nicht auch ein Spion? Sie haben gut kritisieren, Alexei Nilowitsch, wenn Sie selbst sich von der ganzen Sache fernhalten. Aber Sie können gar nicht glauben, Stepan Trofimowitsch, was für ein Mensch dieser Hauptmann Lebjadkin ist; er ist so dumm wie … man schämt sich ordentlich, auch nur zu sagen, wie dumm; es gibt im Russischen einen Vergleich, der diesen höchsten Grad bezeichnet. Er meint auch von Nikolai Wsewolodowitsch beleidigt zu sein, wiewohl er dem Scharfsinne desselben Bewunderung zollt; ›ich bin über diesen Menschen ganz erstaunt,‹ sagte er; ›er ist klug wie eine Schlange‹ (das sind seine eigenen Worte). Also zu dem sagte ich, immer noch unter der Einwirkung des gestrigen Gespräches mit Warwara Petrowna und erst nach dem Gespräche mit Alexei Nilowitsch: ›Hören Sie mal, Hauptmann,‹ sagte ich, ›wie urteilen Sie Ihrerseits darüber: ist Ihre kluge Schlange verrückt oder nicht?‹ Da war es doch (können Sie es glauben?), als ob ich ihm hinterrücks ohne seine Erlaubnis einen Peitschenschlag versetzt hätte; er sprang geradezu von seinem Sitze auf. ›Ja,‹ sagte er, ›ja,‹ sagte er, ›aber das kann keinen Einfluß darauf haben‹ … aber worauf es keinen Einfluß haben könne, das sagte er nicht. Und dann verfiel er in ein solches Nachdenken, in ein so trübes Nachdenken, daß sogar sein Rausch davon verflog. Ich saß mit ihm in dem Filippowschen Restaurant. Und erst nach einer halben Stunde schlug er auf einmal mit der Faust auf den Tisch: ›Ja,‹ sagte er, ›vielleicht ist er auch verrückt; aber das kann keinen Einfluß darauf haben‹, und er sagte wieder nicht worauf. Ich gebe Ihnen natürlich nur einen Extrakt aus dem Gespräche; aber der Sinn desselben ist ja verständlich. Man mag fragen, wen man will, allen kommt sofort ein und derselbe Gedanke, auch wenn er vorher keinem von ihnen durch den Kopf gegangen ist: ›Ja,‹ sagen sie, ›er ist verrückt; ein sehr kluger Mensch, aber vielleicht dabei auch verrückt.‹«

Stepan Trofimowitsch saß in Gedanken versunken da und überlegte angestrengt.

»Aber woher weiß Lebjadkin das?«

»Ist es Ihnen vielleicht gefällig, danach Alexei Nilowitsch zu fragen, der mich soeben hier einen Spion genannt hat? Ich bin ein Spion und weiß nichts; aber Alexei Nilowitsch kennt das ganze Geheimnis und schweigt.«

»Ich weiß nichts oder doch nur wenig,« antwortete der Ingenieur in demselben gereizten Tone. »Sie machen Lebjadkin betrunken, um etwas zu erfahren. Sie haben auch mich hierher geführt, um mich zum Reden zu bringen und etwas zu erfahren. Mithin sind Sie ein Spion!«

»Ich habe ihm noch nichts zu trinken gegeben, und er ist auch mit all seinen Geheimnissen nicht so viel Geld wert; so viel« (er schnippte mit den Fingern) »sind mir seine Geheimnisse wert; wieviel sie Ihnen wert sind, weiß ich nicht. Im Gegenteil ist er es, der mit Geld um sich wirft, während er vor zwölf Tagen zu mir kam, um mich um fünfzehn Kopeken zu bitten; und jetzt traktiert er mich mit Champagner, nicht ich ihn. Aber Sie bringen mich da auf einen guten Gedanken, und wenn es nötig sein sollte, werde ich ihn betrunken machen, speziell um all Ihre kleinen Geheimnisse zu erfahren, und vielleicht wird mir das auch gelingen,« antwortete Liputin boshaft und bissig.

Stepan Trofimowitsch blickte erstaunt die beiden Streitenden an. Beide verrieten sich selbst und, was die Hauptsache war, legten sich keinen Zwang auf. Ich hatte den Eindruck, daß Liputin diesen Alexei Nilowitsch gerade in der Absicht zu uns gebracht habe, um ihn durch eine dritte Person in ein Gespräch hineinzuziehen, das er nicht vermeiden könne – ein Lieblingsmanöver von ihm.

»Alexei Nilowitsch ist mit Nikolai Wsewolodowitsch sehr gut bekannt,« fuhr er gereizt fort; »aber er verheimlicht es. Und wenn Sie mich nach dem Hauptmann Lebjadkin fragen, so ist Nikolai Wsewolodowitsch früher als wir alle mit ihm in Petersburg bekannt gewesen, vor fünf oder sechs Jahren, in jener (wenn man sich so ausdrücken kann) halbdunklen Periode des Lebens Nikolai Wsewolodowitschs, wo er noch nicht daran dachte, uns hier mit seiner Ankunft zu beglücken. Man muß annehmen, daß unser Prinz damals einen ziemlich seltsamen Bekanntenkreis um sich gesammelt hatte. Damals ist er, wie es scheint, auch mit Alexei Nilowitsch bekannt geworden.«

»Nehmen Sie sich in acht, Liputin; ich warne Sie: Nikolai Wsewolodowitsch wollte bald selbst herkommen, und er steht seinen Mann.«

»Wofür könnte er sich an mir rächen? Ich bin der erste, der es laut ausspricht, daß er ein Mann vom größten, feinsten Verstande ist, und auch Warwara Petrowna habe ich gestern in dieser Hinsicht völlig beruhigt. ›Für seinen Charakter‹, habe ich zu ihr gesagt, ›kann ich allerdings keine Bürgschaft übernehmen.‹ Lebjadkin sprach sich gestern ebenfalls in demselben Sinne aus: ›Unter seinem Charakter‹, sagte er, ›habe ich zu leiden gehabt.‹ Ach, Stepan Trofimowitsch, Sie haben gut schreien, daß ich der Klatscherei und Spionage schuldig sei; aber wohlgemerkt, Sie tun das erst, nachdem Sie selbst alles aus mir herausgefragt haben, und noch dazu mit solcher maßlosen Neugier. Aber wie machte es Warwara Petrowna? Die ging gestern gleich auf den Hauptpunkt los: ›Sie sind bei der Sache persönlich interessiert gewesen,‹ sagte sie; ›darum wende ich mich an Sie.‹ Und ob ich dabei interessiert gewesen bin! Was könnte ich also mit Klatsch und Spionage für Ziele verfolgen, da ich doch vor den Augen der ganzen Gesellschaft eine persönliche Beleidigung von Seiner Exzellenz erlitten habe? Ich möchte meinen, ich habe meine eigenen Gründe, mich für ihn zu interessieren, und bedarf keines Klatsches. Heute drückt er Ihnen die Hand, und morgen versetzt er Ihnen ohne jeden Anlaß in Gegenwart der ganzen verehrlichen Gesellschaft zum Dank für Ihre Gastfreundschaft nach Herzenslust Backenstreiche. Ihn sticht der Hafer! Aber die Hauptsache ist bei diesen Herren das weibliche Geschlecht; sie sind Schmetterlinge und tapfere Hähnchen! Gutsbesitzer mit Flügelchen, wie die antiken Amoretten, Frauenjäger à la Petschorin In Lermontows Roman: Ein Held unserer Zeit. Anmerkung des Übersetzers.. Sie, als fanatischer Hagestolz, Stepan Trofimowitsch, können es sich leisten, so zu reden und mich um Seiner Exzellenz willen einen Klatschbruder zu nennen. Aber wenn Sie eine junge, hübsche Frau nehmen sollten, wie Sie denn noch ein frischer, kräftiger Mann sind, dann rate ich Ihnen, vor unserm Prinzen Ihre Tür zuzuschließen und in Ihrem eigenen Hause Barrikaden zu errichten! Wahrhaftig, wäre diese Mademoiselle Lebjadkina, die mit der Peitsche geschlagen wird, nicht irrsinnig und krummbeinig, so würde ich wirklich glauben, daß auch sie ein Opfer der Begierden unseres hohen Herrn sei, und daß er selbst derjenige gewesen sei, von welchem Hauptmann Lebjadkin ›in seiner Familienehre‹ gekränkt worden ist, wie er sich selbst ausdrückt. Nur stimmt es vielleicht nicht zu seinem feinen Geschmacke; aber das macht ihm wohl nichts aus. Ihm schmeckt jede Beere, wenn sie bei ihm die richtige Stimmung trifft. Sie reden von Klatscherei; aber bin ich es denn, der schreit, wo doch schon die ganze Stadt Lärm macht und ich nur zuhöre und ja sage? Und ja zu sagen ist doch nicht verboten.«

»Die Stadt macht Geschrei? Worüber macht die Stadt Geschrei?«

»Ich meine, Hauptmann Lebjadkin macht in betrunkenem Zustande in der ganzen Stadt Geschrei; na, und ist das nicht dasselbe, wie wenn der ganze Marktplatz schriee? Was trifft mich für eine Schuld? Ich rede über diese Sache nur unter Freunden und glaube doch hier unter Freunden zu sein,« sagte er und ließ mit harmloser Miene seine Augen über uns alle hingleiten. »Da ist eine merkwürdige Geschichte passiert, denken Sie nur: es kommt heraus, daß Seine Exzellenz noch aus der Schweiz durch ein hochachtbares junges Mädchen, nämlich durch eine bescheidene Waise, die zu kennen ich die Ehre habe, dreihundert Rubel zur Aushändigung an Hauptmann Lebjadkin hergeschickt hat. Aber bald darauf hat Lebjadkin die ganz zuverlässige Nachricht erhalten (ich sage nicht von wem, aber ebenfalls von einer hochachtbaren und somit durchaus glaubwürdigen Persönlichkeit), daß nicht dreihundert, sondern tausend Rubel abgeschickt sind! ... Infolgedessen macht Lebjadkin Geschrei, das junge Mädchen habe ihm siebenhundert Rubel unterschlagen, und beabsichtigt, die Hilfe der Polizei anzurufen; wenigstens droht er damit und erhebt in der ganzen Stadt einen großen Lärm ...«

»Das ist gemein! Das ist gemein von Ihnen!« rief der Ingenieur und sprang von seinem Stuhle auf.

»Aber Sie selbst sind ja die hochachtbare Persönlichkeit, die dem Hauptmann Lebjadkin von Nikolai Wsewolodowitsch die Nachricht gebracht hat, daß nicht dreihundert, sondern tausend Rubel übersandt seien. Mir hat es ja der Hauptmann selbst in der Betrunkenheit mitgeteilt.«

»Das ... das ist ein unglückliches Mißverständnis. Irgend jemand hat sich geirrt, und nun hat es solche Folgen ... Es ist Unsinn, und Sie haben gemein gehandelt! ...«

»Auch ich will gern glauben, daß es Unsinn ist, und habe es mit Bedauern gehört, weil dadurch erstens ein hochanständiges Mädchen in die Geschichte mit den siebenhundert Rubeln hineingezogen wird und zweitens ihre intimen Beziehungen zu Nikolai Wsewolodowitsch offenkundig werden. Aber was macht sich Seine Exzellenz daraus, ein anständiges Mädchen zu kompromittieren oder eine fremde Frau zu entehren, ähnlich wie er es in meinem Falle tat? Wenn ihm ein hochgesinnter Mann vorkommt, dann zwingt er ihn, fremde Sünden mit seinem ehrlichen Namen zu verdecken. Eben das habe ich erdulden müssen; ich rede von mir selbst ...«

»Nehmen Sie sich in acht, Liputin!« rief Stepan Trofimowitsch, indem er sich von seinem Lehnstuhl erhob; er war ganz blaß geworden.

»Glauben Sie es nicht, glauben Sie es nicht! Es hat sich irgend jemand geirrt, und Lebjadkin ist ein Trunkenbold!« schrie der Ingenieur in unbeschreiblicher Aufregung. »Es wird sich alles aufklären; aber ich kann nicht mehr ... und ich halte es für eine Niederträchtigkeit ... Genug davon, genug!«

Er rannte aus dem Zimmer.

»Was haben Sie denn? Ich komme ja mit Ihnen mit!« rief Liputin eilig, sprang aus und lief hinter Alexei Nilowitsch her.

 

VII

Stepan Trofimowitsch stand eine Minute lang in Gedanken versunken da, blickte mich an, ohne mich zu sehen, nahm dann seinen Hut und Stock und ging sachte aus dem Zimmer. Ich folgte ihm wieder wie vorher. Als wir aus dem Tor traten, bemerkte er, daß ich ihn begleitete, und sagte:

»Ach ja, Sie können als Zeuge dienen ... de l'accident. Vous m'accompagnerez, nest-ce pas

»Stepan Trofimowitsch, wollen Sie denn wirklich wieder dorthin? Überlegen Sie doch, was die Folge sein kann!«

Mit einem kläglichen, fassungslosen Lächeln, einem Lächeln, in welchem Scham und völlige Verzweiflung und gleichzeitig ein sonderbares Entzücken zum Ausdruck kamen, flüsterte er mir, einen Augenblick stehen bleibend, zu:

»Ich kann doch nicht ›fremde Sünden‹ heiraten!«

Auf dieses Wort hatte ich nur gewartet. Endlich war dieses bedeutungsvolle Wort ausgesprochen worden, das er mir eine ganze Woche lang durch allerlei Winkelzüge und Ausflüchte zu verbergen gesucht hatte. Ich kam geradezu außer mir.

»Und ein so schmutziger, ein so gemeiner Gedanke konnte bei Ihnen entstehen, bei Stepan Werchowenski, in Ihrem hellen Verstande, in Ihrem guten Herzen, und ... und sogar noch vor Liputins Mitteilungen!«

Er sah mich an, antwortete aber nicht und ging auf demselben Wege weiter. Ich wollte ihn nicht verlassen. Ich wollte bei Warwara Petrowna Zeuge sein. Ich hätte ihm verziehen, wenn er in seinem weibischen Kleinmute nur Liputin Glauben geschenkt hätte; aber jetzt war es deutlich, daß er schon lange vor Liputins Einflüsterungen sich in seinem Kopfe alles in dieser Weise zurechtgelegt und daß Liputin jetzt nur seinen Verdacht bestärkt und Öl ins Feuer gegossen hatte. Er hatte kein Bedenken getragen, das junge Mädchen gleich vom ersten Tage an zu beargwöhnen, noch ehe er irgendwelche Gründe dafür hatte, nicht einmal die von Liputin vorgebrachten. Warwara Petrownas despotisches Verfahren erklärte er sich nur aus ihrem Wunsche, um jeden Preis so schnell wie möglich durch die Heirat mit einem achtbaren Manne die adligen Sünden ihres teuren Nikolai zu vertuschen! Ich wünschte von Herzen, daß er dafür bestraft werden möchte.

» O! Dieu, qui est si grand et si bon! Oh, wer wird mir meine Ruhe wiedergeben?« rief er aus, nachdem er noch hundert Schritte weitergegangen war, und blieb plötzlich stehen.

»Kommen Sie schnell nach Hause; da will ich Ihnen alles erklären!« rief ich und drehte ihn mit Gewalt um, nach seinem Hause zu.

»Er ist es! Stepan Trofimowitsch, sind Sie es? Wirklich?« ertönte eine frische, muntere, jugendliche Stimme, die wie Musik klang, in unserer Nähe.

Wir sahen nichts; aber neben uns erschien plötzlich eine Reiterin, Lisaweta Nikolajewna, mit ihrem ständigen Begleiter. Sie hielt ihr Pferd an.

»Kommen Sie, kommen Sie schnell her!« rief sie laut in lustigem Tone. »Ich habe ihn zwölf Jahre lang nicht gesehen und doch erkannt; aber er ... Erkennen Sie mich wirklich nicht?«

Stepan Trofimowitsch ergriff die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und küßte sie ehrfurchtsvoll. Er blickte sie an mit einem Gesichte, als ob er betete, und konnte kein Wort herausbringen.

»Er hat mich erkannt und freut sich! Mawriki Nikolajewitsch, er ist entzückt darüber, daß er mich wiedersieht! Warum sind Sie denn die ganzen zwei Wochen nicht zu uns gekommen? Die Tante wollte mir einreden, Sie wären krank und dürften nicht aufgeregt werden; aber jetzt sehe ich, daß sie mich belogen hat. Ich habe immer mit den Füßen gestampft und auf Sie geschimpft; aber ich wollte unbedingt, unbedingt, daß Sie von selbst zuerst kommen sollten; darum habe ich nicht zu Ihnen geschickt. O Gott, und er hat sich gar nicht verändert!« fügte sie hinzu, indem sie sich vom Sattel herabbeugte und ihn näher betrachtete. »Es ist ordentlich lächerlich, wie er unverändert geblieben ist! Ach nein, da sind Fältchen, viele Fältchen um die Augen und auf den Backen, und auch einige graue Haare sind da; aber die Augen sind dieselben geblieben! Aber habe ich mich verändert? Ja? Habe ich mich verändert? Aber warum reden Sie denn gar nicht?«

In diesem Augenblicke erinnerte ich mich an die Erzählung, daß sie ordentlich krank geworden sei, als man sie als elfjähriges Kind nach Petersburg brachte. Sie habe in der Krankheit geweint und nach Stepan Trofimowitsch verlangt.

»Sie ... ich ...« stammelte er jetzt; aber die Stimme versagte ihm vor Freude. »Ich habe soeben gerufen: ›Wer wird mir meine Ruhe wiedergeben?‹ und da ertönte Ihre Stimme ... Ich halte das für ein Wunder, et je commence à croire

» En Dieu? En Dieu, qui est là haut et qui est si grand et si bon? Sehen Sie, ich weiß alles, was Sie mir beigebracht haben, noch auswendig. Mawriki Nikolajewitsch, was hat er mich damals für einen Glauben en Dieu, qui est si grand et si bon, gelehrt! Erinnern Sie sich an Ihre Erzählung davon, wie Kolumbus Amerika entdeckte, und wie alle schrien: ›Land, Land‹? Meine Wärterin Alona Frolowna sagt, ich hätte nachher in der Nacht phantasiert und im Schlafe ›Land, Land!‹ gerufen. Und wissen Sie noch, wie Sie mir die Geschichte vom Prinzen Hamlet erzählten? Und wissen Sie noch, wie Sie mir beschrieben, wie die armen Auswanderer von Europa nach Amerika transportiert werden? Es war alles unwahr; ich habe es nachher alles erfahren, wie sie transportiert werden; aber wie hübsch hat er mir damals alles vorgelogen, Mawriki Nikolajewitsch; es war beinah schöner als die Wahrheit! Warum sehen Sie denn Mawriki Nikolajewitsch so an? Das ist der beste, treueste Mensch auf dem ganzen Erdball, und Sie müssen ihn unbedingt ebenso lieb gewinnen wie mich! Il fait tout ce que je veux. Aber mein Täubchen, Stepan Trofimowitsch, Sie sind also wieder unglücklich, wenn Sie mitten auf der Straße ausrufen: ›Wer wird mir meine Ruhe wiedergeben?‹ Sie sind unglücklich, nicht wahr, nicht wahr?«

»Jetzt bin ich glücklich ...«

»Hat die Tante Ihnen etwas zuleide getan?« fuhr sie, ohne auf ihn zu hören, fort. »Sie ist noch immer dieselbe böse, ungerechte und uns allen ewig teure Tante! Wissen Sie noch, wie Sie sich im Garten mir in die Arme warfen und ich Sie tröstete und weinte? Fürchten Sie sich nur nicht vor Mawriki Nikolajewitsch; er weiß über Sie alles, alles, schon lange; Sie können an seiner Schulter weinen, soviel wie Ihnen beliebt; er wird, solange es Ihnen beliebt, stehen bleiben! ... Schieben Sie Ihren Hut ein bißchen zurück, oder nehmen Sie ihn für einen Augenblick ganz ab, strecken Sie den Kopf vor, und stellen Sie sich auf die Zehen; ich will Sie gleich auf die Stirn küssen, wie ich Sie das letztemal geküßt habe, als wir voneinander Abschied nahmen. Sehen Sie nur, jenes Fräulein da beobachtet uns aus dem Fenster ... Nun, näher, näher! O Gott, wie grau er geworden ist!«

Sie beugte sich im Sattel herunter und küßte ihn auf die Stirn.

»Nun, jetzt will ich Sie bei Ihnen zu Hause besuchen! Ich weiß, wo Sie wohnen. Ich werde gleich bei Ihnen sein. Ich werde Ihnen den ersten Besuch machen, Sie eigensinniger Mensch, und Sie dann für den ganzen Tag zu mir schleppen. Gehen Sie, und bereiten Sie sich auf meinen Besuch vor!«

Dann sprengte sie mit ihrem Kavalier davon. Wir kehrten nach Hause zurück. Stepan Trofimowitsch setzte sich auf das Sofa und brach in Tränen aus.

» Dieu, Dieu!« rief er. » Enfin une minute de bonheur

Schon nach zehn Minuten erschien sie ihrem Versprechen gemäß, und zwar in Begleitung ihres Mawriki Nikolajewitsch.

» Vous et le bonheur, vous arrivez en même temps!« sagte er, indem er aufstand und ihr entgegenging.

»Da haben Sie ein Bukett; ich bin eben zu Madame Chevalier herangeritten; die hat den ganzen Winter über Buketts für Damen, die ihren Namenstag feiern. Und da ist auch Mawriki Nikolajewitsch; bitte, machen Sie sich mit ihm bekannt. Ich wollte Ihnen schon eine Pastete statt des Buketts mitbringen; aber Mawriki Nikolajewitsch versichert, das sei in Rußland nicht Ton.«

Dieser Mawriki Nikolajewitsch war Artilleriehauptmann, ungefähr dreiunddreißig Jahre alt, hochgewachsen, von schönem, tadellos anständigem Äußern, mit einem ernsten Gesichtsausdruck, der auf den ersten Blick sogar streng erschien, trotz seines bewundernswerten Zartgefühls und seiner großen Herzensgüte, Eigenschaften, von denen sich ein jeder fast vom ersten Augenblicke der Bekanntschaft an überzeugte. Er war übrigens schweigsam, schien sehr kaltblütig zu sein und drängte sich niemandem als Freund auf. Viele erklärten später, er sei ein beschränkter Kopf; aber das war durchaus nicht zutreffend.

Lisaweta Nikolajewnas Schönheit zu beschreiben will ich nicht unternehmen. Die ganze Stadt redete bereits von ihrer Schönheit, obgleich mehrere unserer verheirateten Damen und unserer jungen Mädchen unwillig widersprachen. Es gab unter ihnen sogar einige, die Lisaweta Nikolajewna bereits haßten, erstens wegen ihres Stolzes: Drosdows hatten bisher kaum angefangen, Besuche zu machen, was man als eine Kränkung empfand, wiewohl tatsächlich Praskowja Iwanownas schlechter Gesundheitszustand die Schuld an der Verzögerung trug. Zweitens haßte man sie deswegen, weil sie eine Verwandte der Frau Gouverneur war; drittens deswegen, weil sie täglich spazieren ritt. Bis dahin hatte es bei uns noch nie Amazonen gegeben; es war nur natürlich, daß die Gesellschaft sich durch Lisaweta Nikolajewnas Erscheinen, die spazieren ritt und noch keine Besuche gemacht hatte, beleidigt fühlte. Übrigens wußten alle bereits, daß sie auf ärztliche Verordnung ritt, und sprachen nun auch noch giftig über ihre Krankheit. Aber sie war wirklich krank. Was an ihr auf den ersten Blick auffiel, das war ihre beständige, krankhafte nervöse Unruhe. Ach, die Ärmste hatte viel zu leiden, und alles wurde in der Folgezeit klar. Wenn ich jetzt an die Vergangenheit zurückdenke, so kann ich nicht mehr sagen, daß sie die Schönheit war, als die sie mir damals erschien. Vielleicht hatte sie sogar überhaupt kein schönes Äußeres. Hochgewachsen und etwas dünn, aber biegsam und kräftig, fiel sie sogar durch die Unregelmäßigkeit ihrer Gesichtszüge auf. Ihre Augen standen kalmückenartig schief; sie war blaß und mager im Gesicht und hatte starke Backenknochen; aber es lag in diesem Gesichte etwas Anziehendes, Sieghaftes! In dem feurigen Blicke ihrer schwarzen Augen kam eine starke Macht zum Ausdruck; sie erschien »als Siegerin und mit dem Zweck zu siegen«. Sie schien stolz, mitunter sogar dreist; ich weiß nicht, ob es ihr gelang, gut zu sein; aber ich weiß, daß sie es sehnlich wünschte und sich quälte, um sich dahinzubringen, daß sie einigermaßen gut sei. In dieser Natur lagen sicherlich viele schöne Triebe, und es waren die besten Ansätze vorhanden; aber alles in ihr suchte fortwährend gewissermaßen ins Gleichgewicht zu kommen, ohne daß dies doch gelang; alles befand sich in Unordnung, in Aufregung, in Unruhe. Vielleicht stellte sie auch gar zu strenge Anforderungen an sich und fand in sich nicht die Kraft, diesen Anforderungen zu genügen.

Sie setzte sich auf das Sofa und sah sich im Zimmer um.

»Warum wird mir in solchen Augenblicken immer so traurig zumute? Erklären Sie mir das, Sie gelehrter Mann! Ich habe mein ganzes Leben lang gedacht, daß ich mich Gott weiß wie sehr freuen würde, wenn ich Sie wiedersähe und mir alles ins Gedächtnis zurückriefe, und nun bin ich eigentlich gar nicht froh, obgleich ich Sie liebe ... Ach Gott, da haben Sie ja mein Bild hängen! Geben Sie es einmal her! Ich erinnere mich daran, ich erinnere mich daran!«

Vor zehn Jahren hatten Drosdows aus Petersburg an Stepan Trofimowitsch ein vorzügliches, kleines Aquarellporträt der zwölfjährigen Lisa geschickt. Seitdem hing es beständig bei ihm an der Wand.

»Bin ich wirklich ein so hübsches Kind gewesen? Ist das wirklich mein Gesicht?«

Sie stand auf und schaute mit dem Porträt in der Hand in den Spiegel.

»Nehmen Sie es schnell hin!« rief sie, indem sie ihm das Porträt zurückgab. »Hängen Sie es jetzt nicht wieder auf; lassen Sie das bis nachher; ich mag es jetzt nicht sehen.« Sie setzte sich wieder auf das Sofa. » Ein Leben verging, und ein zweites begann; dann verging auch das zweite, und es begann ein drittes, und keines hatte einen rechten Abschluß. Der Abschluß war immer wie mit einer Schere weggeschnitten. Sehen Sie, was ich für alte Dinge erzähle; aber es ist viel Wahres daran!«

Sie lächelte, indem sie mich ansah; schon mehrmals hatte sie mich angeblickt; aber Stepan Trofimowitsch hatte in seiner Aufregung vergessen, daß er mir versprochen hatte, mich vorzustellen.

»Aber warum hängt mein Bild bei Ihnen unter Dolchen? Und wozu haben Sie überhaupt so viele Dolche und einen Säbel?«

Es hingen bei ihm wirklich an der Wand, ich weiß nicht wozu, zwei gekreuzte Jatagans und darüber ein echter tscherkessischer Säbel. Während sie die obige Frage stellte, schaute sie mir so gerade ins Gesicht, daß ich schon etwas antworten wollte; aber ich unterdrückte es. Stepan Trofimowitsch merkte endlich, wie es stand, und stellte mich vor.

»Ich kenne Sie, ich kenne Sie,« sagte sie. »Ich freue mich sehr. Auch Mama hat schon viel über Sie gehört. Machen Sie sich auch mit Mawriki Nikolajewitsch bekannt; er ist ein vortrefflicher Mensch. Ich habe mir von Ihnen schon eine komische Vorstellung gemacht; Sie sind ja wohl Stepan Trofimowitschs Vertrauter?«

Ich errötete.

»Ach, verzeihen Sie mir, bitte; ich habe einen falschen Ausdruck gebraucht; er sollte keinen komischen Klang haben, sondern nur einen ganz einfachen Sinn ...« (Sie war rot und verlegen geworden.) »Übrigens brauchen Sie sich nicht darüber zu schämen, daß Sie ein so vortrefflicher Mensch sind. Aber es wird Zeit, daß wir gehen, Mawriki Nikolajewitsch! Stepan Trofimowitsch, in einer halben Stunde müssen Sie bei uns sein. O Gott, wieviel wollen wir miteinander reden! Jetzt werde ich Ihre Vertraute sein, und zwar in allen Stücken, in allen Stücken, verstehen Sie wohl?«

Stepan Trofimowitsch bekam sofort einen Schreck.

»Oh, Mawriki Nikolajewitsch weiß alles; vor dem brauchen Sie nicht verlegen zu werden!«

»Was weiß er denn?«

»Sie fragen noch!« rief sie erstaunt. »Also ist es wahr, daß es geheimgehalten werden soll! Ich wollte es gar nicht glauben. Und Dascha wird auch verborgen gehalten. Die Tante ließ mich neulich nicht zu ihr, mit der Begründung, Dascha habe Kopfschmerzen.«

»Aber ... aber wie haben Sie es denn erfahren?«

»Ach mein Gott, ebenso wie alle. Das war kein Kunststück!«

»Wissen es denn alle?«

»Nun ja, gewiß. Die Wahrheit ist: Mama hat es zuerst von Alona Frolowna, meiner alten Kinderfrau, gehört; zu der war Ihre Nastasja angelaufen gekommen und hatte es ihr gesagt. Sie haben es ja doch zu Nastasja gesagt? Sie gibt an, daß Sie es ihr selbst gesagt hätten.«

»Ich ... ich habe einmal davon geredet ...« stammelte Stepan Trofimowitsch, der ganz rot geworden war; »aber ... ich habe nur eine Andeutung gemacht ... j'étais si nerveux et malade et puis ...«

Sie lachte.

»Und der Vertraute war gerade nicht bei der Hand, und Nastasja kam Ihnen in den Wurf, – da ist es ja ganz erklärlich! Die aber hat die ganze Stadt zu Gevatterinnen. Nun, lassen wir es gut sein; es ist ja auch ganz gleich; mögen sie es immerhin wissen, sogar um so besser. Kommen Sie nur recht bald; wir essen früh zu Mittag ... Ja, das hatte ich vergessen,« sagte sie und setzte sich wieder hin; »hören Sie mal: was für ein Mensch ist Schatow?«

»Schatow? Das ist Darja Pawlownas Bruder ...«

»Das weiß ich, daß er ihr Bruder ist; wie können Sie so antworten, wahrhaftig!« unterbrach sie ihn ungeduldig. »Ich will wissen, was er eigentlich ist, was für eine Art Mensch?«

» C'est une pense-creux d'ici. C'est le meilleur et le plus irascible homme du monde

»Das habe ich selbst schon gehört, daß er etwas sonderbar ist. Darum handelt es sich übrigens nicht. Ich habe gehört, daß er drei Sprachen beherrscht, auch das Englische, und eine literarische Arbeit ausführen kann. Wenn dem so ist, so hätte ich für ihn viel Arbeit. Ich brauche einen Gehilfen, und je eher ich einen bekomme, um so besser. Wird er eine Arbeit übernehmen oder nicht? Man hat ihn mir empfohlen.«

»Oh, jedenfalls, et vous ferez un bienfait ...«

»Ich tue es durchaus nicht um des bienfait willen; es ist mir selbst an einem Gehilfen gelegen.«

»Ich bin mit Schatow ziemlich gut bekannt,« sagte ich, »und wenn Sie mich mit einer Bestellung an ihn beauftragen wollen, so will ich sofort zu ihm hingehen.«

»Bestellen Sie ihm, er möchte morgen mittag um zwölf Uhr zu mir kommen. Wunderschön! Ich danke Ihnen. Mawriki Nikolajewitsch, sind Sie fertig?«

Sie gingen weg. Ebenso natürlich ich, um sofort zu Schatow zu laufen.

» Mon ami!" sagte Stepan Trofimowitsch zu mir, der mir nacheilte und mich auf den Stufen vor der Haustür einholte, »seien Sie jedenfalls um zehn oder elf Uhr bei mir, wenn ich zurückkomme. Oh, ich stehe sehr, sehr schuldbeladen vor Ihnen da und ... vor allen, vor allen!«

 

VIII

Schatow traf ich nicht zu Hause; ich ging zwei Stunden darauf noch einmal heran: er war wieder nicht da. Endlich, es war schon sieben durch, begab ich mich noch einmal zu ihm, um ihn entweder anzutreffen oder einen Zettel für ihn dazulassen; aber auch diesmal traf ich ihn nicht. Seine Wohnung war verschlossen, und er wohnte allein, ohne alle Bedienung. Ich wollte unten bei Hauptmann Lebjadkin vorsprechen, um nach Schatow zu fragen; aber auch da war zugeschlossen und kein Laut zu hören und kein Licht zu sehen; es schien kein Mensch da zu sein. Neugierig ging ich unter der Nachwirkung der kurz vorher gehörten Erzählungen an Lebjadkins Tür vorbei. Schließlich entschied ich mich dafür, am nächsten Tage recht früh wiederzukommen. Auch auf den Zettel setzte ich, um die Wahrheit zu sagen, nicht viel Hoffnung. Sehr möglich, daß Schatow sich nicht darum kümmerte; er war so ein eigenwilliger, scheuer Mensch. Mein Mißgeschick verwünschend ging ich schon aus dem Torwege, als ich plötzlich auf Herrn Kirillow stieß; er ging ins Haus und erkannte mich zuerst. Da er selbst zu fragen begann, so erzählte ich ihm alles in den Hauptpunkten und sagte auch, daß ich einen Zettel bei mir hätte.

»Kommen Sie mit!« sagte er; »ich werde alles erledigen.«

Ich erinnerte mich, daß er nach Liputins Mitteilung seit dem Vormittage ein auf dem Hofe gelegenes hölzernes Seitengebäude bewohnte. In diesem Seitengebäude, das für ihn sehr viel Platz bot, wohnte mit ihm zusammen eine alte taube Frau, die bei ihm die Aufwartung hatte. Der Besitzer dieses Hauses hatte in einer andern Straße in einem andern ihm gehörigen, neuen Hause ein Restaurant und hatte diese alte Frau, wohl eine Verwandte von ihm, zurückgelassen, um das ganze alte Haus zu beaufsichtigen. Die Zimmer in diesem Seitengebäude waren ziemlich sauber gehalten, aber die Tapeten schmutzig. In demjenigen Zimmer, in das wir eintraten, waren die Möbel bunt zusammengewürfelt, nicht zueinander passend und von sehr geringem Werte: zwei L'hombretische, eine Kommode von Erlenholz, ein großer Brettertisch aus einer Bauernstube oder einer Küche, ein paar Stühle und ein Sofa mit einer Lattenlehne und harten Lederkissen. In einer Ecke befand sich ein altertümliches Heiligenbild, vor welchem die Alte schon vor unserem Eintritte das Lämpchen angezündet hatte, und an den Wänden hingen zwei große, dunkel gewordene Porträts in Öl; das eine stellte den ehemaligen Kaiser Nikolai Pawlowitsch dar und war, nach dem Aussehen zu urteilen, in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts gemalt; das andere war das Bild irgendeines Bischofs.

Herr Kirillow zündete, sobald er eingetreten war, ein Licht an und holte aus seinem Koffer, der in der Ecke stand und noch nicht ausgepackt war, ein Kuvert, Siegellack und ein kristallenes Petschaft heraus.

»Siegeln Sie Ihren Zettel ein, und schreiben Sie die Adresse auf das Kuvert!«

Ich erwiderte, das sei eigentlich nicht nötig; aber er bestand darauf. Nachdem ich das Kuvert adressiert hatte, griff ich nach meiner Mütze.

»Ich dachte, Sie würden bei mir Tee trinken,« sagte er; »ich habe Tee gekauft. Mögen Sie?«

Ich lehnte es nicht ab; die alte Frau brachte bald den Tee, das heißt eine mächtige Kanne mit heißem Wasser, ein kleines Kännchen mit sehr starkem Tee, zwei große, grob bemalte Tassen von Steingut, Semmeln und einen ganzen Teller voll Stückenzucker.

»Ich trinke gern Tee,« sagte er; »nachts; ich gehe viel hin und her und trinke; bis zum Morgengrauen. Im Auslande ist das Teetrinken bei Nacht unbequem.«

»Sie legen sich erst gegen Morgen hin?«

»Ja, immer; schon lange. Ich esse wenig; immer Tee. Liputin ist schlau, aber ungeduldig.«

Es wunderte mich, daß er sich auf ein Gespräch einlassen wollte; ich beschloß, den günstigen Augenblick zu benutzen.

»Es sind vorhin unangenehme Mißverständnisse vorgekommen,« bemerkte ich.

Er machte ein sehr finsteres Gesicht.

»Das sind Dummheiten; das sind lauter Possen. Das sind lauter Possen, weil Lebjadkin ein Trunkenbold ist. Ich habe zu Liputin nichts gesagt, sondern nur erklärt, daß es Possen sind; denn jener Mensch hat gelogen. Liputin hat viel Phantasie; aus einer Mücke macht er einen Elefanten. Ich habe ihm gestern geglaubt.«

»Und heute glauben Sie mir?« fragte ich lachend.

»Sie wissen ja schon von vorhin über alles Bescheid. Liputin ist entweder schwach oder ungeduldig oder böswillig oder ... neidisch.«

Das letzte Wort fiel mir auf.

»Sie haben da so viele Kategorien aufgestellt, daß es nicht wunderbar ist, wenn er in eine von ihnen hineingehört.«

»Oder auch in alle zusammen.«

»Ja, auch das könnte sein. Liputin ist ein reines Chaos. Hat er das wirklich heute erlogen, daß Sie eine Abhandlung schreiben wollen?«

»Warum soll er das erlogen haben?« erwiderte er, wieder mit finsterer Miene und zu Boden blickend.

Ich bat um Entschuldigung und versicherte ihm, daß ich ihn nicht ausfragen wolle. Er wurde rot.

»Er hat die Wahrheit gesagt; ich schreibe. Aber das ist ganz egal.«

Ein Weilchen schwiegen wir beide; auf einmal trat auf sein Gesicht das kindliche Lächeln, das ich schon von vorhin kannte.

»Das von den Köpfen hat er selbst aus einem Buche entnommen und mir selbst zuerst gesagt; er versteht aber schlecht, was ich vorhabe. Ich suche nur die Ursache, weswegen die Menschen es nicht wagen, sich das Leben zu nehmen; weiter nichts. Und das ist ganz egal.«

»Was meinen Sie damit, daß die Menschen es nicht wagen? Gibt es denn etwa so wenig Selbstmörder?«

»Sehr wenige.«

»Finden Sie das wirklich?«

Er antwortete nicht, stand auf und begann nachdenklich auf und ab zu gehen.

»Was hält denn Ihrer Ansicht nach die Menschen vom Selbstmorde zurück?« fragte ich.

Er sah mich zerstreut an, wie wenn er sich zu besinnen suchte, wovon wir gesprochen hätten.

»Ich ... ich bin mir darüber noch nicht ganz im klaren ... Zwei vorgefaßte Meinungen sind es, die die Menschen zurückhalten; zwei Dinge, nur zwei; ein sehr kleines und ein anderes sehr großes. Aber das kleine ist auch sehr groß.«

»Was ist denn das kleine?«

»Der Schmerz.«

»Der Schmerz? Ist denn das so wichtig ... in einem solchen Falle?«

»Das steht an erster Stelle. Es gibt zwei Arten von Selbstmördern: solche, die sich entweder aus großem Kummer töten oder aus Ingrimm oder im Wahnsinn oder aus ähnlichem Grunde ... die tun es alle plötzlich. Die denken wenig an den Schmerz, sondern tun es plötzlich. Aber diejenigen, die es mit Überlegung tun, die denken viel darüber nach.«

»Aber gibt es denn solche, die es mit Überlegung tun?«

»Sehr viele. Wenn die vorgefaßte Meinung nicht da wäre, würden es noch mehr sein; sehr, sehr viele; alle.«

»Nun, nun! Wirklich alle?«

Er schwieg.

»Gibt es denn kein Mittel, um schmerzlos zu sterben?« fragte ich.

»Denken Sie sich,« erwiderte er, indem er vor mir stehen blieb, »denken Sie sich einen Stein von solcher Größe wie ein großes Haus; er hängt, und Sie befinden sich unter ihm; wenn er herunterfällt, Ihnen auf den Kopf, wird Ihnen das weh tun?«

»Ein hausgroßer Stein? Gewiß, das ist ja furchtbar.«

»Von der Furcht rede ich nicht; wird es weh tun?«

»Ein Stein wie ein Berg? Ein Stein, der Millionen Pud schwer ist? Selbstverständlich wird es nicht weh tun.«

»Aber obwohl Sie das einsehen, werden Sie doch, solange er hängt, sehr fürchten, daß es weh tun werde. Der größte Gelehrte, der klügste Mann, alle, alle werden sie das sehr fürchten.«

»Nun, und die zweite Ursache, die große?«

»Das Jenseits.«

»Das heißt: die Bestrafung?«

»Ganz egal; das Jenseits; nur das Jenseits.«.

»Gibt es nicht solche Atheisten, die überhaupt nicht an ein Jenseits glauben?«

Er schwieg wieder.

»Sie urteilen vielleicht nach sich?« fragte ich.

»Jeder kann nur nach sich urteilen,« sagte er errötend. »Die volle Freiheit wird dann da sein, wenn es dem Menschen ganz egal sein wird, ob er lebt oder nicht. Das ist das Ziel für die Gesamtheit.«

»Das Ziel? Aber dann wird vielleicht niemand mehr leben wollen?«

»Nein, niemand,« erwiderte er in entschiedenem Tone.

»Der Mensch fürchtet den Tod, weil er das Leben liebt; so fasse ich das auf,« bemerkte ich, »und so hat es die Natur gewollt.«

»Das ist gemein, und hierin steckt der Betrug!« Seine Augen funkelten. »Das Leben ist Schmerz, das Leben ist Furcht, und der Mensch ist unglücklich. Jetzt ist alles Schmerz und Furcht. Jetzt liebt der Mensch das Leben, weil er den Schmerz und die Furcht liebt. Das Leben wird einem jetzt gegeben zum Zwecke des Schmerzes und der Furcht, und hierin steckt der ganze Betrug. Jetzt ist der Mensch noch nicht der richtige Mensch. Es wird einen neuen Menschen geben, einen glücklichen und stolzen Menschen. Wem es ganz egal sein wird, ob er lebt oder nicht, der wird ein neuer Mensch sein. Wer den Schmerz und die Furcht überwindet, der wird selbst ein Gott sein. Und jener Gott wird dann nicht sein.«

»Also existiert jener Gott doch nach Ihrer Ansicht?«

»Er existiert nicht; aber Er existiert. Der Stein bereitet keinen Schmerz; aber die Furcht vor dem Stein bereitet Schmerz. Gott ist der Schmerz der Todesfurcht. Wer den Schmerz und die Furcht überwindet, der wird selbst ein Gott. Dann wird ein neues Leben sein und ein neuer Mensch; alles wird neu sein ... Dann wird man die Geschichte in zwei Teile teilen: vom Gorilla bis zur Vernichtung Gottes und von der Vernichtung Gottes bis ...«

»Bis zum Gorilla?«

»... bis zur physischen Umgestaltung der Erde und bis zur physischen Umgestaltung des Menschen. Der Mensch wird ein Gott sein und wird sich physisch umgestalten. Auch die Welt wird sich umgestalten, und die Dinge werden sich umgestalten und die Gedanken und alle Empfindungen. Wie denken Sie darüber: wird sich dann der Mensch physisch umgestalten?«

»Wenn es den Menschen ganz egal sein wird, ob sie leben oder nicht, dann werden sich alle töten, und darin wird vielleicht die Umgestaltung bestehen.«

»Das ist ganz egal. Der Betrug wird getötet werden. Jeder, der die völlige Freiheit erlangen will, muß es wagen, sich zu töten. Wer es wagt, sich zu töten, der hat das Geheimnis des Betruges erkannt. Eine höhere Freiheit gibt es nicht; das ist alles, darüber hinaus gibt es nichts. Wer es wagt, sich zu töten, der ist ein Gott. Jetzt kann jeder bewirken, daß Gott nicht existiert und nichts existiert. Aber es hat es noch nie jemand getan.«

»Es hat doch Millionen von Selbstmördern gegeben.«

»Aber alle haben es nicht deswegen getan, alle mit Furcht und nicht zu diesem Zwecke. Nicht um die Furcht zu töten. Wer sich nur deswegen tötet, um die Furcht zu töten, der wird sogleich ein Gott werden.«

»Er wird dazu vielleicht keine Zeit mehr haben,« bemerkte ich.

»Das ist ganz egal,« antwortete er leise mit ruhigem Stolze, beinah geringschätzig. »Es tut mir leid, daß Sie anscheinend sich darüber lustig machen,« fügte er nach einer halben Minute hinzu.

»Es kommt mir sonderbar vor, daß Sie vorhin so reizbar waren und jetzt mit solcher Ruhe, wenn auch mit großem Eifer reden.«

»Vorhin? Das war eine lächerliche Geschichte,« versetzte er lächelnd. »Ich streite nicht gern und lache niemals,« fügte er traurig hinzu.

»Ja, Sie verbringen Ihre Nächte beim Tee gewiß nicht fröhlich.«

Ich stand auf und griff nach meiner Mütze.

»Meinen Sie?« fragte er lächelnd und einigermaßen erstaunt. »Warum denn? Nein, ich ... ich weiß nicht« (er geriet auf einmal in Verwirrung), »ich weiß nicht, wie es bei andern ist; aber ich habe das Gefühl, daß ich nicht so kann wie jeder. Jeder denkt daran und denkt dann gleich wieder an etwas anderes. Ich kann an nichts anderes denken; ich denke das ganze Leben über nur an das Eine. Mich hat Gott das ganze Leben über gequält,« schloß er plötzlich mit erstaunlicher Mitteilsamkeit.

»Aber sagen Sie doch, wenn Sie die Frage gestatten, woher kommt es, daß Sie das Russische nicht korrekt sprechen? Haben Sie es wirklich im Auslande in den fünf Jahren verlernt?«

»Spreche ich es denn inkorrekt? Ich weiß es nicht. Nein, nicht deshalb weil ich im Auslande gewesen bin. Ich habe mein ganzes Leben lang so gesprochen ... es ist mir ganz egal.«

»Noch eine delikatere Frage: ich glaube Ihnen vollkommen, daß Sie keine Neigung haben, mit Menschen zu verkehren, und daß Sie wenig mit Menschen reden. Warum haben Sie sich dann aber mit mir jetzt in ein Gespräch eingelassen?«

»Mit Ihnen? Sie haben vorhin so nett dabeigesessen, und Sie ... übrigens ist das ganz egal ... Sie haben eine große Ähnlichkeit mit meinem Bruder, eine sehr große, ganz außerordentliche,« sagte er errötend. »Er starb vor sieben Jahren; der älteste; eine sehr, sehr große.«

»Da hat er gewiß großen Einfluß auf Ihre Denkweise gehabt?«

»N-nein, er sprach wenig; er sagte nichts. Ich werde Ihren Zettel abgeben.«

Er begleitete mich mit einer Laterne zum Haustor, um hinter mir zuzuschließen.

»Selbstverständlich ein Verrückter!« sagte ich mir im stillen. Im Tore hatte ich ein neues Zusammentreffen.

 

IX

Kaum hatte ich den Fuß über die hohe Schwelle des Pförtchens gesetzt, als mich auf einmal eine starke Hand an der Brust packte.

»Werda?« brüllte eine Stimme. »Freund oder Feind? Steh Rede!«

»Es ist einer von den Unsrigen, einer von den Unsrigen!« kreischte daneben Liputins schwache Stimme. »Es ist Herr G***w, ein junger Mann, der eine klassische Bildung hat und in den höchsten Kreisen verkehrt.«

»Das gefällt mir, in den höchsten Kreisen, klass... klassisch ... also sehr ge-gebildet ... Hauptmann a. D. Ignat Lebjadkin; stehe der Welt und den Freunden zu Diensten ... wenn sie treu sind, wenn sie treu sind, die Schurken!«

Hauptmann Lebjadkin, ein Hüne von Gestalt, dick, fleischig, kraushaarig, rot im Gesicht und stark betrunken, konnte kaum vor mir auf den Beinen stehen und brachte die Worte nur mit Mühe heraus. Ich hatte ihn übrigens auch früher schon von weitem gesehen.

»Ach, auch der ist da!« brüllte er wieder, als er Kirillow erblickte, der mit seiner Laterne immer noch nicht fortgegangen war. Er wollte schon die Faust erheben, ließ sie aber sogleich wieder sinken.

»Ich verzeihe Ihnen wegen Ihres Wissens! Ignat Lebjadkin ist ein hoch-hoch-ge-gebildeter ...

Die Liebe fiel mit süßem Schmerz
Wie eine Bombe in mein Herz.
Ich büßte (o wie kummervoll!)
Den Arm ein bei Sewastopol.

Ich bin allerdings nicht bei Sewastopol gewesen und bin auch nicht einmal einarmig; aber was sagen Sie zu den Versen?« Dabei kam mir der Betrunkene mit seinem übelriechenden Gesichte näher.

»Der Herr hat keine Zeit, keine Zeit; er muß nach Hause gehen,« redete ihm Liputin zu. »Er wird morgen alles Lisaweta Nikolajewna wiedererzählen.«

»Lisaweta! ...« heulte er wieder. »Halt! Gehen Sie nicht weg! ... Noch ein andres Gedicht:

Vergleichbar dem leuchtenden Sterne,
Jagt die Reit'rin einher wie der Wind;
Es grüßt mich mit Lächeln von ferne
Das ari-sto-kratische Kind.

An die sterngleiche Reiterin.

Ja, sehen Sie wohl, das ist ein Hymnus! Das ist ein Hymnus, wenn Sie kein Esel sind! Die Tagediebe, die haben kein Verständnis dafür! Halt!« schrie er und klammerte sich an meinen Paletot fest, obwohl ich mich mit aller Kraft durch das Pförtchen drängte. »Bestellen Sie ihr, daß ich ein Ritter bin, der Ehre im Leibe hat; und Dascha ... diese Dascha werde ich mit zwei Fingern ... Diese leibeigene Magd wird nicht wagen ...«

Hier fiel er hin, weil ich mich mit Gewalt aus seinen Händen riß und auf die Straße lief. Liputin folgte mir dorthin.

»Alexei Nilowitsch wird ihn schon aufheben. Wissen Sie, was ich soeben von ihm erfahren habe?« schwatzte er eifrig. »Haben Sie die Verse gehört? Nun, diese selben Verse an die ›sterngleiche Reiterin‹ hat er drucken lassen und wird sie morgen mit seiner vollen Namensunterschrift an Lisaweta Nikolajewna schicken. Was sagen Sie zu einem solchen Menschen?«

»Ich möchte darauf wetten, daß Sie selbst ihn dazu veranlaßt haben.«

»Sie werden die Wette verlieren!« versetzte Liputin lachend. »Er ist verliebt, verliebt wie ein Kater, und wissen Sie wohl, daß die Geschichte mit Haß begonnen hat? Er hat Lisaweta Nikolajewna anfangs wegen ihres Reitens dermaßen gehaßt, daß er beinahe auf der Straße laut auf sie geschimpft hat; und er hat es auch wirklich getan! Noch vorgestern hat er auf sie geschimpft, als sie vorbeiritt; zum Glück hörte sie es nicht. Und nun auf einmal heute Verse! Wissen Sie wohl, daß er es wagen will, ihr einen Antrag zu machen? Im Ernst, im Ernst!«

»Ich muß mich über Sie wundern, Liputin; überall, wo solch ekelhaftes Treiben stattfindet, überall sind Sie der Anführer!« rief ich zornig.

»Da übertreiben Sie doch, Herr G***w! Hat Ihnen nicht das Herzchen gepuckert aus Angst vor dem Nebenbuhler? Wie?«

»Wa-a-as?« rief ich, stehen bleibend.

»Sehen Sie, nun werde ich Ihnen zur Strafe auch nichts weiter sagen! Und wie gern würden Sie es hören! Schon allein das, daß dieser Dummkopf jetzt kein einfacher Hauptmann ist, sondern ein Gutsbesitzer unseres Gouvernements, und noch dazu ein ziemlich bedeutender, da Nikolai Wsewolodowitsch ihm sein ganzes Gut, seine früheren zweihundert Seelen dieser Tage verkauft hat, und Gott straf mich, ich lüge Ihnen nichts vor. Ich habe es eben erst erfahren, aber dafür aus ganz zuverlässiger Quelle. Na, jetzt tasten Sie sich nur selbst mit Ihrem Spürsinn weiter; mehr werde ich Ihnen nicht sagen. Auf Wiedersehen!«

 

X

Stepan Trofimowitsch erwartete mich in krampfhafter Aufregung. Er war schon vor einer Stunde zurückgekehrt. Als ich ihn sah, machte er den Eindruck eines Betrunkenen; wenigstens glaubte ich die ersten fünf Minuten lang, daß er betrunken sei. Der Besuch bei Drosdows hatte ihn leider vollkommen wirr im Kopfe gemacht.

» Mon ami, ich habe jetzt den Faden des Zusammenhanges ganz und gar verloren ... Was Lisa angeht, so liebe und verehre ich diesen Engel wie früher, ganz wie früher; aber es scheint mir, daß die beiden Damen mich nur erwartet haben, um etwas zu erfahren, das heißt, um einfach irgend etwas aus mir herauszuholen und mich dann meiner Wege zu schicken ... So steht es.«

»Schämen Sie sich!« rief ich, nicht imstande, mich zu beherrschen.

»Mein Freund, ich stehe jetzt vollständig allein da. Enfin c'est ridicule. Denken Sie nur: auch dort ist alles mit Geheimnissen vollgepfropft. Sie stürzten auf mich los und verlangten Auskunft über diese Nasen- und Ohrengeschichten und über einige Petersburger Geheimnisse. Sie hatten beide erst hier zum erstenmal von den Tollheiten gehört, die Nikolai hier vor vier Jahren angegeben hat; ›Sie sind ja hier gewesen; Sie haben es miterlebt,‹ sagten sie; ›ist es wahr, daß er verrückt ist?‹ Und wie sie auf diese Idee gekommen sind, das ist mir unbegreiflich. Warum will Praskowja durchaus, daß Nikolai sich als Verrückter herausstellt? Und das will dieses Weib, das will sie! Ce Maurice oder, wie sie ihn nennen, Mawriki Nikolajewitsch, ist ein brave homme tout de même; aber sollte sie das wirklich in seinem Interesse wünschen, und nachdem sie selbst zuerst aus Paris an cette pauvre amie jenen Brief geschrieben hat? ... Enfin, diese Praskowja, wie sie von cette chère amie genannt wird, ist ein Typus; sie ist Gogols Frau Korobotschka In Gogols Roman »Tote Seelen«; der Name bedeutet Schächtelchen. Anmerkung des Übersetzers., und zwar in außerordentlich vergrößertem Maßstabe.«

»Nun, wenn sie es in vergrößertem Maßstabe ist, dann kommt wohl eine gehörige Schachtel heraus?«

»Na oder in verkleinertem Maßstabe; das ist ganz gleichgültig; unterbrechen Sie mich nur nicht; mir ist der Kopf sowieso schon ganz wirbelig. Dort haben sich die Weiber vollständig verzankt; außer Lisa, die immer noch ›Tantchen, Tantchen‹ sagt; aber Lisa ist schlau, und da steckt noch etwas anderes dahinter. Geheimnisse. Aber mit der Alten hat es einen großen Zank gegeben. Cette pauvre Tante tyrannisiert allerdings alle schrecklich. Aber da ist nun die Frau Gouverneur, und die Respektlosigkeit der Gesellschaft, und die Respektlosigkeit Karmasinows; und dazu nun noch auf einmal die Idee, Nikolai sei vielleicht geistesgestört, und ce Lipoutine, ce que je ne comprends pas ... und es heißt, sie habe sich Essigumschläge um den Kopf gemacht, und dann noch Sie und ich mit unseren Klagen und mit unseren Briefen ... Oh, wie habe ich sie gequält, gerade in einer solchen Zeit! Je suis un ingrat! Denken Sie sich: ich komme zurück und finde einen Brief von ihr vor; lesen Sie ihn, lesen Sie ihn! Oh, wie undankbar habe ich mich benommen!«

Er gab mir den Brief, den er soeben von Warwara Petrowna erhalten hatte. Sie schien ihre schroffe Anweisung vom Vormittage: »Halten Sie sich zu Hause!« zu bereuen. Das Briefchen war höflich, aber doch entschieden und wortkarg. Sie ersuchte Stepan Trofimowitsch, übermorgen, am Sonntage, pünktlich um zwölf Uhr zu ihr zu kommen, und riet ihm, einen seiner Freunde (in Klammern stand mein Name) mitzubringen. Sie versprach, ihrerseits Schatow, als Darja Pawlownas Bruder, hinzuzuziehen. »Sie können von ihr eine endgültige Antwort erhalten; wird Ihnen das genügen? Legen Sie auf diese Formalität solchen Wert?«

»Beachten Sie am Schlusse diese gereizte Redewendung von der Formalität! Arme, arme Freundin meines ganzen Lebens! Ich bekenne, diese plötzliche Entscheidung, die das Schicksal trifft, hat mich niedergedrückt ... Ich bekenne, ich hoffte immer noch; aber jetzt tout est dit; ich weiß jetzt, daß alles zu Ende ist; c'est terrible. O wenn es doch diesen Sonntag gar nicht gäbe, sondern alles wie früher wäre: Sie würden zu mir kommen, und ich würde hier ...«

»Sie haben sich durch all die Gemeinheiten und Klatschereien, die Liputin heute vorgebracht hat, ganz aus dem ruhigen Geleise bringen lassen.«

»Mein Freund, Sie haben soeben mit Ihrem Freundesfinger einen andern wunden Punkt berührt. Diese Freundesfinger sind überhaupt erbarmungslos und manchmal unvernünftig, pardon; aber (werden Sie es glauben?) ich hatte dies alles, diese Gemeinheiten beinah vergessen, das heißt vergessen hatte ich sie durchaus nicht; aber die ganze Zeit über, während ich bei Lisa war, bemühte ich mich in meiner Dummheit, glücklich zu sein, und redete mir ein, daß ich glücklich sei. Aber jetzt ... o jetzt denke ich an diese großmütige, humane, gegen meine häßlichen Mängel so nachsichtige Frau; das heißt, sie ist nicht durchweg nachsichtig gewesen, aber was bin ich auch für ein Mensch mit meinem schwächlichen, häßlichen Charakter!

Ich bin ja ein eigensinniges Kind und besitze den ganzen Egoismus eines Kindes, aber ohne dessen Unschuld. Sie hat mich zwanzig Jahre lang wie eine Kinderwärterin gepflegt, dieses arme ›Tantchen‹, wie Lisa sie so anmutig nennt ... Und auf einmal, nach zwanzig Jahren, will das Kind sich verheiraten, ›verheirate mich, verheirate mich!‹ sagt es und schreibt Brief auf Brief, und sie hat sich Essigumschläge gemacht, und ... und da hat es nun am nächsten Sonntag erreicht, was es wollte, und ist ein verheirateter Mann; es klingt komisch! ... Und warum habe ich denn selbst darauf bestanden und die Briefe geschrieben? Ja, das hatte ich noch vergessen zu sagen: Lisa ist entzückt von Darja Pawlowna; wenigstens sagt sie es; sie sagt von ihr: › C'est un ange; sie versteckt es nur etwas.‹ Beide haben sie mir dazu geraten, sogar Praskowja ... übrigens hat mir Praskowja nicht dazu geraten. Oh, wieviel Gift liegt in dieser Frau Korobotschka verborgen! Und auch Lisa hat mir eigentlich nicht dazu geraten: ›Wozu wollen Sie eine Frau nehmen,‹ sagte sie; ›Sie haben doch an den gelehrten Genüssen genug.‹ Dazu lachte sie. Ich habe ihr ihr Lachen verziehen, weil ihr selbst nicht wohl ums Herz ist. Aber sie sagten beide: ›Ohne Frau können Sie nicht zurechtkommen. Die Jahre der Altersschwäche rücken bei Ihnen heran; da wird dann die Frau Sie betreuen‹, oder wie sie da sagten ... Ma foi, ich habe auch selbst in dieser ganzen Zeit, während ich hier mit Ihnen zusammensaß, bei mir gedacht, daß wohl die Vorsehung selbst sie mir beim Ausgange meiner stürmischen Tage sendet, und daß sie mich betreuen wird, oder wie sie da sagten ... Enfin, sie ist in meiner Wirtschaft notwendig. Was herrscht bei mir für eine Unsauberkeit! Und sehen Sie nur: alles liegt herum; vorhin habe ich befohlen aufzuräumen, und nun liegt noch ein Buch auf der Erde! La pauvre amie hat sich immer darüber geärgert, daß es bei mir so unreinlich aussieht ... Oh, jetzt wird ihre Stimme hier nicht mehr ertönen! Vingt ans! Und sie haben, wie es scheint, anonyme Briefe erhalten, in denen steht, denken Sie nur, Nikolai habe sein Gut an Lebjadkin verkauft. C'est un monstre: et enfin, was für ein Mensch ist dieser Lebjadkin? Lisa hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu; nein, wie sie zuhörte! Ich habe ihr ihr Lachen verziehen; ich sah, mit was für einem Gesichte sie zuhörte, und ce Maurice ... ich möchte jetzt nicht an seiner Stelle sein, brave homme tout de même, aber etwas blöde; übrigens wünsche ich ihm alles Gute ...«

Er schwieg; er war müde und konfus, saß mit gesenktem Kopfe da und blickte mit matten Augen starr auf den Fußboden. Ich benutzte diese Pause und erzählte von meinem Besuche im Filippowschen Hause, wobei ich in scharfem, trockenem Tone meine Meinung dahin aussprach, daß Lebjadkins Schwester (die ich nicht gesehen hatte) tatsächlich einmal Nikolais Opfer geworden sein könne, in jener rätselhaften Periode seines Lebens, wie sich Liputin ausgedrückt hatte, und daß es sehr möglich sei, daß Lebjadkin aus irgendwelchem Grunde von Nikolai Geld empfange; das sei aber auch alles. Was die Klatschereien über Darja Pawlowna anlange, so sei das alles nur dummes Zeug, Verdrehungen des Schurken Liputin; wenigstens versichere das Alexei Nilowitsch mit großer Wärme, und es sei kein Grund vorhanden, diesem zu mißtrauen. Stepan Trofimowitsch hörte meine Versicherungen mit zerstreuter Miene an, wie wenn ihn die Sache gar nichts anginge. Ich erwähnte bei dieser Gelegenheit auch mein Gespräch mit Kirillow und fügte hinzu, Kirillow sei vielleicht geistesgestört.

»Er ist nicht geistesgestört; aber er gehört zu den Menschen mit beschränktem Gesichtskreise,« murmelte er matt und anscheinend nur mit Überwindung. » Ces gens-là supposent la nature et la société humaine autres que Dieu ne les a faites et qu'elles ne sont réellement. Manche scherzen mit diesen Leuten; aber Stepan Werchowenski tut das jedenfalls nicht. Ich habe sie damals in Petersburg gesehen, avec cette chère amie (oh, wie habe ich diese Freundin damals gekränkt!), und habe mich nicht nur ihren Schimpfreden, sondern auch ihren Lobsprüchen gegenüber furchtlos bewiesen. Ich fürchte sie auch jetzt nicht; mais parlons d'autre chose ... ich habe, wie es scheint, schreckliche Dinge angerichtet; denken Sie sich: ich habe gestern einen Brief an Darja Pawlowna abgeschickt, und ... wie verwünsche ich mich nun deswegen!«

»Was haben Sie ihr denn geschrieben?«

»O mein Freund, Sie können mir glauben: es war alles ein Ausfluß edler Gesinnung. Ich teilte ihr mit, daß ich schon fünf Tage vorher an Nikolai geschrieben hätte, und zwar in demselben Sinne.«

»Jetzt verstehe ich!« rief ich erregt. »Und welches Recht hatten Sie, die beiden so miteinander zu konfrontieren?«

»Aber, mon cher, drücken Sie mich doch nicht vollständig zu Boden, und schreien Sie mich nicht so an; ich bin ja so schon zerquetscht wie ... wie eine Schabe; und ich glaube doch auch, daß meine ganze Handlungsweise durchaus edel ist. Nehmen Sie an, daß dort, en Suisse, wirklich etwas geschehen ist ... oder sich angebahnt hat. Da muß ich doch vorsichtshalber ihre Herzen befragen, damit ... enfin, damit ich ihren Herzen nicht hinderlich werde und ihnen wie ein Pfahl im Wege stehe ... Ich habe nur aus edler Gesinnung gehandelt.«

»O Gott, wie dumm haben Sie gehandelt!« entfuhr es mir unwillkürlich.

»Dumm, dumm!« fiel er ordentlich eifrig ein. »Das ist das Klügste, was Sie je gesagt haben; c'était bête, mais que faire, tout est dit. Ich werde ja doch unter allen Umständen heiraten, auch wenn ›fremde Sünden‹ vorliegen; also wozu brauchte ich da erst noch zu schreiben? Nicht wahr?«

»Sie kommen wieder auf dasselbe zurück!«

»Oh, jetzt lasse ich mich nicht durch Ihr Geschrei erschrecken; jetzt haben Sie nicht mehr jenen früheren Stepan Werchowenski vor sich; der ist begraben; enfin, tout est dit. Und warum machen Sie ein solches Geschrei? Einzig und allein deswegen, weil Sie selbst nicht heiraten und auf diese Art nicht in die Lage kommen, den bekannten Kopfschmuck zu tragen. Ärgert Sie diese Bemerkung wieder? Mein armer Freund, Sie kennen das Weib nicht; ich aber habe im Leben kaum etwas anderes getan als das Weib studiert. ›Wenn du die ganze Welt überwinden willst, so überwinde dich selbst!‹ Das ist der einzige gute Ausspruch, der einem andern, Ihnen ähnlichen Romantiker, Schatow, dem Bruder meiner künftigen Frau, gelungen ist. Gern nehme ich diesen Gedanken von ihm herüber. Nun, sehen Sie: auch ich bin bereit, mich selbst zu überwinden, und heirate; aber was werde ich statt der ganzen Welt erobern? O mein Freund, die Ehe ist der geistige Tod jeder stolzen Seele, jeder Unabhängigkeit. Das Eheleben wird mich verderben, mir die Energie rauben, mir den Mut benehmen, der guten Sache zu dienen; es werden Kinder kommen, die noch dazu möglicherweise nicht die meinigen sind, das heißt, die selbstverständlich nicht die meinigen sind: der Weise scheut sich nicht, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen ... Liputin hat mir heute geraten, mich vor Nikolai durch Barrikaden zu schützen; er ist dumm, dieser Liputin. Das Weib betrügt selbst das Auge, das alles sieht. Le bon Dieu wußte, als er das Weib schuf, gewiß, was er wollte; aber ich bin überzeugt, daß das Weib selbst ihn an der Ausführung seiner wahren Absicht gehindert und ihn dahingebracht hat, sie so zu schaffen, wie sie jetzt ist, und mit solchen Eigenschaften; wer würde sich sonst ohne Not so viele Mühe und Sorgen aufladen? Nastasja wird mir allerdings vielleicht wegen meiner Freidenkerei zürnen; aber ... Enfin, tout est dit."

Er wäre nicht er selbst gewesen, wenn er es unterlassen hätte, ein billiges, freidenkerisches Späßchen zu machen, wie dergleichen damals en vogue waren; jedenfalls tröstete er sich jetzt durch ein solches Späßchen; aber der Trost hielt nicht lange vor.

»Oh, warum fällt nicht dieses Übermorgen, dieser Sonntag ganz fort!« rief er plötzlich, nunmehr in völliger Verzweiflung, aus. »Warum kann nicht wenigstens diese eine Woche ohne Sonntag sein, si le miracle existe? Nun, was würde es denn der Vorsehung ausmachen, aus dem Kalender diesen einen Sonntag auszustreichen, wärs auch nur, um den Atheisten ihre Macht zu zeigen et que tout soit dit! O wie habe ich sie geliebt! Zwanzig Jahre lang, ganze zwanzig Jahre lang, und niemals hat sie mich verstanden!«

»Aber von wem reden Sie denn?« fragte ich ihn erstaunt. »Auch ich verstehe Sie nicht.«

» Vingt ans! Und kein einziges Mal hat sie mich verstanden; oh, das ist hart! Und glaubt sie denn wirklich, daß ich aus Furcht, aus Not heirate? O welche Schmach! Tante, Tante, ich tue es um deinetwillen! Oh, möge sie es erfahren, diese Tante, daß sie die einzige Frau ist, die ich zwanzig Jahre lang angebetet habe! Das muß sie erfahren; sonst wird nichts daraus; sonst wird man mich nur mit Gewalt unter das schleppen können ce qu'on appelle la Krone Bei der Trauung werden über dem Brautpaar Kronen gehalten. Anmerkung des Übersetzers.

Ich hörte zum ersten Male dieses so energisch ausgesprochene Bekenntnis. Ich will nicht leugnen, daß ich die größte Lust hatte, laut loszulachen. Ich hatte unrecht.

»Nur er, nur er ist mir jetzt geblieben; er ist meine einzige Hoffnung!« rief er und schlug die Hände zusammen, wie wenn er plötzlich von einem neuen Gedanken überrascht wäre. »Jetzt wird nur er, mein armer Junge, mich retten und ... oh, warum kommt er nicht? O mein Sohn, o mein Peter! ... Ich verdiene zwar eher den Namen eines Tigers als den eines Vaters, aber ... laissez moi, mon ami: ich will mich ein bißchen hinlegen, um meine Gedanken zu sammeln. Ich bin so müde, so müde; und auch für Sie, glaube ich, ist es Zeit, schlafen zu gehen; voyez-vous, es ist schon zwölf Uhr ...«


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