F. M. Dostojewskij
Der Idiot
F. M. Dostojewskij

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VII

»Ich besaß eine kleine Taschenpistole, die ich mir noch als Kind angeschafft hatte, in jenem komischen Lebensalter, wo man auf einmal anfängt, an Geschichten von Duellen und räuberischen Überfällen Gefallen zu finden, und wo ich mir ausmalte, wie ich zum Duell herausgefordert werden und mit welchem edlen Anstand ich vor der Pistole des Gegners dastehen würde. Vor einem Monat habe ich sie mir wieder angesehen und instand gesetzt. In dem Kasten, in dem sie lag, fanden sich zwei Kugeln und im Pulverhorn Pulver für drei Schüsse. Diese Pistole ist ein elendes Ding, der Schuß weicht zur Seite ab und trägt nur fünfzehn Schritt weit, aber sie kann doch wohl einen Schädel zerschmettern, wenn man sie dicht an die Schläfe setzt.

Ich beschloß, in Pawlowsk bei Sonnenaufgang zu sterben und dazu in den Park zu gehen, um die Bewohner der Landhäuser nicht zu stören. Meine ›Erklärung‹ wird der Polizei die ganze Sache hinreichend klarlegen. Freunde der Psychologie und wer sonst Lust hat, mögen aus ihr alle ihnen beliebigen Schlüsse ziehen. Ich würde jedoch nicht wünschen, daß dieses Manuskript der Öffentlichkeit übergeben wird. Ich bitte den Fürsten, ein Exemplar für sich zu behalten und ein zweites Aglaja Iwanowna Jepantschina zu geben. Dies ist mein Wille. Ich vermache mein Skelett der medizinischen Akademie zum Besten der Wissenschaft.

Ich erkenne keine Richter an, die mich richten dürften, und weiß, daß ich jetzt außerhalb des Machtbereichs eines jeden Gerichtes stehe. Erst neulich noch belustigte mich folgende Vorstellung: wenn es mir jetzt auf einmal in den Sinn käme, einen beliebigen Menschen zu töten, meinetwegen zehn Menschen zugleich, oder sonst eine Handlung zu begehen, die in dieser Welt als besonders schrecklich gilt, in welche Verlegenheit würde dann das Gericht mir gegenüber kommen in Anbetracht dessen, daß ich nur noch zwei bis drei Monate zu leben habe und die Folter und die körperlichen Mißhandlungen abgeschafft sind? Ich würde behaglich in einem Krankenhaus sterben, in einem warmen Zimmer und unter der Obhut eines aufmerksamen Arztes, und es vielleicht weit behaglicher und wärmer haben als bei mir zu Hause. Ich verstehe nicht, warum Leuten, die sich in gleicher Lage befinden wie ich, nicht derselbe Gedanke in den Kopf kommt, wenn auch nur zum Scherz. Vielleicht kommt er ihnen übrigens auch in den Kopf; heitere Leute gibt es ja auch bei uns viele.

Aber wenn ich auch kein Gericht anerkenne, so weiß ich doch, daß man mich richten wird, wenn ich erst ein tauber und stummer Angeklagter sein werde. Ich will nicht aus der Welt gehen, ohne ein Wort der Entgegnung zurückzulassen, ein freies Wort, ein Wort, das mir nicht abgenötigt ist; nicht zu meiner Entschuldigung, o nein! ich brauche niemand um Verzeihung zu bitten und für nichts, sondern einfach, weil ich es so wünsche.

Hier zunächst ein sonderbarer Gedanke: wer könnte mir jetzt unter Berufung auf irgendwelches Recht oder irgendwelches innere Gefühl das Recht bestreiten wollen, über diese zwei, drei Wochen, die ich noch Frist habe, nach meinem Belieben zu verfügen? Welches Gericht hat sich darum zu kümmern? Wer kann ein Interesse daran haben, daß ich nicht nur zum Tode verurteilt bin, sondern auch noch wohlgesittet den Hinrichtungstermin abwarten muß? Kann das wirklich jemand verlangen? Etwa um der Moral willen? Wenn ich mir in der Blüte der Gesundheit und Kraft das Leben nehmen wollte, das ›meinem Nächsten noch nützlich sein könnte‹ und so weiter, dann würde ich es noch verstehen, daß die Moral auf Grund der alten Anschauung es als tadelnswert ansähe, daß ich über mein Leben, ohne jemand um Erlaubnis zu fragen, Verfügung träfe, oder was sie sonst noch vorbringen möchte. Aber jetzt, jetzt, wo mir der Hinrichtungstermin bereits angekündigt ist? Welche Moral kann denn außer dem Leben des Todeskandidaten auch noch das letzte Röcheln beanspruchen, mit dem er den letzten Lebenshauch von sich gibt, während er die Trostworte des Fürsten anhört, der in seinen christlichen Beweisen sich sicher zu dem glücklichen Gedanken versteigen wird, daß es im Grunde für den Betreffenden sogar das beste ist, wenn er stirbt. (Christen von seinem Schlage versteigen sich immer zu diesem Gedanken, das ist ihr liebstes Steckenpferd.) Und was wollen diese Menschen immer mit ihren lächerlichen ›Bäumen von Pawlowsk‹? Mir die letzten Lebensstunden versüßen? Können sie denn nicht begreifen, daß sie mich um so unglücklicher machen, je mehr ich meine Lage vergesse, je mehr ich mich diesem letzten Trugbild von Leben und Liebe hingebe, mit dem sie mir meine Meyersche Mauer und alles, was ich so offenherzig und schlicht darauf geschrieben habe, verdecken wollen? Was helfen mir eure freie Natur, euer Pawlowsker Park, eure Sonnenauf- und -untergänge, euer blauer Himmel und eure zufriedenen Gesichter, wenn dieses ganze Fest, das kein Ende nimmt, damit angefangen hat, daß es mich zu einem überflüssigen Gast erklärte? Was soll ich inmitten all dieser Schönheit, wenn ich in jeder Minute, in jeder Sekunde denken muß, daß sogar diese winzige Fliege, die jetzt im Sonnenstrahl um mich herumsummt, an diesem ganzen Festschmaus und Festchor teilnimmt, ihren Platz in ihm kennt und liebt und glücklich ist, während ich allein ein Ausgestoßener bin und nur infolge meiner Schwachmütigkeit das bisher nicht habe begreifen wollen? Oh, ich weiß ja, wie gern der Fürst und all diese Leute mich dahin bringen möchten, daß auch ich statt all dieser ›grimmigen, boshaften‹ Reden sittsam zum Triumph der Moral in Millevoyes berühmte klassische Strophe einstimmte:

›O, puissent voir votre beauté sacrée
Tant d'amis, sourds à mes adieux!
Qu'ils meurent pleins de jours, que leur mort soit pleurée,
Qu'un ami leur ferme les yeux!‹

Oh, könnten sie eure heilige Schönheit sehn,
All die Freunde, die taub für mein Scheiden!
Mögen sie am Ende ihrer Tage sterben, möge ihr Tod beweint werden,
Möge ein Freund ihnen die Augen zudrücken! (frz.)

Aber glaubt es nur, glaubt es nur, ihr harmlosen Leute, daß auch in dieser wohlgesitteten Strophe, in diesem akademischen Segen, den der Dichter der Welt in seinen französischen Versen erteilt, so viel heimliche Galle, so viel unversöhnlicher, sich selbst an den Reimen erquickender Groll steckt, daß vielleicht sogar der Dichter selbst sich hat täuschen lassen und diesen Groll für Tränen der Rührung gehalten hat und in diesem Glauben gestorben ist; Friede seiner Asche! Wisset, daß es in dem Bewußtsein der eigenen Nichtigkeit und Schwäche eine Grenze der Schande gibt, über die der Mensch nicht mehr hinausgehen kann und bei der er anfängt, in seiner Schande selbst einen großen Genuß zu empfinden ... Nun, gewiß, die Sanftmut ist eine gewaltige Kraft in diesem Sinne, das gebe ich zu, obwohl nicht in dem Sinne, in welchem die Religion die Sanftmut für eine Kraft hält.

Die Religion! Daß es ein ewiges Leben gibt, gebe ich zu und habe ich vielleicht immer zugegeben. Nehmen wir an, mein Bewußtsein sei nach dem Willen einer höheren Macht entzündet worden, nehmen wir an, dieses mit Bewußtsein begabte Wesen habe sich in der Welt umgeschaut und gesagt: ›Ich bin!‹, und nehmen wir an, diese höhere Macht schreibe ihm plötzlich vor, wieder zu verschwinden, weil das zu irgendeinem Zweck, der ihm nicht einmal erklärt wird, notwendig sei, – dies alles zugegeben, so erhebt sich doch immer wieder die Frage: wozu ist unter solchen Umständen von meiner Seite Sanftmut erforderlich? Kann ich denn nicht einfach aufgefressen werden, ohne daß man von mir ein Loblied auf dasjenige verlangt, was mich auffrißt? Trete ich wirklich jemandem damit zu nahe, daß ich nicht noch zwei Wochen warten will? Ich kann das nicht glauben; weit richtiger dürfte die Annahme sein, daß mein nichtiges Leben, das Leben eines Atoms, einfach erforderlich war, um irgendeine allgemeine Harmonie im Weltall zu vervollständigen, um irgendein Plus oder Minus herbeizuführen, irgendeinen Kontrast herzustellen und so weiter und so weiter, geradeso wie täglich der Opfertod vieler Millionen von Wesen notwendig ist, ohne den die übrige Welt nicht existieren kann (obwohl dazu bemerkt werden muß, daß diese Einrichtung an und für sich nicht sehr edelmütig ist). Aber nehmen wir dies an! Ich will zugeben, daß es unmöglich war, die Welt auf andere Weise einzurichten, das heißt ohne ein fortwährendes gegenseitiges Auffressen; ich will sogar zugeben, daß ich von dieser Einrichtung nichts verstehe, aber dafür weiß ich etwas anderes mit Bestimmtheit: wenn mir auch das Bewußtsein meines Ichs verliehen ist, so ist es doch nicht meine Sache, daß die Welt fehlerhaft eingerichtet ist und nicht anders bestehen kann. Wer wird unter solchen Umständen über mich zu Gericht sitzen und weswegen? Man mag sagen, was man will, das alles erscheint unmöglich und ungerecht.

Und doch habe ich mir niemals, sogar trotz meines lebhaften Wunsches, vorstellen können, daß es kein zukünftiges Leben und keine Vorsehung gebe. Am wahrscheinlichsten ist wohl, daß dies alles existiert, daß wir aber vom zukünftigen Leben und seinen Gesetzen nichts begreifen. Aber wenn es so schwer, ja ganz unmöglich ist, dies zu begreifen, kann ich denn dann dafür verantwortlich gemacht werden, daß ich nicht imstande gewesen bin, das Unfaßbare zu ergründen? Allerdings sagen nun die Menschen, und natürlich der Fürst mit ihnen, hier sei eben Gehorsam vonnöten, man müsse gehorchen, ohne zu räsonieren, einzig und allein aus guter Gesittung, und ich würde mit Sicherheit in jener Welt für meine Sanftmut belohnt werden. Wir erniedrigten die Vorsehung zu sehr, wenn wir aus Ärger darüber, daß wir sie nicht begreifen können, ihr unsere eigenen Anschauungen zuschrieben. Aber ich wiederhole noch einmal: wenn es unmöglich ist, sie zu begreifen, dann kann der Mensch auch schwer für das verantwortlich gemacht werden, was zu begreifen ihm nicht vergönnt ist. Aber wenn dem so ist, wie kann ich dann dafür verurteilt werden, daß ich den wahren Willen und die wahren Gesetze der Vorsehung nicht habe begreifen können? Nein, das beste ist schon, die Religion aus dem Spiele zu lassen.

Nun genug! Wenn ich bis zu diesen Zeilen gelangt sein werde, wird gewiß die Sonne schon aufgehen und ›nach alter Weise am Himmel tönen‹, und eine gewaltige, unberechenbare Kraft wird sich über die ganze von ihr beschienene Erde ergießen. Sei es denn! Ich werde sterben, indem ich gerade auf die Quelle der Kraft und des Lebens hinblicke, und ich werde dieses Leben verschmähen! Hätte es in meiner Macht gestanden, nicht geboren zu werden, so würde ich ein an so höhnische Bedingungen geknüpftes Dasein gewiß nicht angenommen haben. Aber es steht noch in meiner Macht, zu sterben, obgleich ich nur einen kargen, schon gezählten Rest hingebe. Das ist keine große Machtäußerung und auch keine große Auflehnung gegen das Schicksal.

Eine letzte Erklärung: ich sterbe ganz und gar nicht deswegen, weil ich nicht imstande wäre, diese drei Wochen noch zu ertragen; oh, meine Kraft würde schon dazu ausreichen, und wenn ich wollte, würde ich schon an dem bloßen Bewußtsein des mir angetanen Unrechts einen ausreichenden Trost haben, aber ich bin kein französischer Dichter und mag solchen Trost nicht. Endlich noch etwas, was mich vielleicht lockt: die Natur hat dadurch, daß sie mir bis zu meiner Hinrichtung nur drei Wochen Frist gegeben hat, meine Tätigkeit dermaßen eingeschränkt, daß vielleicht der Selbstmord die einzige Handlung ist, die nach eigenem Willen anzufangen und zu beenden ich noch Zeit habe. Nun, vielleicht will ich die letzte Möglichkeit zum Handeln benutzen? Auch ein Protest ist manchmal keine kleine Tat ...«

Die »Erklärung« war zu Ende. Ippolit hielt endlich inne ...

Es gibt in extremen Fällen einen höchsten Grad zynischer Offenherzigkeit, bei welchem ein nervöser Mensch, der auf das äußerste gereizt und ganz außer sich geraten ist, nichts mehr fürchtet und zu jedem Skandal bereit ist, ja sogar mit Freuden einen solchen hervorruft; er fällt über andere Menschen her, indem er dabei die unklare, aber feste Absicht hat, sich im nächsten Augenblick unbedingt vom Kirchturm herabzustürzen und dadurch mit einem Schlag alle etwa entstandenen Mißverständnisse zu beseitigen. Ein Merkmal dieses Zustandes ist gewöhnlich auch die herannahende Erschöpfung der physischen Kräfte. Die außerordentliche, fast unnatürliche Anspannung, mit der Ippolit sich bis dahin aufrechterhalten hatte, war nun bis auf diesen höchsten Grad gelangt. An sich erschien dieser achtzehnjährige, von der Krankheit erschöpfte junge Mensch schwach wie ein vom Baum abgerissenes zitterndes Blättchen; aber sobald er Zeit fand, einen Blick über seine Zuhörer gleiten zu lassen – was er jetzt zum erstenmal seit einer ganzen Stunde tat –, prägte sich in seinem Blick und seinem Lächeln sofort der hochmütigste, verächtlichste, beleidigendste Widerwille aus. Er schien mit seiner Herausforderung Eile zu haben. Aber auch die Zuhörer waren voller Entrüstung. Alle erhoben sich geräuschvoll und ärgerlich vom Tisch. Die Müdigkeit, der Wein, die Anspannung steigerten noch den Wirrwarr und, wenn man sich so ausdrücken kann, den Schmutz der Empfindungen.

Plötzlich sprang Ippolit schnell vom Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte.

»Die Sonne ist aufgegangen!« rief er, indem er nach den leuchtenden Baumwipfeln hinblickte und, zum Fürsten gewandt, auf sie wie auf ein Wunder hinwies. »Sie ist aufgegangen!«

»Haben Sie denn gedacht, sie würde nicht aufgehen?« bemerkte Ferdyschtschenko.

»Das verspricht wieder Hitze für den ganzen Tag«, murmelte Ganja lässig und ärgerlich; er hielt den Hut in der Hand, reckte sich und gähnte. »Die Trockenheit scheint den ganzen Monat anzuhalten! ... Wollen wir gehen, Ptizyn?«

Ippolit wurde, als er ihn so reden hörte, fast starr vor Staunen; plötzlich erbleichte er furchtbar und begann am ganzen Leib zu zittern.

»Sie bringen die Gleichgültigkeit, mit der Sie mich kränken wollen, in recht ungeschickter Weise zum Ausdruck«, wandte er sich an Ganja und sah ihn dabei starr an. »Sie sind ein Nichtswürdiger!«

»Na, weiß der Teufel, was das bedeuten soll, sich so aufzuknöpfen!« schrie Ferdyschtschenko. »Was ist das für eine unerhörte Schwachheit!«

»Er ist einfach ein Narr«, sagte Ganja.

Ippolit hatte wieder ein wenig Kraft gesammelt.

»Ich verstehe es, meine Herren«, begann er, immer noch wie vorher zitternd und bei jedem Wort stockend, »daß ich Ihre persönliche Rache verdient habe, und ... ich bedaure, Sie mit diesen Fieberphantasien« (er wies auf das Manuskript) »halbtot gequält zu haben. Übrigens bedaure ich, daß es mir nicht gelungen ist, Sie ganz totzuquälen ...« (Er lächelte dumm.) »Habe ich Sie totgequält, Jewgenij Pawlytsch?« fragte er diesen, sich plötzlich zu ihm wendend. »Habe ich Sie totgequält oder nicht? Antworten Sie!«

»Es war etwas zu weit ausgesponnen, aber im übrigen...«

»Sagen Sie alles! Lügen Sie wenigstens ein einziges Mal in Ihrem Leben nicht!« rief Ippolit zitternd in befehlendem Ton.

»Oh, mir ist die Sache ganz gleichgültig! Bitte, tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich in Ruhe!« erwiderte Jewgenij Pawlowitsch und wandte sich geringschätzig ab.

»Gute Nacht, Fürst!« sagte Ptizyn, an diesen herantretend.

»Aber er wird sich gleich erschießen! Was machen Sie denn! Sehen Sie ihn doch nur an!« rief Wera, stürzte in größter Angst zu Ippolit hin und faßte ihn sogar an den Armen. »Er hat ja gesagt, bei Sonnenaufgang wolle er sich erschießen! Was machen Sie denn!«

»Er wird sich nicht erschießen!« murmelten einige spöttisch, darunter auch Ganja.

»Meine Herren, nehmen Sie sich in acht!« rief Kolja und faßte Ippolit ebenfalls am Arm. »Sehen Sie ihn nur an! Fürst! Fürst, warum tun Sie denn nichts?«

Um Ippolit drängten sich Wera, Kolja, Keller und Burdowskij; alle vier hatten ihn an den Armen gepackt.

»Er hat ein Recht... ein Recht...«, murmelte Burdowskij, der übrigens ebenfalls ganz fassungslos war.

»Erlauben Sie, Fürst, was wollen Sie nun anordnen?« fragte Lebedew, auf den Fürsten zugehend, er war betrunken und bis zur Frechheit aufgebracht.

»Was ich anordnen will?«

»Nein, erlauben Sie, ich bin der Hausherr, obgleich ich es an Achtung Ihnen gegenüber nicht fehlen lassen will... Allerdings sind auch Sie hier Hausherr, aber ich will nicht, daß so etwas in meinem eigenen Hause... Jawohl.«

»Er wird sich nicht erschießen, der Junge treibt nur Possen!« rief ganz unerwartet General Iwolgin entrüstet und mit großartiger Würde.

»Der General hat's getroffen!« stimmte Ferdyschtschenko bei.

»Das weiß ich, daß er sich nicht erschießen wird, General; hochverehrter General, aber doch... denn ich bin doch der Hausherr.«

»Hören Sie mal, Herr Terentjew«, sagte auf einmal Ptizyn, nachdem er sich von dem Fürsten verabschiedet hatte, und streckte Ippolit seine Hand hin, »Sie reden ja wohl in Ihrem Heft von Ihrem Skelett und vermachen es der Akademie? Meinen Sie damit Ihr eigenes Skelett? Vermachen Sie also der Akademie Ihre eigenen Knochen?«

»Ja, meine Knochen...«

»Soso. Sonst wäre nämlich ein Mißverständnis möglich. Man sagt, ein solcher Fall sei bereits vorgekommen.«

»Warum hänseln Sie ihn?« rief der Fürst.

»Ihm kommen schon die Tränen«, fügte Ferdyschtschenko hinzu.

Aber Ippolit weinte ganz und gar nicht. Er wollte sich von seinem Platz rühren, aber die vier Personen, die ihn umringten, griffen gleichzeitig nach seinen Armen. Man hörte lachen.

»Das hat er ja gerade gewollt, daß man ihn bei den Armen halten soll, dazu hat er ja sein Heft vorgelesen«, bemerkte Rogoshin. »Leb wohl, Fürst! Ach, ich habe zu lange gesessen, die Knochen tun mir weh.«

»Wenn Sie sich wirklich haben erschießen wollen, Terentjew«, sagte Jewgenij Pawlowitsch lachend, »so würde ich an Ihrer Stelle nach all den Komplimenten, die man Ihnen gemacht hat, mich nun gerade nicht erschießen, um die Leute zu foppen.«

»Diese Menschen möchten alle furchtbar gern sehen, wie ich mich erschieße!« warf ihm Ippolit entgegen.

Er sprach, als wollte er auf alle losfahren.

»Und ärgern sich darüber, daß sie es nicht zu sehen bekommen.«

»Also glauben auch Sie nicht, daß ich es tun werde?«

»Ich will Sie nicht anstacheln, ich halte es vielmehr für sehr möglich, daß Sie sich erschießen werden. Vor allen Dingen werden Sie nicht böse!...« sagte Jewgenij Pawlowitsch langsam, indem er die Worte in gönnerhafter Weise dehnte.

»Ich sehe erst jetzt, was für einen ungeheuren Fehler ich damit begangen habe, daß ich Ihnen dieses Heft vorgelesen habe!« erwiderte Ippolit und blickte Jewgenij Pawlowitsch auf einmal mit so vertrauensvoller Miene an, als bäte er einen Freund um einen freundschaftlichen Rat.

»Es ist eine komische Situation für Sie, aber ... ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen raten soll«, antwortete Jewgenij Pawlowitsch lächelnd.

Ippolit sah ihn mit unverwandtem Blick ernst und starr an und schwieg. Man konnte denken, daß er zeitweilig völlig geistesabwesend war.

»Nein, erlauben Sie, was ist denn das für eine Art!« ereiferte sich Lebedew. »›Ich will mich im Park erschießen‹, sagt er, ›um niemand zu stören!‹ Er denkt wohl, daß er niemand stört, wenn er die Stufen hinuntersteigt und drei Schritte weit in den Garten geht.«

»Meine Herren ...«, begann der Fürst.

»Nein, erlauben Sie, hochverehrter Fürst«, unterbrach ihn Lebedew wütend, »da Sie selbst sehen, daß das kein Scherz ist, und da mindestens die Hälfte Ihrer Gäste der gleichen Meinung und der bestimmten Überzeugung ist, daß er jetzt, nach allem hier Gesprochenen, um der Ehre willen sich unter allen Umständen erschießen muß, so erkläre ich als der Hausherr in Gegenwart dieser Zeugen, daß ich Sie auffordere, mir behilflich zu sein!«

»Was sollen wir denn tun, Lebedew? Ich bin gern bereit, Ihnen zu helfen.«

»Was geschehen muß, ist dies: erstens soll er sofort die Pistole ausliefern, von der er uns vorgeprahlt hat, sowie das sämtliche Zubehör. Wenn er das tut, so will ich in Anbetracht seines krankhaften Zustandes damit einverstanden sein, daß er diese Nacht im Hause bleibt, natürlich unter der Bedingung, daß er von mir beaufsichtigt wird. Morgen aber muß er unter allen Umständen fort, da mag er gehen, wohin es ihm beliebt; nehmen Sie es nicht übel, Fürst! Wenn er aber seine Waffe nicht ausliefert, so werde ich ihn unverzüglich an den Armen packen, ich am einen, der General am andern, und ich werde sofort zur Polizei schicken und sie benachrichtigen; die wird dann schon das Weitere veranlassen. Herr Ferdyschtschenko als guter Bekannter von mir wird so freundlich sein und hingehen.«

Ein großer Lärm erhob sich. Lebedew war in eine Hitze geraten, die bereits jedes Maß überstieg; Ferdyschtschenko machte sich fertig, um zur Polizei zu gehen; Ganja blieb ärgerlich bei seiner Behauptung, es werde sich niemand erschießen. Jewgenij Pawlowitsch schwieg.

»Fürst, sind Sie einmal von einem Kirchturm hinabgestürzt?« flüsterte Ippolit ihm plötzlich zu.

»N-nein...«, antwortete der Fürst naiv.

»Haben Sie etwa geglaubt, ich hätte diesen ganzen Haß nicht vorhergesehen?« flüsterte Ippolit wieder und sah den Fürsten mit funkelnden Augen an, als erwarte er tatsächlich von ihm eine Antwort. »Nun genug!« rief er, indem er sich an alle Anwesenden wandte. »Ich bin daran schuld... in höherem Grad als Sie alle! Lebedew, da ist der Schlüssel.« (Er zog sein Portemonnaie heraus und entnahm ihm einen Stahlring mit drei oder vier kleinen Schlüsseln.) »Dieser ist es, der vorletzte... Kolja wird es Ihnen zeigen... Kolja! Wo ist Kolja?« rief er, er starrte Kolja an, ohne ihn zu sehen. »Ja... er wird es Ihnen zeigen; er hat vorhin mit mir zusammen meinen Koffer gepackt. Führen Sie ihn hin, Kolja, mein Koffer steht... im Zimmer des Fürsten unter dem Tisch... mit diesem Schlüssel... unten im Koffer... meine Pistole und das Pulverhorn. Er selbst hat die Sachen vorhin eingepackt, Herr Lebedew, er wird sie Ihnen zeigen, aber unter der Bedingung, daß Sie mir morgen früh, wenn ich nach Petersburg fahre, die Pistole zurückgeben. Hören Sie wohl? Ich tue das mit Rücksicht auf den Fürsten, nicht um Ihretwillen.«

»So ist es recht!« rief Lebedew, griff nach dem Schlüssel und lief, spöttisch lächelnd, in das Nachbarzimmer.

Kolja blieb stehen, er schien etwas sagen zu wollen, aber Lebedew zog ihn hinter sich her.

Ippolit blickte die lachenden Gäste an. Der Fürst bemerkte, daß seine Zähne wie im stärksten Fieberschauer klapperten.

»Was sind das hier alles für nichtswürdige Menschen!« flüsterte Ippolit ganz außer sich dem Fürsten wieder zu. Wenn er mit dem Fürsten sprach, beugte er sich immer zu ihm hin und flüsterte.

»Lassen Sie sie doch; Sie sind sehr schwach...«

»Gleich, gleich... gleich werde ich fortgehen.«

Plötzlich umarmte er den Fürsten.

»Sie meinen vielleicht, daß ich verrückt bin?« fragte er, indem er ihn, seltsam auflachend, ansah.

»Nein, aber Sie ...«

»Gleich, gleich, seien Sie still; reden Sie nicht; bleiben Sie stehen ... ich will Ihnen in die Augen sehen ... Bleiben Sie so stehen, ich will Sie ansehen. Ich will vom Menschen Abschied nehmen.«

Er stand und blickte, ohne sich zu rühren, den Fürsten schweigend etwa zehn Sekunden lang an. Er war sehr blaß, seine Schläfen waren feucht von Schweiß. Er hielt den Fürsten in sonderbarer Weise an der Schulter gefaßt, als fürchtete er sich, ihn loszulassen.

»Ippolit, Ippolit, was ist Ihnen?« rief der Fürst.

»Gleich ... es ist genug ... ich werde mich hinlegen. Ich will einen Schluck auf die Gesundheit der Sonne trinken ... Ich will es, ich will es, lassen Sie mich!«

Er ergriff schnell ein Glas vom Tisch, stürzte davon und stand im nächsten Augenblick am Ausgang der Veranda. Der Fürst wollte ihm nachlaufen, aber es traf sich, daß gerade in diesem Moment Jewgenij Pawlowitsch ihm die Hand hinstreckte, um ihm Lebewohl zu sagen. Es verging eine Sekunde, und plötzlich erscholl in der Veranda ein allgemeiner Aufschrei. Dann folgte ein Augenblick ärgster Verwirrung.

Folgendes war geschehen:

Als Ippolit ganz nahe an den Ausgang der Veranda gelangt war, blieb er stehen, in der linken Hand hielt er das Glas, die rechte hatte er in die rechte Seitentasche seines Mantels gesteckt. Keller versicherte nachher, Ippolit habe schon vorher diese Hand immer in der rechten Tasche gehabt, schon als er mit dem Fürsten gesprochen und ihn mit der linken Hand an die Schulter und den Kragen gefaßt habe, und diese rechte Hand in der Tasche habe schon damals seinen, Kellers, ersten Verdacht erregt. Wie dem auch sein mochte, jedenfalls veranlaßte ihn eine gewisse Unruhe, Ippolit ebenfalls nachzulaufen. Aber auch er kam zu spät. Er sah nur, wie auf einmal in Ippolits rechter Hand etwas schimmerte und wie in derselben Sekunde die kleine Taschenpistole sich dicht an seiner Schläfe befand. Keller stürzte hinzu, um ihn am Arm zu packen, aber im selben Augenblick drückte Ippolit ab. Es ertönte das scharfe, trockene Knacken des Hahnes; ein Schuß jedoch erfolgte nicht. Als Keller Ippolit umfaßte, sank ihm dieser wie bewußtlos in die Arme, vielleicht wirklich in der Vorstellung, daß er schon tot sei. Die Pistole befand sich in Kellers Händen. Man ergriff Ippolit, stellte ihm einen Stuhl hin, setzte ihn darauf, und alle umdrängten ihn, alle schrien, alle fragten. Alle hatten das Knacken des Hahnes gehört und erblickten nun einen Menschen, der lebte und nicht einmal eine Schramme aufwies. Ippolit selbst saß da, ohne zu begreifen, was vorging, und ließ wie geistesabwesend seinen Blick über alle Umstehenden hingleiten. Lebedew und Kolja kamen in diesem Augenblick wieder hereingelaufen.

»Hat die Pistole versagt?« fragten mehrere.

»Vielleicht war sie gar nicht geladen?« vermuteten andere.

»Geladen ist sie!« rief Keller, der die Pistole untersuchte. »Aber...«

»Also hat sie versagt?«

»Es war gar kein Zündhütchen darauf«, meldete Keller.

Es ist schwer, die nun folgende klägliche Szene zu schildern. Der ursprüngliche allgemeine Schreck wurde schnell von heiterem Gelächter abgelöst. Manche wollten sich sogar vor Lachen ausschütten und fanden darin ein schadenfrohes Vergnügen. Ippolit schluchzte krampfhaft, rang die Hände, stürzte zu allen hin, sogar zu Ferdyschtschenko, faßte ihn mit beiden Händen und schwur ihm, er habe vergessen, »ganz zufällig, nicht absichtlich vergessen«, ein Zündhütchen aufzusetzen; die Zündhütchen, zehn Stück an der Zahl, befänden sich alle in seiner Westentasche (er zeigte sie allen herum); er habe vorher keines aufgesetzt aus Besorgnis, der Schuß könne zufällig in der Tasche losgehen; er habe damit gerechnet, daß er auch später noch Zeit haben werde, sobald es nötig sei, und habe es dann plötzlich vergessen. Er stürzte zum Fürsten und zu Jewgenij Pawlowitsch hin und flehte Keller an, ihm die Pistole zurückzugeben, er werde allen sofort beweisen, daß er »Ehre im Leibe habe«... er sei jetzt »für alle Ewigkeiten entehrt«!

Schließlich fiel er bewußtlos hin. Man trug ihn in das Zimmer des Fürsten, und Lebedew, der wieder ganz nüchtern geworden war, schickte unverzüglich zu einem Arzt, während er selbst, seine Tochter, sein Sohn, Burdowskij und der General am Bett des Kranken blieben. Als der bewußtlose Ippolit hinausgetragen war, stellte sich Keller mitten in der Veranda hin und verkündete, so daß alle es hörten, in wirklicher Begeisterung, wobei er jedes Wort einzeln und deutlich aussprach:

»Meine Herren, wenn jemand von Ihnen noch einmal laut in meiner Gegenwart einen Zweifel äußern sollte, daß das Zündhütchen nur zufällig vergessen war, und behauptet, der unglückliche junge Mensch habe nur Komödie gespielt, so wird der Betreffende es mit mir zu tun haben.«

Aber niemand antwortete ihm. Die Gäste entfernten sich endlich in einzelnen Gruppen. Ptizyn, Ganja und Rogoshin gingen zusammen.

Der Fürst war sehr erstaunt, daß Jewgenij Pawlowitsch seine Absicht geändert hatte und gehen wollte, ohne sich mit ihm ausgesprochen zu haben.

»Sie wollten doch mit mir sprechen, sobald alle fortgegangen wären?« fragte er ihn.

»Ganz richtig«, erwiderte Jewgenij Pawlowitsch, setzte sich auf einen Stuhl und nötigte den Fürsten, sich neben ihn zu setzen, »aber ich habe meine Absicht jetzt vorläufig geändert. Ich muß Ihnen bekennen, daß ich etwas verwirrt bin, und Ihnen wird es wohl ebenso gehen. Meine Gedanken sind ganz in Unordnung gekommen; außerdem ist der Gegenstand, über den ich mit Ihnen sprechen wollte, für mich sehr wichtig und auch für Sie. Sehen Sie, Fürst, ich möchte wenigstens einmal in meinem Leben ganz ehrlich handeln, das heißt ganz ohne Hintergedanken; ich glaube aber, daß ich jetzt, in diesem Augenblick, einer ganz ehrlichen Handlung nicht fähig bin, und Sie vielleicht auch nicht ... ja ... und ... nun, wir werden uns also später aussprechen. Vielleicht gewinnt auch die Sache sowohl für mich als auch für Sie an Klarheit, wenn wir noch die drei Tage warten, die ich jetzt in Petersburg verbringen werde.«

Darauf stand er wieder vom Stuhl auf, so daß es nicht recht verständlich war, warum er sich überhaupt hingesetzt hatte. Der Fürst hatte auch den Eindruck, als wäre Jewgenij Pawlowitsch unzufrieden und gereizt und sähe ihn feindselig an und als läge in seinem Blick etwas ganz anderes als vorher.

»Übrigens, Sie gehen jetzt zu dem Kranken?«

»Ja ... ich bin um ihn besorgt«, erwiderte der Fürst.

»Seien Sie unbesorgt; er wird gewiß noch sechs Wochen leben und sich vielleicht hier noch ganz erholen. Aber das beste wäre, wenn Sie ihn morgen wegjagten.«

»Ich habe ihn vielleicht wirklich dadurch verletzt, daß ... ich nichts gesagt habe, er hat vielleicht gedacht, ich zweifelte daran, daß er sich erschießen würde. Wie denken Sie darüber, Jewgenij Pawlytsch?«

»Nein, nein. Sie sind zu gutherzig, daß Sie sich um ihn noch Sorgen machen. Ich habe sagen hören, aber nie in natura gesehen, daß sich jemand absichtlich erschießt, um gelobt zu werden, oder aus Ärger darüber, daß man ihn deswegen nicht lobt. Vor allen Dingen hätte ich ein solches offenes Eingestehen der eigenen Schwäche nicht für möglich gehalten! Aber ich möchte Ihnen doch raten, ihn morgen wegzujagen.«

»Sie glauben, daß er noch einmal auf sich schießen wird?«

»Nein, jetzt wird er sich nicht mehr erschießen. Aber nehmen Sie sich vor diesen einheimischen Lacenaires in acht! Ich wiederhole Ihnen: diese talentlose, ungeduldige, begehrliche Nichtigkeit nimmt gewöhnlich ihre Zuflucht zum Verbrechen.«

»Ist er etwa ein Lacenaire?«

»Dem Wesen nach ja, obwohl die Rollen vielleicht verschieden sind. Achten Sie darauf, ob dieser Herr nicht imstande ist, ein Dutzend Menschen abzuschlachten, bloß um einen auffallenden Streich zu begehen, genauso, wie er uns das selbst vorhin in seiner Erklärung vorgelesen hat. Jetzt werden mich diese Worte am Einschlafen hindern.«

»Sie beunruhigen sich vielleicht zu sehr.«

»Ich muß mich über Sie wundern, Fürst; glauben Sie nicht, daß er imstande ist, jetzt ein Dutzend Menschen zu töten?«

»Ich scheue mich, Ihnen darauf zu antworten, all dies ist sehr seltsam, aber...« »Nun, wie Sie wollen, wie Sie wollen!« schloß Jewgenij Pawlowitsch gereizt. »Überdies sind Sie ja ein so tapferer Mann; nehmen Sie sich nur in acht, daß Sie nicht selbst einer von diesem Dutzend sein werden.«

»Das wahrscheinlichste ist, daß er niemand töten wird«, sagte der Fürst, indem er Jewgenij Pawlowitsch nachdenklich anblickte.

Dieser lachte ärgerlich.

»Auf Wiedersehen! Es wird Zeit, daß ich gehe! Haben Sie bemerkt, daß er eine Abschrift seiner Beichte Aglaja Iwanowna vermacht hat?«

»Ja, es ist mir aufgefallen, und... ich denke darüber nach.«

»Nun allerdings, in Anbetracht jenes Dutzends«, antwortete Jewgenij Pawlowitsch, von neuem lachend, und ging weg.

Eine Stunde darauf (es war schon drei Uhr vorüber) ging der Fürst in den Park. Er hatte in seiner Wohnung zu schlafen versucht, es aber vor starkem Herzklopfen nicht vermocht. Im Hause war übrigens alles in Ordnung gebracht worden, und man hatte sich wieder einigermaßen beruhigt; der Kranke war eingeschlafen, und der Arzt, der gekommen war, hatte erklärt, es bestehe keinerlei besondere Gefahr. Lebedew, Kolja und Burdowskij hatten sich im Zimmer des Kranken hingelegt, um einander in der Nachtwache abzulösen; es war also kein Grund, sich Sorge zu machen.

Aber die Unruhe des Fürsten wuchs von Minute zu Minute. Er schweifte, zerstreut um sich blickend, im Park umher und blieb erstaunt stehen, als er zu dem freien Platz vor dem Vauxhall gelangte und die Reihen leerer Bänke und die Pulte für die Musiker erblickte. Dieser Ort machte auf ihn einen überraschenden Eindruck und kam ihm aus irgendeinem Grund furchtbar häßlich vor. Er kehrte wieder um und gelangte auf eben dem Weg, auf dem er tags zuvor mit Jepantschins zum Vauxhall gegangen war, zu der grünen Bank, die ihm für das Rendezvous angegeben war, setzte sich darauf und lachte plötzlich laut auf, worüber er sofort in starke Entrüstung geriet. Seine traurige Stimmung hielt immer noch an; er wäre am liebsten irgendwohin fortgegangen ... er wußte nur nicht, wohin. Über ihm auf einem Baum sang ein Vögelchen, und er begann es mit den Augen im Laubwerk zu suchen; plötzlich flatterte das Vögelchen von dem Baum fort, und im gleichen Augenblick mußte er unwillkürlich an jene Fliege im warmen Sonnenstrahl denken, von der Ippolit in seiner Erklärung gesagt hatte, sie »kenne ihren Platz und nehme an dem allgemeinen Festchor teil, während er allein ein Ausgestoßener« sei. Dieser Gedanke hatte schon vorhin auf ihn starken Eindruck gemacht, und er erinnerte sich jetzt daran. Längst Vergessenes wurde in ihm rege und trat ihm plötzlich klar vor die Seele.

Es war in der Schweiz gewesen, im ersten Jahr seiner Kur, sogar in den ersten Monaten. Er war damals noch ganz wie ein Idiot gewesen, konnte nicht einmal ordentlich sprechen und war manchmal nicht imstande, zu verstehen, was man von ihm wollte. Einmal, an einem klaren, sonnigen Tag, war er in die Berge gegangen und wanderte dort, mit einem qualvollen Gedanken beschäftigt, der jedoch durchaus keine deutliche Gestalt annehmen wollte, lange umher. Über ihm der leuchtende Himmel, unten der See, ringsum in weiter, weiter Entfernung der helle Horizont. Er schaute dies alles lange an und wurde dabei von einem schmerzlichen Gefühl gepeinigt. Er erinnerte sich jetzt, daß er damals seine Hände nach dieser hellen, endlosen Bläue ausgestreckt und geweint hatte. Es war ihm eine Qual gewesen, daß er all dem ganz fremd gegenüberstand. Was war dies für ein Fest, was war dies für ein steter, endloser, großer Feiertag, zu dem es ihn schon lange, schon immer, schon seit seiner Kindheit hinzog, und zu dem er doch nie hingelangen konnte? Jeden Morgen ging dieselbe helle Sonne auf, jeden Morgen stand über dem Wasserfall ein Regenbogen, jeden Abend flammte der höchste schneebedeckte Berg dort in der Ferne am Rand des Himmels in purpurner Glut; jede kleine Fliege, die im warmen Sonnenstrahl um ihn herumsummte, nahm an diesem Fest teil, kannte ihren Platz, liebte ihn und war glücklich, jedes Gräschen wuchs und war glücklich! Und alles hatte seinen vorgeschriebenen Weg, und alles kannte diesen Weg und kam singend und ging singend; nur er wußte nichts und verstand nichts, weder die Menschen noch die Töne, er stand allem fremd gegenüber, er war ein Ausgestoßener. Oh, er konnte seinen Gedanken damals natürlich nicht mit diesen Worten aussprechen und ausdrücken; taub und stumm quälte er sich, aber jetzt schien es ihm, als habe er all dies schon damals gesagt, all diese selben Worte und als habe Ippolit das über die Fliege Gesagte von ihm selbst, aus seinen damaligen Worten und Tränen, übernommen. Er war davon überzeugt, und das Herz begann ihm bei diesem Gedanken heftig zu klopfen ...

Er schlief auf der Bank ein, aber seine Unruhe blieb auch im Schlaf. Unmittelbar vor dem Einschlafen erinnerte er sich daran, daß Ippolit ein Dutzend Menschen ermorden würde, und mußte über das Absurde dieser Vorstellung lächeln. Um ihn herrschte eine schöne, klare Stille, nur die Blätter rauschten leise, und davon schien es ringsumher noch stiller und einsamer zu werden. Er träumte, und es waren lauter unruhige Träume, die ihn alle Augenblicke zusammenschrecken ließen. Schließlich träumte er, es käme eine Frau zu ihm, er kannte sie, kannte sie qualvoll genau; er konnte jedem ihren Namen nennen, sie jedem zeigen, aber seltsam: sie hatte jetzt ein ganz anderes Gesicht als das, welches er immer gekannt hatte, und er gab sich voll innerer Qual alle Mühe, sie nicht als jene Frau wiederzuerkennen. In diesem Gesicht lag so viel Reue und Angst, daß es schien, sie wäre eine furchtbare Verbrecherin und habe soeben eine schreckliche Tat begangen. Eine Träne zitterte auf ihrer blassen Wange; sie winkte ihm mit der Hand und legte den Finger an die Lippen, als wolle sie ihn auffordern, ihr leise zu folgen. Das Herz stand ihm still, um keinen Preis, um keinen Preis wollte er sie für eine Verbrecherin halten, aber er fühlte, daß gleich etwas Schreckliches geschehen würde, durch das sein ganzes Leben beeinflußt würde. Sie schien ihm etwas zeigen zu wollen, ganz in der Nähe, im Park. Er erhob sich, um ihr nachzugehen, und plötzlich hörte er, wie neben ihm jemand frisch und fröhlich lachte, eine Hand befand sich in der seinigen, er faßte diese Hand, drückte sie kräftig und erwachte. Vor ihm stand, laut lachend, Aglaja.


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