Fjodor Dostojewski
Arme Leute
Fjodor Dostojewski

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II

Anfangs, solange wir, das heißt meine Mutter und ich, uns in unserer neuen Wohnung noch nicht eingelebt hatten, fühlten wir uns beide etwas ängstlich und fremd bei Anna Fjodorowna. Diese wohnte in einem eigenen Hause in der sechsten Linie. Das ganze Haus enthielt nur fünf ordentliche Zimmer. In dreien davon wohnte Anna Fjodorowna mit meiner Kusine Sascha, einer vater- und mutterlosen Waise, die bei ihr aufwuchs. Dann wohnten in einem andern Zimmer wir, und endlich das fünfte, neben dem unsrigen gelegene Zimmer hatte ein armer Student namens Pokrowski inne, der es von Anna Fjodorowna gemietet hatte. Diese lebte sehr gut, üppiger, als man von vornherein hätte erwarten können; aber ihre Einnahmen waren rätselhaft, ebenso wie ihre Beschäftigung. Sie hatte immer viel zu tun und war immer stark in Anspruch genommen; mehrere Male täglich fuhr und ging sie aus; aber was sie eigentlich tat, und worin ihre Geschäfte bestanden, das konnte ich absolut nicht erraten. Sie hatte eine ausgedehnte, buntscheckige Bekanntschaft. Fortwährend bekam sie Besuch von Gott weiß was für Leuten, immer in Geschäften und nur auf einen Augenblick. Meine Mutter führte mich immer in unser Zimmer, sobald die Türklingel ertönte. Anna Fjodorowna war deswegen auf meine Mutter sehr böse und sagte fortwährend, wir seien gar zu stolz, stolzer, als es sich für uns schicke; ja, und wenn wir noch einen Grund hätten stolz zu sein. Ganze Stunden lang konnte sie solche Reden führen. Ich verstand damals diese Vorwürfe des Stolzes nicht, ebenso wie ich auch jetzt erst verstanden habe oder wenigstens ahne, warum meiner Mutter der Entschluß, bei Anna Fjodorowna zu wohnen, so schwer geworden war. Anna Fjodorowna war ein böses Weib; sie peinigte uns unaufhörlich. Warum sie uns eigentlich zu sich eingeladen hatte, das ist mir bis auf den heutigen Tag ein Geheimnis. Anfänglich war sie gegen uns ziemlich freundlich; aber dann zeigte sie in vollem Umfange ihren wirklichen Charakter, da sie sah, daß wir vollständig hilflos waren und nirgends anderswohin 40 gehen konnten. In der Folgezeit wurde sie gegen mich sehr freundlich und verstieg sich sogar zu plumpen Schmeicheleien; aber in der ersten Zeit hatte ich ebenso wie meine Mutter viel zu leiden. Alle Augenblicke machte sie uns Vorwürfe; sie redete immer nur von ihren Wohltaten. Fremden Leuten stellte sie uns als ihre armen, hilflosen Verwandten vor, eine Witwe und Waise, denen sie aus Barmherzigkeit und christlicher Liebe ein Obdach gewähre. Bei Tische verfolgte sie jeden Bissen, den wir aßen, mit den Augen, und wenn wir nicht aßen, so war es auch wieder nicht recht, und sie erging sich in häßlichen Redensarten: wir seien mäklerisch; wir möchten vorliebnehmen; was sie habe, gebe sie gern; ob wir denn selbst Besseres hätten. Auf meinen Vater schimpfte sie fortwährend; sie sagte, er habe etwas Besseres sein wollen als andere Leute, aber es sei ihm arg mißlungen; er habe seine Frau und seine Tochter an den Bettelstab gebracht, und wenn sich nicht eine wohltätige Verwandte, eine mitleidige christliche Seele gefunden hätte, dann müßten die beiden vielleicht auf der Straße Hungers sterben. Was redete sie nicht alles zusammen! Ihr zuzuhören war noch widerwärtiger als kränkend. Meine Mutter weinte alle Augenblicke; mit ihrer Gesundheit wurde es von einem Tage zum andern schlechter; sie schwand sichtbar dahin; aber dabei arbeiteten wir beide vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein, indem wir auf Bestellung stickten. Allerdings mißfiel dies Anna Fjodorowna sehr; sie sagte fortwährend, sie habe kein Modegeschäft in ihrem Hause. Aber wir mußten uns doch kleiden; wir mußten doch für unvorhergesehene Ausgaben etwas zurücklegen; wir mußten unbedingt ein bißchen eigenes Geld besitzen. Wir sparten für alle Fälle, in der Hoffnung, es werde uns mit der Zeit möglich sein, anderswohin zu ziehen. Aber meine Mutter ruinierte durch die Arbeit den letzten Rest ihrer Gesundheit: sie wurde mit jedem Tage schwächer. Die Krankheit nagte offenbar wie ein Wurm an ihrem Leben und brachte sie dem Grabe näher. Ich sah alles, fühlte alles und litt darunter; alles das vollzog sich vor meinen Augen!

Ein Tag verging nach dem andern, und jeder war dem 41 vorhergehenden ähnlich. Wir lebten so still, als ob wir gar nicht in einer Stadt wären. Anna Fjodorowna beruhigte sich allmählich, in dem Maße wie sie sich selbst ihrer unumschränkten Gewalt über uns bewußt wurde. Übrigens fiel es niemals einem von uns ein, ihr zu widersprechen. In unserem Zimmer waren wir von dem ihrigen durch den Flur getrennt; neben uns wohnte, wie schon erwähnt, Pokrowski. Er unterrichtete Sascha im Französischen und Deutschen, in der Geschichte und Geographie, »in allen Wissenschaften«, wie Anna Fjodorowna sagte, und erhielt dafür von ihr Wohnung und Beköstigung. Sascha besaß eine sehr gute Auffassungsgabe, war aber mutwillig und unartig; sie war damals ungefähr dreizehn Jahre alt. Anna Fjodorowna sprach sich meiner Mutter gegenüber dahin aus, es würde ganz gut sein, wenn ich an dem Unterricht teilnähme, da ich in der Pension den Kursus nicht beendet hätte. Meine Mutter stimmte ihr freudig zu, und ich wurde ein ganzes Jahr lang von Pokrowski mit Sascha zusammen unterrichtet.

Pokrowski war ein armer, sehr armer junger Mensch; seine Gesundheit erlaubte ihm nicht, regelrecht zu studieren, und er wurde bei uns nur so gewohnheitsmäßig Student genannt. Er lebte bescheiden, still und friedlich, so daß er von unserem Zimmer aus kaum je zu hören war. Sein Äußeres war recht sonderbar: er ging so ungeschickt, verbeugte sich so ungeschickt und redete so wunderlich, daß ich ihn am Anfang nicht ansehen konnte ohne zu lachen. Sascha spielte ihm fortwährend Possen, besonders wenn er uns Stunde gab. Er aber war obendrein auch noch reizbar, ärgerte sich unaufhörlich, kam von jeder Kleinigkeit außer sich, schrie uns an, beklagte sich über uns und ging oft, ohne die Stunde zu Ende zu geben, zornig weg nach seinem Zimmer. Dort aber saß er oft tagelang bei den Büchern. Er besaß viele Bücher, und zwar lauter teure, seltene. Er gab noch an einigen anderen Stellen Unterricht und erhielt dafür ein mäßiges Honorar; sowie er aber etwas Geld hatte, ging er sogleich hin und kaufte sich Bücher.

Mit der Zeit lernte ich ihn besser und näher kennen. Er war 42 der gutherzigste, achtungswerteste, beste Mensch von allen, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Meine Mutter schätzte ihn sehr hoch. Später wurde er mein bester Freund, selbstverständlich nach meiner Mutter.

Anfangs nahm ich, obwohl ich schon ein so großes Mädchen war, an Saschas Streichen teil, und wir zerbrachen uns manchmal stundenlang die Köpfe darüber, wie wir ihn reizen und dahin bringen könnten, die Geduld zu verlieren. Er machte einen furchtbar komischen Eindruck, wenn er sich ärgerte, und wir amüsierten uns darüber gewaltig. (Ich schäme mich noch bei der Erinnerung daran.) Einmal hatten wir ihn durch irgendwelche Unart bis zu Tränen gereizt, und ich hörte deutlich, wie er vor sich hin flüsterte: »Diese bösen Kinder!« Ich wurde sofort ganz betroffen; ich schämte mich und empfand Schmerz, und er tat mir leid. Ich erinnere mich, daß ich bis über die Ohren rot wurde und ihn beinah mit Tränen in den Augen bat, sich zu beruhigen und sich nicht durch unsere dummen Streiche beleidigt zu fühlen; aber er klappte das Buch zu, gab die Stunde nicht bis zu Ende und ging auf sein Zimmer. Den ganzen Tag quälte mich die Reue. Der Gedanke, daß wir Kinder ihn durch unsere Grausamkeit zum Weinen gebracht hatten, war mir unerträglich. Also darauf hatten wir es angelegt gehabt, daß er weinen sollte! Also das hatten wir gewollt; also es war uns gelungen, ihn dahin zu bringen, daß er den letzten Rest von Geduld verlor; also wir hatten den armen, unglücklichen Menschen mit Gewalt gezwungen, sich seines traurigen Schicksals von neuem bewußt zu werden! Ich konnte vor Ärger, vor Betrübnis und vor Reue die ganze Nacht nicht schlafen. Man sagt, die Reue erleichtere das Herz – das Gegenteil ist richtig. Ich weiß nicht, wie es zuging, daß sich in meinen Kummer auch ein gewisses Ehrgefühl mischte. Ich wollte, daß er mich nicht für ein Kind halten möchte. Ich war damals schon fünfzehn Jahre alt.

Von diesem Tage an mühte ich meine Denkkraft damit ab, tausend Pläne zu entwerfen, wie ich wohl Pokrowski dazu veranlassen könnte, seine Meinung über mich zu ändern. Aber ich war oft schüchtern und zaghaft; in der Wirklichkeit 43 konnte ich mich zu keinem energischen Schritte entschließen und beschränkte mich lediglich auf Träumereien (und was waren das für wunderliche Träumereien!). Ich hörte nur auf, mit Sascha mutwillige Streiche zu verüben, und er hörte auf, sich über uns zu ärgern. Aber für mein Ehrgefühl war das zu wenig.

Jetzt will ich ein paar Worte über den seltsamsten, merkwürdigsten, bemitleidenswertesten Menschen sagen, der mir jemals im Leben begegnet ist. Ich rede jetzt, gerade an dieser Stelle meiner Aufzeichnungen, von ihm, weil ich ihn bis zu dieser Epoche fast gar nicht beachtet hatte, jetzt aber alles, was Pokrowski betraf, mir auf einmal interessant wurde.

Bei uns im Hause erschien manchmal ein schlecht und unsauber gekleideter, kleiner, grauhaariger, unbeholfener, ungeschickter alter Mann, kurz, ein unglaublich sonderbares Individuum. Beim ersten Blick auf ihn konnte man glauben, daß er sich über irgend etwas schäme, sich seiner selbst schäme. Infolgedessen krümmte er sich ganz zusammen und schnitt eigentümliche Gesichter; seine Manieren und Gebärden waren von der Art, daß man beinah glauben konnte, er habe nicht seinen Verstand. Wenn er zu uns kam, stellte er sich gewöhnlich auf dem Flur vor die Glastür und wagte nicht, in die Wohnung hereinzukommen. Ging dann einer von uns zufällig vorbei (ich oder Sascha oder ein Dienstbote, den er sich geneigt wußte), so begann er sogleich zu gestikulieren, winkte ihn zu sich, machte allerlei Zeichen, und erst wenn man ihm zunickte und ihn rief (das verabredete Zeichen, daß kein Fremder in der Wohnung sei und er, wenn er wolle, hereinkommen könne), erst dann öffnete der Alte die Tür, lächelte erfreut, rieb sich die Hände vor Vergnügen und ging auf den Fußspitzen geradewegs nach Pokrowskis Zimmer. Er war sein Vater.

Später erfuhr ich Genaueres über die Lebensgeschichte dieses armen alten Mannes. Er war einmal irgendwo Beamter gewesen, hatte aber nicht die geringsten Fähigkeiten besessen und daher nur eine ganz niedrige, unbedeutende Stellung innegehabt. Als seine erste Frau, die Mutter des 44 Studenten Pokrowski, gestorben war, hatte er sich beikommen lassen zum zweitenmal zu heiraten, und zwar eine Kleinbürgerin. Die zweite Frau rief im Hause eine vollständige Umwälzung hervor; sie ließ niemanden ruhig leben, sondern führte über alle ein scharfes Regiment. Der Student Pokrowski war damals noch ein Kind von etwa zehn Jahren. Die Stiefmutter haßte ihn. Aber das Schicksal wollte dem kleinen Pokrowski wohl. Der Gutsbesitzer Bykow, der den Beamten Pokrowski kannte und früher einmal sein Wohltäter gewesen war, nahm den Knaben unter seinen Schutz und brachte ihn in eine Elementarschule. Er interessierte sich für ihn deswegen, weil er seine verstorbene Mutter gekannt hatte, die noch als Mädchen von Anna Fjodorowna Wohltaten empfangen hatte und von ihr an den Beamten Pokrowski verheiratet worden war. Herr Bykow, ein Freund und naher Bekannter von Anna Fjodorowna, hatte, von Großmut getrieben, der Braut eine Mitgift von fünftausend Rubeln gegeben. Wo dieses Geld geblieben war, wußte man nicht. So erzählte mir das alles Anna Fjodorowna; der Student Pokrowski selbst sprach niemals gern von seinen Familienverhältnissen. Es hieß, seine Mutter sei sehr schön gewesen, und es kommt mir sonderbar vor, daß sie eine so schlechte Partie gemacht und einen so unbedeutenden Menschen geheiratet hat. Sie starb früh, etwa vier Jahre nach ihrer Verheiratung.

Aus der Elementarschule ging der junge Pokrowski auf das Gymnasium über und dann auf die Universität. Herr Bykow, der sehr oft nach Petersburg kam, blieb auch weiter sein Gönner. Wegen seiner schwachen Gesundheit konnte Pokrowski sein Studium auf der Universität nicht fortsetzen. Herr Bykow machte ihn mit Anna Fjodorowna bekannt, empfahl ihn ihr selbst, und auf diese Weise wurde der junge Pokrowski zu freier Station aufgenommen mit der Verpflichtung, Sascha in allen erforderlichen Gegenständen zu unterrichten.

Der alte Pokrowski aber ergab sich aus Kummer über die harte Behandlung von seiten seiner Frau dem schlimmsten Laster und war fast immer betrunken. Seine Frau schlug 45 ihn, ließ ihn nur in der Küche wohnen und brachte es dahin, daß er sich schließlich an die Schläge und die schlechte Behandlung gewöhnte und sich nicht beklagte. Er war noch gar nicht so alt, war aber infolge seiner üblen Neigungen geistig schwach geworden. Das einzige Anzeichen edler menschlicher Empfindung war seine grenzenlose Liebe zu seinem Sohne. Es hieß, daß der junge Pokrowski seiner verstorbenen Mutter ähnlich sei wie ein Ei dem andern. Ob die Erinnerung an die frühere gute Frau in dem Herzen des heruntergekommenen alten Mannes eine so innige Liebe zu ihm erzeugte? Der Alte mochte überhaupt von nichts anderem mehr sprechen als von seinem Sohne und besuchte ihn regelmäßig zweimal in der Woche. Noch häufiger zu kommen wagte er nicht, weil der junge Pokrowski diese väterlichen Besuche nicht leiden konnte. Von allen seinen Fehlern war unstreitig der größte und schlimmste der Mangel an Achtung vor seinem Vater. Übrigens war auch der Alte manchmal das unerträglichste Wesen, das man sich nur denken kann. Erstens war er furchtbar neugierig; zweitens störte er durch seine ganz unnützen, unverständigen Gespräche und Fragen den Sohn alle Augenblicke beim Studieren, und endlich erschien er mitunter in betrunkenem Zustande. Der Sohn gewöhnte dem Vater die Trunksucht, die Neugier und die stete Schwatzhaftigkeit mit der Zeit einigermaßen ab und brachte es schließlich dahin, daß dieser in allen Stücken auf ihn wie auf ein Orakel hörte und ohne seine Erlaubnis nicht den Mund aufzumachen wagte.

Der arme Alte konnte seinen Petinka gar nicht genug bewundern, sich gar nicht genug über ihn freuen. Wenn er ihn besuchte, machte er fast immer ein schüchternes, ängstliches Gesicht, wahrscheinlich weil er sich nicht sicher war, wie ihn der Sohn aufnehmen werde; gewöhnlich konnte er sich lange nicht entschließen, in dessen Zimmer hineinzugehen, und wenn ich zufällig da war, so fragte er mich manchmal zwanzig Minuten lang aus, wie es seinem Petinka gehe, ob er gesund sei, in welcher Stimmung er sich befinde, ob er sich mit etwas Wichtigem beschäftige, was er 46 eigentlich treibe: ob er etwas schreibe oder irgendwelche Überlegungen anstelle. Und wenn ich ihn dann hinreichend ermutigt und beruhigt hatte, so entschloß sich der alte Mann schließlich dazu, hineinzugehen, öffnete ganz, ganz leise, ganz, ganz behutsam die Tür, schob zuerst nur den Kopf hinein, und wenn er sah, daß der Sohn nicht ärgerlich wurde und ihm zunickte, so trat er sachte ins Zimmer hinein, zog seinen Mantel aus, nahm seinen Hut ab (dieser Hut war stets verbeult und hatte Löcher; auch war die Krempe teilweise losgerissen) und hängte beides an einen Haken; all das tat er ganz leise, unhörbar. Dann setzte er sich irgendwo vorsichtig auf einen Stuhl, verwandte kein Auge von seinem Sohne und verfolgte alle Bewegungen desselben, um seine Stimmung zu erraten. War der Sohn nicht gutgelaunt und bemerkte der Alte das, so stand er sofort wieder auf und erklärte: »Ich bin bloß so hergekommen, lieber Petinka, bloß auf ein Augenblickchen. Siehst du, ich habe einen weiten Weg gemacht, und da kam ich hier vorbei und trat ein, um mich zu erholen.« Und dann nahm er ohne ein weiteres Wort demütig seinen Mantel und seinen Hut, machte wieder ganz leise die Tür auf und ging weg, wobei er sich zu einem Lächeln zwang, um das aufquellende Leid im Herzen niederzuhalten und es seinem Sohne nicht zu zeigen.

Aber andernfalls, wenn der Sohn den Vater gut aufnahm, dann wußte sich der Alte vor Freude gar nicht zu lassen. Sein Gesicht strahlte nur so vor Vergnügen, und diese Empfindung kam auch in all seinen Gesten und Bewegungen zum Ausdruck. Wenn der Sohn zu ihm sprach, erhob sich der Alte immer ein wenig von seinem Stuhl, antwortete leise und untertänig, fast ehrfurchtsvoll, und gab sich immer Mühe, die gewähltesten, das heißt die lächerlichsten Ausdrücke zu gebrauchen. Aber die Gabe des Wortes war ihm nicht verliehen: er war immer verwirrt und verlegen, so daß er nicht wußte, wo er seine Hände und sich selbst lassen sollte, und flüsterte dann noch eine ganze Weile Wiederholungen der Antwort vor sich hin, wie wenn er das Gesagte nachträglich verbessern wollte. Wenn es ihm aber einmal 47 gelungen war, gut zu antworten, dann suchte er unwillkürlich sein Äußeres zu verschönern, zog sich die Weste, die Krawatte und den Frack zurecht und verlieh seinem Gesichte einen besonders würdevollen Ausdruck. Mitunter aber wurde er so mutig und ging in seiner Kühnheit so weit, daß er leise von seinem Stuhl aufstand, an das Bücherregal herantrat, irgendein Buch herausnahm und sogar darin zu lesen anfing, ohne Rücksicht auf den Inhalt. Alles dies tat er mit geheucheltem Gleichmut, als dürfe er immer so mit den Büchern seines Sohnes schalten und walten, und als sei dessen Freundlichkeit gegen ihn nichts Ungewöhnliches. Aber ich hatte einmal Gelegenheit zu sehen, wie der Ärmste erschrak, als Petinka ihn ersuchte, die Bücher nicht zu berühren. Er wurde verlegen, stellte in der Hast das Buch mit dem Kopfe nach unten wieder hinein, wollte dann den Fehler verbessern, drehte es um und stellte es mit dem Schnitt nach außen; er lächelte, errötete und wußte nicht, wie er sein Vergehen wiedergutmachen sollte. Der Sohn entwöhnte durch seine Ratschläge den Alten allmählich von seinen üblen Neigungen, und wenn er ihn dreimal hintereinander in nüchternem Zustande gesehen hatte, so gab er ihm beim nächsten Besuche zum Abschiede einen Viertelrubel, einen halben Rubel oder auch noch mehr. Manchmal kaufte er ihm ein Paar Stiefel, eine Krawatte oder eine Weste. Der Alte war dann in seinem neuen Kleidungsstücke so stolz wie ein Hahn. Manchmal kam er auch zu uns mit heran. Er brachte mir und Sascha Pfefferkuchenhähne und Äpfel mit und redete mit uns fortwährend von seinem Petinka. Er bat uns, aufmerksam zuzuhören und fleißig zu lernen, und sagte, Petinka sei ein guter Sohn, ein musterhafter Sohn und obendrein ein gelehrter Sohn. Dabei blinzelte er uns mitunter mit dem linken Auge in einer so komischen Weise an und schnitt eine so amüsante Grimasse, daß wir uns nicht beherrschen konnten und herzlich über ihn lachten. Mama hatte ihn sehr gern. Aber der Alte haßte Anna Fjodorowna, obwohl er ihr gegenüber keinen Ton sagte und die größte Demut zeigte.

Ich hörte bald wieder auf, mich von Pokrowski unterrichten 48 zu lassen. Er hielt mich wie früher für ein Kind, für ein unartiges Mädchen und stellte mich mit Sascha auf dieselbe Stufe. Das war mir sehr kränkend, da ich mir doch die größte Mühe gegeben hatte, mein früheres Benehmen wiedergutzumachen. Aber er beachtete mich gar nicht. Das kränkte mich immer mehr. Ich sprach fast nie außerhalb des Unterrichts mit Pokrowski; ich bekam es nicht fertig. Ich wurde rot und verlegen und weinte dann vor Ärger in irgendeinem Winkel.

Ich weiß nicht, wie das geendet hätte, wenn nicht ein sonderbares Begebnis zu einer Annäherung zwischen uns geführt hätte. Eines Abends, als meine Mutter bei Anna Fjodorowna saß, ging ich leise in Pokrowskis Zimmer. Ich wußte, daß er nicht zu Hause war, und kann wirklich nicht sagen, wie ich auf den Einfall kam, zu ihm zu gehen. Bis dahin hatte ich noch nie einen Blick in sein Zimmer hineingeworfen, obgleich wir schon länger als ein Jahr nebeneinander gewohnt hatten. Das Herz klopfte mir so stark, daß es mir vorkam, als wolle es mir aus der Brust herausspringen. Ich blickte mit einer besonderen Art von Neugier um mich. Pokrowskis Zimmer war sehr ärmlich möbliert, und es herrschte darin wenig Ordnung. Auf dem Tische und den Stühlen lagen Papiere. Überall Bücher und Papiere! Es überkam mich ein sonderbarer Gedanke, und zugleich bemächtigte sich meiner ein unangenehmes Gefühl des Ärgers. Es schien mir, daß meine Freundschaft, mein liebendes Herz für ihn wenig Wert hätten. Er war gelehrt; ich aber war dumm und wußte nichts und hatte nichts gelesen, kein einziges Buch. Voll Neid blickte ich auf die langen Regale, die beinah unter der Last der Bücher brachen. Ein Gefühl des Ärgers und des Kummers, eine Art Wut befiel mich. Es ergriff mich das Verlangen, alle seine Bücher zu lesen, alle ohne Ausnahme, und zwar so schnell wie möglich, und ich beschloß, dies sofort zur Ausführung zu bringen. Ich weiß nicht, vielleicht dachte ich, wenn ich alles lernte, was er wüßte, würde ich seiner Freundschaft würdiger sein. Schnell trat ich an das erste Regal heran. Ohne zu denken, ohne zu zaudern, zog ich den ersten besten 49 verstaubten alten Band heraus, der mir in die Hände kam, und errötend und erblassend, zitternd vor Aufregung und Furcht, trug ich das gestohlene Buch nach unserem Zimmer, um es in der Nacht beim Scheine der Nachtlampe, wenn meine Mutter schliefe, zu lesen.

Aber wie groß war mein Verdruß, als ich nach der Rückkehr in unser Zimmer eilig das Buch aufschlug und sah, daß es ein altes, halbvermodertes, ganz von Würmern zerfressenes lateinisches Werk war. Ohne Zeit zu verlieren ging ich wieder zurück. Aber eben wollte ich das Buch wieder auf das Regal stellen, da hörte ich auf dem Flur Geräusch und nahe Schritte. Ich beeilte mich aufs äußerste; aber das schändliche Buch war so fest in die Reihe hineingepreßt gewesen, daß, als ich dieses eine herausgezogen hatte, alle übrigen sich von selbst ausgedehnt hatten und nun eine so kompakte Masse bildeten, daß für ihren früheren Genossen kein Raum mehr blieb. Das Buch hineinzuzwängen, dazu fehlte es mir an Kraft. Indessen drängte ich die Bücher so stark, wie ich nur irgend konnte, zur Seite. Da zerbrach auf einmal der verrostete Nagel, an dem das Regal befestigt war, und der anscheinend absichtlich auf diesen Augenblick gewartet hatte, um zu zerbrechen. Das Regal sank mit der einen Seite nach unten. Die Bücher fielen mit Geräusch auf den Fußboden. Die Tür ging auf, und Pokrowski trat ins Zimmer.

Ich muß bemerken, daß er es nicht leiden konnte, wenn jemand in seinem Herrschaftsbereich sich zu tun machte. Und wehe dem, der sich an seinen Büchern vergriffen hätte! Man denke sich meine Angst, als die Bücher, große und kleine, von jedem Formate und von jeder Stärke, von dem Regal fielen, umherflogen, unter den Tisch und unter die Stühle kollerten und im ganzen Zimmer zerstreut lagen. Ich wollte davonlaufen; aber es war schon zu spät. »Nun ist alles aus«, dachte ich, »nun ist alles aus! Ich bin verloren! Ich bin unartig und ungezogen wie ein zehnjähriges Kind; ich bin ein dummes kleines Ding! Ich bin furchtbar albern!« Pokrowski wurde schrecklich böse. »Nun, das fehlte nur noch!« rief er. »Schämen Sie sich denn 50 nicht, solche dummen Streiche zu begehen? Werden Sie denn nie zu Verstand kommen?« Er machte sich selbst eilig daran, die Bücher aufzusammeln. Ich bückte mich, um ihm zu helfen. »Das ist nicht nötig, das ist nicht nötig«, rief er. »Sie hätten besser getan, nicht dahin zu gehen, wohin Sie nicht gerufen waren!« Indes schien ihn mein demütiger Versuch, ihm behilflich zu sein, doch ein wenig zu besänftigen, und sich des Rechtes bedienend, das er noch unlängst als mein Lehrer gehabt hatte, fuhr er in dem früheren erzieherischen Tone etwas leiser fort: »Nun, wann werden Sie denn ein gesetztes Wesen annehmen und überlegen, was Sie tun? Sehen Sie sich doch nur selbst an; Sie sind ja nicht mehr ein Kind, ein kleines Mädchen; Sie sind ja doch schon fünfzehn Jahre!« Bei diesen Worten sah er mich an, wahrscheinlich um festzustellen, ob es auch seine Richtigkeit damit habe, daß ich kein kleines Mädchen mehr sei, und wurde bis über die Ohren rot. Ich begriff den Grund nicht; ich stand vor ihm und blickte ihn voller Erstaunen groß an. Er richtete sich auf, trat in großer Verwirrung auf mich zu, wurde furchtbar verlegen, sagte ein paar Worte, in denen er sich anscheinend entschuldigte, vielleicht deswegen, weil er jetzt eben erst bemerkt habe, daß ich schon ein so großes Mädchen sei. Endlich begriff ich. Ich erinnere mich nicht, was damals in mir vorging; ich wurde verlegen, verlor die Fassung, errötete noch mehr als Pokrowski, bedeckte das Gesicht mit den Händen und lief aus dem Zimmer.

Ich wußte nicht, was ich nun tun und wo ich vor Scham bleiben sollte. Schon allein, daß er mich in seinem Zimmer gefunden hatte! Ganze drei Tage lang konnte ich ihn nicht ansehen. Ich errötete so, daß mir die Tränen in die Augen traten. Die schrecklichsten Gedanken, die lächerlichsten Gedanken gingen mir durch den Kopf. Einer von ihnen, der verrückteste, war folgender: Ich wollte zu ihm gehen, ihm alles erklären und bekennen, ihm offen alles erzählen und ihn überzeugen, daß ich nicht wie ein dummes kleines Mädchen, sondern in guter Absicht gehandelt hätte. Ich stand schon auf dem Sprunge zu ihm zu geben; aber zum Glück reichte mein Mut dazu nicht hin. Ich male mir jetzt 51 aus, was ich damit angerichtet hätte! Auch jetzt macht mich die bloße Erinnerung an alle diese Dinge schamrot.

Einige Tage darauf erkrankte meine Mutter plötzlich gefährlich. Nachdem sie zwei Tage lang das Bett nicht hatte verlassen können, bekam sie in der dritten Nacht heftiges Fieber und fing an zu phantasieren. Ich hatte schon eine Nacht über ihrer Pflege nicht geschlafen, sondern an ihrem Bette gesessen, ihr zu trinken gegeben und ihr zu den vorgeschriebenen Stunden die Arzenei gereicht. Nun in der zweiten Nacht war meine Kraft vollständig erschöpft. Zeitweilig überkam mich der Schlaf; es wurde mir grün vor den Augen; der Kopf wurde mir schwindlig, und ich war jeden Augenblick nahe daran, vor Ermüdung umzufallen; aber das schwache Stöhnen der Mutter weckte mich wieder, ich fuhr zusammen und wurde für einen Augenblick munter; aber dann überwältigte mich die Schläfrigkeit von neuem. Es war ein qualvoller Zustand. Ich weiß nicht, ich kann mich nicht erinnern: aber ein schrecklicher Traum, eine furchtbare Vision suchte in dem peinlichen Augenblicke, wo Schlaf und Wachen miteinander kämpften, meinen übermäßig angestrengten Kopf heim. Erschrocken wachte ich auf. Im Zimmer war es dunkel; das Nachtlicht war im Erlöschen: bald übergossen Lichtstreifen das ganze Zimmer, bald huschten sie flüchtig über die Wand hin, bald verschwanden sie vollständig. Mir wurde aus unklarem Grunde ängstlich zumute; eine Furcht befiel mich; meine Einbildungskraft war durch den schrecklichen Traum erregt; der Gram preßte mir das Herz zusammen. Ich sprang vom Stuhl auf und stieß in einer qualvoll bedrückenden Empfindung unwillkürlich einen Schrei aus. In diesem Augenblicke öffnete sich die Tür, und Pokrowski trat zu uns ins Zimmer.

Ich erinnere mich nur, daß ich in seinen Armen wieder zum Bewußtsein kam. Er setzte mich behutsam auf einen Lehnstuhl, reichte mir ein Glas Wasser und überschüttete mich mit Fragen. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm antwortete. »Sie sind krank, Sie sind selbst sehr krank«, sagte er, indem er mich bei der Hand ergriff; »Sie haben Fieber, Sie richten 52 sich zugrunde, Sie schonen Ihre Gesundheit nicht; ruhen Sie sich aus, legen Sie sich hin, schlafen Sie! Ich werde Sie in zwei Stunden wecken; ruhen Sie sich ein wenig aus! Legen Sie sich hin, legen Sie sich hin!« fuhr er fort, ohne daß er mich auch nur ein Wort der Erwiderung hätte sagen lassen. Die Müdigkeit benahm mir die letzte Kraft; meine Augen schlossen sich vor Schwäche. Ich legte mich in den Lehnstuhl zurück mit dem Vorsatze, nur ein halbe Stunde zu schlafen, und schlief bis zum Morgen. Pokrowski hatte mich erst zu der Zeit geweckt, als meiner Mutter die Arzenei gereicht werden mußte.

Im Laufe des nächsten Tages erholte ich mich ein wenig und schickte mich dann am Abend wieder an, im Lehnstuhl am Bette meiner Mutter zu sitzen, fest entschlossen, diesmal nicht einzuschlafen; da klopfte um elf Uhr Pokrowski an unser Zimmer. Ich öffnete. »Es muß Ihnen langweilig sein, so allein zu sitzen«, sagte er zu mir; »hier ist ein Buch für Sie; nehmen Sie es; dann werden Sie sich doch nicht so langweilen.« Ich nahm es; ich erinnere mich nicht, was es für ein Buch war; ich habe damals kaum hineingesehen, obgleich ich die ganze Nacht nicht schlief. Eine seltsame innere Aufregung ließ mich nicht schlafen; ich konnte nicht ruhig auf einem Fleck bleiben; mehrere Male stand ich von dem Lehnstuhle auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Eine Art von innerer Zufriedenheit durchströmte mein ganzes Wesen. Ich freute mich so über Pokrowskis Aufmerksamkeit. Ich war stolz darauf, daß er sich um mich beunruhigt und für mich gesorgt hatte. Die ganze Nacht verbrachte ich in Gedanken und Träumereien. Pokrowski kam nicht mehr wieder; ich wußte, daß er nicht mehr wiederkommen würde, und suchte zu erraten, was der nächste Abend bringen würde.

Am folgenden Abend, als sich alle im Hause bereits hingelegt hatten, öffnete Pokrowski seine Tür und begann, auf der Schwelle seines Zimmers stehend, ein Gespräch mit mir. Ich erinnere mich jetzt an kein einziges Wort mehr von alledem, was wir damals zueinander sagten; ich erinnere mich nur, daß ich verlegen war, in Verwirrung geriet, mich über mich 53 selbst ärgerte und ungeduldig auf das Ende des Gespräches wartete, obgleich ich es selbst mit aller Kraft meiner Seele ersehnt, den ganzen Tag über davon geträumt und mir Fragen und Antworten zurechtgelegt hatte. An diesem Abende knüpften sich die ersten Bande unserer Freundschaft. Während der ganzen Dauer der Krankheit meiner Mutter brachten wir jede Nacht einige Stunden zusammen zu. Ich überwand allmählich meine Schüchternheit, obgleich ich nach jedem unserer Gespräche immer noch Anlaß fand, mich über mich selbst zu ärgern. Übrigens sah ich mit geheimer Freude und stolzer Befriedigung, daß er um meinetwillen seine abscheulichen Bücher vergaß. Zufällig kam einmal das Gespräch im Scherz darauf, wie sie vom Regal heruntergefallen waren. Es war ein eigentümlicher Augenblick; ich war, glaube ich, gar zu aufrichtig und offenherzig; eine seltsame Glut und Begeisterung riß mich hin, und ich gestand ihm alles: daß ich hatte lernen und etwas wissen wollen, daß ich mich darüber geärgert hatte, für ein kleines Mädchen, für ein Kind gehalten zu werden. Ich wiederhole, daß ich mich in einer eigentümlichen Gemütsstimmung befand; das Herz war mir weich, die Tränen standen mir in den Augen; ich verbarg nichts; ich erzählte alles, alles: von meiner freundschaftlichen Gesinnung gegen ihn, von meinem Wunsche, ihn zu lieben, mit ihm in herzlichem Einvernehmen zu leben, ihn zu erheitern, zu beruhigen. Er sah mich mit einem seltsamen Blicke voll Verwirrung und Erstaunen an und sagte kein Wort zu mir. Ein schrecklicher Schmerz, eine tiefe Traurigkeit ergriffen mich plötzlich. Es schien mir, als verstehe er mich nicht, als mache er sich vielleicht über mich lustig. Ich fing auf einmal an zu weinen wie ein Kind; ich schluchzte und konnte mich gar nicht beherrschen; es war, als ob ich einen Weinkrampf hätte. Er ergriff meine Hände, küßte sie, drückte sie an seine Brust, redete mir freundlich zu und tröstete mich; er war tief ergriffen; ich erinnere mich nicht, was er zu mir sagte; ich weiß nur noch, daß ich weinte und lachte und wieder weinte und errötete und vor Freude kein Wort herausbringen konnte. Indes bemerkte ich trotz meiner Aufregung, daß bei 54 Pokrowski doch eine gewisse Verwirrung und Befangenheit zurückgeblieben war. Er schien sich über meine Begeisterung, über mein Entzücken, über meine so plötzliche, glühende, flammende Freundschaft doch höchlichst zu wundern. Vielleicht war ihm das alles anfangs lediglich interessant gewesen; aber in der Folge schwand seine Unschlüssigkeit, und er nahm meine Anhänglichkeit, meine freundlichen Worte, meine Aufmerksamkeit mit dem gleichen schlichten, aufrichtigen Gefühl auf, erwiderte alles mit der gleichen Aufmerksamkeit und benahm sich so freundlich und liebreich gegen mich wie ein wahrer Freund, wie ein leiblicher Bruder. Mir war so warm, so wohl ums Herz. Ich verbarg und verheimlichte ihm nichts; er sah das alles und schloß sich mit jedem Tage enger an mich an.

Ich erinnere mich wirklich nicht, wovon wir miteinander in diesen qualvollen und zugleich wonnevollen Stunden unseres Zusammenseins in der Nacht bei dem zitternden Scheine des Lämpchens vor dem Heiligenbilde und fast dicht am Bette meiner armen kranken Mutter gesprochen haben. Von allem, was uns in den Sinn kam, was aus dem Herzen hervorbrach, was ausgesprochen zu werden verlangte, – und wir fühlten uns fast glücklich. Ach, es war eine traurige und zugleich frohe Zeit, beides zugleich, und auch jetzt macht mich die Erinnerung daran traurig und froh. Erinnerungen, mögen sie nun freudiger oder trüber Art sein, haben immer etwas Qualvolles; wenigstens ist das bei mir der Fall; aber auch in der Qual liegt eine gewisse Wonne. Und wenn einem das Herz bedrückt, krank und traurig ist, dann erfrischen und beleben die Erinnerungen es wieder, so wie Tautropfen an einem feuchten Abend nach einem heißen Tage eine arme, verschmachtete, von der Glut des Tages welk gewordene Blume erfrischen und beleben.

Meine Mutter war schon in der Genesung begriffen; aber ich saß immer noch nachts an ihrem Bette. Pokrowski gab mir häufig Bücher; ich las sie anfangs nur, um nicht einzuschlafen; dann aber aufmerksamer, dann mit einer wahren Gier; unendlich viel Neues, bisher Ungeahntes, Unbekanntes tat sich auf einmal vor meinem geistigen Blicke auf. Ein Strom 55 neuer Gedanken, neuer Empfindungen drang plötzlich auf mein Herz ein. Und je mehr Aufregung, Unruhe und Mühe mich die Aufnahme der neuen Eindrücke kostete, um so lieber waren sie mir, um so wonniger erschütterten sie meine ganze Seele. Sie drängten sich mit einem Male plötzlich in mein Herz hinein und ließen es nicht mehr zur Ruhe kommen. Das seltsame Chaos, das so entstand, versetzte mein ganzes Wesen in Aufregung. Aber diese geistige Vergewaltigung konnte meinen Geist nicht ganz zerrütten. Dazu war ich zu schwärmerisch; das rettete mich.

Als die Krankheit meiner Mutter ihr Ende erreicht hatte, hörten unsere abendlichen Zusammenkünfte und langen Gespräche auf; nur manchmal gelang es uns, ein paar meist gleichgültige, unbedeutende Worte zu wechseln; aber es machte mir Freude, jedem solchen Worte eine besondere Bedeutung, einen besonderen, versteckten Sinn zu verleihen. Mein Leben war von einem Inhalte erfüllt; ich war glücklich; es war eine ruhige, stille Glücksempfindung. So vergingen mehrere Wochen.

Einmal kam der alte Pokrowski zu uns herein. Er plauderte lange mit uns und zeigte sich ungewöhnlich heiter, munter und gesprächig; er lachte und machte auf seine Art Witze; schließlich löste er uns das Rätsel seines Entzückens und teilte uns mit, gerade in einer Woche sei der Geburtstag seines lieben Petinka, aus diesem Anlaß werde er unter allen Umständen zu seinem Sohne kommen; er werde seine neue Weste anziehen, und seine Frau habe versprochen, ihm ein Paar neue Stiefel zu kaufen. Kurz, der Alte war ganz selig und schwatzte alles mögliche, was ihm in den Sinn kam.

Sein Geburtstag! Dieser Geburtstag ließ mir Tag und Nacht keine Ruhe. Ich nahm mir fest vor, Pokrowski einen Beweis meiner Freundschaft zu geben und ihm etwas zu schenken. Aber was? Schließlich verfiel ich darauf, ihm Bücher zu schenken. Ich wußte, daß er gern eine vollständige Sammlung der Werke Puschkins in der letzten Ausgabe gehabt hätte, und beschloß, ihm einen solchen Puschkin zu schenken. Ich besaß dreißig Rubel eigenes Geld, das ich mir durch Handarbeiten verdient hatte; dieses Geld hatte ich zu 56 einem neuen Kleide beiseitegelegt. Sogleich schickte ich unsere Köchin, die alte Matrjona, hin, um zu fragen, was ein ganzer Puschkin koste. O weh! Der Preis aller elf Bände, mit Einband, betrug mindestens sechzig Rubel. Wo sollte ich das Geld hernehmen? Ich überlegte und überlegte und wußte nicht, wofür ich mich entscheiden sollte. Die Mutter bitten, das wollte ich nicht. Allerdings hätte die Mutter mir sicher geholfen; aber dann hätten alle im Hause von unserem Geschenke erfahren, und überdies wäre das Geschenk dann zu einer Erkenntlichkeit geworden, zu einer Bezahlung für die Mühe, die Pokrowski ein ganzes Jahr lang mit mir gehabt hatte. Ich wollte es ihm für mich allein schenken, ohne Wissen der andern. Für die Mühe aber, die er sich mit mir gegeben hatte, wollte ich ihm lebenslänglich dankbar sein ohne irgendwelche Bezahlung neben meiner Freundschaft. Endlich fand ich einen Weg, um aus dieser Schwierigkeit herauszukommen.

Ich wußte, daß man bei den Antiquaren im Kaufhofe ein Buch, das oft nur wenig gebraucht und fast ganz neu war, manchmal für den halben Preis kaufen konnte, wenn man nur tüchtig handelte. Ich nahm mir vor, jedenfalls nach dem Kaufhofe hinzugehen. Und es traf sich günstig: Gleich am folgenden Tage bedurften sowohl wir als auch Anna Fjodorowna etwas, was eingeholt werden mußte. Meine Mutter war nicht ganz wohl, und Anna Fjodorowna war glücklicherweise gerade zu faul, um selbst zu gehen; so wurde denn ich beauftragt, alles zu besorgen, und machte mich mit Matrjona auf den Weg.

Zum Glück fand ich sehr bald einen Puschkin, und in sehr hübschem Einbande. Ich begann um ihn zu handeln. Zuerst forderte der Händler mehr, als das Werk in der Buchhandlung neu kostete; aber dann brachte ich, allerdings nicht ohne Mühe, durch mehrmaliges Hinausgehen ihn dazu, abzulassen und seine Forderung auf fünfunddreißig Rubel zu ermäßigen. Welches Vergnügen es mir machte, so abzuhandeln! Die arme Matrjona begriff gar nicht, was mit mir vorgegangen war, und warum ich so viele Bücher kaufen wollte. Aber o Schrecken! Mein ganzes Kapital betrug nur 57 dreißig Rubel, und der Antiquar weigerte sich, noch mehr abzulassen. Schließlich legte ich mich aufs Bitten und bat so lange, bis ich ihn endlich erweichte. Er ließ noch etwas ab, aber nur zwei und einen halben Rubel, und schwur, das tue er nur mir zuliebe, weil ich ein so nettes Fräulein sei; einem andern hätte er unter keinen Umständen so viel abgelassen. Es fehlten mir noch zwei und ein halber Rubel! Ich war nahe daran, vor Verdruß in Tränen auszubrechen. Aber ein ganz unerwarteter Umstand half mir in meinem Kummer.

Nicht weit von mir erblickte ich an einem andern Tische mit Büchern den alten Pokrowski. Um ihn drängten sich vier oder fünf Händler und machten ihn vollständig wirr und fassungslos. Jeder von ihnen bot ihm seine Ware an, und was empfahlen sie ihm nicht alles, und was wollte er nicht alles kaufen! Der arme Alte stand ganz verstört mitten unter ihnen da und wußte nicht, was er von den ihm angebotenen Büchern nehmen sollte. Ich trat zu ihm und fragte ihn, was er hier mache. Der Alte freute sich sehr, mich zu sehen; er liebte mich außerordentlich, vielleicht nicht weniger als seinen Petinka. »Ich möchte ein paar Bücher kaufen, Warwara Alexejewna«, antwortete er mir; »ich möchte für Petinka ein paar Bücher kaufen. Es ist doch bald sein Geburtstag, und er hat die Bücher so gern, und da möchte ich ein paar für ihn kaufen.« Der Alte drückte sich immer in einer komischen Weise aus, und jetzt befand er sich obendrein in der schrecklichsten Verlegenheit. Wenn er nach dem Preise eines Buches fragte, hieß es immer: »Vier Rubel« oder »Sieben Rubel« oder »Zehn Rubel«; bei den großen Büchern fragte er schon gar nicht mehr nach dem Preise, sondern sah sie nur begehrlich an, blätterte ein bißchen darin, drehte sie in den Händen herum und stellte sie wieder auf ihren Platz. »Nein, nein, das ist zu teuer«, sagte er halblaut; »aber vielleicht etwas von diesen hier«, und mit diesen Worten fing er an, unter allerlei dünneren Heften (es waren Liederbücher, Kalender und dergleichen) herumzusuchen; diese waren alle sehr billig. »Aber warum wollen Sie denn so etwas kaufen?« fragte ich ihn, »das ist ja doch lauter wertloses Zeug!« – »Ach nein«, antwortete er, »nein; sehen 58 Sie nur, was das hier für hübsche Büchelchen sind; sehr, sehr hübsche Büchelchen!« Die letzten Worte sagte er in so kläglichem, langgezogenem, singendem Tone, daß ich glaubte, er werde im nächsten Augenblick losweinen vor Verdruß über den hohen Preis guter Bücher, und es werde gleich ein Tränchen von seinen bleichen Backen auf seine rote Nase tropfen. Ich fragte ihn, ob er denn viel Geld habe. Der arme Kerl zog sein ganzes Geld heraus, das in ein schmutziges Stück Zeitungspapier gewickelt war, und zeigte es mir: es waren ungefähr drei Rubel. Ich zog ihn sogleich zu meinem Antiquar hin. »Diese ganzen elf Bände hier«, sagte ich, »kosten nur zweiunddreißig und einen halben Rubel; ich besitze dreißig Rubel; legen Sie zwei und einen halben zu, und wir kaufen alle diese Bücher und schenken sie ihm gemeinschaftlich.« Der Alte wurde ganz sinnlos vor Freude, schüttete all sein Geld hin, und der Antiquar lud ihm unsere ganze gemeinsame Bibliothek auf. Mein alter Freund steckte sich alle Taschen voll Bücher, nahm die übrigen teils unter die Achseln teils auf die Arme und trug alles zu sich nach Hause, nachdem er mir sein Wort darauf gegeben hatte, sie alle am nächsten Tage heimlich zu mir zu bringen.

Am folgenden Tage kam der Alte zu seinem Sohne und saß wie gewöhnlich ein Stündchen bei ihm; dann kam er zu uns herein und setzte sich mit einer höchst komischen, geheimnisvollen Miene zu mir. Indem er sich lächelnd die Hände rieb in dem stolzen Bewußtsein, ein Geheimnis zu haben, teilte er mir mit, er habe die Bücher alle, ohne daß es jemand gemerkt hätte, zu uns in die Wohnung gebracht, und sie ständen in der Küche in einer Ecke unter Matrjonas Obhut. Dann ging das Gespräch naturgemäß auf den erwarteten Festtag über, und nun verbreitete sich der Alte ausführlich darüber, wie wir das Geschenk überreichen müßten; aber je tiefer er auf diesen Gegenstand einging, und je mehr er darüber sprach, um so deutlicher wurde es mir, daß er etwas auf dem Herzen hatte, was er nicht imstande war, nicht wagte, ja sogar sich fürchtete offen auszusprechen. Ich wartete und schwieg. Die geheime Freude und 59 Glückseligkeit, die ich bis dahin leicht aus seinen sonderbaren Gebärden, aus seinem Grimassenschneiden und aus dem Zwinkern mit dem linken Auge erkannt hatte, war nun verschwunden. Er wurde mit jedem Augenblicke unruhiger und trüber; endlich konnte er sich nicht mehr halten.

»Hören Sie«, begann er halblaut in schüchternem Tone, »hören Sie, Warwara Alexejewna, . . . wissen Sie was, Warwara Alexejewna? . . .« Der Alte war schrecklich verlegen. »Sehen Sie, wenn nun sein Geburtstag da ist, nehmen Sie dann doch, bitte, zehn Bände und schenken Sie sie ihm selbst, das heißt von sich aus, von Ihrer Seite; und ich werde dann bloß den elften Band nehmen und ihn ihm ebenfalls von mir aus schenken, das heißt speziell von meiner Seite. Auf diese Art, sehen Sie, werden sowohl Sie etwas zu schenken haben, als auch werde ich etwas zu schenken haben; wir werden beide etwas zu schenken haben.« Hier geriet der Alte in Verwirrung und verstummte. Ich sah ihn an; er wartete in ängstlicher Spannung auf meine Entscheidung.

»Aber warum wollen Sie denn nicht, daß wir zusammen schenken, Sachar Petrowitsch?«

»Einen Grund habe ich eigentlich nicht, Warwara Alexejewna, einen Grund habe ich eigentlich nicht; ich meine nur . . . hm . . . « kurz, der Alte war höchst verlegen, wurde rot, verwickelte sich in seinen Redewendungen und konnte nicht vom Flecke kommen.

»Sehen Sie«, begann er endlich seine Erklärung, »ich extravagiere manchmal, Warwara Alexejewna . . . das heißt, ich will Ihnen gestehen, daß ich fast immer extravagiere, daß ich immer extravagiere . . . ich tue, was nicht gut ist . . . das heißt, wissen Sie, manchmal ist draußen eine solche Kälte, oder es kommen einem manchmal auch allerlei Unannehmlichkeiten vor, oder es ist einem traurig ums Herz, oder es passiert irgend etwas Schlechtes, na, da kann ich mich dann manchmal nicht beherrschen und extravagiere und trinke manchmal ein Gläschen zuviel. Petinka kann das gar nicht leiden. Sehen Sie, Warwara Alexejewna, er wird dann böse und schilt mich und macht mir moralische Vorhaltungen. 60 Da möchte ich ihm nun jetzt durch mein Geschenk beweisen, daß ich mich bessere und anfange, mich gut zu führen. Ich möchte ihm zeigen, daß ich gespart habe, um das Buch zu kaufen, lange gespart habe; denn ich habe fast nie Geld, außer wenn mir Petinka gelegentlich etwas gibt. Das weiß er. Also wird er sehen, wie ich mein Geld verwende, und wird erkennen, daß ich das alles nur aus Liebe zu ihm tue.«

Der alte Mann tat mir furchtbar leid. Ich überlegte nicht lange. Er blickte mich voller Unruhe an.

»Hören Sie mal, Sachar Petrowitsch«, sagte ich, »schenken Sie sie ihm doch alle!«

»Wie meinen Sie das? Alle Bände?«

»Nun ja, alle Bände.«

»Und von mir aus?«

»Jawohl, von Ihnen aus.«

»Nur von mir aus? Das heißt als mein eigenes Geschenk?«

»Nun ja, als Ihr eigenes Geschenk.« Ich glaube, ich drückte mich sehr deutlich aus; aber der Alte konnte mich sehr lange nicht verstehen.

»Na ja«, sagte er nach längerem Nachdenken, »ja. Das wird sehr gut sein; das würde recht gut sein; aber wie ist es dann mit Ihnen, Warwara Alexejewna?«

»Nun, ich werde eben nichts schenken.«

»Wie!« rief der Alte, beinah erschrocken; »also Sie werden Petinka nichts schenken? Also Sie wollen ihm nichts schenken?« Der Alte hatte einen ordentlichen Schreck bekommen; ich glaube, er war in diesem Augenblicke nahe daran, meinen Vorschlag nun doch abzulehnen, damit auch ich seinem Sohne etwas schenken könnte. Er hatte ein gutes Herz, dieser alte Mann! Ich setzte ihm auseinander, daß ich mich allerdings freuen würde, etwas zu schenken, ihm aber das Vergnügen nicht nehmen wolle. »Wenn Ihr Sohn zufrieden sein wird«, fügte ich hinzu, »und Sie sich freuen werden, dann werde auch ich mich freuen; denn im geheimen, in meinem Herzen, werde ich die Empfindung haben, als ob ich wirklich mitgeschenkt hätte.« Damit beruhigte sich der Alte vollständig. Er blieb noch zwei Stunden bei uns, konnte 61 aber die ganze Zeit über nicht auf einem Fleck stillsitzen, tollte lärmend mit Sascha umher, küßte mich heimlich, kniff mich in den Arm und schnitt verstohlen hinter Anna Fjodorowna Grimassen. Anna Fjodorowna jagte ihn schließlich aus dem Hause hinaus. Kurz, der Alte war vor Entzücken dermaßen aus Rand und Band, wie er es vielleicht noch nie in seinem Leben gewesen war.

An dem feierlichen Tage erschien er Punkt elf Uhr unmittelbar nach der Messe, im anständig geflickten Frack und wirklich mit einer neuen Weste und mit neuen Stiefeln. Auf jedem Arm hatte er ein Paket Bücher. Wir saßen gerade alle bei Anna Fjodorowna in der guten Stube und tranken Kaffee (es war ein Sonntag). Der Alte fing, glaube ich, damit an, daß Puschkin ein sehr guter Dichter gewesen sei; dann kam er von diesem Gedanken ab und ging plötzlich zu etwas anderem über: man müsse sich gut führen, und wenn der Mensch sich nicht gut führe, so bedeute das, daß er extravagiere; durch schlechte Neigungen werde der Mensch verdorben und zugrunde gerichtet. Er zählte sogar einige Beispiele verhängnisvoller Unenthaltsamkeiten auf und schloß mit der Bemerkung, er habe sich seit einiger Zeit völlig gebessert und führe sich jetzt gut, ja musterhaft. Er habe auch früher schon die Richtigkeit der Ermahnungen seines Sohnes empfunden; das habe er alles schon längst empfunden und sich ins Herz geprägt; aber jetzt habe er angefangen, auch tatsächlich enthaltsam zu leben. Zum Beweise dessen schenke er ihm diese Bücher, die er für das im Laufe langer Zeit zusammengesparte Geld gekauft habe.

Ich konnte mich, als ich den armen Alten so reden hörte, der Tränen und des Lachens nicht enthalten; er verstand also doch auch zu lügen, wo es nötig war! Die Bücher wurden in Pokrowskis Zimmer getragen und auf dem Regal aufgestellt. Pokrowski hatte sofort die Wahrheit erraten. Der Alte wurde zum Mittagessen eingeladen. An diesem Tage waren wir alle überaus vergnügt. Nach Tische spielten wir Pfänderspiele und Karten; Sascha war sehr mutwillig und ausgelassen, und ich blieb nicht hinter ihr zurück. Pokrowski benahm 62 sich gegen mich sehr aufmerksam und suchte immer eine Gelegenheit, mit mir allein zu sprechen; aber ich ließ es nicht dazu kommen. Das war der schönste Tag in diesen ganzen vier Jahren meines Lebens.

Jetzt aber kommen lauter traurige, schmerzliche Erinnerungen; es beginnt die Geschichte meiner trüben Tage. Vielleicht ist das der Grund, weshalb meine Feder sich langsamer zu bewegen beginnt und sich gewissermaßen weigert weiterzuschreiben. Das ist auch vielleicht der Grund, weshalb ich mit solcher Wonne und Liebe mir die geringsten Einzelheiten meines unbedeutenden Lebens und Treibens in meinen glücklichen Tagen ins Gedächtnis zurückgerufen habe. Diese Tage waren so kurz; auf sie folgte Leid, bitteres Leid, und wann dieses aufhören wird, das weiß nur Gott allein.

Mein Unglück begann damit, daß Pokrowski krank wurde und starb.

Er erkrankte zwei Monate nach den letzten Ereignissen, die ich hier geschildert habe. In diesen zwei Monaten war er unermüdlich bemüht, sich Existenzmittel zu beschaffen; denn bisher hatte er noch keine gesicherte Stellung gehabt. Wie alle Schwindsüchtigen hielt auch er bis zum letzten Augenblicke an der Hoffnung fest, daß er noch sehr lange leben werde. Er konnte irgendwo eine Stelle als Lehrer bekommen; aber gegen diesen Beruf hatte er einen Widerwillen. In den Staatsdienst zu treten war ihm wegen seiner Kränklichkeit nicht möglich. Außerdem hätte er gar zu lange warten müssen, bis er das erste feste Gehalt bekommen hätte. Kurz, Pokrowski sah überall nur Mißerfolge, und das verbitterte ihn. Seine Gesundheit war zerrüttet; aber er bemerkte das nicht. Es kam der Herbst. Jeden Tag ging er in seinem leichten Mäntelchen aus, um in seiner Angelegenheit tätig zu sein, das heißt, um durch Bitten und Flehen irgendwo eine Stelle zu erlangen, ein Bemühen, das ihm eine seelische Qual war. Er bekam dabei nasse Füße, wurde vom Regen durchweicht und mußte sich schließlich ins Bett legen, von dem er nicht wieder aufstand. Er starb im Spätherbst, Ende Oktober. 63

Während der ganzen Dauer seiner Krankheit verließ ich sein Zimmer fast gar nicht; ich pflege und wartete ihn. Oft schlief ich die ganze Nacht nicht. Er war nur selten bei Besinnung; häufig phantasierte er; er redete Gott weiß wovon, von seiner Stelle, von seinen Büchern, von mir, von seinem Vater, und da hörte ich vieles von seinen Verhältnissen, was ich vorher nicht gewußt und wovon ich keine Ahnung gehabt hatte. In der ersten Zeit der Krankheit sahen mich die Unsrigen alle mit etwas sonderbaren Blicken an, und Anna Fjodorowna schüttelte den Kopf. Aber ich sah allen frei in die Augen und sie tadelten mich nicht mehr wegen meiner Teilnahme für Pokrowski; wenigstens tat es meine Mutter nicht.

Manchmal erkannte mich Pokrowski; aber das war doch nur selten. Er war fast die ganze Zeit über ohne Bewußtsein. Zuweilen sprach er die ganzen Nächte über zu jemand, lange, lange Zeit, mit undeutlichen, unverständlichen Worten, und seine heisere Stimme klang in seinem engen Zimmer so dumpf wie in einem Sarge; dann bekam ich Angst. Besonders in der letzten Nacht war er wie ein Rasender. Er litt und quälte sich entsetzlich; sein Stöhnen zerriß mir das Herz. Alle im Hause waren erschrocken. Anna Fjodorowna betete fortwährend, Gott möge ihn doch recht bald zu sich nehmen. Der Arzt wurde gerufen. Er sagte, der Kranke werde am Vormittag sicher sterben.

Der alte Pokrowski verbrachte die ganze Nacht auf dem Flur, dicht bei der Tür zum Zimmer seines Sohnes; dort hatte man ihm eine Matte hingebreitet. Er kam alle Augenblicke ins Zimmer herein; er bot einen schrecklichen Anblick. Er war vom Kummer so niedergebeugt, daß es den Eindruck machte, als sei er ganz ohne Empfindung und ohne Gedanken. Sein Kopf wackelte vor Angst hin und her. Er selbst zitterte am ganzen Leibe und flüsterte immer etwas vor sich hin und redete mit sich selbst. Ich glaubte, er werde vor Gram den Verstand verlieren.

Vor Tagesanbruch war der Alte, von dem Seelenschmerze ermüdet, auf seiner Matte in einen todesähnlichen Schlaf gesunken. Zwischen sieben und acht Uhr begann der Sohn 64 zu sterben; ich weckte den Vater. Pokrowski war bei vollem Bewußtsein und nahm von uns allen Abschied. Wunderbar: ich konnte nicht weinen; aber das Herz wollte mir in Stücke brechen.

Aber die größte Qual und Pein für mich waren seine letzten Augenblicke. Er bat mit seiner schon ungelenken Zunge lange, lange Zeit um etwas, und ich konnte mich aus seinen Worten nicht vernehmen. Mein Herz zog sich vor Schmerz zusammen. Eine ganze Stunde lang war er unruhig, härmte sich um irgend etwas, bemühte sich, mit seinen erkaltenden Händen ein Zeichen zu machen, und begann dann wieder mit dumpfer, heiserer Stimme kläglich zu bitten; aber seine Worte waren nur unzusammenhängende Laute, und ich konnte sie wieder nicht verstehen. Ich führte die Unsrigen einen nach dem andern zu ihm, reichte ihm zu trinken; aber er schüttelte immer traurig den Kopf. Endlich verstand ich, was er wollte. Er bat, daß das Rouleau in die Höhe gezogen und die Fensterläden geöffnet werden möchten. Er wollte gewiß zum letzten Male den Tag, Gottes Licht, die Sonne sehen. Ich zog das Rouleau auf; aber der anbrechende Tag war trüb und traurig wie das erlöschende Leben des armen Sterbenden. Die Sonne schien nicht; Wolken hielten den Himmel mit einer Nebeldecke verhüllt; es war ein feuchtes, mürrisches, trübseliges Wetter. Ein feiner Regen schlug gegen die Scheiben und floß in Streifen kalten, schmutzigen Wassers an ihnen herab; alles war trüb und dunkel. Nur matt drang das blasse Tageslicht ins Zimmer und überwand kaum das zitternde Licht des Lämpchens, das vor dem Heiligenbilde brannte. Der Sterbende sah mich tieftraurig an und schüttelte den Kopf. Eine Minute darauf starb er.

Für die Beerdigung sorgte Anna Fjodorowna selbst. Es wurde ein ganz einfacher Sarg gekauft und ein Arbeitswagen gemietet. Zur Deckung der Unkosten belegte Anna Fjodorowna alle Bücher und sonstigen Sachen des Verstorbenen mit Beschlag. Der Alte stritt mit ihr, machte Lärm, nahm ihr die Bücher, so viele er nur konnte, weg, stopfte sich mit ihnen alle seine Taschen voll, legte sie in seinen Hut, und 65 wohin er sonst noch konnte, schleppte sich mit ihnen die ganzen drei Tage lang herum und trennte sich selbst da nicht von ihnen, als wir in die Kirche gehen mußten. Alle diese Tage über war er wie besinnungslos, wie betäubt und machte sich mit einer seltsamen Geschäftigkeit immer um den Sarg zu schaffen; bald schob er das Stirnband der Leiche zurecht, bald zündete er die Kerzen an oder nahm sie weg. Man sah, daß seine Gedanken bei nichts ordentlich haften bleiben konnten. Weder meine Mutter noch Anna Fjodorowna waren in der Kirche beim Totenamte anwesend. Meine Mutter war krank; Anna Fjodorowna aber hatte sich schon vollständig zurechtgemacht, zankte sich dann jedoch mit dem alten Pokrowski so heftig, daß sie zu Hause blieb. So waren denn nur ich und der alte Mann dabei. Während der kirchlichen Feier überkam mich eine schreckliche Angst, wie eine Ahnung dessen, was mir die Zukunft bringen sollte. Ich konnte mich in der Kirche kaum auf den Beinen halten. Endlich wurde der Sarg geschlossen, zugenagelt, auf den Arbeitswagen gestellt und fortgefahren. Ich begleitete ihn nur bis zur nächsten Straßenecke. Der Kutscher fuhr im Trabe. Der Alte lief hinter dem Wagen her und weinte laut; infolge des Laufens klang sein Weinen zitternd und wurde oft unterbrochen. Der Arme verlor seinen Hut, blieb aber nicht stehen, um ihn aufzuheben. Sein Kopf wurde naß vom Regen; ein häßlicher Wind erhob sich; sein kalter Hauch schnitt einem ins Gesicht. Der Alte schien das Unwetter gar nicht zu spüren und lief weinend immer von einer Seite des Wagens zur anderen herüber. Die Schöße seines alten Rockes flatterten im Winde wie Flügel. Aus allen Taschen sahen Bücher heraus; in den Händen hatte er ein sehr großes Buch, das er fest umklammert hielt. Die Vorübergehenden nahmen die Mützen ab und bekreuzten sich. Manche blieben stehen und blickten erstaunt nach dem armen Alten hin. Alle Augenblicke fielen ihm Bücher aus den Taschen in den Schmutz. Die Leute hielten ihn an und machten ihn auf den Verlust aufmerksam; dann hob er sie auf und lief wieder weiter, um den Sarg einzuholen. An der Ecke der Straße schloß sich ihm eine alte Bettlerin an, 66 um ebenfalls den Sarg zu begleiten. Endlich bog der Wagen um eine Ecke und entschwand meinen Augen. Ich ging nach Hause und warf mich in furchtbarem Gram an die Brust meiner Mutter. Ich preßte sie fest in meine Arme, küßte sie, brach in einen Strom von Tränen aus und schmiegte mich angstvoll an sie, als ob ich das letzte Wesen, das mich liebte, in meinen Armen festhalten und dem Tode nicht hingeben wollte . . . Aber der Tod schwebte schon über meiner armen Mutter . . .

 


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