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Erstes Kapitel

Darein wird sich verschneiden,
Wer Gutes verachten will;
Wer Arme bringt in Leiden
und schreitet über das Ziel.

Dem Freunde der Menschheit, der den Gang ihrer Bildung mit aufmerksamen Blicke verfolgt, kann es nicht verborgen bleiben, daß einzelne Epochen ihrer Geschichte sich durch eine Macht auszeichnen, welche die Gesammtmasse fortreißt, und welche man unter dem Namen des Geistes der Zeit anzuerkennen übereingekommen ist. Mag diese Gewalt sich nach einem Ziele des Irrthums, mag sie nach dem Heiligthum der Wahrheit sich bewegen: sie bleibt sich gleich stark; sie unterjocht die Gefühle der Menge, während sie der Besonnenheit, dem Verstande oder auch der Sophisterei, den Ränken und dem offenen Widerstande der Einzelnen trotzt, keine Neutralität duldet, mit den Wogen ihres Stromes Alles umschließt, untergräbt, hinreißt oder vernichtet. Wie diese Macht sich in der Zeit erzeugt, so wird, wenn nicht der unsterbliche Odem der Wahrheit, der das Gesamtleben der Menschheit ihrer Vollkommenheit zuführt, ihr innen wohnt, auch die Zeit wiederum ihr Grab. Das einzelne Gute, was der Irrthum, ohne es zu erkennen, mit sich gebracht, sprießt aus diesem Grabe zu einer Blüthe auf, deren Früchte spätere Jahrhunderte genießen. Erhob sich nicht neben den rohen Kämpfen der Ritterzeit der erste Ton der deutschen Dichtkunst, der erfreulich, belebend und forschend bis auf unsre Zeit fortklingt? Brachten die Kreuzfahrer, die unter Peter dem Einsiedler, unter Gottfried von Bouillon und deren Nachfolgern nach dem heiligen Grabe zogen, nicht so manches Gut, so manche Erfindung, so manche Sitte aus dem Morgenlande mit zurück, welche die Prüfung der Zeit ausgehalten und in zahllosen, verbessernden Umwandlungen auf uns gekommen sind? Die Spuren jener düstern Geiselfahrt, die in den verschiedenen Ländern unsers Welttheils sich über ein Jahrhundert erhielten, sind nicht mehr so deutlich erkennbar: doch dürfen wir wohl annehmen, daß theilweise die Geistlichkeit, zusammenbebend bei diesem Schrei der Völker, denen sie durch ihre unverholene Verderbtheit den Gedanken nothwendiger Selbsthülfe aufgedrängt, in einer Umgestaltung ihres sittlichen Lebens das Mittel gefunden habe, Vertrauen und Ansehn bei der Menge wiederzugewinnen. Auch mußte der Raubadel, der bisher kein Recht, als das des Schwerdtes und der Gewalt geehrt, vor dieser Macht des Volkes, die sich selbstständig entwickelte, stutzig, die Fürsten und Obrigkeiten zum Nachdenken über diese Erscheinung bewogen werden, und endlich zu der Einsicht gelangen, den Zwang der Leibeigenschaft, so viel es in den beschränkten Ansichten jener Zeit lag, zu erleichtern, den vielen müßigen Händen eine Thätigkeit zu sichern, die durch den Eger'schen und Frankfurter Landfrieden am Schlusse dieses Jahrhunderts, wodurch der Pflug, ebensogut wie Kirchen, Klöster und Kirchhöfe, geheiligt wurde, ein festes, der Raubsucht und Willkühr entgegenstehendes Recht erhielt.

Die orientalische Pest war ein Gast, der in jenen Zeiten, wo man der Vorsichtsmaßregeln so wenige und unpassende anwandte, sich alle zehn bis zwölf Jahre in Deutschland einstellte. Doch konnte sich Niemand erinnern, daß eine Seuche je so arg gewüthet habe, als diejenige, welche die Erscheinung der Geißler in Deutschland, einer Secte, welche sich schon im dreizehnten Jahrhunderte in Italien gebildet, herbeiführte. Das alte Mährchen von den Brunnenvergiftungen durch die Juden, das bereits bei ähnlichen Gelegenheiten der Wahn und die Raubsucht zu Markte gebracht, wurde wieder aufgefrischt, und niemals waren die Wirkungen dieser Beschuldigungen so schrecklich, als jetzt, wo die Macht der Seuche, wo alle Bewegungen und Zustände der Zeit lähmend und verwirrend in jedes Verhältniß griffen, das Gesetz unthätig, das Herkommen ungültig machten. Ein älterer Geschichtschreiber Sigmund von Birken im Spiegel der Ehren des Erzhauses Oesterreich. Nürnberg 1668. schildert jene Periode mit folgenden Worten: »Sonsten war diese Zeit ein trübseliger Zustand in der ganzen Christenheit wegen einer unerhört grausamen Pestilenz, welche, nachdem sie vorhero sich lange in Asia umhergetrieben, endlich auch in Europa kame und im nächstvorhergehenden Jahre (1348) einer dreijährigen Verwüstung den Anfang machte. Es wird geglaubt, daß damals kein Ort in der Welt gewesen, der von dieser Todessense verschont geblieben, welche sechs Jahre den ganzen Erdboden heimgesucht. – Papst Clemens hatte auf das 1350ste Jahr ein Jubeljahr ausgeschrieben, da denn eine Welt Volks nach Rom wallfahrtete, aber wegen des grausamen Sterbens unter tausend kaum zehn Menschen wieder nach Hause kamen. Man hat davor gehalten, von Zeit der Sündfluth habe der Tod niemals länger und reger auf Erden gewürgt. Es starb das dritte oder, wie andre wollen, das halbe Theil der Menschen. Es waren drei Plagen beisammen, ›von denen die schlimmsten‹ die giftige Pest und das wilde Feuer, so die Leiber der Lebendigen und der Todten bis auf's Gebein verzehrte. – Es waren endlich die meisten Dörfer öde geworden, und lief das arme Vieh frei im Felde herum, weil niemand war, der sich dessen annahm. Die Ursache dieses Sterb's ward den Juden beigemessen, welche aus der Zwietracht zwischen Papst und Kaiser des Christenthums annahenden Untergang geschlossen und sich dannenhero wider die Christen verbunden, sie heimlich mit Gift hinzurichten. Es wurden etliche in Helvetien um andrer Ursachen willen eingefangen, die unter Martern bekenneten, wie daß sie hätten Gift in die Brunnen geworfen. Es ward nachgeschauet, und als man das Gift gefunden, die That an andre Städte berichtet. Dannenhero wurden überall die Schöpfbrunnen beschlossen, die Eimer abgenommen und das Wasser aus den Cisternen, Weihern und Flüssen geholt. – Inzwischen erging eine grausame Verfolgung über die Juden und erhoben sich zu Straßburg, Basel auch in andern Städten große Aufrühre wider die Obrigkeit, die den Juden Schutz hielt. Zu Straßburg wurden ihrer achtzehnhundert, desgleichen zu Zürich eine große Unzahl auf ihrem Kirchhofe verbrannt. Zu Mainz wurden sie dermaßen geröstet, daß in St. Quintin's Kirchthurm eine herrliche Glocke und das Blei an Fenstern geschmolzen. Zu Basel führte man sie in eine Insel des Rheines, versperrte sie in ein hölzern Haus zusammen und steckte ihnen solches über den Köpfen an. Anderswo hat man sie in eben die Giftlücke, die man in den Brunnen gefunden, hineingesteckt und also in's Wasser geworfen, ertränkt, erstochen, von Häusern gestürzt und sonst auf ersinnliche Weise niedergemacht und hingerichtet.«

Diese unsinnige Anklage gegen die Juden hatte in der alten Reichsstadt, welche die Scene unsrer Darstellung ist, bis jetzt keinen Eingang finden können. Man haßte sie und höhnte ihrer, man suchte in Erniedrigungen aller Art einen Ersatz für die oft gebieterische Nothwendigkeit, bei den kaiserlichen Kammerknechten um ein Darlehn anzusprechen, zu finden, während diese sich für jene herabwürdigende Begegnung durch wucherische Zinsen entschädigten; allein man mochte sich doch nicht gegen die Stimme der Vernunft, die jene Beschuldigung eben so lächerlich, wie verbrecherisch nannte, betäuben. Die Ankunft der Geißler, die Verwirrung, welche sie in alle geselligen Verhältnisse brachten, die Spannung der Gemüther, die das fanatische Treiben ergriff, die Sünden der Unmäßigkeit, denen sich das aufgeregte Volk hingab, räumten in furchtbarer Geschwindigkeit der Seuche wiederum eine Gewalt ein, die in wenigen Tagen eine bedeutende Anzahl von Opfern hinwegraffte. In allen Straßen ließ sich durch die Ruhe der Nacht das dumpfe Rollen der Leichenkarren vernehmen, der schauerliche Ruf der Todtenknechte: »Leichen heraus!«, das Stöhnen der Sterbenden, die plötzlich unter freiem Himmel von der Krankheit ergriffen wurden, denen Niemand zu nahen wagte, und die oft in wenigen Minuten unter den Qualen des wilden Feuers ihren Geist aufgaben. Durch zahlreichere Umgänge suchten die Geiselfahrer den Zorn des Himmels zu versöhnen, ihre Büßungen wurden schrecklicher und beharrlicher, ihre Gesänge klagender, ihre Belehrungen zahlreicher. Was bisher verwerflich und thöricht erschienen, dünkte dem Pöbel jetzt glaublich; und die Einflüsterungen der Geißler gegen die Juden gewannen unter diesen Umständen einen Einfluß, der nun auch hier, ebenso wie an andern Orten, die Beschuldigten mit Unheil und Verderben bedrohete.

In diesem Sturme gelang es nur Wenigen, sich besonnen, muthig und stark zu erhalten. Es waren entweder jene seltnere Gemüther, die in Erfahrung, Kenntniß und Glauben gereift, die Regungen der Leidenschaften zu bezwingen wissen, oder jene gewöhnlicheren, die von der Natur mit einem unverwüstlichen Frohsinne begabt, jeder Besorgniß unzugänglich sind, nur dem Augenblicke leben und selbst auf verödeter Flur immer noch ein verstecktes Blümchen finden, an dem sie sich ergötzen. Zu den ersten dürfen wir unsern jungen Freund Salentin rechnen, der, seinem Berufe getreu, von Krankenbett zu Krankenbett eilte und hier mit dem Tode um eine Beute kämpfte, welche diesem die menschliche Kunst nur selten zu entreißen vermochte. In seinem elterlichen Hause war seit jenem verhängnisvollen Abende, an dem das düstre Lied der Geißler zum erstenmale innerhalb der Ringmauern Frankfurts ertönte, Trauer und Leiden heimisch geworden. Der starke Sinn des Vaters schien durch die unerwartete Begegnung mit der einst geliebten Richardis von Falkenstein, die so gewaltthätig in sein friedliches Leben trat, gebrochen. Er hielt sich fortwährend in das innerste seiner Gemächer zurückgezogen; nur dem alten Leibdiener Hartmuth wurde hier der Eingang gestattet. Von diesem erfuhr Salentin, daß Herr Hanns in seiner Schwermuth nur durch des Dieners dringende Bitten sich bewegen lasse, einige Nahrungsmittel zu genießen, daß er noch immer Niemand anders sehen wolle und oft, wie von einem mächtig aufkeimenden Gedanken hingerissen, laut ausrufe: »wie Noth thäte es mir jetzt um einen Freund, wie Meinrad gewesen!« Nach Frau Gisela fragte er oft im Laufe des Tages und mit einer Äußerung von Zufriedenheit vernahm er, daß die Geißlerinnen sein Haus verlassen hätten. Als bedrohe die Anwesenheit dieser Leute ihn, die Seinigen und die Vaterstadt mit einem großen Unglücke: so lag es schwer und ahnungsvoll auf seiner Seele. Wenn Hartmuth von ihnen sprechen wollte, gebot er mit einem finstern Blicke dem Diener Stille. »Du berichtest mir nicht eher von diesen Unglücklichen,« fügte er hinzu. »als bis du mir ihren Abzug anzeigen kannst.« Frau Gisela lebte ein trauriges Daseyn. Sie schwankte zwischen dem unseligen Wahne, der sie, zur Abbüßung vermeinter Sünden, in die düstere Bahn der Geißler drängen wollte, und der Mahnung ihrer Pflichten, als Gattin und Mutter, die sie zurückhielt. Sie weinte Tag und Nacht. Nicht die Sorgfalt und die liebevollen Vorstellungen Salentin's, nicht Reginen's treue Pflege und kindliche Bitten, nicht Imagina's ängstliche Thränen vermochten den Frieden in ihrer Seele herzustellen. Das harte Wort der Geißlerin, Gott habe ihr das Licht der Augen zur Strafe ihrer Sünden geraubt, war zu tief und schmerzlich in ihr Herz gedrungen. Wenn nun die alte theure Gewohnheit, die Macht der alten Liebe sie von jenen düstern Bußgedanken auf Augenblicke abzog, so blieb doch der peinigende Spruch Joffrieden's in ihr lebendig und sie betete verzweiflungsvoll zum Himmel, er möge sie mit einem Zeichen begnadigen, das ihre Zweifel entscheide, das sie belehre, ob der Herr ihr zürne, oder ob er in seiner Liebe ihr die Prüfung der Blindheit gesandt habe? In diesem Zustande wollte sich keine Veränderung ergeben und, wie jetzt die Verhältnisse walteten, war auch keine zu hoffen. Regina genügte mit Eifer und völliger Hingebung allen Forderungen, welche die schwere Zeit an sie stellte. Ihre jugendliche Kraft bedurfte nur weniger Zeit, um sich von dem Schreck, in den die stürmische Gewaltthat Galeazzo's sie versetzte, zu erholen. Von Salentin erfuhr sie, daß sie dem wunderbaren Mönche von der Ingelheimer Au ihre Rettung verdanke. Sie fühlte sich von einer Neigung zu diesem seltsamen Unbekannten ergriffen, die tiefer in ihre Seele drang, als die bloße Empfindung einer gerechten Dankbarkeit. Dunkel lag es im Grunde ihres Herzens, als müsse Alles, was sie von diesem außerordentlichen Manne erfahren und erlebt, mit einemmale, wie ein lang verhülltes Räthsel, in eine erfreuliche, beglückende Lösung übergehn. Hatte er doch dem still geliebten Freunde ihres Herzens einst die hoffnungsreichsten Verheißungen gegeben, hatte er doch ihr selbst mit süßer Stimme, süße Worte zugeflüstert, die, wie seine Stimme, ihr wohlthaten und sie mit neuem Vertrauen erfüllten! Imagina theilte treulich, so viel es die Einsichten und Kräfte des kindischen Mädchens erlaubten, Reginen's Sorgen und Bemühungen. Ihr natürlicher heitrer Muth drängte sich oft erfreulich und tröstend unter der Last dieser ängstlichen Verhältnisse hervor. »Du wirst sehen,« sagte sie dann zu der schwesterlichen Freundin, »daß noch Alles gut geht. Salentin hat es zu sehr um mich verdient, daß ihn die Mutter Gottes unter ihren besondern Schutz nimmt, und es kehrt auch in sein Leben die Freude wieder zurück und zu seinen Eltern das Glück und – wer weiß – ob nicht zu der guten sanften Frau Gisela auch mit dem Lichte des Geistes, das der Augen. Der Wunder, welche die heilige Mutter Gottes übt, sind unzählige und für sie ist es eine Kleinigkeit, mit dem Hauche ihres Himmelsodems die blinden Augen der edlen Frau heilend zu berühren. Dann sieht sie den Sohn, herangewachsen zum stattlichen Manne, dann sieht sie dich mit dem Lilien- und Rosenangesichte, mit deiner Schönheit, die den Sohn erfreuet, wieder und von selbst kommt ihr der Gedanke, daß Ihr ein Paar seyd, das ganz für einander paßt.« Regina verschloß der freundlichen Schwätzerin den Mund mit der Hand, aber ihre Rede war doch, wie ein wärmender, belebender Sonnenstrahl, in ihr Herz gedrungen. Sie bedurfte solcher wohlthätigen Ermunterungen. Neben der Pflege der bedauernswürdigen Hausfrau, lag auch alle Sorge für das Hauswesen auf ihr. Das neugeworbene Gesinde zeigte weniger guten Willen; man mußte zufrieden seyn, in dieser Bedrängniß eine Unterstützung zu den gröbsten Arbeiten zu haben und übersah selbst einige bedeutende Veruntreuungen, welche sich Knecht, wie Magd zu Schulden kommen lassen. Seit einigen Tagen aber bemerkte besonders Imagina eine vortheilhafte Veränderung in dem Benehmen der beiden Lohndiener. Sie zeigten ihr eine Gefälligkeit, eine Dienstbeflissenheit und Freundlichkeit, die das unerfahrene Mädchen, ohne die listigen lauernden Blicke, womit der Knecht ihre Schritte hütete, zu bemerken, einer erwachenden Reue, einem endlich sich geltend machenden Pflichtgefühle zuschrieb.

Indessen war Salentin am Sterbebette der Pestkranken oft mit einem Mönche aus dem Orden der grauen Büßenden zusammengetroffen, dessen Gestalt, dessen Auge ihn an seinen Freund von der Ingelheimer Au erinnerte. Viele Priester scheueten sich, die Wohnungen der von der Seuche Befallenen zu betreten; allein dieser Mönch, nicht einmal mit den Versicherungsmitteln gerüstet, kam ungerufen an's Lager der Kranken, hörte ihre Beichte, versah sie mit den heiligen Sakramenten. So lange Salentin sich im Krankengemache befand, sprach er nicht; verlangte aber der Sterbende nach ihm, so wieß er den Arzt mit einem Winke seiner Hand hinaus, dem dieser, um nicht die Beichte, die Absolution des Todkranken zu verschieben oder gar unmöglich zu machen, nicht zu widerstehen wagte. Als er ihm zuerst bei einer dieser traurigen Veranlassungen begegnete, hatte er den Mönch, als einen Bekannten, angeredet. Der Mönch machte eine verneinende Bewegung, schien für Alles, was Salentin sprach, keine Aufmerksamkeit zu haben, bis dieser einmal den Namen seiner Pflegeschwester nannte, bei dem der Brust des Büßenden, indem er sich abwandte, ein tiefer Seufzer entstieg. Dennoch mußte Salentin, bei dem fortgesetzten fremdartigen Benehmen des Mönchs, an seiner frühern Vermuthung irre werden. Gab es doch der büßenden Mönche, welche nach der strengen Regel ihres Ordens, das Gesicht verborgen trugen und ein freiwilliges Gelübde des Schweigens in weltlichen Dingen beobachteten, viele in der großen Stadt; konnte er doch nicht einmal mit voller Überzeugung annehmen, daß es immer ein und derselbe büßende Klosterbruder sey, den der Muth des Glaubens, die Kraft einer gottgefälligen Pflichterfüllung in die Wohnungen der Verpesteten führte! Ein Wort aus dem Munde des Mannes hätte Alles entschieden, aber Gestalt und Auge konnten täuschen, eine innere Stimme, die für jene Vermuthung sprach, konnte irreleiten.

Aber einen andern Freund, dessen er unter den verwirrenden Begebenheiten dieser Tage ganz vergessen, fand er auch an den Sterbelagern der Pestkranken wieder. Es war Pater Clarus Trockenbrod, der weder in Antlitz noch Gestalt abgenommen hatte, den die tief eingewohnte Heiterkeit selbst unter Sterbenden und Todten nicht verlassen zu wollen schien.

» Salve, Salentine!« rief er dem jungen Manne zu, als er ihm zum erstenmale unter der Thüre eines Hauses, in das die Seuche ihre Verheerungen getragen, begegnete. »Es ist wunderlich, daß die garstige Pest das Band seyn muß, welches uns schon einmal zu einem gemeinsamen Werke verknüpfte und jetzt wieder zusammenführt. Aber jeder schafft hier auf seinem Wege, du, so viel du vermagst, für die Erde, ich ebenso für den Himmel. Wir müssen die Zeit nehmen, wie Gott und seine Heiligen sie geben. Nur den Muth frisch erhalten, Salentin, und auf die bittre Stunde voll Elend und Sterbjammer eine süße voll lustiger Dinge und fröhlichen Lebensgenusses gesetzt! Das Gute hilft das Böse ertragen und auf Leid reimt sich und schmeckt Freud' am besten. Sanct Franciscus steht mir zur Seite, daß mir die Pest nichts anhaben kann und wenn Eure Pröpste und Domherrn dasselbe Vertrauen auf ihren Patron hätten, wie ich auf den meinigen, so würden sie ihre Beichtkinder nicht treulos verlassen, sich nicht in ihre geheimsten Zimmer verkriechen und den Pestteufel mit Räucherungen und Beschwörungen abhalten wollen. Ich denke, Gott hat einem armen Terminläufer das Ziel seiner mühevollen Wanderschaft nach seiner Weisheit bestimmt, und bis dahin beharre ich in seinem Dienste und lasse mir meine Freud' an Speis und Trank durch keine Furcht und keine Sterbgedanken verkümmern.«

Wenn Pater Clarus auch nicht geeignet war, durch die Würde seiner Person einen erhebenden Eindruck auf die Kranken und Sterbenden zu machen, jene Begeistrung aus der Tiefe der Seele zu beschwören, die den Sterbenden den offenen Himmel erblicken läßt; so erleichterte er doch durch seine Gemüthlichkeit, durch das herzliche seiner Zusprache Manchem, den noch viele liebe Bande an das Leben fesselten, die schmerzliche Stunde des Scheidens. Er zeigte eine unermüdliche Beharrlichkeit in diesem Liebeswerke und wenn die ernste Stunde vorüber war, so konnte er, ohne durch eine widrige Mahnung gestört zu werden, sich wieder ganz dem Geiste der Schalkheit und der Lebenslust, der ihm innen wohnte, überlassen.

Wir müssen, nachdem uns die Verhältnisse unsrer Geschichte genöthigt, einen Blick auf diese Scenen des öffentlichen und häuslichen Lebens zu werfen, den Leser bitten, uns in das Studierzimmer des jüdischen Arztes und Rabbiners Manasse Ben Aher zu begleiten. Wir betreten das Gemach im Zwielichte der einbrechenden Abenddämmerung; allein sowohl dieses, wie der Schein einer oft aufflammenden Kohlengluth im Kamin, auf der in einem kupfernen Gefäße eine grünliche, seltsam gährende Mischung kocht, gestatten uns die wunderlichen Gegenstände, welche hier theils zur Zierde, theils zum Gebrauch aufbewahrt sind, zu erkennen. Von der Decke schwebt bis ungefähr zur halben Höhe des Zimmers ein ausgestopftes Crocodill herab, dessen Haut Manasse von einem aus Jerusalem über Egypten heimkehrenden Pilger um mäßigen Preis erhandelt. Die eiserne Kette, die es hält, wäre stark genug, einen Elephanten zu tragen, aber dennoch versäumt der Rabbi nie, ein hebräisches Schutzsprüchlein vor sich hinzumurmeln, wenn ihn sein Weg unter dem Crocodill hinführt, und sein Auge hütet sorglich den Punkt, wo die Kette eingefügt ist, damit er, wenn etwa das Thier herabzustürzen drohe, sich durch einen raschen Sprung zur Seite retten könne. Einen mannichfaltigen Anblick bieten die Gläser von verschiedener Größe, die wir auf den langen, schmalen, an den Wänden hinlaufenden Tischen bemerken. Hier zeigen sich, in Spiritus gegen die Zerstörung der Zeit bewahrt, mehrere kleine Eidechsen, Seespinnen, Schlangen und andre wunderliche Thiergestalten, vor denen der Pöbelwahn jener Zeit sich entsetzte, indem er ihnen zugleich zauberische Kräfte beilegte. Aus den vier Ecken des Gemaches grinsen uns vier Skelette mit ihren Todtenhäuptern an. Diese dünnen, langen Knochen, diese unverhältnißmäßig breiten Schädel haben keinem menschlichen Wesen angehört. Es sind die Gerippe einiger Affen, die Manasse mit der Erbschaft seines Lehrers in der Kabbala und Nekromantie erhalten. Damals erlaubte der allgemein herrschende Aberglauben den Ärzten noch nicht, ihre Kunst durch Erfahrungen, welche sie aus der Zergliederung menschlicher Leichname schöpften, zu bereichern und zu vervollkommnen. Sie mußten sich mit Thieren begnügen, wobei sie freilich durch eine unsichere Vergleichung nur zu sehr mangelhaften Resultaten gelangen konnten. Manasse aber hatte diese Skelette auch nicht zu seiner Belehrung aufgestellt. Sie sollten diejenigen, welche sich seines ärztlichen Rathes in seiner Wohnung bedienten, mit Furcht und Scheu erfüllen; sie sollten mit den übrigen Ausschmückungen des Zimmers den Nimbus einer Gelehrsamkeit, den Schein einer geheimnisvollen, übernatürlichen Macht, worin der Rabbi sich zu hüllen für nöthig hielt, bilden. Er vertraute viel auf die Macht solcher abergläubischen Eindrücke und war ihr zugleich selbst unterworfen. Was er durch die Mischung kräftiger, erhitzender, betäubender, oder verwirrender Kräutersäfte bewirkte, das schrieb er andern oft ekelhaften und gräßlichen Zusätzen, Beschwörungsformeln, geheimnisvollen Worten und kabbalistischen Zeichen zu. So waren auch die Wände seines Gemachs mit Pergamenttafeln bedeckt, die Sprüche aus dem Talmud, Sentenzen berühmter Rabbiner enthielten, welche diese oder jene wunderbare Eigenschaft besitzen sollten. Getrocknete Kräuter lagen allenthalben zwischen den Spiritusgläsern, deren wir schon gedachten, umher: Krüge, Büchsen und Flaschen mit Arzneien zeigten sich auf dem Gesims, das oben an den Wänden herlief.

Auf alle diese, mit dem Eigensinne eines alten Mannes, in ihrer altherkömmlichen Ordnung erhaltenen Gegenstände warf die Dämmerung, welche durch zwei schmale Fenster einbrach, ein schwaches, der Feuerschein aus dem Kamin ein seltsames Licht. Oft versanken die wunderlichen Gestalten des Crocodills und der Skelette in völlige Dunkelheit, dann tauchten sie, von dem aufflammenden Lichte der Kohlengluth getroffen, plötzlich wieder empor, schienen in dieser unsichern Beleuchtung sich zu bewegen, lebendig zu werden, ihre Stellen verlassen und den Muth des einzelnen Mannes, der sich in dem Zimmer befand, einer harten Prüfung unterwerfen zu wollen.

Dieser Mann aber schien sich wenig um das, was das Gemach enthielt, zu kümmern. Er stand an einem der Fenster und blickte unverwandt und mit angestrengter Aufmerksamkeit auf die niedern Dächer eines Nachbarhauses, die nahe bis an die Wohnung des Rabbiners reichten und von dieser nur durch einen schmalen Hofgang getrennt wurden. Manasse hauste in dem hintern Bau der Synagoge und jene Gebäulichkeiten, auf denen der forschende Blick des Mannes ruhete, gehörten zu dem weiträumigen Hause des kaiserlichen Vogts, Herrn Hanns vom Rhein. Der Mann, von dem wir sprechen, konnte nicht mit dem hochbejahrten Besitzer der Wohnung verwechselt werden. Seine Gestalt war um einen Kopf höher, als die des Rabbiners, seine Bewegungen zeigten sich nicht so scharf, rasch und bestimmt, sondern nachlässig, ohne leidenschaftlichen Ausdruck, sogar oft mit der Gleichgültigkeit eines Lebensmüden. Sonst gab sein ganzes Äußere den Nachkommen Abraham's zu erkennen: die bezeichnungsvolle Mütze deckte sein Haupt, schwarze buschichte Augenbrauen traten unter ihr hervor, und ein Bart von ungewöhnlicher Ausdehnung und Länge verbarg den größten Theil des Angesichts. Sein Anzug war bescheiden und ließ vermuthen, daß er dem Rabbi theils als Gehülfe, theils als Knecht diene. Von Zeit zu Zeit verließ er seinen Standpunkt am Fenster, um die Kohlengluth zu schauen und das Gebräu, das auf ihr brodelte, vor dem Überkochen zu bewahren.

Er hatte, von dieser Beschäftigung zurückkehrend, eben wieder seinen frühern Platz eingenommen, als sich die Thüre des Zimmers öffnete und mit leisen, unhörbaren Schritten der Rabbi eintrat. Manasse hielt eine Leuchte in der Hand, er trug noch den weiten Anzug von Wachsleinwand, in dem er die Pestkranken, die sich seiner bedienten, besuchte. Ein forschender Blick, den er rasch im ganzen Zimmer umherschweifen ließ, zeigte ihm den Mann am Fenster.

»Melach,« rief er diesem, der sich auf den Ruf rasch umwandte, zu, »was vertrödelst du die Zeit mit unnützer Ausschau nach dem Hause des Goi, warum sitzest du nicht, wie es einem getreuen Meschores, der seines Herrn Gebote ehrt, geziemt, am Feuer und schürst mir die Gluth und hütest die kostbare Arznei? Beim Leben der Propheten, wenn die Gluth nur einmal erloschen, wenn nur ein Tropfen von dem wunderbaren Tranke verloren und das Werk so vieler Tage und Nächte durch deine Liederlichkeit verdorben ist, so beschwöre ich die Pest in dein Gebein und du sollst verschwarzen, wie ein Hund von Goi, der nicht zu Manasse Ben Aher seine Zuflucht genommen.«

»Ich will nicht kommen in Abrahams Schooß,« antwortete der Gehülfe, indem er den gestrengen Meister süßlich anlächelte, »wenn ich nur eine Spur von Asche auf der Gluth geduldet habe, wenn nur eines Senfkorns an Gewicht von dem Tranke verschüttet worden ist! Aber der Dunst, den er ausströmt, ist betäubend und versetzt mir den Odem. Deshalb fandet ihr mich am Fenster. Er wollte mir die Kehle zuschnüren und ich frische Luft schöpfen.«

»Du dientest bei Rabbi Naphtali in Straßburg und bist daran noch nicht gewöhnt?« versetzte ruhiger Manasse, nachdem er sich überzeugt hatte, daß das broddelnde Gebräu sich im erwünschten Zustande befand. »Freilich mag auch Rabbi Naphtali nicht die Gelehrsamkeit besessen haben, nicht ein Baal Schem gewesen seyn, wie Rabbi Manasse, sonst hätte er die Flammengluth, in welcher so viele Kinder Israels verderben mußten, mit siebenmal siebenzehn Worten besprochen oder den Mogen David auf ein Pergamentblatt oder einen Stein geschrieben und hineingeworfen, so daß sie wäre verlöscht im Augenblicke, und die auserwählten Gläubigen von kühlenden Lüften des Paradieses wären umfächelt worden. Gehe, Melach, und hänge den Pestmantel, die Larve und die Mütze auf in der Rauchkammer! Öffne die Fenster und laß die frische Nachtluft scharf hindurchziehn. Kehre dann wieder, um meine weitern Befehle zu vernehmen, wenn mir bis dahin noch etwas Nothwendiges einfällt.«

Der Diener näherte sich langsam und zögernd, um die Pestkleider, deren sich indessen Manasse entledigt hatte, in Empfang zu nehmen. Er konnte eine lebhafte Bewegung des Abscheu's nicht verbergen, als seine Hand das Gewand berührte.

»Was fürchtest du dich noch?« fuhr ihn heftig der Rabbi an. »Habe ich dir nicht gestern, als du in meinen Dienst tratest, den Talisman mit dem Siegel vom Könige Salomonis, der dich gegen Pestilenz und alle Krankheit bewahrt, mit eigener Hand umgehängt? Habe ich dich nicht gelehrt das heilige Wort Schemhamphorasch, das jegliche Gefahr von demjenigen abwendet, der es ausspricht oder für den es gesprochen wird? Als Ischbi, der Bruder des Goliath, von Rachsucht ergriffen, den David in die Luft warf, um ihn mit seinem Spiese aufzufangen, da sprach Abisai, der Meister, das Schemhamphorasch und David blieb, gehalten durch die Gewalt des Wortes, schwebend in freier Luft, bis die Gefahr vorüber war, und der Meister durch eben das Wort ihn dann sinniglich zur Erde niederließ. Der Gott unsrer Väter läßt seine Engel walten über unser Volk und vergönnt uns, sie zu beschwören in der Zeit der Noth; die Gojim aber sind den Teufeln verfallen und der schlimmste von diesen, der Pestteufel, tilgt sie jetzt von der Erde. Du wirst sehn, das Reich des falschen Messias –« hier spie er aus – »geht nun zu Ende und der Messias, den wir erwarten und erbitten, kommt, angethan mit Purpur, die goldne Krone mit Edelsteinen auf dem Haupte, den Scepter, aus einem einzigen Demant gemacht, in der Hand. Dem auserwählten Volke gehört dann die Welt, der Messias vertheilt die Schätze der Gojim unter die Kinder Abraham's und Jacob's, er bringt uns ewigen Frieden und Unsterblichkeit und das Gedächtniß der Gojim verweht von der Erde wie ein dürres Blatt, das der Sturm mitnimmt.«

»Meister,« versetzte der Gehülfe, »Ihr wollt das Verderben der Gojim und stehet ihnen doch bei durch Euren Rath, durch Eure Heiltränke und Salben! Ihr sucht diejenigen zu erhalten, denen Ihr flucht: das versteh' ich nicht.«

»Der Herr hat sie gegeben in meine Hand,« erwiederte in einem seltsamen, zweideutigen Tone der Alte, »und Manasse's Beistand führt nicht immer zum Leben. Soll ich verschmähen den Lohn, damit ihn ein Hund von Goi verdiene oder daß der patrizische Doctor Salentin die Kunst, deren Studium ein groß Stück Geld kostet, als Almosen verschenke? Ein böser Engel blase ihn an mit seinem Odem und verwirre den Verstand des Großmuthsaffen! Ein Glück, daß der Reiche ihm eben darum nicht vertraut, weil er nichts nimmt. Für nichts, gibt's nichts, sagt das Sprüchwort, und weil Rabbi Manasse Ben Aher sich gut bezahlen läßt, so meint auch Jedermann, sein Rath, seine Salben und Tränken seyen die besten. Melach, warum sollte ich den erlaubten Vortheil von mir stoßen, da ich, der einzelne, doch nicht vermag aufzuhalten den Strom des Verderbens, der auf die Gojim einbricht? Sie werden unter ihm begraben werden, wie die Egypter im rothen Meere, das dem Worte Mosis gehorchte; ihr Reich wird untergehn, wie das der Nebukadnezer, und was sie besitzen, was sie geraubt haben unsern Vorfahren, ihre Häuser, Gärten und Äcker, ihr Gold, ihr Silber, ihre Edelsteine, das fällt wieder an uns, als ein gerechtes Erbe. Melach, ich nehme mir voraus, was mir doch sicher ist. Wenn der Goi auf dem Pestlager, verlassen von seinen Freunden und Verwandten, mit dem Tode ringt, wenn er in dieser Verlassenheit ganz dem Willen Manasse's heimgefallen ist, wer verwehrt mir dann, den Würgengel Schamir zu beschwören, daß er den Qualen des Sterbenden eher ein Ende mache, als es die Krankheit thun würde; wer hält mich zurück, die Kisten und Schränke des Todten, seine Kleidungsstücke zu untersuchen, ob sie nicht Etwas von dem Raube an unsern Vätern enthalten, das mir von Rechtswegen gebührt? Jetzt gehe, Melach, und thu', wie ich dir geboten! Wenn wir auch vertrauen dürfen auf die Kraft des heiligen Worts, auf den Talisman Salomonis, so müssen wir doch die Vorsicht nicht verschmähen, zu der der Herr, unser Gott, den Verstand in uns gelegt.«

Der Diener öffnete eine schmale Thüre, die, kaum sichtbar, in dem Getäfel der Wand angebracht war. Hier führte eine Leiter zu einem obern Raume, durch den sich der Rauch aus dem Kamine, ehe er von der freien Luft aufgenommen wurde, zog. Während er beschäftigt war, die Kleidungsstücke Manasse's dem Rauche und dem Luftzuge auszusetzen, trat der Rabbi zu dem schäumenden Kessel, rührte die darin enthaltene Masse mit einem beinernen Spatel um und sprach wohlgefällig zu sich selbst:

»Der neue Meschores hat ein wachsames Auge auf die Arbeit gehabt, und ich glaube, eine gute Erwerbung an ihm gemacht zu haben. Bei der Weisheit Jacob's, die dem Esau die Erstgeburt mit einem Linsengerichte abgewann, das wird ein kräftiger Trank, und auch ohne das Blut vom Kinde des Goi möchten einige Tropfen hinreichen, dem Doctor Patricier, sammt seiner wohlfeilen Menschenfreundlichkeit, das Handwerk zu legen und seinen Witz in Thorheit zu verwandeln. Aber Cheyle's Edelsteine, Cheyle's Gold? Nein, nein! Das Werk soll ganz gethan werden, das Blut muß ihm den Zauber, der Teufel der Verliebtheit, den ich hinein beschwöre, die Gewalt geben. Heut um Mitternacht wird's vollbracht und morgen ist der Doctor Salentin der Sklav der Cheyle, lebt nur von ihrem Odem, von ihrem Blick, von ihrem Worte.«

Er trat zu einem Schrein in der Mauer und schloß ihn auf. Beim Lichte einer großen Doppellampe, die der Diener gleich nach dem Eintritte des Rabbiners angezündet, glänzten ihm hier mehrere schneidende, stählerne Instrumente entgegen, von denen er ein kleines zweischneidiges Messer wählte, dessen Schärfe er an dem Wollenhaare seines Kleides prüfte.

»Die Kreatur soll nicht lange leiden;« setzte er sein Selbstgespräch fort. »Dieses Messerlein zerschneidet rasch die Halsader und es wird dann mehr Blut geben, als nöthig. Auf die alte Josebeth kann ich mich verlassen, sie lebt in einem Abscheu vor den Gojim, wie vor der Pestilenz selbst, und wenn Alles gethan ist, so trägt sie den Leichnam in den Fluß. Zwanzig Pfund Steine mit in den Sack gethan, und weder ein Ärmlein noch ein Beinlein kommt wieder zum Vorschein: die Fische halten einen lustigen Schmaus, Cheyle hat ihren Willen, der Goi den Liebesteufel und Manasse seinen Lohn.«

Mit einem widerlichen Lächeln näherte er sich der Lampe und wetzte das Messer auf dem ledernen Überzug seines Rockermels. Von Zeit zu Zeit unterbrach er diese Arbeit und seine lauschende Gebehrde ließ vermuthen, daß er einen Besuch erwarte, dessen Zögerung ihn mit Ungeduld erfüllte. Über dieser Beschäftigung und diesem Lauschen traf ihn der zurückkehrende Diener, der die schmale, zu der Rauchkammer führende Thüre nur leicht anlehnte und einige rasche, scharfe Blicke auf die Hand des Rabbi und das schneidende Werkzeug in dieser warf.

»Ich bedarf deiner nicht mehr, Melach,« sagte Manasse, »und du kannst dich zur Ruhe begeben. Sollte ich morgen zur gewohnten Stunde dir nicht rufen, so versäume nicht mich zeitig zum Gebete zu wecken; mein Geschäft hält mich vielleicht bis nach Mitternacht gefesselt, dann könnte die Müdigkeit mich übermannen und ich dürfte lässig erfunden werden im Dienste des Herrn, unsres Gottes. Begib dich auf dein Kämmerlein, mein Sohn! Solltest du ein Geräusch vernehmen, so laß dich das in deiner Ruhe nicht stören. Vielleicht kommt noch Ruben Schewa, mich zu besuchen, und Josebeth wird ihn dann einlassen.«

Während Manasse seinen Diener beurlaubte, beugte er sich zu dem broddelnden Kessel nieder und untersuchte den Zustand seines Inhalts. Diesen Augenblick benutzte der Diener, um einen Streich auszuführen, dem irgend ein Plan, seinen Meister im Verborgenen zu beobachten oder eine seiner Unternehmungen zu vereiteln, zum Grunde liegen mußte. Er öffnete geräuschvoll die nach Außen führende Thüre, er stellte sich, als gehe er hinaus, schloß sie aber wieder, ohne das Zimmer zu verlassen, schlich nun rasch und unhörbar durch die schmale Pforte, welche zu der Leiter der Rauchkammer führte, und hielt sich hinter dieser dünnen Scheidewand, eines Ereignisses harrend, das seinen ganzen Muth, seine ganze Geistesgegenwart in Anspruch nahm, verborgen. Manasse hatte nichts bemerkt. Er glaubte sich allein, er richtete sich empor, legte das scharfgeschliffene Messer zur Seite und verschloß dann sorgfältig das noch offen stehende Fenster. Indem er die Ärmel seines Oberkleides aufstülpte und eine Schürze, auf der sich mehrere dunkle Flecken, wie Blutspuren zeigten, umlegte, glich er vollkommen einem Schlächter, der bereit ist, irgend ein Thier abzuschlachten.

Er ging unruhig im Zimmer auf und nieder. Oft trat er an die Ausgangsthüre und lauschte, aber noch verrieth nichts die Annäherung des Besuchs, den er erwartete, Alles war still und mit vermehrter Ungeduld begann er aufs Neue seine Wanderung durch das Gemach.

»Sollte das Werk mißlingen oder gar verrathen seyn!« brach er endlich im unwillkührlichen Selbstgespräch aus. »Sollte Cheyle in unbesonnener Leidenschaft schlecht gewählt haben ihre Leute, wäre sie vielleicht thöricht genug gewesen, die Gojim zu bezahlen vor der That, die dann mit dem Lohne im Sacke sie angegeben bei der Obrigkeit? Wehe, wehe, wenn es also geschehen! Aber ich weiß von nichts, Niemand kann zeugen gegen mich, und Cheyle mag büßen ihre Dummheit und ihr sündiges Verlangen nach dem Goi auf dem Scheiterhaufen oder in den Wellen des Stroms. Wer hat Rabbi Manasse mit Cheyle belauscht auf der Begräbnißstätte der Vorfahren? Die Todten sprechen nicht und keine sterbliche Kreatur war zugegen. Ich kann ruhig seyn, ich kann Alles in Frieden erwarten, ich bin ein unschuldiger Mann, der seine Kräuter kocht zu heilen die kranken Gojim.«

Er brachte diese Beruhigungsgründe gegen sich selbst mit einem Eifer vor, der die Größe seiner Furcht bewies. Sie wirkten auch wenig. Der Ausdruck seiner Züge wurde immer ängstlicher, die Schritte, mit denen er das Zimmer maß, verdoppelten sich und Alles zeigte an, daß er sich in dem Zustande eines Menschen befand, der unter peinigenden Erwartungen und Zweifeln leidet. Da klopfte es plötzlich leise an die Thüre. Sein Antlitz verrieth die größte Spannung, er eilte zu öffnen.

»Sie kommen! Sie bringen das Kind des verruchten Volkes;« sprach eine schnarrende Weiberstimme und in der halbgeöffneten Thüre erschien das widrige Angesicht der alten Hausmagd Josebeth. »Das Opfer ist gerüstet und in Eure Hand gegeben, Meister! Starke Banden umschlingen seine Glieder, die Zunge ist gelähmt durch einen Knebel und Ihr braucht nicht zu fürchten, daß es Euch das Werk erschwere durch Widerstand oder Gekreisch.«

Jetzt trat Josebeth herein und ihr folgten mit schweren Tritten, jene neugeworbene Diener des Herrn vom Rhein, der Knecht und die Hausmagd, die, den blendenden Lockungen Cheyle's Gehör gebend, sich zu Werkzeugen des verruchtesten Planes geliehen hatten. Sie trugen die schmerzlich stöhnende Imagina, sie legten auf einen Wink Manasse's ihre Last zur Erde und entfernten sich wieder ebenso stumm, wie sie gekommen waren.

»Cheyle ist selbst unten, um ihnen den Lohn zu zahlen, wenn sie herabkommen;« sagte Josebeth. »Da werfen sie uns immer den Schacher vor, diese Gojim, und sie selbst thun um's Geld, was kein Jud thäte, sie verschachern Blut und Leben ihrer eigenen Glaubensgenossen.«

Sie nahm die Lampe vom Tische, näherte sich der gebundenen Imagina und setzte, ihr in's Gesicht leuchtend, ihre Rede fort:

»Bei den sieben Plagen Egyptens, es ist ein reines, unschuldiges Blut, das Ihr da abzapfen werdet! Schimmert's doch lieblich, wie die Farbe der Rose von Jericho, durch die zarte Haut, hebt es doch selbst in so beängstigender Stunde die Brust im regelmäßigen Schlag! Wie hell die Äuglein blicken! Fürchte dich nicht, Tochter des Goi. Es ist ein kurzer Schmerz, nur ein Augenblick des Zusammenschreckens – dann kommt die Ruhe, dann schläfst du süß und sanft und dich erweckt nichts mehr in's verkehrte Treiben der Welt. Tausende von unsern Leuten, Greise, Männer, Weiber und Kinder sind hingeopfert worden unter langsamen Qualen, unter Feuerpein und Folterschmerz, durch die Gojim; du aber sollst nicht empfinden die Rache des erwählten Volks: wie die Kehle der Taube mit raschem Schnitte durchschnitten wird, wie sie noch einmal emporzuckt mit dem Köpfchen, um es dann auf immer sinken zu lassen, so wird es auch dir ergehn; denn des Rabbi Hand ist gewandt und sicher, sein Messer trifft, wie der Blitz des Gottes Israel, und wenn denn reines Blut rinnt in die Schale von orientalischem Achat, welche die Beschwörung des Meisters zu diesem Dienste vorbereitet, so schläfst du schon süß und fest und dich erweckt nichts mehr.«

Manasse hatte das blinkende Messer ergriffen und warf einen finstern, bedeutungsvollen Blick auf sein Opfer. Imagina drängte vergebens an ihren Banden, umsonst suchte sie ihre Stimme zu erheben, um durch Bitten und Flehen den nahenden Mörder zu erweichen. Ihre Glieder waren so fest zusammengeschnürt, daß die heftigsten Anstrengungen sich auch nicht durch die geringste Bewegung verrathen konnten, jeder Laut, den sie auszustoßen versuchte, wurde durch den Knebel zurückgedrängt und ließ sich nur als ein ängstliches, schmerzliches Stöhnen vernehmen.

Da wurde es plötzlich unten im Hause laut. Man hörte heftige, streitende Stimmen, Verwünschungen und Drohungen. Der Rabbi stand bestürzt, Josebeth seilte hinab. Nach einigen Augenblicken kehrte sie zurück und berichtete, die treulosen Gojim, welche das Kind hierher gebracht, verlangten jetzt das Doppelte der von Cheyle ihnen zugesicherten Belohnung; Cheyle aber habe sich nicht auf eine so große Summe geschickt und ersuche nun den Meister, das Fehlende darleiheweise zu ergänzen.

»Die Teufel sollen es ihnen an der Seele abzwacken, den betrügerischen Hunden!« rief sich heftig ereifernd Manasse. »Aber wir müssen sie beschwichtigen, daß sie nicht bellen. Nimm hier den Schlüssel zu meinem Schlafgemach, Josebeth! Bring mir aus der Truhe, die du wohl kennst, den ledernen Säckel mit alten Turnosen, den mir Ahab, mein Bruder, mit auf die Wanderung gegeben, als ich vor sechzig Jahren auszog aus dem Hause meiner Väter zu Krakau. Ich selbst gehe indessen hinab, um den Hunden das Lästermaul zu stopfen. Eile, Josebeth! Es wäre schlimm, wenn der Lärm die Nachbarn rege machte.«

Beide verließen mit raschen Schritten das Zimmer. Manasse verschloß und verriegelte es von Außen, überzeugt, daß jeder Befreiungsversuch des unglücklichen Opfers, das er zu einem gräulichen Zwecke dem Tode geweiht hatte, nun vergeblich seyn würde.

Aus dem Munde der entsetzlichen Josebeth hatte Imagina das Schicksal vernommen, das sie erwartete. Ihre Seele rang zwischen Furcht und Hoffnung. So verzweiflungsvoll ihre Lage schien, so konnte sie noch immer ihr Vertrauen auf den Beistand, auf die Hülfe der heiligen Jungfrau, zu der sie ihr inbrünstiges Gebet richtete, nicht aufgeben. Wie viele Beispiele hatten ihr nicht die Erzählungen ihrer frommen seligen Mutter von wunderbarer Befreiung christlicher Märtyrer in der höchsten Noth, von Errettungen aus der schrecklichsten Gefahr, durch die Macht der Himmelskönigin, vorgeführt!

»Löse diese Banden, heilige Jungfrau,« betete sie aus der Tiefe ihrer Seele, »nimm dich des armen Kindes an, das sich in seiner Todesangst an dich wendet! Vor dem Odem deines Mundes versinken diese Mauern, ein Wink von dir sendet deine Engel, daß sie mich sanft und unverletzt zu denen zurücktragen, deren Liebe die Waise freundlich aufnahm und wie eine Tochter hält. Du erhörtest mein Gebet, als ich, verlassen von aller Welt, nur auf dich hoffend an den Leichen der Eltern stand, als die Entbehrung, als das Grauen mich zu vernichten drohete. Laß mich nicht damals Rettung gefunden haben, um jetzt schrecklicher unterzugehn. Erhöre mich, heilige Mutter Gottes! Erlöse mich, rette mich! –«

Da öffnete sich leise eine kleine Seitenpforte und mit hastigen Schritten trat ein Mann heraus, in dem Imagina zu ihrem Entsetzen wiederum einen Helfershelfer derjenigen, die ihren Tod wollten, zu erkennen glaubte. Er näherte sich mit lebhafter Bewegung dem Tische, an dem Manasse sein Messer zurückgelassen. Er ergriff es, schritt rasch auf Imagina zu und beugte sich, das Messer zur That erhebend, über das Kind nieder. Ein tödtlicher Schauer durchzuckte sie. Sie gab ihr Leben verloren.

»Heilige Jungfrau, nimm mich auf in die Schaar deiner Seligen, daß mich die Mutter und der Vater wiederfinden, entsündige du das Kind, das nicht das heilige Sacrament vom Irdischen gereinigt!« Mit diesen Gedanken ergab sie sich in ihr Schicksal.

Aber welche neue Hoffnung, welche beseligende Überzeugung, daß die Himmelskönigin ihr Gebet erhört habe, erfüllte sie, als jener Mann das Messer nur dazu gebrauchte, ihre Banden rasch zu zerschneiden, den schmerzenden Knebel zu entfernen, als er es dann wieder an seinen frühern Platz legte, die einzelnen Stücke der Banden in die Gluth des Camins schleuderte und, sie sanft aufrichtend, in einem gütigen Tone sagte:

»Fürchte nichts mehr, armes Kind! Du bist gerettet, doch jeder Augenblick Verzugs droht Gefahr. Sie wollten dich verderben; aber ich, ein Fremdling dir, ward von der Gnade Gottes ausersehn, über dich zu wachen. Fasse dich, nimm deine ganze Kraft zusammen. Unser Weg ist beschwerlich und nicht ohne Gefahr. Aber kein andrer steht uns offen und der Herr ist barmherzig, aber die Menschen sind es nicht!«

»Engel Gottes!« rief außer sich das Mädchen, das von dem Einschnitte der Banden nur Schmerzen, aber sonst keine Schwäche empfand: »ich folge Euer, wohin Ihr mich führt! Nur fort, fort von hier! Ich fühle es, wenn jener blutdürstige Mörder wiederkehrte, so würde sein Anblick allein meine Kraft lähmen, ich vermöchte nicht ihm Widerstand zu leisten, ich wäre so hülflos, wie vor wenigen Augenblicken, als mich jene Banden noch fesselten. Doch was spreche ich? Meine Sinne sind verwirrt; ich vergesse, daß Ihr mich schützt, daß der Bote der Himmelskönigin mächtiger ist, als der Bösewicht; der mein Verderben will.«

Der Unbekannte erwiederte nichts, sondern zog sie mit sanfter Gewalt nach der schmalen Pforte, in der er dem Mädchen zuerst erschienen war. Er drängte sie die Leiter hinauf, er zog, ehe er ihr folgte, die Thüre hinter sich zu, damit der zurückkehrende Manasse nicht gleich den Weg, auf dem ihm das Opfer seiner scheußlichen Kunst entzogen worden, entdecke. Sie standen eben in dem luftigen Raume, wo die Pestkleider des Rabbi, vom Winde bewegt, hin und herschwebten, aus den Luken des Schornsteins drängte sich ein dicker, häßlich duftender Rauch, aber zwei große Öffnungen in den Wänden gaben den Flüchtlingen Gelegenheit frei zu athmen und ließen sie auf die mondbeglänzten Häuser der Stadt und auf das tiefer liegende platte Dach des eigentlichen Baues der Synagoge blicken. Unter der einen dieser Öffnungen stieg die Mauer in eine senkrechte Tiefe bis auf den Boden der vorüberführenden Straße hinab; unter der andern trat, in einer Vertiefung von ungefähr zwanzig Fuß, das platte Dach der Synagoge hervor.

»Hier geht unser Weg hinab!« sagte Imagina's Retter, dessen Äußeres wohl das Gepräge des Judenthums trug, der aber, wie das kluge Mädchen, trotz seiner großen Gemüthsbewegung, bemerkte, in seiner Redeweise nichts von jener Eigenthümlichkeit der Aussprache an den Tag legte, die damals noch mehr, als jetzt, die Söhne und Töchter Israels bezeichnete. »Steige kühn hinab, halte dich nur mit den Händen fest an den Gurten der Strickleiter, die ich eigends zu deiner Rettung geflochten!« fuhr er fort. »Ehe du den Fuß feststellst, prüfe, ob er sicher ruht. Nur Vorsicht, armes Kind! dir war ein schlimmerer Weg bestimmt, der dunkle Weg in's Grab.«

Imagina erkannte in diesem Rettungsmittel keine Gefahr. Sie war gewandt, sie schwang sich mit Leichtigkeit hinab. Kaum hatte sie das platte Dach betreten, so löste der Unbekannte die Strickleiter von dem Haken, der sie hielt. Er warf sie neben dem Mädchen nieder und ließ sich nun selbst mit einer Geschicklichkeit, die seine Übung in solchen Dingen bewieß, an einem Doppelseile, das er rasch um jenen Haken schlang, nieder. Dann zog er das Seil zu sich herab, raffte es mit der Strickleiter auf und sprach, mit dem Kinde eilig weiter schreitend:

»Wir dürfen keine Spur zurücklassen, die den Weg, den wir genommen, verrathen könnte! Der Rabbi ist ein grausamer, tückischer Mensch, aber auch tief versunken in den Aberglauben seines Volks. Er wird, wenn mein Plan in allen seinen Theilen gelingt, dein Verschwinden für ein Wunder, für das Werk einer übernatürlichen Macht, der seine Kunst nicht gewachsen, ansehn.«

Das nächste Ziel, dem sie entgegenschritten, schien eine Erhöhung des Daches zu seyn, die sich im Hintergrunde erhob. Sie hatten aber diese noch nicht erreicht, als Imagina's Retter plötzlich stehen blieb, in die Ferne lauschte und dem Mädchen zuraunte:

»Der Alte sucht nach dir! Ich höre sein heiseres Husten; er muß uns durch die Pforte, durch die wir entkamen, gefolgt seyn, er hat schon die hinaufführende Leiter betreten. Hier verräth uns das Licht des Mondes. Tritt mit mir zur Seite in den Schatten dieses Mauervorsprungs. Manasse müßte aus Eulenaugen sehn, wenn er uns in diesem Dunkel entdecken wollte!«

Sie standen im Schatten einer hohen, das Mondlicht abhaltenden Mauerwand. Hier konnten sie die ganze Fläche des Daches, den mondbeglänzten thurmartigen Bau, aus dem sie sich herabgelassen hatten, erblicken, ohne selbst bemerkt zu werden. Nach wenigen Augenblicken erschien der Rabbi in der großen Öffnung des Thurms. Seine hagere Gestalt beugte sich weit heraus, er wandte das Haupt spähend nach allen Seiten, in der Rechten glänzte das bloße Messer, das den Lebensfaden der armen Imagina hatte durchschneiden sollen.

»Ein böser Geist muß ihr beigestanden und sie durch die Lüfte von dannen getragen haben!« hörten sie ihn sprechen. »Das heilige Wort ist den Gojim nicht dienstbar, der Herr hat ihnen keine Engel beigegeben zum Schutze, es ist also der Teufel, der das Mägdlein geholt hat.«

Er verschwand und Imagina eilte mit ihrem Retter weiter. Sie langten bei jener Erhöhung des Daches an, wo eine offene Luke, gerade groß genug, um einen Menschen einzulassen, sich zeigte. Der Unbekannte schlüpfte zuerst in das dunkle Innere, dann reichte er dem Kinde die Hand, das ihm zitternd folgte.

»Fürchte nichts, Kind!« sprach er mit sanfter, beruhigender Stimme. »Meine Hand wird dich sicher leiten in diesem Dunkel. Ich bin ein Freund, der es redlich mit dir meint, und es ist eine alte Schuld, die ich an den edlen Herrn vom Rhein abtrage, indem ich sein Pflegekind aus der Gewalt des schrecklichen Manasse befreie und seinen Sohn vor entsetzlichem Unheil bewahre.«

Welche neue Räthsel für Imagina! Auch Salentin, dem sie mit grenzenloser Dankbarkeit verpflichtet war, sollte in die Gefahr, die sie bedroht, verwickelt seyn; durch ihre Rettung ward auch ihm ein wichtiger Dienst geleistet, und derjenige, der sich einen Schuldner des alten Herrn vom Rhein nannte – wer war er, wie hatte er eine Sache entdeckt, die sicher als ein tiefes Geheimnis betrieben worden? Sie bebte zusammen, indem sie jenes Augenblicks gedachte, wo die zwei treulosen Dienstboten, nachdem sie den Gegenstand ihrer Verfolgung unter einem glaubwürdigen Vorwande in das entlegene Hintergebäude des Nachbarhauses gelockt, sich plötzlich ihrer bemächtigt, ihren Hülferuf erstickt, ihre Glieder gebunden und dann die widerstandslose Last über die niedre Mauer in den Hof der Synagoge gebracht. Damals hatte sie noch keine Ahnung des Entsetzlichen, was sie bedrohete, verwirrte Vorstellungen gingen an ihrer Seele vorüber. Als aber die schreckliche Josebeth, das Kind ohne Rettung dem Blutopfer verfallen glaubend, das Schicksal, das ihrer harrte, schonungslos enthüllt, als Imagina den blanken Stahl in der Hand des Menschenschlächters Manasse erblickt, da –

»Du vergissest dich; du ließest meine Rechte los,« unterbrach sie in diesen peinlichen Erinnerungen die Stimme ihres Führers. »Manasse wird mich aufsuchen. Bis dahin muß ich dich in ein sicheres Versteck gebracht haben.«

Soviel Imagina bei'm Lichte des Mondes, das von Zeit zu Zeit durch einzelne Öffnungen im Dache einfiel, zu erkennen vermochte, so führte ihr Weg sie durch mehrere Bodenkammern, durch niedrige Gänge, in denen der Unbekannte sie ermahnte, sich tief gebückt zu halten, damit sie sich nicht am Kopfe verletze. Endlich erreichten sie einen weitern Raum, den man im Glanze des Mondes, dem viele Fensteröffnungen Eingang gestatteten, überschauen konnte. Alte, zerbrochene Geräthschaften lagen am Boden, Steingeröll und Pergamentstücke, Trümmer von Arzneigläsern und Salbenbüchsen. Sie näherten sich einer schmalen niederwärts führenden Treppe, sie stiegen hinab und sahen nun über das Geländer eines vorspringenden Ganges, den sie betreten hatten, in eine große kirchenähnliche Halle zu ihren Füßen. Durch hohe, gewölbte Fenster sandte der Mond sein volles Licht herein und ließ viele Betpulte unten in der Tiefe und in deren Mitte eine kanzelartige, mit Stufen versehene Erhöhung wahrnehmen.

»Das ist der Juden Schule;« sagte Imagina's unbekannter Freund. »Laß dich kein Grauen anwandeln an diesem Orte: er enthält die einzige Zufluchtsstätte, die ich dir jetzt bieten kann. Wenn du an Gespenster, an wunderliche, schreckhafte Erscheinungen, mit welchen der Wahn und eine thörichte Furcht solche Orte ausgestattet, glaubst; so laß dich einen Mann, dem nicht leicht eine Erfahrung des Lebens fremd geblieben, eines Bessern belehren. Oft legte ich mich spät am Abende, wenn mir die Hartherzigkeit oder das Vorurtheil der Menschen ein Obdach versagt, auf der Steinbank eines einsamen Hügels, dessen Umgebung ich in der Finsterniß nicht erkennen konnte, zur Ruhe, und wenn ich Morgens erwachte, so hatte ich auf dem Rabensteine geschlafen und über mir spielte der Wind mit den Gebeinen eines Erhenkten. Die Todten kehren nicht wieder, Kind! Für den Menschen giebt es nur ein Furchtbares, und das ist der Mensch selbst. Aber ein unschuldiges, frommes Wesen, wie du, findet allenthalben eine Stätte, wo die Heiligen, zu denen es betet, ihm ihren Schutz weihen. Sie haben durch wunderbare Fügungen dich aus der höchsten Noth befreit, ihre Hülfe wird das Rettungswerk vollenden.«

Imagina fühlte sich bei der Nachricht, daß sie in diesem Raume die Nacht hinbringen solle, von einem Grauen ergriffen, das jedem Eindruck, welchen die Ermahnungen des Unbekannten auf sie zu machen beabsichtigten, trotzte. Sie schmiegte sich näher an ihn, sie versetzte mit bebender, von Angst halb erstickter Stimme:

»Glaubt mir, ich sterbe vor Furcht, wenn ich in dieser Stunde hier allein bleiben soll. Immer würde ich erwarten, den gräßlichen Alten mit dem drohenden Messer wieder vor mir erscheinen zu sehn, und jenes entsetzliche Weib, dessen Todesspruch noch in meiner Seele forttönt. Ist es denn nicht möglich, aus diesem Hause zu entkommen? Ach, verlaßt mich nicht, bleibt bei mir, führt mich in die Wohnung meiner Pflegeeltern und Ihr werdet dort Freude und Frieden verbreiten.«

»Es geht nicht, Kind!« entgegnete der Unbekannte. »Die alte Josebeth hütet den einzigen Ausgang des Hauses, wie ein Drache, die Thüren der Schule sind verschlossen, und werden erst mit dem Anbruch des Morgens geöffnet. Dann stürmen die Juden herbei zum Frühgebete. Erst wenn sie die Schule wieder verlassen, wenn der Rabbi ausgegangen ist, seine Kranken zu besuchen, so findet sich vielleicht Gelegenheit, dich zu deinen Freunden zurückzubringen.«

»Aber Ihr bleibt bei mir, Ihr verlaßt mich nicht vor dem ersten Lichte des Tages?« fragte unruhig das Kind.

»Noch einmal: die Heiligen sind bei dir zu deinem Schutze!« sprach der Fremde. »Du warst dem Tode verfallen, du lagst, ein gebundenes Lamm, unter dem Messer des Schlächters, da hatten sie schon gesorgt, daß der Retter dir nahe stand, da hatten sie Einen, den dein Auge nie erschaut, gewählt, das Werk, das in dem Rathe der Bösen beschlossen worden, zu vernichten. Vertraue fort und fort auf sie, mein frommes Kind! Ich kann nicht bei dir bleiben. Schon habe ich viel gewagt, so lange von der Seite meines schlafenden Zimmergefährten, des Schuldieners und Vorsängers Enoch Schefet, fernzubleiben. Wäre er indessen erwacht, so würde schwerer Verdacht mich treffen und du wärest größerer Gefahr ausgesetzt.«

Das Mädchen seufzte tief auf und folgte mit beklommenem Herzen dem Manne, der jetzt eine offne, breite Seitentreppe in den untern Raum der Schule hinabstieg. Sie schritten durch die Reihen der Betpulte; vor der Erhöhung in der Mitte der Halle blieb Imagina's Retter stehn. Hier eröffnete er eine niedre und schmale Thüre, die in das Innere des Holzgerüsts führte.

»Dieses ist der Almemor, auf welchem das Gesetz abgelesen und das Sabbathlied abgesungen wird;« begann auf's Neue der Unbekannte. »Nimm deinen Aufenthalt in der Nähe dieses Orts und hörst du ein verdächtiges Geräusch, gewahrst du das erste Grauen der Morgendämmerung, so begieb dich in das Innere des Verschlags. Ziehe die Thüre stark hinter dir nach, so wird sie in das Schloß fallen. Du kannst von Innen öffnen, ich aber allein vermag es von Außen, denn es ist mir gelungen, mich des Schlüssels, den Manasse sonst immer selbst bei sich führt, zu bemächtigen. Fasse Muth! Fürchte nur das Irdische, die Gefahr, womit die Menschen drohen, nicht jene Wahngebilde, die nur in unsern Träumen leben, welche der Betrug und die Thorheit in das wirkliche Daseyn beschwören möchten.«

»Ich werde dem Schutze der heiligen Mutter Gottes vertrauen;« sprach, sich ermuthigend, Imagina. »Aber ehe Ihr mich verlaßt, sagt mir, wer Ihr seyd, entdeckt mir, wie Ihr zur der Kenntniß eines Unternehmens gelangtet, das absichtlich gewiß nur solchen vertraut wurde, die kein Erbarmen, kein Mitleiden mit einem armen Christenkinde kannten. Ihr gehört nicht dem Volke an, dessen Gottesdienst in diesen Räumen gefeiert wird. Was konnte Euch bewegen, Euch eines fremden Mädchens anzunehmen, über es zu wachen, für seine Rettung Sorge zu tragen, während es noch, kein Unheil ahnend, seinem stillen Thun im Hause der Pflegeeltern nachging?«

»Ich bin ein Mann, der eine lange Bahn voll Thorheiten und Irrthümer durchwandelt hat;« versetzte mit einem Seufzer der Unbekannte: »aber vor einigen Tagen brachte die Zusammenkunft mit Jemand, dessen Wort mir, wie eine Stimme aus dem Grabe tönte, die Erkenntniß des Bessern über mich. Und als meine Seele geläutert war, als ich zum erstenmale wieder mich im Gebete zu Gott und seinen Heiligen wandte, gegen die ich lange in strafwürdiger Gleichgültigkeit gelebt, da war das erste Wunder, das an mir geschah, die Entdeckung des Verderbens, das dich und einen andern bedrohete. Mehr kann ich dir jetzt nicht sagen. Die Zeit drängt und die Bosheit ist wachsam. Lebe wohl, Kind, bis morgen! Dich schützen alle guten Geister des Himmels.«

Der Unbekannte entfernte sich. Imagina's Blicke folgten ihm, solange er an den mondhellen Stellen der Halle sichtbar war, sie lauschte ihm nach, bis seine Schritte nur fern, vom obern Umgange, wohin er sich zurückgewandt hatte, erschallten und endlich ganz verstummten. Er eilte wieder durch den großen Bodenraum über der Schule; er schlug dann einen andren Weg ein, als den, welchen er früher schon mit dem Kind genommen, und sah sich nun bald in seinem kleinen Gemache, wo er den Lagergenossen in tiefem Schlafe fand. Er warf sich an seine Seite, als er Manasse's schleichende Schritte und sein heiseres Husten auf dem Gange, der von seinem Laboratorium hierherführte, vernahm. Wenige Augenblicke darauf erschien der Rabbi mit einer Blendlaterne im Eingange. Der Diener schloß die Augen, seine schweren Odemzüge, seine unbewegliche Lage, gaben ihm den Anschein eines eben so tiefen Schläfers, wie sein Gefährte war. Manasse trat an das Bett und ließ den Schein der Blendlaterne über Beide hingleiten.

»Sie schlafen;« sprach er halblaut für sich hin. »Es ist nicht anders: der Satan hat das Kind der Gojim durch die Lüfte von dannen geführt. Wie werde ich Cheyle besänftigen, was soll ich thun, die kostbaren Edelsteine zu erhalten, die sie mir versprochen zum Lohne? Vor Allem muß ich zu gewinnen suchen Zeit, denn Zeit ist die Mutter aller Dinge, sagt Rabbi David.«

Er begab sich ebenso leise, wie er gekommen, wieder hinweg. Der Retter Imagina's aber verließ noch einmal rasch und vorsichtig sein Lager, schlich zur Thür, die er nur wenig öffnete und sah ihm nach. Manasse nahm den Weg nach seiner Wohnung zurück, er schien jeden weitern Versuch, nach dem entflohenen Kinde zu forschen, entsagt zu haben. Beruhigt überließ sich nun der vermeinte jüdische Gehülfe des Rabbi, zufrieden mit dem bisherigen Gelingen seines Werkes und dessen vollen glücklichen Ausgang hoffend, einer Erholung, deren er, nach so vielen Sorgen und Zweifeln, in einem so hohen Grade bedurfte.

Imagina verlebte indessen, ehe sie sich ganz zu jenem Vertrauen auf den Schutz der heiligen Jungfrau, das sie allein aufrecht erhalten konnte, emporrang, schreckliche Augenblicke. Als Alles still um sie geworden war, als das beängstigende Gefühl der Einsamkeit an diesem Orte, den sie, nach dem traurigen Wahne der damaligen Zeit, als eine Stätte der Gotteslästerung, jeder Verruchtheit und jeder Sünde betrachtete, sich ihrer bemächtigte, versuchte sie vergebens zu beten, vergebens ihre Gedanken zu sammeln, um den Beistand der Mutter Gottes, den Schutz der Heiligen zu erflehen. Die Einbildungskraft, stürmisch erregt durch alles Vorhergegangene, behaupten das Recht ihrer sinnesverwirrenden, tausendgestaltigen Spiele. Gräßliche Bilder stiegen in dem weiten, vom Mondlichte seltsam durchzitterten Raume vor dem verlassenen Kinde auf.

In den Reihen der Betpulte wimmelte es plötzlich von widrigen Gestalten mit wackelnden Köpfen, mit zähnefletschendem Munde. Andre drangen durch die Gänge herbei, andre erschienen auf den obern Tribunen. Da erschien mit einemmale riesengroß auf der Erhöhung des Almemor die Gestalt des Rabbi Manasse, in der Rechten ein ungeheueres Schlachtmesser, das bis an die Decke der Halle reichte. Seine Blicke schossen Blitze, aus seinem Munde schlugen Flammen. Sein Auge traf auf Imagina und zugleich verwandelten sich jene Blitze des Blickes in Bäche Blutes, die über seine Wangen, seine Brust hinabströmten und bald in dem Raum der Synagoge ein Blutmeer bildeten. Aus dem Blutmeere tauchten die schrecklichen Gestalten mit den wackelnden Köpfen auf – ein Wink Manasse's mit dem Schlachtmesser nach Imagina hin und sie drängten sich an das Kind heran, sie umgaben es, sie streckten bluttriefende Hände mit Thierkrallen nach ihm empor, auf den Schultern saßen plötzlich Wolfsköpfe mit gierigen gefräßigen Rachen. Und Alles still dabei, wie im Grabe, nur das gräßliche, den Wahnsinn herausfordernde Gebehrdespiel der drohenden widrigen Gebilde. Imagina schloß die Augen, sie preßte die Hände wider das fieberhaft brennende Angesicht. Aber sie sah Alles vor sich, Alles in sich, weil sie es außer sich erschaut. Ihr Entsetzen nahm zu. Manasse schwang sich von dem Almemor herab. Er erhob das Schlachtmesser, er streckte die mörderische Hand nach ihr aus – da wehete ein sanftes, erquickendes Säuseln des Friedens durch die Halle. Eine Lichtgestalt schritt heran. Sonnenglanz umstrahlte das göttliche Antlitz, ein Dornenkranz umgab die Stirn, wie eine Siegerkrone, ein Lächeln, wie die unversiegbare Gnade des Himmels, spielte um den Mund, im Arme ruhete, wie ein Szepter, das die Welt beherrscht, das heilige Kreuz. »Ich bin die Liebe und mit mir wandelt der Friede!« sprach mit sanfter, aber die weite Halle ausfüllender Stimme die göttliche Gestalt. Und ringsum war plötzlich Alles, was das bedauernswürdige Kind entsetzt, verschwunden und der Friede, den der Heiland der Welt verkündet, war in Imagina's Brust gezogen, und sie konnte zu der heiligen Königin des Himmels beten, sie fühlte sich sicher, wie am Herzen einer Mutter und schlummerte, vertrauungsvoll auf ihren Schutz, nach wenigen Minuten ein. Kein düstrer Traum beunruhigte sie: alle schlimmen Erinnerungen, alle Besorgnisse der Gegenwart waren mit eingeschlafen.

Als sie erwachte, dämmerte der Morgen durch die Hornscheiben der hohen Fenster. Sie erinnerte sich der Mahnungen ihres Retters und schlüpfte in den Verschlag, dessen Thüre sie rasch hinter sich nachzog. Sie versuchte dann, von Innen zu öffnen, sie wollte sich überzeugen, ob ihr der Ausgang aus diesem Versteck, sobald sie ihn für räthlich hielt, unverwehrt sey; aber ihre schwache Kraft vermochte nicht, den eingesprungenen Riegel von der Stelle zu bewegen, und als sie jetzt Geräusch in der Halle vernahm, mußte sie von weiteren Bemühungen ablassen. In dem kleinen Raume, der sie einschloß, umgab sie tiefe Dunkelheit. Durch einige Spalten in der Bretterwand konnte sie einen Theil der Halle überschauen, den Ort, wo sich die Reihen der Betpulte befanden. Bald war dieser von Israeliten, die, wie es ihr Gesetz erheischt, zum Frühgebete herbeieilten, besetzt, und mit neu erwachendem Grauen glaubte unter ihnen Imagina Gestalten zu erkennen, die sie in dem Wahngesichte dieser Nacht erblickt. Sie zog sich, um diesen Erinnerungen zu entfliehn, tief in ihre Zufluchtsstätte zurück, sie versenkte sich mit ganzer Seele in andächtige Hingebung an die heilige Jungfrau, sie wollte durchaus keinen Sinn, keine Aufmerksamkeit für eine Handlung haben, die von denen, die sich zu ihr vereinigten, ebenso heilig gehalten wurde, wie sie ihr Gebet hielt, ihr aber in dem entsetzlichsten, verdammlichsten Lichte erschien. Und dennoch konnte sie ihr Ohr nicht gegen die Stimme des Vorsängers, der auf dem Almemor, über ihrem Haupte stehend, die Gebete absang, verschließen, nicht verhindern, daß das dreimalige Gesammtgeschrei des Wortes: »Heilig!« wie ein Hohngelächter in ihr Gebet drang! Ihr jugendliches Gemüth lag in den Banden eines Aberglaubens, von dem damals nur wenige, ihrer Zeit voraneilende Geister sich frei erhalten konnten: sie ahnete nicht, daß dem Himmel auch ein andres Gebet, als das, was ihre Priester sie gelehrt, wohlgefällig seyn könne, sie irrte, aber sie beleidigte nicht, denn dem Wahne, der Alles genährt, ist keine Beleidigung zuzurechnen.

Endlich war diese peinliche Zeit vorüber. Der Vorsänger polterte die Treppe über ihrem Haupte herab; langsam, um anzuzeigen, wie ungern sie das Haus ihrer Andacht verließen, entfernten sich die Juden. Es wurde still und Imagina, die nun wieder wagte, ihre Blicke durch die Spalten in die Halle zu senden, sah sich mit erleichterter Brust von der Nähe derjenigen, unter welchen sie Gegner besaß, die nach ihrem Blute dürsteten, befreit. Mit erneuerter Anstrengung bemühete sie sich, die Pforte zu öffnen, die sie von der äußern Halle schied. Sie hoffte, jetzt vielleicht die in's Freie führende Thüre der Synagoge noch offen zu finden und unbemerkt zu entkommen. Welcher frohe Gedanke, in der nächsten Viertelstunde wieder mit der schwesterlichen Freundin Regina vereinigt zu seyn, den dankbar verehrten Salentin wiederzusehn, mit beiden wieder die Sorge um die blinde und gemüthskranke Frau Gisela zu theilen! Dann sollte auch Herr Hanns vom Rhein ihren Retter, dessen sie nicht vergaß, ausfindig machen, dann würde der edle Herr gewiß den Dank, den sie schuldete, auf die großmüthigste Weise abzutragen suchen. Ach, wie verschwanden diese schöne Hoffnungen vor der Unmöglichkeit, die sich von Augenblick zu Augenblick bestimmter auswies, die Stärke des Riegels, der Imagina von der Welt und der Freiheit trennte, zu bezwingen! Die Kräfte des armen Kindes waren erschöpft. Sie setzte sich traurig in einen Winkel ihrer dunkeln Zufluchtsstätte nieder, es blieb ihr nun keine andre Hoffnung, als die auf die Erscheinung ihres unbekannten Freundes, kein andrer Trost, als wiederum das Gebet, das seine himmlische Kraft dann auch auf's Neue bewährte und alles Mißgeschick, welches Imagina betroffen, ihr nur als eine kurze, vorübergehende Prüfung erscheinen ließ. Glückliches Vertrauen eines gläubigen Gemüthes, du solltest nicht getäuscht werden! Aber welches Entsetzen, welche Schrecken standen dir noch bevor, ehe diese Prüfung sich in Frieden, deine Wünsche sich in Erfüllung lösten?



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